Ich hasse Corona. Seit diese blöde Pandemie angefangen hat, sind die Erwachsenen total durchgedreht. Sie glauben wirklich, dass es hilft, uns nicht zur Schule zu schicken. Dabei sitzen wir nur dumm rum und langweilen uns. Auf Netflix und Amazon hab ich schon alles gesehen, und mein Bruder und ich streiten uns ständig. Ich bin fünfzehn und habe keine Lust mehr, zu Hause vor mich hin zu vegetieren. Ich fühle mich wie eingesperrt, als ob mir jemand meine Jugend klaut. Meine Freunde sehe ich nur noch über Videochat, aber das ist einfach nicht dasselbe. Ich vermisse es, mit ihnen im Park auf der steinernen Tischtennisplatte abzuhängen, zu lachen und Blödsinn zu machen. Stattdessen starre ich stundenlang an die Decke und frage mich, wann das alles endlich vorbei ist. Die Erwachsenen gehen zur Arbeit und stecken uns dann zu Hause an. Erst Papa, dann mein Bruder und schließlich ich.
Ich bin übrigens Lily. Mein Bruder Marc steckt das echt gut weg, hat ein wenig Husten und er sagt, alles schmeckt nach Pappe. Mein Vater kommt auf die Intensivstation. Ich auch. Wir liegen nebeneinander im selben Zimmer. Ich muss zusehen, wie er langsam an dem, was sich in seiner Lunge sammelt, erstickt. Sie legen ihn auf den Bauch, beatmen ihn, aber nichts hilft. Mein Vater, der immer so stark war, liegt da wie eine leere Hülle. Er stirbt nach drei Tagen. Hab ihm nicht mal sagen können, dass ich ihn lieb hab. Ich fühle mich so hilflos, so klein. Die Geräte piepen ununterbrochen, und ich kann nichts tun. Ich will schreien, aber dafür fehlt mir die Kraft und der Atem. Die Angst sitzt wie ein kalter Klumpen in meinem Magen.
Immer wieder sage ich mir, ich will nicht sterben. Nicht so. Nicht im Krankenhaus, nicht an oder mit Corona. Nein, ich will gehen, wenn ich als alte Frau in einem Schaukelstuhl auf meiner Terrasse sitze, die Hand an einem Glas mit was, was mir dann schmeckt, die Enkelkinder um mich herum und dann einfach Licht aus. Also im Grunde so, wie meine Oma gegangen ist. Alles erledigt und ein wenig glücklich.
Aber nichts da, dieses Covid-Dings hat mich kaputt gemacht. Nachdem die mich im Krankenhaus wieder halbwegs gesund gemacht haben, komme ich heim. Mama und Marc kümmern sich um mich, als würde bald alles wieder gut. Und tatsächlich es gibt nen Impfstoff, alles halb so schlimm. Aber nicht bei mir. Ich hab Long-Covid. Das heißt ich kriege kaum genug Luft um die wenigen Schritte vom Bett bis zur Toilette allein zu schaffen. Jeder Atemzug fühlt sich an, als würde ich durch einen Strohhalm atmen. Meine Muskeln sind so schwach, dass selbst das Heben einer Gabel zur Herausforderung wird. Ich fühle mich gefangen in meinem eigenen Körper, als ob jemand die Verbindung zwischen meinem Gehirn und meinen Gliedern gekappt hätte. Eine Woche später kann ich gar nicht laufen, krieg meine Beine nicht koordiniert.
Im Grunde laufe ich seit Monaten auf Sparflamme. Da ich nicht mehr schlucken kann, haben die mir einen Schlauch durch die Nase in meinen Magen geschoben. Meine Arme, einst kräftig genug um einen Volleyball zu schmettern, liegen nun schlaff und dünn wie Zweige auf der Bettdecke. Meine Mutter füttert mich jetzt mit püriertem Essen durch eine fette Spritze. In der Woche, in der sie mir einen weiteren Schlauch unten reinstecken, weil ich nicht mehr alleine pinkeln kann, kann ich nicht mehr richtig sprechen. Als hätte Mama nicht schon genug mit allem um die Ohren, muss sie jetzt wieder meine Windeln wechseln, als wäre ich wieder ein Säugling. Füttern mit Brei, mich auf die Seite drehen, Radio einschalten. Ich kann kein WDR2 mehr hören. Ich schäme mich so. Ich war doch gerade dabei, erwachsen zu werden, und jetzt bin ich hilfloser als ein Baby. Jedes Mal, wenn Mama mich wickelt, möchte ich im Boden versinken. Ich kann nicht mal mehr alleine aufs Klo gehen - das ist so demütigend. Ich vermisse meine Unabhängigkeit, meine Würde. Wieder auf den Rücken legen, Windeln wechseln. Das ist doch richtig erniedrigend. Ich könnte kotzen, aber nicht mal das schaffe ich.
