Wir thematisieren die wichtigen Fragestellungen rund um Internet, Gesellschaft und Politik und zeigen Wege auf, wie man sich auch selbst mit Hilfe des Netzes für digitale Freiheiten und Offenheit engagieren kann. Mit netzpolitik.org beschreiben wir, wie die Politik das Internet durch Regulierung verändert und wie das Netz Politik, Öffentlichkeiten und alles andere verändert.
Zuletzt aktualisiert: Mon, 08 Jul 2024 17:14:58 +0200
Mon, 08 Jul 2024 17:13:22 +0000
Markus Reuter
Liest man die heutigen Schlagzeilen über den Anstieg von Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen, kann einem angst und bange werden. Doch was sagen die Zahlen wirklich aus? Wir geben Kontext zu einer Debatte, bei der mal wieder mehr Überwachung gefordert wird.
Das Bundeskriminalamt (BKA) hat heute das |Bundeslagebild „Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen“ (PDF)| vorgestellt. Aus diesem geht hervor, dass die Zahl erfasster Straftaten bei sexualisierter Gewalt an Kindern sowie die Verbreitung so genannter kinderpornografischer Inhalte gestiegen ist. Sowohl das Bundeskriminalamt sowie die |Innenministerin Nancy Faeser nutzten die Vorstellung des Berichts ein weiteres Mal um eine Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen zu fordern|.
Tatsächlich ist die Anzahl der polizeilich erfassten Fälle im Deliktfeld über mehrere Jahre hinweg nun ein weiteres Mal angestiegen. So stieg der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im letzten Jahr um etwa fünf Prozent. Die Zahl der Fälle von Besitz oder Verbreitung von kinderpornografischen Inhalten stieg um etwa sieben Prozent, bei jugendpornografischen Inhalten gar um mehr als 30 Prozent.
Der Anstieg der erfassten Straftaten muss nicht heißen, dass diese Delikte insgesamt mehr werden, sondern es ist wahrscheinlicher, dass immer mehr Fälle aufgeklärt werden und der Fahndungs- und Ermittlungsdruck auf die Täter:innen steigt. Das BKA sagt selbst im Lagebild:
Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass die Anzahl aufgedeckter Fälle stark mit polizeilicher Kontrolltätigkeit und dem Anzeigeverhalten korreliert. Insofern dürfte es auch aufgrund intensivierter polizeilicher Tätigkeiten im Deliktsbereich in den letzten Jahren zu einer Aufhellung des Dunkelfelds gekommen sein.
Das Bundeskriminalamt war in den letzten Jahren dafür kritisiert worden, dass es in Pressemitteilungen gestiegene Fallzahlen kommunizierte, |ohne auf diesen Zusammenhang hinzuweisen|. Bei der Vorstellung der polizeilichen Kriminalstatistik im April |hatte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz diese Zahlen erneut kontextlos präsentiert|, um für die Vorratsdatenspeicherung zu werben.
Hinzu kommt, dass bei kinderpornografischen Inhalten knapp 40 Prozent der Tatverdächtigen selbst Minderjährige sind, bei jugendpornografischen Inhalten ist es sogar die Hälfte. Es dürfte sich vornehmlich um selbst erstelltes Bildmaterial handeln, das sie dann wiederum häufig an andere Minderjährige schicken.
Diese sexuelle Praxis von Minderjährigen wird Sexting genannt, dabei schicken sich Menschen einvernehmlich sexuelle Bilder. 14-Jährige, die etwa einvernehmliches Sexting mit Gleichaltrigen betreiben, machen sich in Deutschland derzeit strafbar. Fachleute |kritisieren das seit langem als Fehlentwicklung|. „Minderjährige im Rahmen ihrer gleichberechtigten sexuellen Entwicklung untereinander sollten nicht vom Strafrecht erfasst werden“, fordert etwa der Kriminologe| Thomas-Gabriel Rüdiger.|
Das Phänomen nennt das BKA „Selbstfilmer“. Hierbei nehmen Minderjährige pornografische Aufnahmen von sich auf, was legal ist – und verbreiten diese in sozialen Medien und über Messenger, was illegal ist. Das BKA stellt dazu fest: „Der Trend der „Selbstfilmer“ dürfte für den sprunghaften Anstieg der Fallzahlen in den letzten Jahren mitursächlich sein.“
Viele der Hinweise, die zu einer Strafverfolgung führen, erhält das Bundeskriminalamt über die US-Organisation NCMEC, |welche gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder arbeitet|. Unter anderem prüft NCMEC auch Hinweise von Internetanbietern und Serviceprovidern auf kinder- und jugendpornografische Inhalte – und leitet diese an die jeweils zuständigen polizeilichen Zentralstellen der Staaten weiter, in denen die Straftaten mutmaßlich stattgefunden haben sollen.
Aus dem Lagebild geht hervor, dass mehr als die Hälfte der etwa 180.000 Hinweise, die das Bundeskriminalamt durch die US-Organisation NCMEC erhält, nicht strafrechtlich relevant sind. Diese Zahlen waren schon |im Juni bekannt geworden|.
Der EU-Abgeordnete Patrick Breyer kritisiert diese Praxis. Er macht dafür eine „Rekord-Unzuverlässigkeit“ von Plattformen wie Meta verantwortlich, die angefangen hätten, Textchats nach Schlüsselwörtern zu scannen. „Die Zerstörung unseres Briefgeheimnisses nimmt immer dramatischere Ausmaße an“, kritisiert der Europaabgeordenete der Piratenpartei.
Trotz der vielen Fehlalarme sind für das BKA die Hinweise des NCMEC außerordentlich wichtig: „Die starke Zunahme polizeilich abgeschlossener Fälle von Herstellung, Verbreitung, Erwerb und Besitz kinder- sowie jugendpornografischer Inhalte dürfte im Wesentlichen auf das in den letzten Jahren stetig gestiegene Hinweisaufkommen durch das NCMEC zurückzuführen sein“, heißt es im Lagebericht.
In seiner Bewertung der Lage macht das BKA die Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung dafür verantwortlich, dass es nicht noch mehr Fälle und Tatorte aufklären könne. Doch auch für die Polizist:innen in Wiesbaden ist klar, dass Strafverfolgung nur ein Element eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes beziehungsweise einer ganzheitlichen Bekämpfungsstrategie sein kann. „Eine kompetente Medienerziehung und fachkundige Begleitung von Kindern sowie adressatengerechte Präventionsmaßnahmen, die aktuelle Entwicklungen und Täterstrategien berücksichtigen, bilden neben der Einbeziehung verantwortlicher Internet-Dienstanbieter weitere wichtige Bausteine“, resümiert das BKA.
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|Bundeslagebild „Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen“ (PDF)|
|ohne auf diesen Zusammenhang hinzuweisen|
|hatte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz diese Zahlen erneut kontextlos präsentiert|
|kritisieren das seit langem als Fehlentwicklung|
|welche gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder arbeitet|
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Mon, 08 Jul 2024 13:15:47 +0000
Anna Biselli
Das Landgericht Düsseldorf hat geurteilt, dass eine Facebook-Sperre der Filmwerkstatt Düsseldorf nicht in Ordnung war. Das Unternehmen Meta habe seine marktbeherrschende Stellung ausgenutzt. Es ging – wie bereits oft – auch um dargestellte Nacktheit.
2021 sperrte Facebook die dortige Seite der Filmwerkstatt Düsseldorf. Der Social-Media-Dienst von Meta störte sich |mutmaßlich an sichtbaren Brustwarzen| und die waren auf einer Abbildung zum Film „Der Schamane und die Schlange“ zu sehen. Die Filmwerkstatt nahm das nicht hin, beschwerte sich gegen die Sperrung und zog mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und der Kanzlei Hausfeld vor Gericht – erfolgreich.
Das Landgericht Düsseldorf fällte nun ein Urteil: Meta habe in dem Fall seine marktbeherrschende Stellung ausgenutzt und die Kulturschaffenden behindert – noch dazu ohne direkt konkret zu begründen, weshalb die Sperrung erfolgte. Facebook hatte die Sperrung zwar schon vorher wieder aufgehoben, sich dafür aber anderthalb Jahre Zeit gelassen. „Nach eigenen Angaben kann der Konzern heute nicht mehr nachvollziehen, wie es zu der Sperrung kam“, heißt es in der |Pressemitteilung der GFF|.
Dass Meta zum Zeitpunkt der Sperrung keinen Grund für die Maßnahme nannte, machte es besonders schwer dagegen vorzugehen. Auch ob die Entscheidung aufgrund von automatisierten Filtern und Verfahren erfolgte, war unklar. Was hingegen klar ist: Bei einer vollständigen Sperrung gibt es hohe Hürden, wie das Oberlandesgericht Hamburg 2022 urteilte. Zudem erlegt der Digital Services Act großen Plattformen wie Facebook mittlerweile besondere Pflichten auf, auch was Informationspflichten und Widerspruchsrechte bei Moderationsentscheidungen betrifft.
Im Filmwerkstatt-Fall lag die Vermutung nahe, dass die Sperr-Entscheidung aufgrund der entblößten Brustwarzen fiel. Meta ging schon häufig sehr restriktiv mit Nacktheit um: Sei es mit Bildern von stillenden Müttern, aber auch mit Darstellungen in historischen oder künstlerischen Kontexten – etwa |beim Steinzeit-Kunstwerk| „Venus von Willendorf“. Diese als Nippelverbot bezeichnete Praxis wurde in der Vergangenheit |wiederholt kritisiert|.
Da es im Filmwerkstatt-Fall um Kartellrecht geht, ist das Urteil besonders wichtig für Vereine wie die Filmwerkstatt und andere juristische Personen, die keine klassischen Verbraucher:innen sind. Andernfalls hätte die Filmwerkstatt vor ein irisches Gericht ziehen müssen, um sich gegen die Moderationsentscheidung zu wehren. Dies sollte nun geklärt sein.
„Das Urteil ist nicht nur ein Erfolg für die Kunstfreiheit. Es zeigt, dass Nutzer*innenrechte gegenüber internationalen Digitalkonzernen auch an deutschen Gerichten durchgesetzt werden können“, sagt dazu Jürgen Bering von der GFF.
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|mutmaßlich an sichtbaren Brustwarzen|
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Mon, 08 Jul 2024 11:45:36 +0000
Constanze
Wir sprechen mit Svea Windwehr von der Gesellschaft für Freiheitsrechte über die neuen Rechte durch den Digital Services Act. Wie wehrt man sich gegen regelwidrige Maßnahmen der Plattformen? Wo könnte der DSA auch missbraucht werden? Und Svea ruft euch dazu auf, sich bei der GFF zu melden, wenn Plattformen eure Inhalte oder euer Konto sperren.
Der Digital Services Act (DSA) verfolgt im Kern das Ziel, Online-Plattformen und Anbieter digitaler Dienste wie etwa Suchmaschinen dazu zu bringen, mehr gegen rechtswidrige Inhalte vorzugehen, die Grundrechte der Nutzer besser zu schützen und den Schutz von Minderjährigen höher zu priorisieren. Seit der DSA |in Kraft ist|, hat die Zivilgesellschaft Rückenwind: Denn sie kann und soll bei der Durchsetzung der EU-Verordnung mitwirken und den Online-Plattformen auf die Finger schauen.
Beschwerden über Verstöße gegen den DSA können bei der nationalen Koordinierungsbehörde eingereicht werden. Die |deutsche Koordinierungsbehörde ist die Bundesnetzagentur|, die bei systematischen und regelmäßigen Verstößen gegen den DSA tätig werden soll.
Das Center for User Rights der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) will die neuen Rechte aus dem DSA aktiv einfordern und durchsetzen. Wir sprachen mit Svea Windwehr darüber, was die Zivilgesellschaft nun konkret tun kann und wer sich wo beschweren kann.
|Svea Windwehr| ist Leiterin des |Centers for User Rights|, einem Projekt der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Zuvor hat Svea bei Google Deutschland gearbeitet und dort Themen rund um die Regulierung von Plattformen und Inhalten sowie Künstlicher Intelligenz betreut. Frühere Stationen beinhalten die Electronic Frontier Foundation, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie der Generaldirektion CONNECT der Europäischen Kommission. Sie studierte Politikwissenschaft und internationale Beziehungen in Maastricht und Berkeley und erwarb einen Masterabschluss am Internet Institute der University of Oxford. Svea Windwehr ist |Co-Vorsitzende von D64|.
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Elina Eickstädt: Wir sprechen heute darüber, was passiert, wenn ein EU-Gesetzgebungsprozess abgeschlossen ist, und wie ein Gesetz umgesetzt wird.
Constanze Kurz: Als Beispiel dient uns dafür der Digital Services Act (DSA). Und um die Durchsetzung von Nutzerrechten unter genau diesem DSA geht es dem Projekt Center for User Rights bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte, das Svea Windwehr leitet. Was ist das Ziel des GFF-Projekts?
Svea Windwehr: Das Center for User Rights bündelt auf der einen Seite Projekte, welche die GFF im Bereich Plattform-Regulierung und Durchsetzung von Rechten schon länger am Laufen hatte. Ein neuer strategischer Fokus ist dabei die Durchsetzung von Nutzer:innen-Rechten unter dem Digital Services Act, dem großen neuen Rechtsrahmen für Online-Plattformen in der Europäischen Union, der vergangenes Jahr in Kraft getreten ist. Er hat die grundlegenden Haftungsregeln für Online-Plattformen upgedatet und vor allem viele neue Rechte für Nutzer:innen geschaffen. Und die möchten wir jetzt einfordern und durchsetzen.
Constanze Kurz: Die Durchsetzung von Rechten ist in vielen Bereichen eine Art Achillesferse des Gesetzgebers. Man hat vielleicht ein gut gemeintes Gesetz, egal ob auf der EU-Ebene oder in Deutschland. Aber nach ein paar Jahren stellt sich heraus: Die Durchsetzung der Rechte klappt nicht allzu doll. Man entdeckt Schwierigkeiten oder vielleicht auch Phänomene, die man vorher nicht antizipiert hat: Die Betroffenen, die bestimmte neue Pflichten haben, können sich vielleicht herauswinden oder Lücken ausnutzen. Was ist der Hauptfokus des Centers for User Rights beim Digital Services Act?
Svea Windwehr: Der Hauptfokus ist die Aufsichtsarbeit, die eigentlich die Aufsichtsbehörden erbringen müssten, also die Europäische Kommission und die nationalen Aufsichtsbehörden. Wir wollen die Fragen beantworten: Machen sie die Arbeit, die sie tun sollten? Ziehen sie große Tech-Unternehmen in die Verantwortung, die neuen Regeln, die es jetzt gibt, umzusetzen? Wir finden auch nicht alles am DSA im Detail positiv, aber wollen vor allem diese Aufsicht begleiten. Wir wollen dafür sorgen, dass die großen Unternehmen die neuen Rechte einhalten und Nutzer:innen in den Vordergrund stellen. Das ist natürlich eine Sisyphos-Aufgabe.
Elina Eickstädt: Was passiert beim DSA, vielleicht auch beispielhaft für andere EU-Gesetze, wenn das Gesetz in Kraft tritt?
Svea Windwehr: EU-Verordnungen wie der DSA gelten in der Theorie sofort, aber tatsächlich nur in der Theorie. Denn es müssen Strukturen auf nationaler Ebene geschaffen werden, um sie überhaupt umsetzbar zu machen. Etwa die Frage: Wer ist denn die nationale Aufsichtsbehörde? Sie muss benannt werden. Dafür braucht es ein deutsches Gesetz. Das war in Deutschland das |Digitale-Dienste-Gesetz|, das mit ziemlich viel Verspätung in Kraft getreten ist. In diesen drei Monaten gab es keine Aufsichtsbehörde in Deutschland, niemand wusste, an wen man sich wenden konnte.
Constanze Kurz: Es geht beim DSA im Wesentlichen um Pflichten für Online-Plattformen und um neue Transparenzregeln. Es geht auch um Moderationsentscheidungen dieser Plattformen und die Widersprüche, die man dagegen einlegen kann. Für wie sinnvoll hältst du die Regelungen der Verordnung? Ist das ein gelungenes Gesetz? Und wo sind Schwächen, die du schon siehst, bevor ihr überhaupt die Arbeit richtig anfangen könnt?
