Agnes Li-Marchetti

Die Erinnerungen meiner Grossmutter... 😄 Tippfehler können ganz einfach korrigiert werden: Am Ende der Seite gibt es einen Link, mit dem man diese Seite bearbeiten kann. Siehe auch Roland Li-Marchetti.

Roland Li-Marchetti

Kindheitserinnerungen

Erinnerungen sind ein seltsam Ding: Eines Abends, irgendwann in unserem Leben, lehnen wir uns zurück, schließen die Augen, lassen dieses Leben hinter geschlossenen Lidern an uns vorüberziehen und erinnern uns... Eine Art Nostalgie kommt auf: Ja, so war’s... Mein Gott, ist’s lange her... Ein grüner Schlitten? Was? Stimmt, komisch, ich hatte es ganz und gar vergessen.... Wie ulkig, wie dumm, wie fürchterlich, wie schade, wie schön, wie wunderbar, wie spannend... Ein Leben halt... Nun fragen die Kinder, die Enkel: wie war’s denn so, wie war’s denn damals?... Und ich soll wirklich erzählen? Na ja, ich weiß nicht... ein Leben halt, ein reiches, eins wo Schietbum, immer meinte: Haben wir’s nicht gut? Ist es nicht wundervoll? Er ist nun nicht mehr bei mir, aber er würde es wohl weiterhin so äußern... Schon Anja, meine Enkelin, die ihrem Papi vorangegangen ist, wollte immer mehr wissen: und früher? Und wie war’s mir deinen Eltern? ... Und fand es so schade, dass ihr Großvater seine Erinnerungen nur auf Französisch geschrieben hatte. Sogar meine “kleine” Schwester, vierzehn Jahre jünger als ich, fragt jetzt auch...

Ich soll nun wirklich erzählen? Die Augen geschlossen, meine Kindheit holt mich nun doch ein...

Ein grüner Schlitten

Es war ein großer grüner Schlitten, der vom Hausdiener des Hotels geschoben wurde: darin saßen mein Bruder Klaus und ich, dick vermummt in warmen Decken, denn es war ja Winter und bitterkalt. Und es gab natürlich genug Schnee, um dieses Ungetüm von Schlitten schieben zu können. Wahrscheinlich schob uns Friedrich nur eine kurze Runde um den Block, aber welch’ eine Freude! Wir waren mehr als zufrieden!

Auch ans Versteckenspielen im Hotel von meinem Opa Moritz väterlicherseits, über die Hintertreppen natürlich, erinnere ich mich. Nur durfte Opa Moritz uns nicht dabei erwischen! Aber das war dann erst recht aufregend!

(In diesem Hotel haben wir sicher ein Jahr lang nach unserer Rückkehr aus Kolumbien gewohnt.)

Papa erzählte uns, dass zum Winter alle neun Brüder morgens antreten mussten und Lebertran bekamen! Gesund war es sicher und der Arzt wurde bestimmt nicht so oft gerufen! Uns aber blieb es zum Glück erspart! Papa hieß Max, er hatte einen Zwillingsbruder, Ludwig. Die älteren Brüder waren Ernst, Wilhelm und Otto; die jüngeren hießen Hermann, Heinrich, Paul und Friedrich. Eine große Familie...

An meine Oma erinnere ich mich auch noch genau. Sie war immer in schwarz gekleidet, stand oben im ersten Stock des Hotels und gab den Zimmermädchen die saubere Wäsche heraus. Am Nachmittag schien sie mir nicht mehr so beeindruckend: sie saß dann im Lesezimmer und trank schwarzen Tee mit Sahne. Und wir durften Illustrierten anschauen, da fühlten wir uns besonders geehrt!

Das war aber schon im oder am Ende des Zweiten Weltkrieges, denn Klaus und ich, wir waren wohl um die zehn und zwölf Jahre alt. Ein anderes Bild kommt auf: Oma mit uns in der Stadt, sie kauft uns eine Banane oder eine Orange ; das war nun wirklich etwas Besonderes! Aber dies kann nur vor dem Krieg gewesen sein, denn wir waren da viel jünger, scheint mir.