Dann auf die andere Seite legen, Radio aus, Fernseher an. Beschäftigung. Manchmal stellt Mama den richtigen Sender ein. Aber jetzt kann ich nicht umschalten, wenn die Werbung nervt oder so alte-Leute-Kram läuft. Dann kommt mein Bruder aus der Schule. Wie war dein Name nochmal? Fällt mir nicht mehr ein. Aber er ist immer noch mein Bruder. Er erzählt irgendwas von dem, was in der Schule war. Dass jetzt Krieg in der Ukraine ist. Wo liegt die Ukraine nochmal? Und warum Krieg? Von Corona redet auch im Fernsehen keiner mehr. Haben die mich vergessen? Meine Gedanken sind wie Nebel, ich kann sie nicht greifen. Namen, Orte, Ereignisse - alles verschwimmt. Ich fühle mich so dumm, so verloren. War ich nicht mal ein kluges Mädchen? Jetzt kann ich nicht mal mehr einfache Dinge verstehen. Es ist, als ob mein Gehirn nicht mehr mir gehört. Warum hilft mir denn keiner? Warum sieht denn keiner, dass ich weine?
Nach einem Monat oder so holt uns ein Krankenwagen ab. Mama und ich sind in einem Raum, ich auf einer fahrbaren Liege und sie hält meine Hand. Ich kann nicht mal mehr ihre Hand drücken um ihr zu sagen, dass ich sie liebe. Ich verstehe nicht, was hier passiert, auch wenn der Arzt mir erklärt, was die mit mir machen wollen. Die Leute um mich sehen auch gar nicht mehr wie Menschen aus, eher wie umherlaufende Bäume im Nebel. Mama erkenne ich an der Stimme. Ich fühle mich so allein, so abgeschnitten von der Welt. Es ist, als wäre ich in einer Blase gefangen, durch die ich die anderen nur verschwommen wahrnehmen kann. Ich sehne mich danach, jemanden zu umarmen, aber mein Körper gehorcht mir nicht. Die Einsamkeit frisst mich von innen auf. Und der Nebel wird immer dichter. Ich werde hochgehoben und woanders hingelegt. Dann werde ich in kleinen Schritten in eine Höhle geschoben. Und dann das laute Rattern und Pochen. Immer lauter, bis es plötzlich zu Ende ist, ich schlafe ein.
Da wo ich jetzt bin ist es warm und weich. Meine Mutter kommt immer dann, wenn es hell ist. Bevor es dunkel wird kommt mein Bruder. Beide streicheln mich. Oft weinen sie. Ich glaube ich liege in einem Bett. Ein Bett, dass sich von allein bewegt. Manchmal sind auch Andere da. Sie spritzen was in den Schlauch in meiner Nase und dann hab ich schnell keinen Hunger mehr. Irgendwann stopfen die mir noch einen Schlauch ins Gesicht. In meinen Mund. So richtig fies und hart. Es tut weh und schmeckt nach Blut am Anfang.
Manchmal, wenn ich merke, dass irgendwo ein Schmerz wächst, versuche ich zu schreien. Schneller zu Atmen und das alles loszuwerden, aber wegen dem Schlauch in meinem Hals geht das alles nicht. Die Anderen um mich herum merken das wohl und pieksen mich in den Arm mit etwas was brennt. Danach hab ich keine Schmerzen mehr.
Also ganz ehrlich, ich will das nicht mehr. Es reicht. So will ich nicht leben. Mama hat gesagt, dass ich gehen darf, wenn ich will. Sie sagt, ich hab genug gekämpft. Aber wie? Ich kann mich doch nicht mehr bewegen, um mich herum ist nur noch Watte, es fühlt sich alles taub an und warum, ja warum wird mir nicht wärmer? Mir ist so kalt. Es friert meine Gedanken ein. Bin ich schon eingefroren?