Svea Windwehr: In den vergangenen Jahren gab es in den EU-Mitgliedstaaten relativ viele neue Gesetze, die versucht haben, damit umzugehen, dass Online-Plattform so wahnsinnig viel Macht entfaltet haben und auch so viel Einfluss auf Grundrechte wie die Meinungsfreiheit ausüben, zum Beispiel das deutsche NetzDG. Ein ähnliches Gesetz gab es in Frankreich, und es gab solche Gesetze in Österreich. In Dänemark wurde ebenfalls darüber nachgedacht. All diese Gesetze waren nicht ideal, es gab sehr viel Kritik daran aus verschiedenen Perspektiven. Aber es war klar: Hier muss was passieren.
Es ist besser, wenn das auf europäischer Ebene passiert und harmonisiert wird, als wenn die EU-Mitgliedstaaten ihre eigenen Süppchen kochen. Das war die Hauptmotivation für den DSA. Das Gesetz besteht aus vier Teilen.
Der erste Teil sind grundlegende Haftungsregeln. Zum Beispiel: Wann ist eine Plattform verantwortlich für Inhalte, die gepostet werden und die vielleicht illegal sind? Der zweite Teil sind grundlegende Sorgfaltspflichten, die alle erfüllen müssen. Das heißt zum Beispiel, dass Online-Plattformen oder Hosting-Anbieter Notice-and-Action-Verfahren anbieten müssen – also Meldeverfahren –, aber auch grundlegenden Transparenzvorschriften nachkommen müssen.
Der dritte Teil beschreibt besondere Pflichten für die allergrößten Plattformen, die am meisten Macht haben. Das sind sehr große Plattformen, die erheblichen Einfluss auf unsere Gesellschaft haben, auf unser Zusammenleben, auf demokratische Prozesse, aber eben auch auf Grundrechte oder Wahlen und so weiter. Der vierte Teil ist dann die Durchsetzung, die Aufsicht sozusagen.
Aus meiner Perspektive ist der DSA im Großen und Ganzen gut gelungen. Ich habe Kritik, was einige Artikel angeht: Das betrifft einige der Ermächtigungen für die Europäische Kommission oder die Aufsicht, insbesondere in Krisensituationen. Es gibt einen Krisenmechanismus, wo die Europäische Kommission recht stark eingreifen kann. Es ist klar, dass diese Ermächtigungen unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine und den Erfahrungen der Corona-Pandemie geschaffen wurden. Aber ich denke, da gibt es viel Missbrauchspotential.
Eine andere Sache, die sehr problematisch ist, kennen wir schon aus dem deutschen NetzDG: die Verpflichtung für Online-Plattformen, Nutzer:innen-Daten und -Inhalte proaktiv an Strafverfolgungsbehörden auszuleiten, wenn diese der Meinung sind, dass die Inhalte bestimmte Straftatbestände erfüllen könnten, also illegal sind. Aber es ist überhaupt nicht definiert, um was für Straftaten es geht.
Das sind Elemente, wo ich sagen würde, dass der DSA missbraucht werden kann und zum Teil eine Überwachungsgesetzgebung ist. Aber der Großteil des DSA, also vor allem die Nutzer:innen-Rechte, halte ich für sehr gelungen. Jetzt müssen wir natürlich ausprobieren, ob es in der Praxis funktioniert.
Elina Eickstädt: Du hast schon mehrfach die EU-Kommission erwähnt. Welche Rolle spielt die EU-Kommission in der Umsetzung von einem solchen Gesetz, speziell vom DSA?
Svea Windwehr: Die EU-Kommission ist die Aufsichtsbehörde für die allergrößten Plattformen, die am meisten Macht über unsere Leben haben. Das war aber so gar nicht vorgesehen. Ursprünglich sollten die EU-Mitgliedsstaaten, in denen die Plattformen gemeldet sind, die Aufsicht übernehmen. Das sollte ähnlich wie bei der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) geregelt werden. Bekanntlich sind die meisten der Plattformen in Irland gemeldet. Es gab dann den Gedanken: Moment mal, das war vielleicht nicht die beste Idee. Denn Irland ist im Kontext der DSGVO nicht so wahnsinnig viel tätig geworden, im Gegenteil.
Constanze Kurz: Das war die Untertreibung des Jahrzehnts. Die Iren gelten als Nullnummer bei ihren DSGVO-Aufsichtsbehörden.
Elina Eickstädt: Man sieht das immer wieder an den Klagen von noyb und Max Schrems, nämlich wie die Aufsicht der Iren einfach überhaupt nicht funktioniert. Anscheinend wurde daraus gelernt bei der Umsetzungsidee des DSA.
Svea Windwehr: Es war klar: Was bei der DSGVO passiert ist, sollte sich auf keinen Fall wiederholen. Es ist aber auch klar, dass es wahrscheinlich nicht die allerbeste Idee ist, wenn jetzt alle 27 EU-Staaten damit anfangen, die größten Plattformen, die in all diesen Märkten unterwegs sind, selbst zu beaufsichtigen. Deswegen war die Idee: Wir geben diese Aufgabe der Kommission. Das ist auf jeden Fall eine spannende Rolle, mit der die EU-Kommission – so glaube ich – ebenfalls nicht gerechnet hat.
Elina Eickstädt: Was ist die EU-Kommission als Institution eigentlich? Und warum ist das vielleicht eine gute Idee, nicht alle Länder die Aufsicht allein machen zu lassen, sondern durch die Kommission?
Svea Windwehr: Die EU-Kommission beschreibt sich selbst als die Hüterin der Verträge, als eine angeblich objektive Exekutive, die Gesetzesvorschläge macht und sie dann auch beaufsichtigt oder zum Teil umsetzt. Ich würde sagen, die Kommission ist eine zutiefst politische Institution, weit entfernt davon, objektiv zu sein. Sie ist sehr stark beeinflusst von der Agenda der größten EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere Frankreich und Deutschland.
Die Hoffnung ist, dass die EU-Kommission in der Lage sein wird, die nötige Expertise für den DSA aufzubauen, diese zu bündeln und durchschlagskräftiger zu sein als nationale Aufsichtsbehörden.
Constanze Kurz: Es gibt eine Trennung zwischen Online-Plattformen auf der einen Seite und |sehr großen Online-Plattformen| auf der anderen. Welche sehr großen Plattformen sind das? Wie sind sie definiert? Und wie unterscheiden sich die Pflichten?
Svea Windwehr: Sehr große Online-Plattformen oder sehr große Suchmaschinen, die auch dazugehören, sind als Plattformen definiert, die mehr als 45 Millionen Nutzer:innen in der Europäischen Union haben. Das ist schon eine hohe Schwelle, die überschreitet man nicht zufällig. Das sind inzwischen knapp über zwanzig.
Dazu zählen zum Beispiel Google mit seinen verschiedenen Diensten oder die Meta-Plattform, also Instagram und Facebook, aber auch Twitter oder TikTok. Es sind aber auch Online-Marktplätze darunter wie etwa Amazon, Alibaba, Shein oder Temu. Recht neu sind auch die |großen Porno-Plattformen|, so ist etwa xHamster dazugekommen. Und auch Suchmaschinen wie die Google-Suche oder Bing sind dabei. LinkedIn fällt auch darunter, das zu Microsoft gehört.
Constanze Kurz: Was ist mit dem Unternehmen OpenAI, bekannt für ChatGPT, die sich ja mit mehr als 90 Millionen Usern brüsten. Sind die dabei?
Svea Windwehr: Es ist nicht ganz klar, was das eigentlich für eine Form von Dienst ist: Hosting-Anbieter oder Online-Plattform oder eine Mischform.
Elina Eickstädt: Was muss die EU-Kommission jetzt leisten? Macht sie auch was oder redet sie nur viel darüber?
Svea Windwehr: Die EU-Kommission hat jetzt die Aufgabe, diese ganz großen Unternehmen zu beaufsichtigen. Dafür stehen ihr eine Reihe von Möglichkeiten und Werkzeugen zur Verfügung. Zum Beispiel müssen die Unternehmen bestimmte Berichte abliefern, wie sie zum Beispiel systemische Risiken bekämpfen. Das heißt, die Kommission bekommt eine bessere Informationslage.
Sie kann aber auch Informationen anfragen. Es geht sogar so weit, dass sie Durchsuchungen durchführen oder spezifische Informationen sicherstellen könnte.
Die EU-Kommission ist auch sehr schnell aktiv geworden. Man könnte vielleicht auch sagen: Sie ist aktivistisch unterwegs gewesen in den ersten Monaten. Nicht alles davon wurde sehr positiv gesehen.
Zum Beispiel gab es im Kontext des 7. Oktober Briefe des zuständigen EU-Kommissars Thierry Breton, die er über Twitter verteilt hat. Darin forderte er die großen Plattformen auf, den DSA durchzusetzen. Dabei hat er auf eine relativ problematische Art und Weise vermischt, um was es eigentlich geht. Geht es um illegale Inhalte oder geht es um Desinformation? Das ist ein recht frühes Beispiel, wo man das Gefühl hatte, dass hier auch politisch Einfluss genommen wird.
Abgesehen davon hat die EU-Kommission vor allem drei große Prioritäten festgelegt. Es geht einmal um das Thema illegale Inhalte: Wie gehen die Plattformen mit illegalen Inhalten um, was sind die Meldewege, wie gut funktioniert die Transparenz? Der zweite Bereich ist Kinder- und Jugendschutz, der für die Kommission sehr wichtig ist. Der dritte Bereich ist die Integrität von Wahlen und Desinformation.
Elina Eickstädt: Stellt die EU-Kommission für diese Arbeit ein neues Team oder eine neue Abteilung zusammen, die dann auch beständig arbeiten – im Gegensatz zu den Kommissarinnen und Kommissaren, die ja jetzt nach den Wahlen wechseln werden?
Svea Windwehr: Ja, es wurde eine Abteilung umstrukturiert und umgebaut, und zwar die Abteilung, in der das Team sitzt, das den DSA geschrieben und verhandelt hat. Da ist sehr viel Expertise im Bereich Online-Plattformen. Sie haben schon recht viel Leute eingestellt, zwischen 70 und 100 Menschen.
Es sind auch |gerade noch Stellen offen|. Die EU-Kommission hat recht lange gebraucht, um diese Stellen zu füllen und das Team aufzubauen. Die Kommission hat mit dem Team schon einige Untersuchungen losgetreten, ich glaube, über zehn Untersuchungen und noch einige Nachfragen, sogenannte Requests for Information. Als wir als GFF |im Februar eine Beschwerde gegenüber LinkedIn eingereicht haben|, hat die Europäische Kommission als ersten Schritt nach mehr Informationen bei LinkedIn gefragt.
Elina Eickstädt: Was können wir als Zivilgesellschaft machen? Wie läuft eine Beschwerde an die Kommission? Kann ich das als Einzelperson auch tun? Kann sich einfach jeder beschweren oder muss man sich im eigenen Land an die Beschwerdestellen richten?
Svea Windwehr: Das ist eine der Lücken im DSA. Es gibt kein Beschwerderecht gegenüber der Europäischen Kommission. Theoretisch müssten wir uns alle an unsere nationale Aufsichtsbehörde wenden, der Digital-Services-Koordinator, also die deutsche Koordinierungsstelle. Da kann man quasi Beschwerden einreichen, wozu man möchte. Und wenn es sich dabei um sehr große Online-Plattformen handelt, dann hat diese nationale Aufsichtsbehörde die Verpflichtung, das an die EU-Kommission weiterzugeben.
Da es in Deutschland bis vor kurzem noch keine Aufsichtsbehörde gab, haben wir als GFF zum Beispiel unsere Beschwerde direkt bei der Kommission eingereicht. Auch wenn es keinen offiziellen Weg dafür gab, hat es in diesem Fall gut funktioniert, aber geht natürlich mit dem Problem einher, dass wir keinerlei prozessuale Rechte hatten. Die EU-Kommission hätte nichts machen müssen. Sie hätte sich auch einfach nie wieder bei uns melden können. Wir hätten keine rechtlichen Wege gehabt, dagegen vorzugehen.
Constanze Kurz: Ist es denn jetzt anders? Es gibt ja jetzt diesen Koordinator, das ist in Deutschland gesetzlich geregelt die |Bundesnetzagentur|. Müsst ihr euch mit ihnen nun ins Benehmen setzen oder wendet ihr euch direkt an die Bundesnetzagentur? Wie wird es jetzt laufen?
Svea Windwehr: Wir haben vor zwei Wochen eine weitere Beschwerde eingereicht. Wir wollten ausprobieren, wie jetzt der Weg ist. Denn inzwischen gibt es eine Webseite, über die man Beschwerden einreichen kann.
Constanze Kurz: Man kann aber nur fünf Bilddateien hochladen und man hat eine sehr begrenzte Zeichenzahl.
Svea Windwehr: Genau. Da sieht man schon ein wenig, von welchen Beschwerden sie ausgehen. Ich glaube, sie rechnen vor allem damit, von einzelnen Personen zu hören, was ihnen auf einer Plattform widerfahren ist, wo ihre Rechte nicht eingehalten wurden. Das, was wir als GFF dort einreichen wollten, nämlich Beschwerden gegen fünf verschiedene Unternehmen, das war so nicht vorgesehen. In dem Fall haben wir die Beschwerde wieder per E-Mail eingereicht, aber auch parallel an die Europäische Kommission, weil es um sehr große Online-Plattformen ging. Das wird letztlich sowieso bei der Kommission landen.
Die Bundesnetzagentur hat vor allem die Aufgabe, zu koordinieren und dann Beschwerden oder auch Untersuchungen an die Behörde weiterzugeben, die am ehesten dafür zuständig und dafür kompetent ist.
|Hier kannst Du Dich beschweren|
Constanze Kurz: Die Bundesnetzagentur betont auf der Webseite, dass es nicht um individuelle Beschwerden geht, dass sich also die Nutzer nicht wegen eines gesperrten Accounts beschweren sollen, sondern dass die Behörde über ihr Beschwerdeformular auf systematische oder regelmäßige Verstöße hingewiesen werden will.
Svea Windwehr: Deswegen ist unsere Arbeit in dem Bereich so wichtig. Denn das ist genau das Problem: Der DSA sagt sehr deutlich, dass einzelne Rechtsverstöße nicht das Problem sind. Aber systematische Rechtsverstöße können geahndet werden. Das heißt: Wenn etwa Facebook einmal was Falsches entscheidet, ist es schon okay. Das ist natürlich für einzelne Nutzer total unbefriedigend, weil die tatsächlich nicht unbedingt jemand haben, an den sie sich wenden können. Oder es ist mit sehr viel Aufwand verbunden.
Es gibt natürlich Vereine wie die GFF und auch Beratungsstellen für Betroffene von Hass im Netz, die helfen können. Aber es ist nicht offensichtlich, an wen man sich wenden kann. Es gibt noch die Verbraucherschutzzentralen, die auch hilfreich sind, aber die muss man auch erstmal kennen.
Constanze Kurz: Du hast vorhin erwähnt, dass der DSA auch die Pflichten in Bezug auf Meldungen für die großen Plattformen verbessern soll. Sie müssen jetzt bestimmte Beschwerdewege haben und auch reagieren – oder zum Beispiel auch nicht immer automatisiert reagieren. Im Prinzip ist der DSA vor allen Dingen dafür da, dass es diese Wege überhaupt gibt und zwar überall. Aufzuzeigen, wo diese Beschwerdestellen bei den großen Plattformen sind, wäre doch eigentlich eine Forderung, die man an die Bundesnetzagentur stellen könnte.
Elina Eickstädt: Ich glaube, das ist ein Klassiker, dass wir jetzt als Zivilgesellschaft wieder schauen müssen, dass alle Menschen ihre Rechte kennen, die sie jetzt auf einmal innehaben. Und wir müssen außerdem dafür sorgen, dass es eine Durchsetzung dieser Rechte gibt. Oder wie siehst du das?
Svea Windwehr: Auf der einen Seite ist das eine Rolle, welche die Zivilgesellschaft schon immer hatte: Watchdog sein. Aber ich würde auch sagen, es gibt auf der anderen Seite ein gewisses Spannungsfeld: Man kann nicht mit der Kommission zusammenarbeiten und den DSA durchsetzen und gleichzeitig die Kommission beaufsichtigen und Watchdog sein.
Hinzu kommt die ungeklärte Finanzierungslage für ganz viele Organisationen in Deutschland, genauso auch in anderen Ländern oder auf europäischer Ebene. Es gibt einfach viel zu wenig Geld für diese Arbeit. Aktuell würde ich schon sagen, dass es von Aufsichtsbehörden eine Erwartungshaltung gibt, insbesondere von der EU-Kommission an die Zivilgesellschaft. Nach dem Motto: Ihr wolltet diese Rolle, jetzt ist der DSA da – könnt ihr nun Beweise liefern, wo es schlecht läuft?