Mein Onkel Friedrich, den wir alle Friedel nannten, erzählte mir einmal, dass ein Bruder von Oma zur See fuhr und als Erster eine rote Paste, die zum Einmassieren geeignet sein sollte, aus China mit nach Deutschland brachte. Es war Tigerbalsam!

Stellt euch vor: Onkel Friedel kam mit seiner Frau Chabella und seinen zwei Töchtern während des Krieges extra nach Deutschland zurück, um seinem Vaterland beizustehen, wie er meinte: Er wurde aber abgewiesen, weil er eine Mexikanerin geheiratet hatte! Zum Glück schaffte er es, eine Arbeit im besetzten Ostgebiet zu finden und hielt sich so über Wasser. Am Ende des Krieges gelang es ihm dann sich zu uns durchzuschlagen und so wurde er, kaum erkennbar, so mager war er geworden, in unserem Hotel wieder aufgepäppelt. Mit viel Mehlsuppe, auf der die Würmer schwammen! Allerdings entgingen auch wir in der Karpfenstrasse den Würmern nicht, und ich ekelte mich so sehr!

Tante Chabella und die Mädchen waren schon früher heimlich wieder nach Mexiko verschifft, mit dem Versprechen, dass ich sie später besuchen könnte. Dieses Versprechen konnte ich wirklich halten: Roland und ich reisten von New-York aus, wo Schietbum in der französischen Handelsdelegation arbeitete, nach Mexiko. Es war ein wundervolles Erlebnis, nicht nur für mich und Roland, sondern auch für unsere jüngste Tochter Béatrice, die auch dabei war. War es 1980?

Die Erinnerungen holen mich ein... Da das Geld knapp war, schoben wir den Besuch von Kolumbien, meinem Geburtsland, auf später. Dafür konnte mein Bruder Klaus seinen Geburtsort kennenlernen. Und es schien, dass alle Bewohner des Dorfes den Sohn von Max, o alemão, wiedererkannten, so sehr ähnelte er seinem Vater!

Mutti

Mutti erzählte nur aus ihrer Kindheit in Schlutup, einem kleinen Fischerdorf, ca. 8 Kilometer von Lübeck entfernt. Zeit genug gab es ja während der “Schummerstunde” im Krieg. Wir mussten Strom sparen, dass bedeutete, das Licht wurde sehr früh ausgeschaltet. Aber da wir eine Laterne gegenüber an der Ecke hatten, über unserem “Tante-Emma-Laden”, so hießen sie ja später, störte es uns Kinder nicht weiter. Ich erinnere mich an ein Lied, das Mutti uns oft sang und das mir besonders gefiel: «Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief...» Diese Zeilen sind mir noch immer im Gedächtnis! Doch zurück zu Mutti... Besonders lustig fand ich, dass sie fünf Vornamen hatte: Ida, Elisabeth, Karoline, Margarete, Dorothea. Ich kannte die Namen alle auswendig!

Mutti erzählte uns von ihren Kinderstreichen: Äpfel klaute sie! Sie kletterte über Zäune, wurde auch manchmal erwischt. Wir fanden es aufregend...

Oft sang sie uns auch Lieder vor. Sie war im Kirchenchor gewesen und hatte eine schöne Stimme. Leider haben nur Klaus und meine kleine Schwester Erika ihr Talent geerbt. Ich, die ich so gerne singe, war und bin genauso untalentiert, wie mein Vater es war. Pfeifen konnten wir übrigens auch nicht, so eifrig ich auch übte!

Mutti erzählte mir auch von ihrem ersten Freund, Sohn eines Försters. Dessen Eltern unterbanden ihre Freundschaft: Sie war ja nur eine Fischers Tochter...