Irgendwann stehen da zwei dieser Bäume an meinen Füßen und reden miteinander. Ich höre die Stimme meiner Mutter, sie redet mit einem großen dicken Mann. Ganz ruhig ist er. Ich versuch mich zu konzentrieren. Mama geht raus und der Dicke kommt an meine Seite. Er fragt, ob er meine Hand halten darf, er möchte schauen, ob er helfen kann. Ich denke ja, mach doch, dann nimmt er meine Hand. Ich spüre seine warmen Hände, wie sie meine Hand umschließen. Es kribbelt und mein Magen dreht sich um. Der Dicke meint, dass er nichts versprechen kann. Aber er würde alles tun, was er kann, um zu helfen.
Er steht auf, hält mit der einen Hand die meine und streckt seinen anderen Arm zu meinem Kopf aus, berührt mich an der Stirn. Während ich spüre, wie seine warme Handfläche sich auf meine Stirn legt, sprudeln plötzlich Gedanken in meinem Kopf, wie ich es seit Monaten nicht mehr erlebt habe. Es scheint ein warmes Licht durch meinen Körper zu fließen, es scheint den Nebel in meinem Kopf wegzubrennen, dann lichtet sich alles auf und ich kann etwas klarer sehen. Ich schaue in das Gesicht des Dicken. Da sind freundliche grau-blaue Augen, Dreitagebart. Er trägt ein graues T-Shirt mit irgendeiner abstrakten Zeichnung drauf. Er hat sich nicht rasiert, sieht aber auch nicht ungepflegt aus. Und endlich rieche ich etwas. Sowas wie Zitrone oder Orange, kann ich nicht sagen, hab schon lange nichts mehr gerochen.
Der Dicke lächelt mich an und sagt, dass es schon mal ein Fortschritt sei, dass ich ihn jetzt direkt ansehen kann. Ob ich verstehe, dass er mir helfen möchte? Ich nicke. Seine Hand wandert von meiner Stirn an die Schläfe. Er fragt, ob er meinen Hals berühren darf. Ich nicke. Von der Schläfe zum Hals herunter merke ich wie die Wärme, nein seine Hand, wandert. Ich bin ganz durcheinander. Mein Kopf scheint zu explodieren, soviele Bilder und Gedanken rasen da durch.
Jetzt will der Dicke wissen, ob er meinen Rücken und meinem Bauch, beide in Höhe des Bauchnabels berühren darf. Wieder nicke ich, ich will ihm vertrauen. warum weis ich nicht. Er schiebt die Hand, mit der er gerade noch meine Hand gehalten hatte, unter meinen Rücken. Mit der anderen drückt er leicht auf meinen Bauch. Ich spüre einen rasenden Schmerz von meinem Bauch über den Brustkorb in meinen Kopf aufsteigen und will schreien. Ich schließe die Augen, nehme alle Kraft zusammen und schreie los. Ich höre aber nichts. Alles fällt in sich zusammen und verschlingt mich.
Ich komme wieder zu mir. Durch das Fenster kann ich sehen, dass es draußen dunkel geworden ist. Die Schläuche aus meinem Hals und der Nase sind raus. Ich betrachte meine Hände, die sich zum ersten Mal seit Monaten wieder bewegen, als gehörten sie mir. Meine Finger zittern leicht, als ich sie vor mein Gesicht hebe. Der Dicke sitzt zwischen mir und dem Fenster auf dem Stuhl, auf dem meine Mutter immer gesessen hat. Wo ist meine Mama? Ich schau mir den Dicken genauer an: Er ist etwa so groß wie mein Vater, so einsachtzig. Er riecht tatsächlich nach Zitrone. Nein Limette. Eigenartiges Parfüm. Ich stutze, ich hab gerade an Parfüm gedacht. Wann hab ich das letzte Mal an sowas gedacht wie Parfüm. Und warum sitze ich in meinem Bett und liege nicht?
Der Dicke, ganz vertieft in irgendein Magazin, seufzt, schließt das Heft und schaut mich an.