Das ist natürlich eine tolle und eine wichtige Aufgabe. Wir wollen uns natürlich auch beteiligen und hilfreich sein. Ich denke, aktuell ist es gut angelaufen. Aber es ist natürlich klar, dass früher oder später Konflikte auftauchen. Dann wird es spannend.
Constanze Kurz: Bei der Bundesnetzagentur, also dem deutschen Koordinator, gibt es auch eine zivilgesellschaftliche Beteiligung. Sie ist in einem Beirat festgelegt, der sich zusammensetzt aus zur Hälfte Zivilgesellschaft, einem Viertel Wissenschaft und einem Viertel Wirtschaft. Ist schon bekannt, wer in diesem Beirat sein wird?
Svea Windwehr: |Der Beirat| wurde gerade benannt, ich gehöre ihm als Teil der Zivilgesellschaft an.
Constanze Kurz: Aus Sicht der GFF: Welchen Unternehmen wollt ihr euch widmen? Was sind die Themen, die euch unter den Nägeln brennen, wo wollt ihr aktiv werden?
Svea Windwehr: Das sind drei Bereiche. Der erste ist die Inhaltemoderation, also genauer die Durchsetzung und Wahrung von Grundrechten bei der Inhaltemoderation. Da sind wir darauf angewiesen, dass Menschen zu uns kommen und erzählen, was ihnen passiert ist.
Hier ist der Aufruf: Wurden eure Inhalte gesperrt oder euer Konto blockiert? Dann meldet euch gern, wenn ihr das Gefühl habt, dass das nicht rechtmäßig passiert ist. Wenn vielleicht auch bestimmte politische Inhalte zensiert wurden, dann sind wir erstmal neugierig und schauen uns das gern an.
Der zweite Bereich ist der Zugang zu Forschungsdaten. Das ist eine große Innovation, dass es ein relativ weitgehendes neues Recht für Forschende gibt, Zugang zu Plattformdaten zu bekommen. Das wollen wir durchsetzen mit Forschenden, also dafür kämpfen, dass sie die Daten auch bekommen.
Der dritte Bereich ist das, was ich Plattform-Design nenne, also die Aspekte des DSA, die nicht unbedingt auf einzelne Nutzerrechte abzielen, sondern das Design und die Gestaltung von Online-Plattformen angehen. Sie haben sehr großen Einfluss darauf, wie Nutzer sich dort bewegen können und was sie vorfinden.
In allen drei Kategorien muss aus meiner Sicht sehr viel überprüft werden. Gerade auch die Meldewege, da gibt es schon erste Beschwerden. Es ist klar, dass Meldewege auf allen Plattformen nicht besonders gut ausgestattet sind, nicht besonders gut funktionieren und nicht einfach zu nutzen sind.
Constanze Kurz: Du hast vermieden, irgendeine bestimmte große Online-Plattform zu benennen.
Elina Eickstädt: Was ist eigentlich mit TikTok? Setzen sie den DSA um, was ist dein Eindruck?
Svea Windwehr: TikTok fällt als eine sehr große Plattform unter den DSA. TikTok war unter den fünf Unternehmen, gegen die wir vor ein paar Wochen wegen ihrer mangelnden Umsetzung von Wegen, sich als Nutzer:in vertreten zu lassen, eine Beschwerde eingereicht haben. Aus meiner Erfahrung bemüht sich TikTok um Compliance. Ich glaube, TikToks generelle Strategie besteht darin, Gesetze umzusetzen, und es ist eventuell weniger fokussiert darauf, Grundrechte abzuwägen.
Wir schauen weniger auf konkrete Unternehmen als auf konkrete Themen. Bis jetzt haben wir gegen fast alle großen Plattformen, auf denen nutzergenerierte Inhalte geteilt werden, Beschwerden eingereicht.
Elina Eickstädt: Der DSA war ein geprägt von den EU-Wahlen: Wir müssen irgendwas gegen Desinformation tun. Hast du das Gefühl, dass es jetzt in der Umsetzung des DSA zu gut überlegten Regelungen kommt?
Svea Windwehr: Der DSA ist schon ein Versuch, auf aktuelle Herausforderungen einzugehen – manchmal besser, manchmal schlechter. Ich glaube, dieser Krisenmechanismus, den ich vorhin erwähnt habe, ist ein Beispiel von eher nicht so gut gelaufen. Die Artikel zu systemischen Risiken, wo zum Beispiel auch Desinformation oder Schutz von Wahlen drin stehen, die ergeben schon mehr Sinn.
Für mich geht es um ein grundlegendes Missverständnis: Desinformation ist ja in den allermeisten Fällen nicht rechtswidrig. Die Inhalte, die verbreitet werden, sind meistens nicht rechtswidrig. Es ist falsch und es sind oft Dinge, die aus dem Kontext gerissen werden und in falschen Kontext gestellt werden. Aber es ist selten illegal. Der DSA reguliert aber in allererster Linie illegale Inhalte. Das heißt, es ist relativ begrenzt, was man unter dem DSA tun kann, um gegen Desinformation vorzugehen. Das wird manchmal ein bisschen übertrieben dargestellt. Aber es ist ein sehr komplexes Problem mit vielen verschiedenen Akteuren. Und einfach nur zu sagen, Plattformen sollen jetzt mehr Desinformation löschen, wird dem überhaupt nicht gerecht.
Das heißt, wir müssen vorsichtig damit sein, zu sagen, der DSA funktioniert nicht, er muss nachgeschärft werden – gerade in den ersten Monaten, vielleicht auch im ersten Jahr. Wir müssen erstmal Erfahrungen damit sammeln und herausfinden, was gut funktioniert, was schlecht funktioniert und uns gemeinsam der Herausforderung stellen, dass wir noch nicht alle Antworten haben.
Elina Eickstädt: Was kann der DSA eigentlich beim Kinder- und Jugendschutz tun? Hast du das Gefühl, dass es hier wieder so eine Erwartungshaltung an den DSA gibt, die gar nicht erfüllt werden kann?
Svea Windwehr: Der DSA sagt zum Kinder- und Jugendschutz, dass Plattformen sich Maßnahmen ausdenken müssen, um Kinder und Jugendliche zu schützen, und das quasi auf systemischer Ebene einbauen, überprüfen und bewerten müssen. Da bin ich sehr gespannt drauf. Die entsprechenden Risikoberichte werden im Laufe des Jahres veröffentlicht.
Wovor ich ein bisschen Sorge habe, ist die Diskussion, ob Altersverifizierung nicht doch ein notwendiges Werkzeug ist, um Kinder und Jugendliche im Netz zu schützen. Da habe ich große Bedenken und die Sorge, dass in irgendwelchen Arbeitsgruppen – fernab der Öffentlichkeit und des demokratischen Gesetzgebungsprozesses – die Altersverifizierungen über die Hintertür noch Schule machen könnte. Da sehe ich auf jeden Fall eine große Gefahr.
Constanze Kurz: Ich muss auf etwas zurückkommen, dass du zweimal explizit als Schwäche des DSA erwähnt hast: den Krisenmechanismus. Was ist dieser Krisenmechanismus, wo siehst du die große Gefahr?
Svea Windwehr: Kurz zusammengefasst sagt der Krisenmechanismus, dass die EU-Kommission nach Aufforderung der nationalen Aufsichtsbehörden in Fällen von Krisen, die weit definiert sind, etwa nationale Sicherheit oder Public Health, Krisenprotokolle unter Beteiligung betroffener Online-Plattformen ausarbeitet. Die Kommission kann so konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise vorschlagen und ihre Anwendung überwachen.
Der Artikel dazu ist recht vage und lässt viele Spielräume. Am Beispiel der Corona-Pandemie haben wir gesehen, wie dynamisch solche Situationen sein können, und wie schnell sich auch verändert, was zum Beispiel als Desinformation wahrgenommen wird und was nicht. Da macht mir dieser Artikel und die Ermächtigungen, die der im Falle einer Krise erlaubt, Sorgen.
Constanze Kurz: Ich erinnere daran, dass mit Beginn des kriegerischen Ukrainekonflikts auch ganz drastische Zensurmaßnahmen in Europa durchgesetzt wurden, die bis heute bestehen in Bezug auf russische Sender. Du hast jetzt Desinformation erwähnt, aber eigentlich geht es ja um rechtswidrige Inhalte, nicht wahr?
Svea Windwehr: Ja, ich glaube, es wird auch oft verkürzt. Staatliche Akteure hätten einen direkten Weg, um Druck auch Unternehmen mit sehr großer Reichweite auszuüben, um bestimmte Maßnahmen umzusetzen. Da sehe ich Missbrauchspotential. Gleichzeitig ist auch klar, dass die Gesellschaft sehr wachsam ist.
Wir müssen abwarten, wie das in der Praxis laufen wird, aktuell ist es schwer zu bewerten. Aber ich glaube, es ist allen klar, dass dieser Mechanismus nicht ideal ist, dass es viele Fragezeichen gibt und dass man mit sehr viel Sorgfalt agieren muss.
Elina Eickstädt: Was sollte man grundsätzlich über den DSA wissen?
Svea Windwehr: Man sollte wissen, dass wir jetzt zum ersten Mal Rechte haben, um uns gegen Handlungen der Plattformen zu wehren. Die sollte man nutzen. Das geht am allerbesten, wenn man sich ein bisschen Hilfe sucht, zum Beispiel auf die GFF zukommt und uns anspricht.
Was auch wichtig ist: Es gibt neue Transparenz und neuen Zugang zu Daten. Jetzt müssen wir den Zugang auch nutzbar machen. Und deswegen hier ein Aufruf an alle, die forschen oder in irgendeiner Uni Lust dazu haben: Welche Daten wollt ihr eigentlich? Wie könnte man sie herkriegen? Da aktiv zu werden, das ist mein Appell.
Elina Eickstädt: Vielen Dank, Svea, dass du dir die Zeit für das Gespräch genommen hast!
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Das etwa einstündige Gespräch mit Svea ist auch als |Podcast| verfügbar. Der Podcast „Dicke Bretter“ versucht zu erklären, wie Gesetzgebungen und Standards zustandekommen, wie die Willensbildung und die Durchsetzung in solchen Zusammenhängen verlaufen und welche Institutionen daran mitwirken.
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Mon, 08 Jul 2024 07:23:27 +0000
Ingo Dachwitz
AI and content moderation would be impossible without the labor of millions of data workers. In a new project, these workers share their stories: from platform workers in Venezuela and Syria to employees of outsourcing companies in Kenya and content moderators in Germany.
Today marks the launch of the |Data Workers‘ Inquiry|. This joint project between the Weizenbaum Institute, the Technical University of Berlin, and the Distributed AI Research Lab, features workers behind artificial intelligence and content moderation discussing their working and living environments. |The inquiries| come in various forms, from texts to videos, podcasts, comics, and zines.
We asked co-initiator |Milagros Miceli| what lessons can be learned from the Data Workers‘ Inquiry. Miceli is a sociologist and computer scientist who leads a team at the Weizenbaum Institute in Berlin. She has been researching the work behind AI systems for years, including data annotation, where people sift through, sort, and label data sets so that machines can understand them. For instance, before an image recognition system can identify a photo of a cat, humans must label a series of images with cats. AI systems can then be trained with such data sets.
netzpolitik.org: How important are data workers for the functioning of the digital world?
Milagros Miceli: Data workers are essential to the development and maintenance of the most popular platforms and systems we use. There’s no AI without the labor that goes into data collection, cleaning, annotation, and algorithmic verification. Without the continuous work of content moderators, who make social media platforms, search engines, and tools like ChatGPT usable, we wouldn’t be able to navigate these systems without getting seriously scarred, psychologically speaking. Would we still use ChatGPT if all its answers were filled with slurs? Would we still be on social media if we routinely encountered violent images?
netzpolitik.org: What role does outsourcing play in this industry?
Milagros Miceli: Human labor is a necessary part of the loop to generate and maximize surplus value. But for this, labor needs to be available and cheap. Hence, most tech giants rely on platforms and companies that provide an outsourced workforce, available 24/7 at low costs. The impressive advancement of AI technologies in the past decade or so correlates with the flourishing of data work platforms and companies that started with the creation of Amazon Mechanical Turk 20 years ago. The MTurk model made a large global workforce available at all times and at cheap prices.
netzpolitik.org: In the project, data workers report from very different work contexts and regions of the world—from platform workers in Venezuela or Syria to employees of outsourcing companies in Kenya and content moderators in Germany. Is there a universal experience that all of them share?
Milagros Miceli: These are the common realities of most data workers: they are paid for each task completed, not for their time; they receive meager hourly wages as low as 2 USD in Kenya or 1.7 USD in Argentina, and have no labor rights or protection; they are subject to surveillance and the arbitrariness of clients and platforms, and, in many cases, they carry permanent mental-health issues from the job. Most data workers are subject to NDAs that prevent them from talking to others about what’s going on. We have seen cases in which workers didn’t seek psychological or legal advice because they were told that would mean breaking the NDA.
Especially in the Global South, there are structural dependencies that leave workers with no option but to accept such working conditions. In places with high unemployment rates, the workforce remains constant, and workers are treated as disposable. The outsourcing model also helps companies avoid responsibility: when problems arise, nobody feels responsible for the workers‘ well-being, and they are left to suffer alone.
netzpolitik.org: The work of data workers behind AI and content moderation is often made invisible, which is why Mary Gray and Siddharth Suri also speak of |Ghost Work|. How does the Data Workers‘ Inquiry want to change this?
Milagros Miceli: Making this “ghost work” visible, shedding light on the problems faced by workers, and raising public awareness are important goals of our project. However, the Data Workers’ Inquiry embodies a commitment to go beyond just abstractly “raising awareness” in the sense of academics and journalists talking about the workers. Our approach is amplifying workers’ voices and political demands. Shifting away from us talking for and about the workers towards creating a platform where workers can talk for themselves and put things in their own words was very important to me in the conception of this project and methodology.
netzpolitik.org: What does this look like in practice?
Milagros Miceli: We invite the data workers to take the lead, both in deciding which topics and issues they consider pressing and in choosing the medium and format. The variety of the inquiries speaks for itself: there are podcasts, documentaries, animations, comics, zines, and essays. Most formats were decided upon specifically to reach wider audiences who don’t necessarily read academic papers.
Furthermore, we hope that the project’s dialogue and networking opportunities can strengthen workers’ organization efforts and lead to positive changes. So it is not only about workers informing us but also about workers talking to each other and organizing.
netzpolitik.org: The participating data workers act as „community researchers“ in the project. What exactly is their role?
Milagros Miceli: This means that they conduct research within their own worker communities or workplaces as community members themselves, that is, from an insider perspective. We center their experiences and recognize their unique knowledge. In my career, I’ve conducted around 100 interviews with data workers globally. Still, I will never know how it feels to be dependent on this work and mistreated by clients. This is something that only workers can know.
Each community researcher develops unique research questions, designs and conducts their inquiries, and prepares a presentation format for their findings. In the process, they talk to their co-workers and other data workers and are also in constant exchange with us. For instance, we offer advice on how to collect data and structure the process. Our job is to organize and provide a platform for these inquiries and to constantly evaluate their ethical and legal boundaries.
netzpolitik.org: What effect does this have on the reports you publish?
Milagros Miceli: It already shows when the community researchers talk and interview other workers: they know what to ask and how, and they establish rapport and trust immediately through their shared experiences. Good examples of this are |the podcasts| and |documentaries| on our website. Also, the |zine about African women in content moderation|, in which experiences of psychological, economic, and sexual abuse endured by female migrant workers at the company Sama in Kenya are shared, and the |heartbreaking report| that explores the mental health struggles of Meta’s content moderators. These are good examples of supporting community members in telling their own stories and coming up with new insights and better research outputs in the process.
netzpolitik.org: As you already mentioned, data workers usually have to sign non-disclosure agreements (NDAs). In the Data Workers‘ Inquiry, however, many workers name their employers, and some even appear under their real names. What risk are they taking to inform the public about conditions in the industry?
Milagros Miceli: Breaking non-disclosure agreements can have very serious repercussions for the workers. Just last year, a content moderator at Telus International in Essen, Germany, suffered retaliation for testifying about working conditions at the Bundestag. This not only signifies the loss of their income but could also lead to the loss of visas for the many migrants who depend on this job for their legal status.
Despite all these possible repercussions, our community researchers decide to speak up. This shows how pressing the issues being reported are and how important it is for the authors to reach a large audience. They are incredibly brave for doing this, but they are also relying on public pressure for protection and they certainly hope that after taking such a risk, their stories won’t be ignored.