Sie hatte zwei ältere Schwestern, Tante Sophie und Tante Lisbeth und einen jüngeren Bruder, der auch Klaus hieß. Wir haben sie oft während des Krieges besucht, weil dort Fisch holen durften! Zu besonderen Anlässen luden sie uns zum Aalessen ein. Ich sehe es noch heute vor mir: wie Vati in Uniform dort saß und drei Aale alleine aufaß und alle sprachlos auf ihn schauten!

Ja, und wie kam Mutti zu dem Hotelierssohn? Sie erzählte viel davon... Max Moritz und Ida lernten sich wohl auf einem Tanzfest kennen, welches vom Schülergymnasium in Lübeck organisiert worden war. Ein Schüler aus Schlutup durfte sie dorthin mitnehmen, aber dann verliebte sie sich halt in den Max! Oder Max in sie... Dabei war Mutti eine gute und leidenschaftliche Tänzerin, während Max sie steif wie ein Stock übers Parkett führte! “Fräulein Bade, Sie müssen mir das Tanzen aber erst beibringen”, hieß es dann... Die Gruppe von Freunden kam dann eines Nachts etwas angeheitert nach Schlutup und sang vor dem Elternhaus der Angebetenen ihres Freundes ein Lied! Dort bekamen sie aber einen Eimer Wasser über die Köpfe geschüttet... Doch sie kamen wieder und baten reumütig um Entschuldigung, und so durfte Ida auch mit Max spazieren gehen! Recht gern erzählte sie davon, wie unbeholfen Vati auf dem Fahrrad war: er fuhr gleich in den ersten Graben! Auch jede Blume im Wald oder m Straßenrand musste sie ihm erklären. “Fräulein Bade, wie heißt diese Blume?”, fragte Max dann.

Dann gab es die erste Trennung, mit vielen Briefen zwar. Max ging nach Köln zum Studieren. Doch als er fertig war, gab es keine Arbeit. Max entschloss sich auszuwandern, und zwar nach Kolumbien, wo sein Zwillingsbruder Ludwig schon eine Kaffeeplantage hatte, dort auch “finca” genannt. Das war die zweite Trennung, die längste. Natürlich wurde vorher noch Verlobung gefeiert und Vati gab das Versprechen, Idachen, wie er sie nannte, so schnell wie möglich nach zu holen...

Drei Jahre vergingen, bis Max sein Versprechen einlösen konnte. Mutti musste sich oft gegen Unterstellungen und Hohn wehren: drei Jahre sind eine lange Zeit... Doch mit Briefen von ihrem Max, dem Nähen und Sticken für die Aussteuer verging auch diese Zeit, und dann war es soweit. Mutti schiffte sich ein: 4 oder 7 Wochen über das große Wasser, teilweise bei Windstärke 10, wo dann alle Damen flach unter Deck lagen und krank waren... nur sie nicht!!!

Und dann der Tag der Ankunft und Max stand ganz in weiß gekleidet am Ufer und erwartete sie. Was für ein Bild muss es für sie gewesen sein, nach so vielen Jahren! es muss schrecklich wunderbar aufregend gewesen sein für sie! Vati wartete das Standesamt am nächsten Tag ab, bevor er endlich mit ihr ein gemeinsames Hotelzimmer bezog. Doch am ersten Abend ihres langen gemeinsames Lebens, so erzählte mir später Mutti, stopfte sie nur seine Strümpfe, die in den schönen schwarzen Schuhen gesteckt hatten! Welch’ eine Enttäuschung nach so langer Zeit!

Ich glaube, sie haben in Boranquilla, am 8. Februar 1930 geheiratet, danach ging es ins Landesinnere und ein Jahr später kam ich in Honda auf die Welt. Meine Oma mütterlicherseits war in der Zwischenzeit an Krebs gestorben, aber Vati hatte es Mutti verschwiegen. Zum Glück, denn wer weiß wie die Geburt so fern von der Heimat sonst verlaufen wäre. So ging alles gut und ein Jahr später wurde dann mein Bruder Klaus geboren.