“Schön, dass du wach bist. Weißt du wo du bist?” Ich schüttle mit dem Kopf. “Nein? Du bist in einem Hospiz. Weist du was das ist?” Ich sage ihm, dass in einem Hospiz Menschen sind, die sterben werden. Dabei fröstelt es mir. Wie lange bin ich schon hier? Bin ich tot? Ist das der Sensenmann aus meinem Comics? Ich hatte nicht gemerkt, dass diese Fragen laut ausgesprochen habe und als ich es bemerke, zucke ich zusammen. Wann hab ich das letzte Mal richtig gesprochen?
“Nein, du bist nicht tot. Und ich bin weder der Sensenmann noch sonst was. Ich bin ein Mensch, so wie du. Und ich freue mich sehr, dass ich dir helfen konnte. Ich mache das hier noch nicht lange. Wie fühlst du dich?” Erschöpft fühle ich mich und mein Hals tut noch weh. Das sage ich ihm und er nickt. “Es tut mir leid, aber ich hatte Angst, dass du erstickst. Deswegen hab ich die Beiden da rausgezogen”, er deutet auf die vom Bett herunterhängenden Schläuche. Ekelig diese Dinger. “Ich habe eine Bitte an dich.” Der Dicke lehnt sich ein wenig vor. “Es wäre wirklich schön, wenn das Alles unter uns bleibt. Denn ehrlich gesagt, weis ich nicht wie es weitergeht, aber ich glaube dass es besser ist, wenn niemand weiß, was ich getan habe.”
Er macht eine Pause, steht auf und geht zur Tür, nimmt sich dort etwas von der Wand, was ich vom Bett aus nicht sehen kann. Dann geht er zwei Schritte in meine Richtung und zieht sich seine Jacke an. Braunes Leder. Passt ganz gut zu seinen verwaschenen Jeans und den dunkelblauen Sneakers, die er trägt. Mit der rechten Hand fährt er über sein nur wenige Millimeter kurzes, an den Schläfen leicht angegrautes Haar und schaut mich fragend an. Ich behaupte, dass ich gar nicht weiß, was passiert ist. Obwohl ich langsam eine Ahnung bekomme, was der Dicke gemacht hat. Er lächelt mich an während er sagt:
“Du wirst schon wieder. Vielleicht nutzt du die Zukunft um anderen Menschen etwas Gutes zu tun. Mehr verlange ich nicht. Mach bitte was Sinnvolles aus deiner zweiten Chance. Du hast es dir verdient.”
Er dreht sich um, öffnet die Tür und bevor ich etwas sagen kann, schließt sich die Tür wieder und er ist gegangen. Hätte ich ihm danken sollen? Ja, ganz sicher. Ich hieve meine Beine aus dem Bett und lasse sie einfach mal hängen. Fühlt sich gut an. Ich kann mich wieder bewegen. Im Zimmer sieht es ordentlich aus, sehr sauber. Ist ja auch so eine Art Krankenhaus. Allerdings traue ich mich noch nicht, aufzustehen. Ich fühle mich zwar immer noch sehr schwach, aber ich merke, wie in mir wieder der Wunsch zu Leben wächst.
An meinem Bett steht eine kleine Kommode, darauf liegt die Fernbedienung für mein Bett. Sie hat einen roten Knopf. Damit rufe ich wohl die Schwestern. Ich drücke den Knopf und zähle im Kopf die Sekunden, bis etwas passiert. Genau siebzehn Sekunden später klopft es zwei Mal an der Tür und sie wird aufgestoßen. In einem fröhlichen Singsang höre ich die mir bekannte Stimme einer Schwester, die mich hier oft gewaschen und gefüttert hatte.
“Ja, ich weiß es ist Zeit für ein kleines Abendessen Lily-Kleines…”, sie bleibt wie vom Donner gerührt mitten im Satz stehen und verstummt. Sie reißt die Augen auf und lässt fast das Tablett mit der dicken Spritze mit dem Abendessensbrei fallen. Die Pflegerin ist sehr verwirrt und fragt sich gerade wahrscheinlich, wie es sein kann, dass ich auf der Bettkante sitze und sie angrinse. Als Patientin in einem Hospiz. Wo die Pflegerin doch jeden Moment damit rechnet, dass der Bewohner eines Zimmers stirbt, bevor sie ihn das nächste Mal sieht. Während sie noch um ihr Gleichgewicht kämpft, sage ich zu ihr:
“Rufen Sie bitte meine Mutter an und sagen ihr, dass ich gern heim möchte?”