Their commitment to sharing their stories shows how much trust they have placed in us and the project. Of course, this is a big responsibility for us, one that we don’t take lightly. We have offered each community researcher the possibility of remaining anonymous or anonymizing the companies they work for. Some of them have decided to do so, but most authors have decided to publish under their real names and name the companies. We work hard on protecting the information they provide and protecting them. For this, we have actively sought legal advice both in Germany and internationally, and with the organizations that fund this project. In addition, we’re in constant exchange with data protection and research ethics experts.
netzpolitik.org: The Data Workers‘ Inquiry is inspired by a questionnaire that Karl Marx used in 1880 to investigate the situation of the French working class. To what extent does digitalization with its global division of labour make it more difficult for exploited workers to engage in joint labour struggles today? Or can digital tools even be helpful here?
Milagros Miceli: Seeing that the Data Workers’ Inquiry is also an academic project, this question has both a theoretical and political answer. Considering theoretical analyses, the global division of labor by means of digitalization necessitates an expansion of the orthodox Marxist framework, away from a focus on the white industrial worker and towards issues of societal reproduction, intersections of race, gender, and class, colonial perpetuation, and the far-reaching exploitation of natural resources that all sustain platform capitalism.
The key role of data workers for the smooth functioning of AI reminds us of the fundamental Marxist claim that only human labor can create surplus value, irrespective of attempts to reduce them to mere appendices to machines. Data work should consequently be analyzed as a mode of production that exacerbates alienation by physically separating the workers from their products, which counteracts data workers’ political power to organize and exercise control over the means of production they employ as a globally dispersed workforce.
netzpolitik.org: If that was the theoretical answer, what is the political one?
Milagros Miceli: Without political pressure and public solidarity, workers are at the mercy of reprisals from technology companies. However, they can only exert pressure if they create channels of solidarity and collectively build up a counter-power to the corporations. And only then can they fight for fair working conditions.
Many of the community researchers already belong to trade unions. However, they are grouped together in various labour groups, which undermines their political power. In addition, many of them are dissatisfied with the large traditional trade unions and want to form their own unions.
And the use of technology can also help them in this struggle. Technology is not bad per se. It can actually help workers to connect and organize. Furthermore, some of our community researchers argue that data workers could do their jobs better if technologies were not used unilaterally to monitor and increase efficiency, but if they were instead used to optimize communication and collaboration between workers.
netzpolitik.org: Many see a |continuation of colonial exploitation| in the digital economy: Hard work under precarious conditions is often outsourced to countries in the Global South. The profits flow predominantly to the Global North, both to the clients and to the operators of BPO companies and outsourcing platforms.
Milagros Miceli: According to the World Bank, there are between |154 million and 435 million data workers globally|, with many of them situated in or displaced from the World Majority. The numbers have grown exponentially in the last few years with no sign of slowing down.
The larger concentration of data workers per country is still in the US, but the overwhelming overall majority is located in the Global South if we count countries like India and the Philippines and regions like Latin America, with Venezuela and Brazil at the forefront.
Before the Data Workers’ Inquiry, I conducted several studies with data workers in Argentina, Venezuela, Bulgaria, and Syria. In all cases, the requesters were located in the US and the EU. This adds another level of hardship for the data workers who have to work odd hours to cater to the client’s time zones and often don’t understand why instructions formulated in English are given to Spanish-speaking workers, or why the images they have to label depict objects that are foreign to them, for instance.
In other cases I observed, the images were strangely familiar, such as when refugee data workers displaced by the war in Syria were tasked with labeling satellite images of what they suspected was their region to be used for surveillance drones. This case shows how data workers’ experience is leveraged as expertise and their misfortune is used to perfect the same technologies that have contributed to their displacement.
netzpolitik.org: What needs to change in the tech industry in terms of outsourcing and what can people, civil society, and politics in Germany/Europe do to support data workers?
Milagros Miceli: We want to offer employees a platform on which they can put forward their demands. And most of them do so very clearly. They want better wages and working conditions, more stable employment contracts, and more support. This also includes psychological support for hazardous occupations such as content moderation.
Many of our community researchers are proud to contribute to technological progress and a safer internet, but want to be better recognized for it. Of course, this includes fair compensation.
We should therefore also stop asking whether an hourly wage of 2 dollars in countries like Kenya and Venezuela is a lot of money. Instead, we should be asking why the tech giants, which generate billions in revenue every year, don’t pay their employees more. After all, they are essential to their business.
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|154 million and 435 million data workers globally|
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Mon, 08 Jul 2024 07:23:21 +0000
Ingo Dachwitz
Ohne Millionen Datenarbeiter:innen würden weder sogenannte Künstliche Intelligenz noch Content-Moderation funktionieren. In einem neuen Projekt erzählen sie ihre Geschichten: von Plattformarbeiter:innen in Venezuela und Syrien über Angestellte von Outsourcing-Firmen in Kenia bis zu Content-Moderator:innen in Deutschland.
Heute startet die Initiative |„Data Workers‘ Inquiry“|, zu deutsch etwa: Datenarbeiter:innen-Befragung. In dem gemeinsamen Projekt vom Weizenbaum Institut, der Technischen Universität Berlin und dem Distributed AI Research Lab berichten Arbeitskräfte, die hinter sogenannter Künstlicher Intelligenz und Content Moderation stecken, von ihrer Arbeits- und Lebenswelt. |Die Berichte umfassen| Texte, Videos, Podcasts sowie Comics und Zines.
Wir haben Mit-Initiatorin |Milagros Miceli| gefragt, was sich aus den Befragungen lernen lässt. Miceli ist Soziologin und Informatikerin. Sie leitet ein Team am Berliner Weizenbaum-Institut und forscht seit Jahren zur Arbeit hinter KI-Systemen, unter anderem zur Datenannotation. So nennt man es, wenn Menschen Datensätze sichten, sortieren und mit Etiketten versehen, damit Maschinen sie verstehen. Bevor zum Beispiel eine Bilderkennung das Foto einer Katze erkennen kann, müssen Menschen reihenweise Bilder mit Katzen kennzeichnen. Mit solchen Datensätzen lassen sich dann KI-Systeme trainieren.
netzpolitik.org: Was machen Datenarbeiter:innen eigentlich und welche Bedeutung haben sie für das Funktionieren der digitalen Welt?
Milagros Miceli: Datenarbeiter:innen sind unverzichtbar für die Entwicklung und Wartung der beliebtesten Plattformen und Systeme, die wir nutzen. Es gibt |keine KI ohne die Arbeit|, die in die Datensammlung, -bereinigung und -kommentierung fließt, und ohne algorithmische Überprüfung. Ohne die kontinuierliche Arbeit von Inhaltsmoderator:innen, die Social-Media-Plattformen, aber auch Suchmaschinen und |Tools wie ChatGPT| nutzbar machen, wären wir nicht in der Lage, diese Systeme zu nutzen, ohne ernsthafte psychologische Schäden davonzutragen: Würden wir ChatGPT noch einsetzen, wenn alle Antworten mit Beleidigungen gespickt wären? Wären wir noch in den sozialen Medien unterwegs, wenn wir regelmäßig auf Gewaltdarstellungen stoßen würden?
netzpolitik.org: Welche Rolle spielt Outsourcing in dieser Branche?
Milagros Miceli: Die menschliche Arbeit ist ein notwendiger Teil des Kreislaufs zur Erzeugung und Maximierung des Mehrwerts. Doch dafür muss die Arbeitskraft verfügbar und billig sein. Daher verlassen sich die meisten Tech-Giganten auf Plattformen und Unternehmen, die ausgelagerte Arbeitskräfte bereitstellen, die rund um die Uhr zu niedrigen Kosten verfügbar sind. Der beeindruckende Fortschritt der KI-Technologien, den wir in den vergangenen zehn Jahren erlebt haben, korreliert mit dem Aufschwung von Plattformen und Unternehmen für Datenarbeit. Der Aufschwung begann mit der Gründung von |Amazon Mechanical Turk| vor 20 Jahren. Das Mechanical-Turk-Modell machte eine große Anzahl von Arbeitskräften weltweit jederzeit und zu günstigen Preisen verfügbar.
netzpolitik.org: Im Data Workers‘ Inquiry berichten Datenarbeiter:innen aus ganz unterschiedlichen Arbeitskontexten und Weltregionen. Unter ihnen sind Plattformarbeiter:innen in Venezuela und Syrien, Angestellte von Outsourcing-Firmen in Kenia und auch Content Moderator:innen in Deutschland. Gibt es so etwas wie eine universelle Erfahrung, die alle von ihnen teilen?
Milagros Miceli: Die meisten Datenarbeiter:innen haben einiges gemeinsam: Sie werden nicht für ihre Zeit bezahlt, sondern nur für erledigte Aufgaben. Meist erhalten sie magere Stundenlöhne von gerade einmal 2 US-Dollar in Kenia oder 1,7 US-Dollar in Argentinien. Sie haben keine Arbeitsrechte oder sonstigen Schutz. Und sie sind der Überwachung und der Willkür von Auftraggeber:innen und Plattformen ausgesetzt. In vielen Fällen tragen sie auch dauerhafte psychische Probleme von der Arbeit mit sich. Die meisten Datenarbeiter:innen unterliegen Geheimhaltungsvereinbarungen, die sie daran hindern, mit anderen darüber zu sprechen, was vor sich geht. Wir haben Fälle erlebt, in denen Beschäftigte keine psychologische oder rechtliche Beratung in Anspruch genommen haben, weil ihnen gesagt wurde, dass dies einen Bruch der Geheimhaltungsvereinbarungen bedeuten würde, dass sie mit ihren Arbeitgebern abgeschlossen haben.
Vor allem im globalen Süden gibt es strukturelle Abhängigkeiten, die den Beschäftigten keine andere Wahl lassen, als solche Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Vor allem an Orten mit hoher Arbeitslosigkeit werden die Arbeitnehmer:innen wie Wegwerfartikel behandelt. Das Outsourcing-Modell erlaubt es den Unternehmen auch, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wenn Probleme auftreten, fühlt sich niemand für das Wohlergehen der Arbeitnehmer:innen verantwortlich, und sie werden allein gelassen.
netzpolitik.org: Die Leistung von Datenarbeiter:innen hinter KI und Content Moderation wird oft unsichtbar gemacht. Die Autor:innen Mary Gray und Siddharth Suri sprechen deshalb auch von |„Ghost Work“|. Wie will die Data Workers‘ Inquiry das ändern?
Milagros Miceli: Diese „Geisterarbeit“ sichtbar zu machen, die Probleme der Beschäftigten zu beleuchten und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, sind wichtige Ziele unseres Projekts. Die Data Workers‘ Inquiry verkörpert jedoch ein Engagement, das über eine abstrakte „Sensibilisierung“ im Sinne von Akademiker:innen und Journalist:innen hinausgeht, die über die Arbeiter:innen sprechen. Unser Ansatz besteht darin, die Stimmen der Arbeitnehmer:innen und ihre politischen Forderungen zu verstärken. Bei der Konzeption dieses Projekts und der Methodik war es mir sehr wichtig, dass wir nicht mehr für und über die Arbeiter:innen sprechen. Stattdessen wollten wir eine Plattform schaffen, auf der sie für sich selbst sprechen und ihre Anliegen in eigene Worte fassen können.
netzpolitik.org: Wie sieht das in der Praxis aus?
Milagros Miceli: Wir laden die Datenarbeiter:innen ein, die Führung zu übernehmen, sowohl bei der Entscheidung, welche Themen und Fragen sie für dringlich halten, als auch bei der Wahl des Mediums und des Formats. |Deren Vielfalt| spricht für sich selbst: Es gibt Podcasts, Dokumentarfilme, Animationen, Comics, Zines und Essays. Die meisten Formate wurden speziell ausgewählt, um ein breiteres Publikum zu erreichen, das nicht unbedingt akademische Abhandlungen liest.
Außerdem hoffen wir, dass der Dialog und die Vernetzungsmöglichkeiten des Projekts die Arbeitnehmerorganisation stärken und zu positiven Veränderungen führen können. Es geht also nicht nur darum, dass die Arbeitnehmer:innen uns informieren, sondern dass sie auch miteinander reden und sich organisieren.
netzpolitik.org: Die teilnehmenden Datenarbeiter:innen agieren in dem Projekt als „Community Researchers“. Was bedeutet das?
Milagros Miceli: Das bedeutet, dass sie in ihren eigenen Arbeitsgemeinschaften oder an ihren Arbeitsplätzen als Mitglieder der Gemeinschaft selbst forschen, das heißt: aus einer Insider-Perspektive. Wir stellen ihre Erfahrungen in den Mittelpunkt und erkennen ihr einzigartiges Wissen an. In meiner Laufbahn habe ich weltweit etwa 100 Interviews mit Datenarbeiter:innen geführt. Dennoch werde ich nie wissen, wie es sich anfühlt, von dieser Arbeit abhängig zu sein und von den Kund:innen schlecht behandelt zu werden. Das ist etwas, das nur die Arbeiter:innen wissen.
Alle Community-Forscher:innen entwickeln eigene Forschungsfragen, konzipieren und führen eigene Untersuchungen durch und bereiten Präsentationen ihrer Ergebnisse vor. Dabei sprechen sie mit ihren Kolleg:innen und anderen Datenbearbeiter:innen und stehen auch mit uns in ständigem Austausch. Wir beraten sie zum Beispiel bei der Datenerhebung und der Strukturierung des Prozesses. Unsere Aufgabe ist es, ihnen eine Plattform zu bieten.
netzpolitik.org: Wie macht sich dieser Ansatz in den Berichten bemerkbar, die ihr veröffentlicht?
Milagros Miceli: Wenn die Community-Forscher:innen andere Arbeiter:innen interviewen, wissen sie, was und wie sie fragen müssen. Durch ihre gemeinsamen Erfahrungen fassen sie sofort Vertrauen zueinander. Gute Beispiele dafür sind die |Podcasts| und |Dokumentationen| auf unserer Website. Oder das |Zine über afrikanische Frauen in der Content-Moderation|, in dem Wanderarbeiter:innen ihre Erfahrungen mit psychologischem, wirtschaftlichem und sexuellem Missbrauch bei der Firma Sama in Kenia teilen. Oder der |herzzerreißende Bericht|, der die psychischen Probleme der Content-Moderator:innen von Meta untersucht. All das sind gute Beispiele für die Unterstützung von Community-Mitgliedern, die ihre persönlichen Geschichten erzählen.
netzpolitik.org: Du hast es schon angesprochen: In der Regel müssen Datenarbeiter:innen Verschwiegenheitsklauseln unterschreiben, sogenannte Non-Disclosure-Agreements, kurz NDAs. Im Data Workers‘ Inquiry benennen jedoch viele Arbeiter:innen ihre Arbeitgeber, manche treten sogar unter Klarnamen auf. Welches Risiko gehen sie damit ein?
Milagros Miceli: Die Verletzung von NDAs kann für die Arbeitnehmer:innen sehr ernste Folgen haben. Im vergangenen Jahr wurde |ein Moderator bei Telus International in Essen|, Deutschland, wegen seiner Aussage über die Arbeitsbedingungen im Bundestag entlassen. Dies bedeutet nicht nur den Verlust ihres Einkommens, sondern könnte auch zum Verlust des Visums oder Aufenthaltstitels für die vielen Migrant:innen führen, die für ihren rechtlichen Status auf diese Arbeit angewiesen sind.
Dennoch melden sich unsere Community-Forscher:innen zu Wort. Das zeigt, wie wichtig es den Autor:innen ist, ein großes Publikum zu erreichen. Sie sind unglaublich mutig, und sie hoffen natürlich, dass ihre Geschichten gehört werden.
Ihr Engagement zeigt uns, wie viel Vertrauen sie in das Projekt haben. Die Verantwortung, die damit einhergeht, nehmen wir nicht auf die leichte Schulter. Wir haben allen Community-Forscher:innen angeboten, anonym zu bleiben und die Unternehmen, für die sie arbeiten, zu anonymisieren. Einige haben das Angebot angenommen, aber die meisten Autor:innen haben sich dafür entschieden, ihren richtigen Namen und auch die Unternehmen zu nennen.