Aber Mutti hielt es nicht mehr aus. Das Heimweh und die so ganz andere Umwelt, das alles wurde zu viel. Obwohl, wie sie mir erzählte, all die dunkelhäutigen Kolumbianer unsere weiße Kinderhaut und die blonden Haare sehr bewunderten! Doch auch die Arbeit auf der “finca” war wohl nicht das Richtige für Vati, und die Arbeit auf der Bank hatte er sehr schnell verloren.

So kam die Familie also 1933 wieder nach Lübeck zurück und wohnte bei meinen Großeltern Moritz im Familienhotel. erst als Vati in den Stadtwerken Arbeit fand, zogen wir in die Karpfenstraße 14, wo ich mein Leben bis 1953 verbringen sollte.

Intermezzo

Bevor dieser fürchterliche Krieg aber anfing, erinnere ich mich noch an all die Sonntage, an denen Vati mit uns beiden «Ausflüge» machte: dass heißt, wir mussten oder durften «Sonntagskleider», wie es hieß, anziehen und fuhren dann mit der Straßenbahn bis Schwartau und spielten dort mit Vati «Räuber und Soldat». Eigentlich nur um ein Fangspiel, mit viel Lachen und Schreien verbunden! Und natürlich mussten wir aufpassen, dass wir die «schönen» Kleider nicht schmutzig machten!

Wenn es regnete, zeigte Vati uns auf der drehbaren Weltkugel unser Geburtsland Kolumbien oder er spielte den Dampfer auf allen Vieren und schaukelte mit uns auf dem Rücken durch die «gute Stube». (Diese wurde nur am Sonntag benutzt!)

Wir hatten sehr viel Spaß dabei! Viel weniger gefiel es uns, wenn wir im Winter lange Wollstrümpfe anziehen mussten. Diese wurden mit Knöpfen und Gummibändern, ich weiß nicht mehr wie, an den Unterhemden fest gemacht. Das hörte aber auf, als wir in der «Hitlerjugend» Kniestrümpfe tragen durften.

Auch an unsere Sonntagmorgen im Bett erinnere ich mich gut. Klaus und ich durften, wenn die Eltern wach waren, zu ihnen in die Betten kommen, große breite Betten von ein Meter Breite! Dann sang Mutti uns etwas vor, und Klaus durfte mitsingen, denn er hatte ja einen gute Stimme. Vati und ich brachte kein richtigen Ton raus! Auch pfeifen konnten Mutti und Klaus, während Vati und ich es wiederum vergebens versuchten!

Als erstes stand dann Mutti auf und richtete in der «guten Stube» den Frühstückstisch her. Derweil las Vati uns aus dem großen Max-und-Moritz-Buch von Wilhelm Busch vor: Max und Moritz waren zwei schlimme Buben, die nur dumme Streiche im Kopf hatten und zum Schluss endeten sie als Hühnerfutter. Eigentlich eine grausame Geschichte, doch solche Geschichten und Märchen galten ja lange als erzieherisch wirkend... Wie auch sei, auch meine Kinder lasen sie noch mit Begeisterung!

Die Karpfenstrasse

Inzwischen war der Krieg 1939 ausgebrochen, aber wir beiden Kinder, Klaus und ich, gerade mal 7 und 8 Jahre alt, konnten dieses Ereignis nicht richtig einschätzen. Ein Segen vielleicht...

Vati hatte das Glück in den ersten Kriegsjahren in Schwartau – ca. 5 km von Lübeck entfernt, wo ein Flak-Regiment lag, im Büro zu arbeiten: Er wurde dabei sogar von Gefreiter auf Obergefreiter befördert. Aber als er auf Unteroffizier- Ausbildung gehen sollte, lehnte Mutti es ab, weil sie Angst hatte, dass er dann an die Front müsse. Aus dieser Zeit erinnere ich mich an die vielen Kommissbrot-Knüste, die Vati zum Wochenende nach Hause brachte! Und schließlich wurde er dann doch an die Ostfront verlegt: Ostpreußen, zum Glück nicht Russland!

In dieser Zeit fielen die «Schummerstunden», von den ich anfangs erzählte. Und auch die Luftangriffe auf Lübeck – Vergeltungsangriffe, weil die Deutschen England bombardierten. Mutti weckte uns nicht jedes Mal, wenn die Sirenen heulten, denn sie meinte wohl, wir kämen noch schnell genug in den Keller, wenn es nötig werde, da wir in der Parterre-Wohnung wohnten!!! Für uns war einfach alles nur spannend, umsomehr da Baby Erika inzwischen da war – wir schrieben das Jahr 1943 – ein richtiges Spielzeug für mich, ich war ja dann 13 Jahre alt und spielte «Mutter und Kind»...

Wir hatten Glück: Als der Krieg zu Ende ging, wohnten wir immer noch in der Karpfenstraße 14. Wie durch ein Wunder war unser Haus verschont worden. Ein Bombenangriff hatte zwar Anfang und Ende der Strasse schwer beschädigt, was uns aber nicht daran hinderte gleich morgens die Granatsplitter zu suchen, die wir Kinder dann untereinander austauschten! Auch Vati kam, wenn auch verwundet, doch ansonsten heil, aus dem Krieg zurück. Er wurde in einem Lübecker Lazarett untergebracht.

Vom Lazarett wurden dann offizielle Entlassungspapiere ausgestellt für die, die Familie in Lübeck hatten. Überglücklich und erleichtert holten wir also unseren Vati ab; uns wurden noch einige Wolldecken mitgegeben, was damals natürlich Gold wert war, denn die Schlafzimmer waren ja nicht geheizt! Ich erinnere mich, dass Mutti die Decken abends über den Kachelofen in dem einzigen geheizten Raum hängte und Klaus und mich darin einwickelte, wenn es in die eisigkalten Betten im Kinderzimmer zum Schlafen ging...

In diesem Zimmer stand auch später meine erste eigene Nähmaschine . Ich war siebzehn und hatte eine Schneiderin-Lehre angefangen. Stundenlang konnte ich daran arbeiten, um mir aus zwei alten Kleider ein Neues zu nähen. «Aus zwei mach eines» war nämlich der Slogan bei Anny Friede, wo ich in die Lehre ging. Und dabei wollte ich eigentlich Lehrerin werden! Aber die Eltern, in der Panik des verlorenen Krieges meinten, dass einem nichts anderes übrigbliebe, als ein «anständiges» Handwerk zu erlernen, um überleben zu können. Allerdings durfte Klaus dann doch eine kaufmännische Lehre machen. Ob es einen Unterschied gab zwischen mir als Mädchen und Klaus als Junge??? Nun, als ich dann später in Paris meinen Roland heiratete, der nun ja kein reicher Mann war, haben meine Schneiderkünste unsere Kinder bekleidet, und das nicht schlecht, wenn ich mir die Fotos von damals anschaue!

Zuerst aber ging mein Bruder ins Ausland, als er mit der Lehre fertig war, so wie alle Moritzen es ja schon vor ihm getan hatten. Die neuen Zeiten waren doch für uns junge Leuten sehr aufregend, und natürlich wollten wir die «Welt» kennenlernen. Das hatten wir im Blut!

Ich war damals in Augu, dem Bruder meiner Freundin Gisela, verliebt und auch er ging nach der Maurerlehre erstmal drei Jahre auf Wanderschaft... Es wurden viele Briefe geschrieben; er kam zurück und, selbstlos, unterstützte er mich in meinen Bemühungen, nun auch für ein Jahr wenigstens ins Ausland zu gehen. Es ergab sich dann, dass eine Kundin, die ich «benähte», eine Freundin in Paris hatte, die ein Au-Pair-Mädchen suchte, und so bewarb ich mich... und bekam eine positive Antwort!!!