Natürlich haben wir uns bemüht, alle wichtigen Vorkehrungen zu treffen, um alle Beteiligten wirksam zu schützen. Wir haben uns unter anderem rechtlich beraten lassen. Und wir stehen in ständigem Austausch mit Expert:innen für Datenschutz und Forschungsethik.
netzpolitik.org: Lass uns noch einmal grundsätzlich über das Projekt sprechen. Die Data Workers‘ Inquiry ist inspiriert von einem Fragebogen, mit dem Karl Marx 1880 die Lage der französischen Arbeiterklasse untersuchen wollte. Inwiefern erschwert heute die Digitalisierung mit ihrer globalen Arbeitsteilung gemeinsame Kämpfe ausgebeuteter Arbeiter:innen? Oder können digitale Werkzeuge hierbei sogar hilfreich sein?
Milagros Miceli: Da die Data Workers‘ Inquiry auch ein akademisches Projekt ist, hat diese Frage sowohl eine theoretische als auch eine politische Antwort. Was die theoretischen Analysen betrifft, so erfordert die globale Arbeitsteilung durch die Digitalisierung eine Erweiterung des orthodoxen marxistischen Rahmens – weg vom Fokus auf den weißen Industriearbeiter und hin zu Fragen der gesellschaftlichen Reproduktion, der Überschneidungen von Race, Geschlecht und Klasse, der Fortführung des Kolonialismus und der weitreichenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die alle den Plattformkapitalismus aufrechterhalten.
Die Schlüsselrolle der Datenarbeiter:innen für das reibungslose Funktionieren der KI erinnert an die grundlegende marxistische Annahme, dass nur menschliche Arbeit Mehrwert schaffen kann, ungeachtet der Versuche, sie auf bloße Anhängsel von Maschinen zu reduzieren. Datenarbeit sollte folglich als eine Produktionsweise analysiert werden, die die Entfremdung verschärft, indem sie die Arbeiter:innen physisch von ihren Produkten trennt. Das erschwert es den Datenarbeiter:innen, sich zu organisieren und die Kontrolle über ihre Produktionsmittel auszuüben.
netzpolitik.org: Wenn das die theoretische Antwort war, wie lautet die politische?
Milagros Miceli: Ohne politischen Druck und öffentliche Solidarität sind die Arbeitnehmer:innen den Repressalien der Technologieunternehmen ausgeliefert. Druck können sie aber nur dann ausüben, wenn sie Kanäle der Solidarität schaffen und kollektiv eine Gegenmacht zu den Konzernen aufbauen. Und nur dann können sie für gerechte Arbeitsbedingungen kämpfen.
Viele der Community-Forscher:innen gehören bereits Gewerkschaften an. Dort sind sie aber in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammengeschlossen, was ihre politische Macht untergräbt. Außerdem sind viele von ihnen mit den großen traditionellen Gewerkschaften unzufrieden und wollen eigene Gewerkschaften gründen.
Und auch der Einsatz von Technologie kann ihnen in diesem Kampf helfen. Technologie ist nicht per se schlecht. Sie kann den Arbeitnehmer:innen tatsächlich dabei helfen, sich zu verbinden und zu organisieren. Außerdem, so argumentieren einige unserer Community-Forscher:innen, könnten Datenarbeiter:innen ihre Aufgaben besser erfüllen, wenn Technologien nicht einseitig zu Überwachung und Effizienzsteigerung eingesetzt würden, sondern wenn sie stattdessen dazu genutzt würden, die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Arbeitnehmer:innen zu optimieren.
netzpolitik.org: Viele sehen in der digitalen Ökonomie eine |Fortsetzung kolonialer Ausbeutungsdynamiken|: Harte Arbeit unter prekären Bedingungen wird oft in Länder des globalen Südens ausgelagert. Die Profite fließen hingegen überwiegend in den globalen Norden. Könnt ihr dieses Bild bestätigen?
Milagros Miceli: Nach Angaben der Weltbank gibt es weltweit |zwischen 154 Millionen und 435 Millionen Datenarbeiter:innen|, von denen viele in den Ländern der Weltmehrheit leben oder aus diesen vertrieben wurden. Die Zahlen sind in den vergangenen Jahren exponentiell gestiegen und eine Verlangsamung dieser Entwicklung ist nicht zu erkennen.
Die größte Konzentration von Datenarbeiter:innen in einem Land ist zwar immer noch in den USA zu finden. Doch globale gesehen lebt die überwältigende Mehrheit im globalen Süden, etwa in Indien und den Philippinen sowie in Venezuela und Brasilien.
Vor der Data Workers‘ Inquiry habe ich mehrere Studien mit Datenarbeiter:innen in Argentinien, Venezuela, Bulgarien und Syrien durchgeführt. In allen Fällen befanden sich die Auftraggeber:innen in den USA und der EU. Das prägt auch die Tätigkeiten der Datenarbeiter:innen. Sie müssen meist nachts arbeiten, weil bei den Kund:innen dann Tag ist. Und oft verstehen sie nicht, warum zum Beispiel spanischsprachige Mitarbeiter:innen englischsprachige Anweisungen erhalten. Oder ihnen sind die Objekte auf den Bildern fremd, die sie beschriften sollen.
Mitunter ist es aber auch umgekehrt und ihnen sind die Bilder seltsam vertraut. So musste eine aus Syrien vertriebene Datenbearbeiterin Satellitenbilder aus ihrer Heimatregion beschriften, die dann für Überwachungsdrohnen verwendet werden sollten. Der Fall zeigt, wie die Erfahrung von Datenarbeiter:innen auch als Fachwissen genutzt wird. Sie sollen dann mitunter ausgerechnet jene Technologien verbessern, die zu ihrer Vertreibung geführt haben.
netzpolitik.org: Was muss sich in der Tech-Branche in Bezug auf Outsourcing verändern und was können Menschen, Zivilgesellschaft und Politik in Deutschland oder in Europa tun, um Datenarbeiter:innen zu unterstützen?
Milagros Miceli: Mit unserem Projekt wollen wir den Arbeitnehmer:innen eine Plattform bieten, auf der sie ihre Forderungen vorbringen können. Und die meisten von ihnen tun das sehr deutlich. Sie wollen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, stabilere Arbeitsverträge und mehr Unterstützung. Dazu zählt auch psychologische Betreuung, wenn sie gefährliche Tätigkeiten wie Content Moderation übernehmen.
Viele unserer Community-Forscher:innen sind stolz darauf, etwas zum technologischen Fortschritt und einem sichereren Internet beizutragen, wünschen sich aber dafür mehr Anerkennung. Das schließt natürlich den Lohn ein.
Wir sollten daher auch nicht länger fragen, ob ein Stundenlohn von 2 Dollar in Ländern wie Kenia und Venezuela wenig oder viel Geld ist. Stattdessen sollten wir fragen, warum die Tech-Giganten, die jedes Jahr Milliardenumsätze machen, ihren Arbeitnehmer:innen nicht mehr Lohn zahlen. Schließlich sind die für ihr Geschäft unentbehrlich.
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Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
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|Zine über afrikanische Frauen in der Content-Moderation|
|ein Moderator bei Telus International in Essen|
|Fortsetzung kolonialer Ausbeutungsdynamiken|
|zwischen 154 Millionen und 435 Millionen Datenarbeiter:innen|
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Sun, 07 Jul 2024 07:31:32 +0000
Volker Grassmuck
DisplayEurope.eu verspricht „Europäische Nachrichteninhalte ohne Grenzen. In deiner Sprache.“ Dafür setzt das Portal konsequent auf föderierte Inhalte, Open-Source-Technologie und Creative-Commons-Lizenzen. Und es könnte Maßstäbe setzen für eine europäische Öffentlichkeit.
Auch mehr als dreißig Jahre nach Gründung der EU ist eine wirkliche europäische Öffentlichkeit nicht erkennbar. Das Portal |DisplayEurope.eu| will hier Abhilfe schaffen und zugleich zeigen, wie eine dezentrale mediale Informationsversorgung aussehen kann. Am vergangenen Donnerstag hat es einen umfassenden Relaunch erhalten.
Display ist zweierlei: zum einen ein journalistisches Portal und zum anderen eine technische Infrastruktur. Als journalistisches Portal richtete es sich vorrangig an Endnutzer:innen in der EU. Als technische Infrastruktur hat sich das Projekt offener und freier Technologie und den Creative Commons verschrieben.
Um die Inhalte der föderierten Partner zu übersetzen und zu kuratieren, kommt auch sogenannte Künstliche Intelligenz zum Einsatz. Sławek Blich, der Leiter des redaktionellen Produktteams, sieht Display daher als „erste KI-gestützte paneuropäische Plattform für das Kuratieren, Übersetzen, Entdecken und Empfehlen von europäischem Journalismus aus dem gesamten Kontinent“.
Die Inhalte auf DisplayEurope.eu stammen von zahlreichen Medienpartnern aus ganz Europa. Das sind zum einen Originals-Beiträge, die das Projekt selbst finanziert. Dazu zählt das Flaggschiff |„Standard Time“|, die wöchentliche Talkshow von Réka Kinga Papp, Chefredakteurin von |Eurozine|, einer Plattform europäischer Kulturzeitschriften. Weitere Originals stammen von dem polnischen Netzwerk |Krytyka Polityczna| in Warschau und dem Online-Medium |Voxeurop|, das pan-europäische Presseschauen beisteuert.
Dem Copyleft-Geist folgend sind die für Display Europe erstellten Originale |unter Creative Commons BY lizenziert|. Sie dürfen also umfassend weiterverwendet werden, sofern die Urheberin genannt wird. Auch die technische Umsetzung des Projekts |erfolgt komplett mit Open-Source-Technologie|. Software, die Display entwickelt, wird ebenfalls unter Open-Source-Lizenzen veröffentlicht.
Neben den Originals veröffentlicht Display kuratierte Inhalte aus einem föderierten Netzwerk. Inhalte-Partner sind entweder journalistische Outlets wie Eurozine und |Okto-TV| in Wien oder Aggregatoren wie CBA oder |XRCB| in Spanien.
Wer aber sind die Macher des Projekts? Eine tragende Säule von Display ist CBA, das |Cultural Broadcasting Archive|. Die Plattform wurde 1999 in Wien ins Leben gerufen und ist Infrastruktur und Dienstleister in einem. Denn CBA stellt zum einen Sendungen von Freien Radios und anderen Community-Medien zum Download bereit. Zum anderen bietet das Archiv Radiostationen Webhosting und die Entwicklung von Software an.
Im Frühjahr 2023 erhielt CBA den Zuschlag bei einer |Ausschreibung für Europäische Medienplattformen|. Die Aktiven hinter dem Archiv konnten ihr Glück damals kaum fassen. Denn zuvor hatten die European Broadcasting Union (EBU), der Fernsehsender ARTE und ein Zusammenschluss von Nachrichtenagenturen den Zuschlag bekommen.
In der ersten Förderphase von Juli 2023 bis Juni 2024 erhielt das Display-Projekt eine Fördersumme in Höhe von insgesamt 2,5 Millionen Euro. Von dem Geld baute CBS ein Medienportal auf, das Inhalte in 15 verschiedenen europäischen Sprachen bereitstellte. Inwischen hat das Projekt die Zusage für eine weitere einjährige Förderphase erhalten, an deren Anfang der Relaunch des Portals vom vergangenen Donnerstag steht.
Die wichtigste Anforderung der EU-Ausschreibung lautet, dass alle Inhalte in 15 Sprachen ausgespielt werden. Die wichtigsten, eigens für Display produzierten Beiträge werden derzeit händisch übersetzt. Für alles andere hat das Display-Team im Vorfeld verschiedene Übersetzungssysteme wie |Google Translate|, |Whisper| und |DeepL| getestet.
Diese Systeme arbeiten zwar nicht fehlerfrei, doch das Projekt ist auf automatisierte Übersetzungen angewiesen. „Das ist anders nicht zu bewerkstelligen“, sagt Baratsits gegenüber netzpolitik.org. „Wenn es nicht nur ein paar Beiträge in der Woche gibt, sondern Tausende, skaliert das nicht.“ Auf dem Repositorium von Display liegen derzeit mehr als 224.000 Inhalte.
Daher arbeitet das Team daran, mithilfe von offenen, großen Sprachmodellen (LLM) ein eigenes Übersetzungssystem aufzubauen. Das soll dann auch für die sprachunabhängige Suche zum Einsatz kommen. Ingo Leindecker, der technischer Leiter von Display, sagt, dass Open-Source-LLMs die Kosten etwa um den Faktor zehn senken würden.
Dass die Inhalte der zahlreichen Medienpartener auf Display veröffentlicht werden, dafür sorgt der Repco, der den Kern der Display-Infrastruktur bildet. Repco steht für „Replication & Collector“ und bildet den Aggregator und Datenraum von Display. Das System importiert automatisch die Inhalte, die Medienpartner auf ihren Websites veröffentlichen. In vielen Fällen erfolgt der Import einfach über RSS-Feeds.
Repco ist wie auch das Portal Display selbst als Instanz in einem dezentralen Netzwerk konzipiert. Andere Nutzer:innen können ebenfalls eigene Repco-Knoten betreiben und entscheiden, welche Inhalte sie veröffentlichen wollen und welche Moderationsregeln dort gelten.
Was auf dem Portal als Volltext mit Übersetzung erscheint, muss derzeit von Community-Redakteur:innen manuell aus dem Repco geholt und eingepflegt werden. Dieses Verfahren soll in der zweiten Phase durch ein automatisiertes Vorschlagssystem ersetzt werden.
Trotz Algorithmus soll es aber auch weiterhin redaktionelle Eingriffsmöglichkeiten geben, etwa um nach bestimmten Themen oder nach Aktualität zu sortieren. „Alles, was den Algorithmus verfälschen kann, wollen wir zu einer bewussten User-Entscheidung machen“, sagte Leindecker gegenüber netzpolitik.org. „Der User soll die Kontrolle haben über die Personalisierung. Transparenz steht ganz oben.“
Anlässlich des Relaunches kündigte Sławek Blich, der stellvertretende Chefredakteur von |Krytyka Polityczna| und neue Leiter des redaktionelle Produktteams von Display, außerdem an, die bisherige redaktionelle Strategie weiterzuentwickeln: Zum einen werde es weiter eigens für Display produzierte Inhalte geben. Zum anderen soll das Netzwerk föderierter Partner ausgebaut werden.
„Für sie werden wir eine einfach zu handhabende Lösung entwickeln, mit der ihre Inhalte syndiziert, entdeckt, gesucht, empfohlen, mit KI für internationale Zielgruppen kontextualisiert und in mehrere europäische Sprachen übersetzt werden können“ so Blich. „Und das Beste daran: Der Traffic kommt zurück auf die Website der Partner und diese erhalten Zugang zu einem ganz neuen Publikum, das sie sonst nie finden würde.“
Während Display seinen eigenen Datenraum ausbaut, wird es bereits Teil eines europäischen. Im Rahmen ihrer |Datenstrategie| hat die EU den Aufbau von 14 |gemeinsamen europäischen Datenräumen| für verschiedene Sektoren auf den Weg gebracht. Für den Mediensektor ist das der |Trusted European Media Data Space| (TEMS).
Display ist Teil von TEMS – als einer von 40 Partnern. Darunter sind Schwergewichte wie die Nachrichtenagentur AFP, die European Broadcasting Union (EBU) oder das französische Telekommunikationsunternehmen Orange. TEMS ist im Oktober 2023 gestartet und betreibt derzeit |acht Pilotprojekte|, unter anderem zu Nachrichten und Faktenchecks, Personalisierung und Empfehlungen, Produktion und Rechtemanagement sowie 3D und VR.
Aufgrund der Zusammensetzung zeichnet sich im TEMS ein Kultur-Clash ab: freie Inhalte und Software versus proprietäre Angebotsmodelle. So möchte die EBU ihre Sprach- und Empfehlungstechnologie im Datenraum unter einer proprietären Lizenz anbieten. Die sprachübergreifende Suche von Display kann hingegen frei genutzt werden.
Im besten Fall aber könnte aus der TEMS-Koalition auch eine europäische Medieninfrastruktur entstehen, die der |Eurovision| der EBU gleicht. Die Eurovision kennen viele nur vom Eurovision Song Contest. Tatsächlich aber ist es ein Netzwerk aus Satelliten, Kabeln, Standards und Vereinbarungen, über das die EBU-Mitglieder Nachrichten, Musik und Podcasts austauschen.