Leider war nur Augu damit einverstanden, meine Eltern dagegen ganz und gar nicht. Da ich aber inzwischen einundzwanzig, also mündig war, ging ich «mit dem Kopf durch die Wand» und musste alleine, mit meinem Koffer in der Hand, zum Bahnhof gehen. Vati lag im Bett und weigerte sich aufzustehen und Mutti stand weinend in der Küche am Abwaschtisch!

Damit ging meine Zeit in der Karpfenstrasse zu Ende. Ich wusste es damals nur nicht und zog aufgeregt und gespannt auf das Neue, was mich da erwartete in die Ferne, nach Paris... Dort sollte mein Leben eine andere Richtung einschlagen, aber auch das ahnte ich nicht. Doch davon später...

Blitzlichter

Bevor ich aber von Paris erzähle, muss ich noch einige Bilder festhalten, Bilder die aufleuchten und vergehen, wie Blitzlichter eben!

Denn es fällt mir noch so manches ein. Zum Beispiel, als Klaus mal mit einer schweren Rippenfellentzündung im Bett lag und der Arzt kommen musste, Klaus aber sich partout nicht in den Hals schauen lassen wollte! Oder als ich einen winzigen Puppenwagen bekam, ein Korbgeflecht, so wie man es damals hatte, zehn Zentimeter lang, mit Kissen und einem ebenso winzigen Püppchen drin!!! Ich kam dann auch noch ins Krankenhaus, noch vor Schulanfang, wenn ich mich recht erinnere, mit Keuchhusten und Scharlach. Aber für mich war es wichtig, dass ich den Krankenschwestern beim Bettenmachen helfen durfte: darauf war ich nun wirklich stolz!

Eine weniger schöne Erinnerung war, dass Vati auch böse werden konnte. Einmal schmiss er dem Klaus sogar seinen Soldatenstiefel an den Kopf! “Du musst gehorchen lernen!”, schrie er. Weshalb er so böse war, weiß ich nicht mehr...

Andererseits, wenn Mutti mit mir böse war, weil ich heimlich mit meiner Freundin Nanne tanzen gegangen war, kam er nach Muttis Schimpferei zu mir, die ich weinend auf dem Sofa saß, und erklärte mir, dass ein Mädchen sehr aufpassen müßte, um nicht für ein Flittchen gehalten zu werden. Dabei war dieser heimlicher Tanzabend wirklich ganz harmlos, und wir erzählten beim Nachhausekommen Nannes Mutter von all unseren Tänzern! Derweil war Klaus zu Nannes Mutter geschickt worden und erzählte dann auch unserer Mutter, dass ich nicht nur bei Nanne schlief, sondern auch mit ihr Tanzen gegangen war!!! Als ich dann morgens, schon Schlimmes erwartend, mit Nanne nach Hause ging, hatte ich sofort eine Ohrfeige weg, bevor ich überhaupt etwas erklären konnte! Nanne musste, ohne mir helfen zu können, wieder nach Hause gehen... Letztendlich war die einzige Sorge meiner Mutter, dass ich ein Kind bekommen könnte! Und sie sagte als “Aufklärung”: “Dann kannst du ja gleich in die Trave springen!”

Ich habe viel später mal zu meinem Bruder, der unseren Eltern alles mögliche an schlechte Erziehung vorwarf, gesagt, dass schließlich wohl ziemlich alle Eltern so reagierten. Sie selber waren streng erzogen worden und gaben also alles so weiter, so wie sie es selber erlebt hatten. Und von “moderner” Erziehung wusste man allgemein ja noch nichts!