„Die Technologie dafür steht ja zur Verfügung,“ betont Baratsits. „Im Prinzip kann jeder eine Instanz hinstellen und dann bestimmen, welche Inhalte im Newsfeed-Format mit den jeweils gewünschten Features angeboten werden.“ Baratsits hofft, dass dies das der Standard für europäische Medien werden könnte – ein Standard, „der föderiert ist und den Bedarf nach vertrauenswürdigen Informationen decken kann.“
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|unter Creative Commons BY lizenziert|
|erfolgt komplett mit Open-Source-Technologie|
|Cultural Broadcasting Archive|
|Ausschreibung für Europäische Medienplattformen|
|gemeinsamen europäischen Datenräumen|
|Trusted European Media Data Space|
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Sat, 06 Jul 2024 08:54:19 +0000
Sebastian Meineck
Wir haben es geschafft! Unsere Doku-Podcast-Staffel „Systemeinstellungen“ ist veröffentlicht! Höchste Zeit für Einblicke in den Maschinenraum, wie der Podcast entstanden ist, was wir gelernt haben und wie es weitergeht.
|https://netzpolitik.org/wp-upload/2024/07/24-07-OffTR-Systemeinstellungen.mp3|
In den letzten Wochen erschienen die Folgen unseres Doku-Podcasts „Systemeinstellungen – wenn der Staat bei dir einbricht“. In sieben Folgen haben wir euch Fälle von Razzien, Überwachung und Gerätedurchsuchungen erzählt und vor allem Einblicke gegeben, was das für die Betroffenen bedeutet. In der neuen Folge von „Off The Record“ reflektiert das Systemeinstellungen-Team, wie viel Arbeit in so einer Folge steckt, was wir bei der Produktion gelernt haben und ob wir es wieder tun würden.
Dabei geht es auch um schweigsame Staatsanwaltschaften, unerwartete Schwierigkeiten und die große Frage, wie kaputt das System eigentlich ist.
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In dieser Folge: |Serafin Dinges|, |Anna Biselli|, |Ingo Dachwitz|, |Chris Köver| und |Sebastian Meineck|.
Produktion: |Serafin Dinges|.
Titelmusik: |Trummerschlunk|.
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Hier ist die |MP3 zum Download|. Wie gewohnt gibt es den Podcast auch im |offenen ogg-Format|.
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Unseren Podcast könnt ihr auf vielen Wegen hören. Der einfachste: in dem eingebundenen Player hier auf der Seite auf Play drücken. Ihr findet uns aber ebenso bei |Apple Podcasts|, |Spotify| und |Deezer| oder mit dem Podcatcher eures Vertrauens, die URL lautet dann |netzpolitik.org/podcast|.
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Wie immer freuen wir uns über Kritik, Lob und Ideen, entweder hier in den Kommentaren oder per Mail an |podcast@netzpolitik.org|.
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Hier hört ihr alle Episoden von |Systemeinstellungen|
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Fri, 05 Jul 2024 16:32:51 +0000
Anna Biselli
Die 27. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 17 neue Texte mit insgesamt 120.944 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.
Liebe Leser:innen,
unsere Texte wiederholt zu prüfen, bevor wir sie veröffentlichen, ist für uns Routine. Deshalb läuft in meinem Hinterkopf beim Check manchmal ein kleines, imaginäres Gerichtsverfahren. Eine Inkarnation von Barbara Salesch fragt mich dann: „Aha, da steht: ‚Der Himmel war blau.‘ Wie kommen Sie denn darauf?“ Zu meiner Verteidigung ziehe ich dann die abgehefteten Wetterberichte des Tages hervor.
Einer der einfachsten Fälle, etwas zu überprüfen: Wenn es in einem öffentlichen und zweifelsfrei authentischen Dokument steht. Oder wenn es irgendwer in ein Mikro gesagt hat. Wenn die Sätze dann noch klar und unmissverständlich sind, ist die Sache eigentlich schnell abgehakt.
Aber manchmal beobachte ich mich dabei, wie ich trotzdem zweifle. Wie ich ein Dokument fünf Mal öffne, nochmal nachlese. Dann schaue, was für ein Datum auf dem Dokument steht. Vielleicht bin ich ja um ein paar Jahrzehnte im Raum-Zeit-Kontinuum verrutscht? Oder ich habe irgendeinen Kontext übersehen? Manchmal finde ich mich dann als Teil |Morgensternscher Lyrik| wieder:
Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.
Diese Woche ging mir das so bei dem |Beschluss der Innenministerkonferenz zur Überwachungsgesamtrechnung|. Kurz zusammengefasst: Die Innenminister:innen finden die Überwachungsgesamtrechnung doof. Das dahinterliegende Freiheitsverständnis finden sie zu eindimensional. Freiheit und Sicherheit sind ja keine Gegensätze. (Da würde ich sogar mitgehen.) Eine Freiheitskommission finden sie auch doof, ganz grundsätzlich. Es sollen sich nicht noch mehr Leute in die Gesetzgebung reinhängen. Stattdessen fordern sie eine Sicherheitsgesamtrechnung. (Wie war das mit der Eindimensionalität?)
Ich habe die Beschlüsse gelesen, nochmal gelesen, nochmal gelesen und vergeblich eine Satirekennzeichnung gesucht. Weil mir nicht in den Kopf wollte, wie man vermeintlich unironisch erst das angeblich eindimensionale Freiheitsverständnis kritisieren kann, um es dann selbst zu beschwören. Weil ich es verwunderlich finde, wie man etwas so fundamental ablehnen kann, das noch nicht fertig ist, wo wir noch nicht einmal Zwischenergebnisse kennen. Egal, was dabei rauskommt: doof. Wie ein prototypisches Kleinkind mitten in der Trotzphase. Doch all mein Zweifeln änderte nichts an dem, was da schwarz auf weiß stand.
Das ist nicht das erste Mal. Mir ging es öfter so bei der Überprüfung |unseres Doku-Podcasts „Systemeinstellungen“|, bei dem uns Menschen erzählt haben, wie unvermittelt die Polizei in ihrem Zuhause stand. Ich bin immer wieder ungläubig bei der Berichterstattung über Migrationsthemen, ob etwas wirklich so unmenschlich sein kann. Aber wenn ich dann auch die zehnte kritische Nachfrage meiner inneren Fernsehrichterin beantworten kann, ist das vielleicht ein guter Gradmesser dafür, dass gerade so richtig etwas schiefläuft.
Habt ein gutes Wochenende!
anna
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Content Creator:innen machen Handarbeit und erstellen daraus digitale Inhalte für die sozialen Medien. Jenseits von Selbstinszenierung und verstecktem Product Placement erleben so Millionen Menschen traditionelle Handwerkskunst im Netz. Von Vincent Först –
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Im Mai warf der Podcast von netzpolitik.org ein Schlaglicht auf zunehmendes staatliches Vorgehen gegen Kirchenasyl. Inzwischen verhandelt die evangelische Kirche darüber mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Niedersachsen will solange auf Abschiebungen aus sakralen Räumen verzichten, andere Bundesländer sind dazu nicht bereit. Von Martin Schwarzbeck –
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Der „Atlas Digitale Barrierefreiheit“ kommt zu dem Ergebnis, dass nahezu alle Online-Angebote der deutschen Kommunen erhebliche Mängel bei der digitalen Barrierefreiheit aufweisen. An der Auswertung waren erstmals auch Menschen mit Behinderung beteiligt. Das klingt fundiert recherchiert und dramatisch – allerdings nur auf den ersten Blick. Von Gastbeitrag, Casey Kreer –
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Es wird noch dauern, bis der Digital Services Act sein Versprechen von umfassender Transparenz über die Moderationspraktiken von Plattformen erfüllt. Seit einigen Monaten ist die Verordnung vollständig in Kraft, trotzdem befüllen bislang fast nur besonders große Online-Dienste die Transparenzdatenbank der EU. Von Tomas Rudl –
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48 zivilgesellschaftliche Organisationen wie CCC und Kinderschutzbund fordern die ungarische Ratspräsidentschaft auf, wirksame Maßnahmen zum Schutz von Kindern zu erarbeiten. Der Verordnungsvorschlag zur Chatkontrolle soll hingegen endlich beerdigt werden. Von Anna Biselli –
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Das Recht auf Internet hat sich zwar noch nicht weitflächig durchgesetzt. Jetzt sollen aber die Mindestbandbreiten angehoben werden, um mehr Menschen digitale Teilhabe zu ermöglichen. Als Basis dient ein Prüfbericht der Bundesnetzagentur, den wir veröffentlichen. Von Tomas Rudl –
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Im Januar begannen Forschende mit der Überwachungsgesamtrechnung. Doch bevor die Ergebnisse vorliegen, machen die Innenminister:innen der Länder klar: Wir lehnen die Maßnahme aus dem Bundeskoalitionsvertrag ab – egal, was rauskommt. Von Anna Biselli –
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Der Global Digital Compact soll die Regulierung des Internets auf internationaler Ebene neu regeln. Schon der erste Entwurf des Abkommens stieß in der Zivilgesellschaft auf Kritik. Nun warnen namhafte Entwickler:innen vor einer Zentralisierung des Netzes. Von Daniel Leisegang –
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Es gibt in Deutschland einen klaren Platzhirschen im Online-Zahlungsmarkt: PayPal. Dazu kommen noch Kreditkarten, also Visa und Mastercard. Neben dem Geld fließen dabei aber auch Daten – und zwar nicht zu knapp. Von Maximilian Henning –
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Der ZDF-Fernsehrat konstituiert sich neu. Ihm werden so viele neue Fernsehräte – oder besser Fernsehrätinnen – angehören wie noch nie. Dies ist einer Reform aus dem Jahr 2016 zu verdanken. Von Laura-Kristine Krause –
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Der FRITZ!Box-Hersteller hat mit Händlern die Preise seiner Produkte abgesprochen. Nach Ermittlungen des Bundeskartellamts kam es jetzt zu einer Vereinbarung, die eine Geldstrafe in Millionenhöhe umfasst. Von Nora Nemitz –
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Zwei Gesetze aus Texas und Florida sollten es Social-Media-Plattformen erschweren, von Nutzer*innen erstellte Beiträge zu moderieren. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat nun entschieden, dass die Gesetze erneut überprüft werden müssen. Von Martin Schwarzbeck –
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Die EU werkelt an einer digitalen Version des Euros. Aber warum braucht es die? Kann ich nicht schon mit PayPal oder meiner Bankkarte digital bezahlen? Ja, schon – aber nicht überall. Und es verdient jemand dabei mit. Von Maximilian Henning –
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Menschen ohne deutschen Pass sollen leichter ausgewiesen werden, wenn sie auch nur eine einzige terroristische Tat im Netz billigen oder verbreiten. Aber reicht dafür schon ein Like? Fachleute für Aufenthaltsrecht bezweifeln das – und weisen auch auf andere Schwierigkeiten hin. Von Chris Köver –
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Die Mitgliedstaaten diskutieren Regeln für die geplante digitale Währung, insbesondere Überwachungsausnahmen für Offline-Zahlungen. Außerdem gibt ein geplanter „zentraler Zugangspunkt“ Anlass zur Sorge. Es wird aber auch über zusätzliche Datenschutzregeln gesprochen. Wir veröffentlichen Arbeitsdokumente aus den vergangenen Monaten. Von Maximilian Henning –
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Member states are negotiating rules for the planned digital currency, in particular exemptions from surveillance for offline transactions. A planned „single access point“ is a cause for concern, but additional privacy rules are also on the table. We publish working documents from recent months. Von Maximilian Henning –
|Artikel lesen|
Seit einem Jahr genießen Whistleblower:innen besonderen Schutz, wenn sie Missstände melden. Doch viele wissen nichts von ihren neuen Rechten – und eine umfassende Evaluation könnte an Geldmangel im Justizministerium scheitern. Von Tomas Rudl –
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|Beschluss der Innenministerkonferenz zur Überwachungsgesamtrechnung|
|unseres Doku-Podcasts „Systemeinstellungen“|
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Thu, 04 Jul 2024 14:36:22 +0000
Tomas Rudl
Seit einem Jahr genießen Whistleblower:innen besonderen Schutz, wenn sie Missstände melden. Doch viele wissen nichts von ihren neuen Rechten – und eine umfassende Evaluation könnte an Geldmangel im Justizministerium scheitern.
Über 1.200 Meldungen möglicher Missstände sind im vergangenen Jahr bei der |Meldestelle des Bundesamtes für Justiz| eingegangen. Was aus diesen Hinweisen geworden ist, lässt sich zwar noch nicht sagen. Aber die Zahl, die gestern Benjamin Strasser (FDP), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz (BfJ), öffentlich genannt hat, gibt einen ersten Einblick in einen noch jungen Mechanismus, der Missstände aller Art im Land zu beseitigen helfen soll.
Seit einem Jahr ist das sogenannte |Hinweisgeberschutzgesetz in Kraft|. Es soll die vertrauliche Meldung von Rechtsverstößen oder Verfehlungen garantieren und zugleich sicherstellen, dass Whistleblower:innen etwa beruflich nicht benachteiligt werden.
Immer wieder kam es in der Vergangenheit dazu, dass Menschen am Arbeitsplatz gemobbt, gekündigt oder mit Klagen überzogen wurden, wenn sie auf unzumutbare Zustände aufmerksam machen wollten. Bekannt wurde beispielsweise der Fall der |Altenpflegerin Brigitte Heinisch|, die bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen musste, um sich gegen ihre |fristlose Kündigung zu wehren|.
Doch relativ wenige Menschen wissen überhaupt, dass sie in so einem Fall mittlerweile besonderen Schutz genießen. So hat im Frühjahr eine Studie der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) herausgefunden, dass |drei Viertel der befragten Polizeibeamt:innen nicht über ihre neuen Rechte informiert| wurden. Auch haben viele von ihnen immer noch Angst, etwa rechtsradikale Umtriebe oder gewalttätige Übergriffe in ihrem Arbeitsumfeld zu melden, weil sie es sich mit ihren Kolleg:innen oder Vorgesetzten nicht verscherzen wollen.
Verschworene Zirkel sind schwer aufzubrechen, berichtete die thüringische Justizministerin Doreen Denstädt (Grüne) auf der gestrigen Veranstaltung, mit der die GFF eine erste Bilanz über das Hinweisgeberschutzgesetz gezogen hat. Gerade in kleineren Bundesländern wie Thüringen, wo es eine überschaubare Zahl an Beamt:innen gibt, kann es schwerfallen, unbemerkt Verfehlungen zu melden. „Man kennt sich“, sagte Denstädt. Als ehemalige Polizeihauptkommissarin weiß sie offenkundig gut Bescheid darüber, wie ihre Ex-Kolleg:innen ticken.
Trotzdem ließen sich Hinweise so gut es geht anonymisieren, etwa mit Hilfe digitaler Meldewege, sagte Denstädt. Grundsätzlich müsse der Zugang zu Meldestellen, ob intern oder extern, so niedrigschwellig wie möglich sein – und diese müssten auch mit Personal besetzt sein, die mit der jeweiligen Thematik vertraut und für entsprechende Problemfelder sensibilisiert sind.
„Bestimmte Sachen kann man ja wirklich niemandem erklären, wenn man sie nicht selbst erlebt oder gesehen hat, wie diese Blackbox Polizei funktioniert“, so die ehemalige Mitarbeiterin der |Vertrauensstelle der Thüringer Polizei|.
Nicht nur um Vertrauen, sondern auch um die Bekanntheit seines neu geschaffenen Amtes warb Uli Grötsch, seit März Polizeibeauftragter des Bundes. In den rund 100 Tagen, seit denen er im Amt ist, habe er knapp 140 Eingaben erhalten, sagte Grötsch. Rund 55.000 Bundespolizist:innen, aber auch der Zivilgesellschaft soll er als Anlaufstelle bei Fehlverhalten dienen – parallel zum Hinweisgeberschutzgesetz. Nur bei zweien dieser Hinweise hätten er und seine Mitarbeiter:innen das Gefühl gehabt, „da möchte jemand mal jemandem eine reinwürgen“.
Alles in allem liefe es „sehr, sehr konstruktiv“, sagte der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete und Polizeibeamte. Indes räumte Grötsch ein, dass sein Amt noch „nicht so bekannt“ sei. Dies zu ändern, sei eine „Graswurzelarbeit“. Das scheint auch sein erster |Tätigkeitsbericht zu bestätigen|, den der Polizeibeauftragte letzte Woche vorgestellt hat: 109 der Eingaben stammten von Bürger:innen und nur 24 von Beschäftigten der Polizeibehörden. Beschweren wolle er sich nach 100 Tagen nicht, aber es sei „noch ein dickes Brett zu bohren, was die Bekanntheit angeht“, sagte Grötsch.