Mutti erzählte mir zum Beispiel, dass es beim Essen sofort mit der Gabel des Vaters was auf die Finger gab, wenn sie sich nicht “anständig” betrug. Fisch wurde mit zwei Gabeln gegessen; ich selber hatte dann in meinem “Aussteuersilber” schon richtiges Fischbesteck! Auch Kartoffeln werden grundsätzlich nicht mit dem Messer geschnitten, hieß es damals. Ich glaube, es gilt noch heute, aber weshalb weiß ich eigentlich immer noch nicht! Wie dem auch sei, Roland bekam die Mahnung auch gleich zu hören, als er zum ersten Mal in Lübeck auf Besuch war!!!

Zu den “Blitzlichtern” gehören auch die Besuche in Schlutup: ich durfte dann bei meinem Opa im Bett schlafen! Es war auch sehr beeindruckend: riesig schien mir sein Bett zu sein! Dabei gab es auf der Matratze noch ein Federbett und oben drüber das zweite Federbett zum Zudecken!!! Wahrscheinlich war es Winter und es gab keine Heizung im Altenteil von Opa, denn Klaus, der einzige Sohn wohnte mit seiner Else und seinen Kindern im Vorderhaus, das geheizt war... Zu Opas Wohnung musste man eine steile Treppe hochsteigen und außerdem gab es auch noch ein “Plumsklo” mit einem ausgeschnittenen Herz in der Holztür... damit man auch frische Luft bekam! Natürlich gingen wir Stadtkinder nur sehr ungern in dieses Holzhäuschen!

Außerdem fuhren wir großen Kinder abwechselnd ein Mal die Woche mit der Straßenbahn nach Schlutup, um bei Tante Else und Onkel Klaus Fisch zu holen. Mutti blieb mit dem Baby Erika zu Hause. Ich erinnere mich, einen furchtbaren Schreck bekommen zu haben, als ein Herr, der mir gegenüber saß, sein Gebiss vorschob! Da ich keine Ahnung hatte, dass es überhaupt falsche Zähne gab, war ich entsetzt! Ein andermal wurde ich von einem jungen Soldaten angesprochen und d war Mutti entsetzt: ich musste mit ihr zur Polizei gehen! In der darauffolgenden Woche war er nicht in der Straßenbahn, uff!!!

Agnes 1954 Meine letzte Erinnerung ist der Besuch, den ich mit Roland und mit unserer kleinen Tochter Astrid dort machte. Der chinesische Papa und die kleine hübsche Tochter wurden von der ganzen Familie bewundert, genau wie der Kinderwagen “wie ut Kaiser Wilhelms Tieden”!!! Ein Foto von diesem Familientreffen befindet sich in unserem ersten Fotoalbum!

Agnes 1954

Was kann ich noch erzählen? Weihnachten im Krieg! Onkel Friedel spielte den Weihnachtsmann und klingelte bei uns an der Haustür, und als er dann wieder ging, meinte unsere kleine kluge Schwester: “Der Weihnachtsmann hatte ja eine Stimme wie Onkel Friedel.” Wir mussten uns mächtig das Lachen verbeißen! Einmal spielte mein Vater den Weihnachtsmann und zwar im Büro, wo er bei den Engländern arbeitete. (Lübeck gehörte zu der englisch besetzten Zone.) Auch die Kinder der deutschen Angestellten waren eingeladen, und plötzlich kam der Weihnachtsmann herein und sprach mit tiefer Stimme das bekannte Weihnachtsgedicht:

Von drauß’ vom Walde komm’ ich her,
Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr
Und droben auf den Tannenspitzen
Sah ich goldene Lichtlein blitzen,
Und aus dem großen Himmelstor
Sah mit großen Augen das Christkind hervor...

Zu Hause wurde Heilig Abend immer auf die gleiche Weise gefeiert. Mit großer Aufregung für uns Kindern verbunden. Vati ging mit uns spazieren, während Mutti den Tannenbaum schmückte. Der stand immer auf Vatis Schreibtisch, immer mit der gleichen weißen Decke mit Lochstickerei, die Mutti für ihre Aussteuer gestickt hatte. (Nun habe ich sie 1998 Astrid zu Weihnachten geschenkt.)

Agnes Li-Marchetti, April 2000

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