Zu mehr Öffentlichkeit könnte womöglich auch die für nächstes Jahr anstehende Evaluation des Hinweisgeberschutzgesetzes führen. Allerdings dämpfte Staatssekretär Strasser die Erwartungen: „Jede Evaluation kostet Geld“, und an dem mangle es im Bundesjustizministerium. Eigentlich hätte das Haus vorgehabt, in diesem Jahr zum „Goldstandard“ einer wissenschaftlichen Evaluation zu greifen, daraus werde aber nichts. „Wir überlegen jetzt Alternativmaßnahmen, wie wir trotzdem noch eine objektive Evaluation hinkriegen“, sagte Strasser.
Nur langsam scheint sich ein Mentalitätswandel durchzusetzen – der ohnehin maßgeblich auf eine inzwischen |fünf Jahre alte EU-Richtlinie| zurückgeht. Eine pünktliche Umsetzung scheiterte vor allem am Widerstand der Unionsparteien in der damaligen Großen Koalition. Erst den Ampelparteien gelang es, nach |einigem Hin und Her mit dem Bundesrat|, das Gesetz im Großen und Ganzen so zu beschließen, wie sie es im Koalitionsvertrag versprochen hatten.
Selbst wenn immer noch |Lücken im Gesetz| klaffen – so bleibt etwa der Geheimdienstbereich vollständig ausgespart – scheint es zumindest in Trippelschritten voranzugehen.
„An den Strukturen liegt es nicht“, beteuerte Alexander Poitz von der Polizeigewerkschaft GdP. Die seien jetzt eingerichtet, nun müsse man diesen Weg gehen und dabei auch eine neue „Fehlerkultur“ lernen. „Aber die Mühlen mahlen eben sehr langsam, was die Transparenz solcher Behörden darstellt“, sagte Poitz. „So ein Dampfer Polizei ist sehr schwer nach rechts oder nach links zu bewegen.“
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|Meldestelle des Bundesamtes für Justiz|
|Hinweisgeberschutzgesetz in Kraft|
|Altenpflegerin Brigitte Heinisch|
|fristlose Kündigung zu wehren|
|drei Viertel der befragten Polizeibeamt:innen nicht über ihre neuen Rechte informiert|
|Vertrauensstelle der Thüringer Polizei|
|Tätigkeitsbericht zu bestätigen|
|fünf Jahre alte EU-Richtlinie|
|einigem Hin und Her mit dem Bundesrat|
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Thu, 04 Jul 2024 13:35:35 +0000
Maximilian Henning
Member states are negotiating rules for the planned digital currency, in particular exemptions from surveillance for offline transactions. A planned „single access point“ is a cause for concern, but additional privacy rules are also on the table. We publish working documents from recent months.
The EU is working on a Digital Euro. It’s intended as a public, data-minimising alternative to current payment services – both online and in the corner shop. The European Central Bank (ECB) is currently preparing the practical implementation, while the EU institutions are working on the required law. All of this does not yet decide whether there will actually be a Digital Euro – the final decision is up to the ECB – but it will set the framework for the new digital currency.
The Commission published |its proposal for the law| a year ago. Since then, the member states in the EU Council and the Parliament have been drafting their proposals. As soon as all three are done, they will have to agree on a common text in the final trilogue.
A central, controversial topic in the Council discussions is privacy. This is clear in working documents which we have received through |a freedom of information request|. Many member states seem to realise that a high level of privacy is decisive for whether the Digital Euro will be successful.
For example, |a document from October 2023 (PDF)| contains the member states’ proposed amendments for the privacy chapter of the proposed law. According to the document, Austria, Germany, the Netherlands, and France were explicitly in favour of privacy protections for users.
“Indeed, confidence in money depends on respect for privacy and proper management of user data,” argues the representative of France. Germany, too, thinks that privacy “is key to the public’s trust in the project.”
Still, these states think it’s necessary to collect data for specific purposes and, if necessary, to hand it over to criminal authorities. These include combatting fraud, money laundering, terrorism, and tax evasion. Whoever offers a Digital Euro account will have to follow certain requirements in those areas, the member states agree.
However, the currently planned rules for the Digital Euro exceed those for bank transfers. |A separate proposal by the Commission| for transactions in the common market will oblige payment service providers to systematically monitor transactions for indications of fraud. For this, they are supposed to check existing transaction data, for example prior behavior of users, and then delete it.
In the case of the Digital Euro, the Commission proposal wants the ECB and service providers to monitor transactions in real time. The Netherlands are critical: “How does the added benefit of real-time monitoring compare to the operational costs and privacy considerations?”
Offline transactions using the Digital Euro are set to be excluded from monitoring. Service providers are only supposed to save data on how users pay money into and out of offline wallets. This data is limited to the amount of money paid in or out, the time of the payment, the identifier for the device, and the account number.
Additionally, the Commission wants to be able to set a limit on offline transactions, if necessary. What the Digital Euro will definitely have is a holding limit, which means there will also be a limit on how much of it a user can hold offline. The limit is currently being discussed between 500 and 3,000 Euros.
With these rules, the Commission consciously stuck close to the rules for cash. Cash transfers are not monitored either, while payments in and out of bank accounts are. The offline version of the Digital Euro is supposed to be close to cash, so the Commission wants to introduce similar rules.
But these exemptions are too much for some member states. “Currently, private cash transactions are the basis for the so-called shadow economy, and due to their untraceable nature, they are often used by criminals to hide the sources of funds and (or) fund movement,” writes Lithuania. Without data on offline Digital Euro transactions, this could mean extending the problem of non-traceability to the Digital Euro. Because of this, the country wants to eliminate the exemptions for offline transactions.
Portugal, too, sees offline transactions as a risk factor for money laundering and wants an extensive impact assessment from the Commission. Even better, in its eyes, would be to completely drop the exemptions. Italy calls for “a bespoke framework.”
It seems that the member states did not find a common position under the Spanish presidency in the second half of 2023. According to |a document from December 2023 (PDF)|, a few member states agreed with the Commission’s proposal, while others want to collect more data.
Already at that time, there was another proposal on the table that wanted to go in a different direction: A few member states were calling for more exemptions on transaction surveillance. They don’t want exemptions based on whether a transaction is online or offline, but on the distance that the money travels. A transaction from face-to-face should be excluded from monitoring, as it is the case with cash, while transactions on the internet should still be monitored.
In May, France drafted |a so-called “non-paper” expanding on this proposal (PDF)|. The text is based on the recommendations that European data protection officials |made for the Digital Euro|. They wanted small transactions to be excluded from monitoring.
Central to the French argument is the point that users don’t care about the distinction between online and offline payments. They care about the situation in which they pay for a product, for example in a store or on the internet.
An open question is how the Digital Euro should distinguish between payments in proximity and over a larger distance. France proposes to use data on which kind of payment is being used. If a cash register in a store makes a payment request, this should count as a proximity payment. If it’s an e-commerce interface in a web shop, it should not.
Besides offline transactions, member states also discussed another point: The “single access point” at the ECB. According to the Commission, this is needed so that users can switch their accounts between different service providers. The proposal leaves it to the ECB to open such an access point, which is then supposed to store identifiers of users in a single place.
“State-of-the-art” data protection mechanisms are supposed to prevent unauthorised third parties from identifying users through this access point. Ireland, somewhat irritated, points out that the law doesn’t contain a definition for what that means. The Irish want to talk about “high standards of security and privacy-preserving measures” instead.
Germany is skeptical about the single access point in general. “A single access point with all user identifiers could be a significant risk to privacy,” says one of its remarks and asks for further explanation on who will have access to this data and why central storage is necessary in the first place.
Following Spain, Belgium took over the Council Presidency in the first half of this year. During that time, the member states discussed privacy on May 30. |A Belgian document (PDF)| summarises the open questions discussed at the meeting and presents ideas on how ECB and national central banks could protect users’ data better.
For example, Belgium proposes obliging the central banks to design the Digital Euro so that they can’t directly identify users. For this, the law could explicitly include encryption, data minimisation as well as limitations on re-use.
The document also proposes an explicit prohibition on central banks identifying users. Organisational measures in central banks could prevent information sharing between teams working on the Digital Euro and other areas. Beyond that, specific rules and control mechanisms could be introduced to check whether central banks are upholding the privacy rules of the Digital Euro.
This article is part of a series on the |Digital Euro|. The |Centre Responsible Digitality| financially supported the research for it through its Journalist in Residency program.
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|a freedom of information request|
|a document from October 2023 (PDF)|
|A separate proposal by the Commission|
|a document from December 2023 (PDF)|
|a so-called “non-paper” expanding on this proposal (PDF)|
|Centre Responsible Digitality|
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Thu, 04 Jul 2024 12:29:57 +0000
Maximilian Henning
Die Mitgliedstaaten diskutieren Regeln für die geplante digitale Währung, insbesondere Überwachungsausnahmen für Offline-Zahlungen. Außerdem gibt ein geplanter „zentraler Zugangspunkt“ Anlass zur Sorge. Es wird aber auch über zusätzliche Datenschutzregeln gesprochen. Wir veröffentlichen Arbeitsdokumente aus den vergangenen Monaten.
Die EU will den Digitalen Euro einführen. Er soll eine |öffentliche, datensparsame Alternative| zu aktuellen Bezahldiensten bieten – im Internet wie im Laden um die Ecke. Die praktische Umsetzung bereitet derzeit die Europäische Zentralbank (EZB) vor, parallel dazu arbeiten die EU-Institutionen an einem Gesetz. Damit ist noch nicht entschieden, ob der Digitale Euro auch tatsächlich kommt – das wird final die EZB entscheiden –, aber der Rahmen für die neue digitale Währung ist gesetzt.
|Ihren Gesetzentwurf| hat die Kommission vor einem Jahr veröffentlicht. Seitdem arbeiten die Mitgliedstaaten im Rat der EU und das Parlament an ihren Entwürfen. Sobald alle vorliegen, müssen sich die drei Institutionen im abschließenden Trilog auf einen gemeinsamen Text einigen.
Ein zentrales kontrovers diskutiertes Thema bei den Verhandlungen im Rat ist der Datenschutz. Das zeigen Arbeitsdokumente, die wir durch eine |Anfrage nach dem EU-Informationsfreiheitsgesetz| erhalten haben. Viele Mitgliedstaaten sind sich offenbar bewusst, dass ein hohes Datenschutzniveau entscheidend für den Erfolg des digitalen Euro ist.
So enthält etwa |ein Dokument vom Oktober 2023 (PDF)| Änderungsvorschläge der Mitgliedstaaten für jenes Kapitel des Gesetzes, das sich auf den Datenschutz bezieht. In dem Dokument sprechen sich Österreich, Deutschland, die Niederlande und Frankreich explizit für den Schutz der Privatsphäre von Nutzenden aus.
„Das Vertrauen in Geld hängt vom Respekt für die Privatsphäre und dem richtigen Management von Nutzer:innendaten ab“, argumentiert etwa der Vertreter Frankreichs. Auch Deutschland sieht im Datenschutz den „Schlüssel zum Vertrauen der Öffentlichkeit in das Projekt“.
Dennoch sehen diese Staaten die Notwendigkeit, für bestimmte Zwecke Daten zu speichern und gegebenenfalls an Ermittlungsbehörden weiterzugeben, etwa für die Bekämpfung von Betrug, Geldwäsche, Terrorismus und Steuerhinterziehung. Wer ein Konto für den Digitalen Euro anbietet, muss in diesen Bereichen gewisse Anforderungen erfüllen, so die einhellige Meinung unter den Mitgliedstaaten.
Die aktuell geplanten Regeln für den Digitalen Euro gehen aber über jene für Überweisungen hinaus. |Ein separater Gesetzesvorschlag| der Kommission über Zahlungsdienste im Binnenmarkt soll Zahlungsdienstleister dazu verpflichten, Transaktionen systematisch nach Hinweisen auf Betrug zu untersuchen. Dazu sollen sie dafür bereits vorliegende Transaktionsdaten, etwa über das bisherige Verhalten von Kund:innen, prüfen und im Anschluss löschen.
Beim Digitalen Euro fordert der Kommissionsentwurf aber, dass die EZB oder andere Dienstleister systematisch Transaktionen mit dem Digitalen Euro in Echtzeit analysieren. Die Niederlande bewerten diesen Vorschlag kritisch: „In welchem Vergleich steht der Vorteil von Echtzeitkontrollen gegenüber den Betriebskosten und den Abwägungen zur Privatsphäre?“, fragte ihr Vertreter.
Offline-Zahlungen mit dem Digitalen Euro sollen von solchen Überprüfungen ausgenommen sein. Dienstleister sollen nur speichern, wie Nutzer:innen Geld in eine Offline-Wallet ein- und ausgezahlt haben. Die erfassten Daten sollen sich auf die ein- und ausgezahlte Summe, den Zeitpunkt der Zahlung, eine Identifikationsnummer für das genutzte Endgerät und die Accountnummern beschränken.
Außerdem will die Kommission sich die Entscheidung vorbehalten, Höchstgrenzen auf Offline-Transaktionen einzuführen. Was es definitiv geben wird, ist ein Haltelimit für Digitale Euro und damit auch für den Offline-Euro. Diskutiert wird dabei eine Grenze, die zwischen 500 und 3.000 Euro liegt.
Die Kommission hat sich hier bewusst an den Regeln für Bargeld orientiert. Auch Bargeldzahlungen werden nicht überwacht, aber Ein- und Auszahlungen schon. Die Offline-Version des Digitalen Euro soll dem Bargeld ähneln, deshalb will die Kommission ähnliche Regeln einführen.
Einigen EU-Mitgliedstaaten gehen diese Beschränkungen jedoch noch zu weit. „Private Bargeldtransaktionen sind das Fundament der sogenannten Schattenwirtschaft und werden wegen ihrer Nichtnachverfolgbarkeit oft von Kriminellen genutzt, um die Quellen ihrer Gelder und (oder) Geldbewegungen zu verstecken“, mahnt Litauen. Würden keine Daten zu Offline-Transaktionen gespeichert, könnte sich das Problem der Nichtnachverfolgbarkeit auf den Digitalen Euro übertragen. Die Ausnahmen für Offline-Transaktionen sollten deshalb wegfallen.
Auch Portugal sieht in Offline-Transaktionen ein höheres Risiko für Geldwäsche und fordert die Kommission auf, eine umfangreiche Folgenabschätzung zu erstellen. Noch lieber wäre dem Land aber, die Ausnahmen für Offline-Transaktionen komplett zu entfernen. Italien plädiert für „maßgeschneiderte Rahmenbedingungen“.
Während der spanischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2023 haben die Mitgliedstaaten sich offenbar noch auf keine gemeinsame Position einigen können. Einige Mitgliedstaaten stimmen |laut einem Dokument aus dem Dezember (PDF)| mit dem Vorschlag der Kommission überein, andere Regierungen wollen mehr Daten speichern als diese.
Schon damals lag auch ein Vorschlag auf dem Tisch, der in eine andere Richtung weist. Einige EU-Mitgliedstaaten forderten demnach weitere Ausnahmen für Überwachung von Transaktionen. So soll nicht entscheidend sein, ob eine Zahlung online oder offline getätigt wird. Stattdessen soll die Entfernung, die das Geld zurücklegt, eine genauere Prüfung auslösen. Eine Zahlung, die von Angesicht zu Angesicht erfolgt, wäre demnach von Überwachung ausgenommen, wie es derzeit auch bei Bargeld der Fall ist. Zahlungen im Internet sollen aber weiterhin unter die Geldwäsche-Überwachung fallen.
Einen entsprechenden Vorschlag hat Frankreich im Mai zu |einem sogenannten „Non-Paper“ ausgearbeitet (PDF)|. Der Text stützt sich auf die Empfehlungen, die europäische Datenschützer |zum Digitalen Euro vorgelegt haben|. Er sieht vor, kleine Transaktionen von der Anti-Geldwäsche-Überwachung auszunehmen.
Zentral für die französische Argumentation ist, dass für die Nutzer:innen der Unterschied zwischen Online- und Offline-Zahlungen nicht offensichtlich ist. Vielmehr ist für sie die Situation relevant, in der sie etwa für ein Produkt bezahlen, beispielsweise im Geschäft oder im Internet.
Ungeklärt ist bei alledem allerdings noch, wie der Digitale Euro zwischen Nah- und Fernzahlungen unterscheiden soll. Frankreich schlägt vor, dafür die Daten zu nutzen, die anzeigen, welche Art der Zahlung genutzt wird. Fordert eine Kasse in einem Geschäft eine Transaktion an, soll dies als Nahzahlung gelten. Fordert hingegen ein E-Commerce-Interface eine Transaktion an, wird sie als Fernzahlung gekennzeichnet.
Neben den Offline-Zahlungen diskutierten die Mitgliedstaaten im Oktober einen weiteren Punkt kontrovers: den „zentralen Zugangspunkt“ bei der EZB. Den braucht es laut der Kommission, damit Nutzer:innen ihre Konten zwischen verschiedenen Dienstleistern wechseln können. Dazu kann die EZB laut ihrem Entwurf diesen Zugangspunkt einrichten, der dann Identifikationsnummern von Nutzer:innen an einer Stelle speichert.
Datenschutzmechanismen „auf dem neuesten Stand der Technik“ sollen verhindern, dass unberechtigte Dritte durch diesen Zugangspunkt Nutzer:innen identifizieren können. Irland merkte etwas irritiert an, dass der Gesetzesentwurf keine Definition enthalte, was das genau heiße. Die irischen Verhandler:innen fordern, stattdessen von „hohen Standards für Sicherheits- und Datenschutzmaßnahmen“ zu sprechen.
Deutschland sieht den Zugangspunkt skeptisch. „Ein einziger Zugangspunkt mit allen Identifikationsnummern könnte eine bedeutende Gefahr für den Datenschutz darstellen“, heißt es in einer Anmerkung. Es bräuchte weitere Erklärungen dazu, wer Zugang zu diesen Daten haben soll und wieso ihre zentralisierte dauerhafte Speicherung überhaupt notwendig ist.
Nach Spanien hatte Belgien in der ersten Hälfte dieses Jahres die EU-Ratspräsidentschaft inne. Während dieser Zeit beschäftigten sich die Mitgliedstaaten am 30 Mai mit dem Datenschutz. Die offenen Fragen dieses Treffens fasst |ein belgisches Dokument zusammen (PDF)|. Darin unterbreitet Belgien Vorschläge, wie die EZB und die nationalen Zentralbanken die persönlichen Daten von Nutzer:innen beim Digitalen Euro besser schützen könnten.
Der Digitale Euro könnte demnach gesetzlich so gestaltet sein, dass einzelne Nutzer:innen nicht identifiziert werden können. Dazu sollen unter anderem Verschlüsselung, Zweckbindung und Datensparsamkeit explizit im Gesetz verankert werden.
Außerdem schlägt das Dokument vor, dass es den Zentralbanken verboten sein soll, einzelne Nutzer:innen identifizieren zu können. Auch sollte es organisatorische Trennungen innerhalb der Zentralbanken geben, um einen Informationsaustausch zwischen verschiedenen Teams zu verhindern. Darüber hinaus könnten verbindliche Regeln und Kontrollen eingeführt werden, um zu überprüfen, ob die Zentralbanken die Datenschutzregeln des Digitalen Euro einhalten.
Dieser Artikel ist Teil einer |Reihe zum Digitalen Euro|. Die Recherche wurde vom |Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung| durch sein Journalist-in-Residence-Programm finanziell unterstützt.
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|öffentliche, datensparsame Alternative|
|Anfrage nach dem EU-Informationsfreiheitsgesetz|
|ein Dokument vom Oktober 2023 (PDF)|
|Ein separater Gesetzesvorschlag|
|laut einem Dokument aus dem Dezember (PDF)|
|einem sogenannten „Non-Paper“ ausgearbeitet (PDF)|
|zum Digitalen Euro vorgelegt haben|
|ein belgisches Dokument zusammen (PDF)|
|Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung|
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Wed, 03 Jul 2024 16:20:04 +0000
Chris Köver
Menschen ohne deutschen Pass sollen leichter ausgewiesen werden, wenn sie auch nur eine einzige terroristische Tat im Netz billigen oder verbreiten. Aber reicht dafür schon ein Like? Fachleute für Aufenthaltsrecht bezweifeln das – und weisen auch auf andere Schwierigkeiten hin.
Wer „terroristische Straftaten“ gutheißt oder verbreitet und keinen deutschen Pass hat, soll leichter ausgewiesen werden können. So will es die Bundesregierung, die am Mittwoch |eine Verschärfung des Aufenthaltsrechts| auf den Weg gebracht hat.
Schon ein einzelner Kommentar in den Sozialen Medien soll demnach ausreichen, um ein „besonders schweres Ausweisungsinteresse“ zu begründen, sagt das Bundesinnenministerium im Gesetzentwurf. Ein Gerichtsurteil muss die Ausländerbehörde dazu nicht abwarten.
Anwälte bezweifeln allerdings, dass die Schwelle für eine Ausweisung wirklich so niedrig gehängt werden kann.
Für Aufsehen sorgte vor allem ein Satz aus der Gesetzesbegründung: „Unter Verbreitung eines Inhalts kann daher nunmehr etwa auch das Markieren eines Beitrags durch ‚Gefällt mir‘ auf den Sozialen Medien wie You Tube, Instagram, TikTok etc. fallen“, heißt es im Begründungsteil des Entwurfs. Als Grundlage verweist der Text auf ein umstrittenes |Urteil des Landgerichts Meiningen|.
Eine Verbreitung von terroristischen Inhalten durch einen Like? „Das ist schon heftig,“ sagt Peter von Auer, rechtspolitischer Referent bei Pro Asyl. „Einen Like setzt man schnell. Das ist von der Verhältnismäßigkeit sehr schwierig, wenn man das vergleicht mit anderen Ausweisungstatbeständen.“
Von Auer bezweifelt allerdings, dass schon dann eine „Verbreitung“ vorliegen soll, wenn jemand einen Inhalt mit „Gefällt mir“ markiert. Zwar würden Inhalte mit vielen Likes auf Facebook oder anderen Plattformen eine größere Reichweite bekommen. Das passiere aber nicht durch einen einzelnen Like, sondern durch viele. „Dass man etwas mit dem Like setzen schon verbreitet, halte ich deswegen für fragwürdig.“
Zweifelhaft sei auch, ob Gerichte einen gehobenen Daumen unter einem Beitrag schon als Billigung werten würden. Aus einem gehobenen Daumen lasse sich schließlich noch nicht darauf schließen, dass jemand mit der Gesamtaussage eines Inhalts einverstanden sei, das hätten andere Fälle gezeigt.
Ein anderer Punkt hingegen überrascht Juristen nicht. „Dass die Ausländerbehörde keine Verurteilung abwarten muss, um jemanden auszuweisen, ist von der Systematik nichts Neues“, sagt der Rechtsanwalt Matthias Lehnert, der auf Aufenthaltsrecht spezialisiert ist.
Das Ausweisungsrecht sei auch an anderen Stellen so konzipiert. Die Ausländerbehörden sollen im Zweifel schnell handeln können, etwa zur Gefahrenabwehr. So kann man heute schon Menschen dafür ausweisen, dass sie Drogen verkauft oder falsche Angaben gegenüber Behörden zur Erlangung ihres Aufenthalts gemacht haben.
Kritisch sieht er die Verschärfung dennoch, weil die Regeln einen so weiten Ermessensspielraum für Ausländerbehörden lassen. In einem Strafverfahren ließe sich darüber streiten, was als Billigung von Terrorismus gilt. „Wenn aber die Ausländerbehörde das in Zukunft einschätzen soll, ist das ein Problem. Das kann ja tief in die Meinungsfreiheit eingreifen.“
Allein das Wissen darum, dass die Ausländerbehörde auf den eigenen Profile im Netz nach Inhalten suchen könnte, könne auf Menschen ohne deutschen Pass schon abschreckend wirken, fürchtet Lehnert. „Vielleicht habe ich einen falschen Freund oder ein Video nicht genau angeguckt – und dann mit diesen krass existentiellen Folgen.“
Eine Ausweisung bedeutet zwar noch nicht automatisch die Abschiebung, sagt Lehnert. Betroffene können per Eilantrag gegen die Ausweisung klagen. Dann muss ein Gericht die Einschätzung der Ausländerbehörde prüfen. In so einem Fall würden verschiedene Gründe gegeneinander abgewogen. Wer seit Jahrzehnten mit festem Aufenthalt in Deutschland lebt oder hier seine Familie hat, würde nicht ohne weiteres abgeschoben.
In viele Staaten und Regionen schiebe Deutschland außerdem ohnehin nicht ab, etwa nach Afghanistan oder Syrien. Lehnert bezeichnet die Maßnahmen deswegen als „symbolisches Law-and-Order“.
Dennoch hat eine Ausweisung für die Betroffenen gravierende Folgen. Sie können etwa keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis mehr bekommen, ihre Familie nicht mehr nachholen, sich nicht mehr einbürgern lassen. Wenn sie Deutschland verlassen, können sie nie wieder einreisen. „Die Entscheidung der Ausländerbehörde steht dann erst mal im Raum“, sagt Lehnert. „Dann bist du in der Beweisnot.“
Einzig die Lage von Menschen mit einer Duldung könne sich dadurch nicht mehr verschlechtern. Sie haben ohnehin schon den denkbar schlechtesten Status: Sie gelten als ausreisepflichtig und werden nur deswegen nicht sofort abgeschoben, weil sie etwa krank sind oder sich kein Staat findet, der bereit wäre, sie aufzunehmen.
|Ausweisung schon nach einem Like|
Unklar ist, ob die Regelung auch rückwirkend greifen soll. Darf die Ausländerbehörde in der Timeline zurückgehen und dort nach früheren Verfehlungen suchen? Sollten Menschen ohne Pass jetzt damit beginnen ihre Timelines zur prüfen?
Das Bundesinnenministerium (BMI) hat auf diese Frage nicht geantwortet. Peter von Auer bezweifelt das. „Wir haben das Verbot der Rückwirkung.“ Im Strafrecht bedeute das: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn es zum Zeitpunkt der Tat schon strafbar war.
„Eigentlich müsste das heißen: Ich kann nicht frühere Kommentare oder Likes nehmen und deswegen jemanden jetzt ausweisen.“ Doch ob sich Ausländerbehörden daran halten werden und Gerichte im Zweifel so entscheiden würden, wird sich erst noch zeigen müssen.
Das Innenministerium wiegelt derweil ab: „Aus Sicht des BMI kann ein ‚Like‘ eine so gravierende Entscheidung wie eine Ausweisung nicht begründen“, erklärt ein Sprecher des Ministeriums. Denn hierfür müsse in jedem Einzelfall die Ausländerbehörde und gegebenenfalls im Anschluss ein Verwaltungsgerichte zwischen dem Bleibe- und dem Ausweisungsinteresse abwägen. Ausweisungen sollten vor allem in gravierenden Fällen erfolgen können, etwa bei „terrorverherrlichenden Videos und Hasskommentaren, die terroristische Taten begrüßen und zu weiteren Taten animieren können“.
Die in der Begründung des Vorschlags zitierte Entscheidung des Landgerichts treffe keinerlei Aussage zur Frage von Ausweisungen, betont der Sprecher, sondern nur zur „Verbreitung eines Inhalts im strafrechtlichen Sinne“. Strafverfahren seien aber etwas anderes als verwaltungsgerichtliche Verfahren zu etwaigen Ausweisungen. Insofern werde es auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ankommen.
Bei der |Regierungspressekonferenz am Montag| ging es ebenfalls um das Thema. Auf die Frage, ob das Personal einer Ausländerbehörde auch ohne juristischen Abschluss in der Lage sei, solche Kommentare zu prüfen, sagte ein Vertreter der Ministeriums, dazu seien die Menschen in den Ausländerbehörden sehr wohl qualifiziert.
Außerdem werde „die Expertise auch gebündelt“. „Es wird ja in der Regel bei solchen terrorverherrlichenden Postings auch strafrechtliche Ermittlungsverfahren geben“, sagte der Vertreter. „Insofern tauschen sich Ermittlungsbehörden und Ausländerbehörden natürlich auch über die Maßnahmen aus, die einerseits im Bereich der Strafverfolgung getroffen werden, andererseits für eine mögliche Ausweisung getroffen werden.“
Warum die Bundesregierung eine solche Verschärfung überhaupt für nötig hält? Man könne auch jetzt schon das Ausweisungsinteresse gegen das Bleibeinteresse abwägen, bestätigt der BMI-Vertreter.
„Aber aus Sicht der Bundesregierung ist es angesichts der Schwere dieser Taten und auch des Klimas von Hass und Gewalt, das durch solche Taten und das Verherrlichen von Terror geschürt wird, das zu neuen Gewalttaten führen kann und das andere Täter ermutigen kann, notwendig, diesen besonderen Fall auch im Aufenthaltsrecht zu regeln.“
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|eine Verschärfung des Aufenthaltsrechts|
|Urteil des Landgerichts Meiningen|
|Ausweisung schon nach einem Like|
|Regierungspressekonferenz am Montag|
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Wed, 03 Jul 2024 12:03:00 +0000
Maximilian Henning
Die EU werkelt an einer digitalen Version des Euros. Aber warum braucht es die? Kann ich nicht schon mit PayPal oder meiner Bankkarte digital bezahlen? Ja, schon – aber nicht überall. Und es verdient jemand dabei mit.
Die EU arbeitet gerade an einem Vorhaben, mit dem sie die gemeinsame Währung ins Internetzeitalter holen will. Der Name des Projekts ist einprägsam: der Digitale Euro. Ah ja, klingt gut. Aber dann wird es komplizierter: Was soll der tun? Wieso? Wie? Und vor allem: Was soll mir das bringen?
Das Problem: Es gibt auf den ersten Blick kein Problem. Bargeld funktioniert zum Einkaufen im Supermarkt oder im Restaurant, mit einem Bankkonto und PayPal oder einer Kreditkarte stehen auch im Internet alle Türen offen. Dazu kommen |noch eine Menge anderer Unternehmen|, die Zahlungsfunktionen anbieten. Der Markt funktioniert also wunderbar, oder? Wozu mischt sich die EU ein?
Das hat drei Gründe. Punkt eins, der Zahlungssektor ist beinahe völlig von US-Unternehmen dominiert. In Deutschland führt zum Beispiel PayPal mit gewaltigem Abstand, als nächstes folgen Visa und Mastercard. Hier hat der |Ausschluss Russlands vom internationalen SWIFT-Zahlungssystem| einigen europäischen Politiker:innen zu denken gegeben: Was, wenn die Zusammenarbeit zwischen EU und USA in dem System eines Tages mal nicht mehr so gut funktionieren sollte?
Punkt zwei, der Umgang der großen Zahlungsdienstleister |mit den Daten ihrer Kund:innen|. PayPal gibt Daten an eine gewaltige Liste an Drittfirmen weiter und arbeitet gerade daran, auf Basis der gesammelten Informationen ein eigenes Werbegeschäft aufzubauen, zumindest in den USA. Visa und Mastercard verdienen, neben ihrem Hauptgeschäft mit Gebühren, heute schon Geld mit Daten über die Zahlungen, die sie abwickeln.
Punkt drei, es gibt keinen gemeinsamen europäischen Zahlungsdienst. Die Eurozone hat zwar eine gemeinsame analoge Währung – Euroscheine und -münzen –, aber digitale Zahlungen sind völlig zersplittert. Einige Länder haben zumindest nationale Bezahldienste, andere noch nicht einmal das. Wer innerhalb der EU aus einem anderen EU-Land etwas online bestellen will, muss dafür in den allermeisten Fällen US-Infrastruktur benutzen. Gestern haben europäische Banken |zwar einen neuen Anlauf gestartet| – bisher |scheitern sie aber seit mehr als 15 Jahren| mit Versuchen, ein eigenes Netzwerk aufzubauen.
Deshalb also der Digitale Euro. Beschlossen ist der Digitale Euro noch nicht, und wenn er kommt, dann wahrscheinlich frühestens ab 2028. Aber angenommen, er kommt: Was wird das für normale Menschen verändern?
Zunächst einmal wird er nicht das Bargeld abschaffen. Im Gegenteil: Händler:innen werden in Zukunft analoge Bezahlmethoden anbieten müssen. Die EU ist sich nämlich bewusst, dass viele Menschen – besonders in Deutschland – ihr Bargeld sehr gern haben. Trotzdem gibt es in vielen EU-Ländern bereits eine Menge Läden, die gar kein Bargeld mehr annehmen. Und gleichzeitig ist es eine verbreitete Verschwörungserzählung, dass die EU mit dem Digitalen Euro den schönen Euroschein abschaffen will.
Um diese Bargeldangst zu besänftigen, will die EU-Kommission zusammen mit dem Digitalen Euro das Bargeld stärken: Geschäfte |sollen dazu verpflichtet werden|, zur Bezahlung auch Bargeld annehmen zu müssen. Es zeichnet sich aber schon ab, dass Länder wie die Niederlande oder Irland weniger stark hinter so einer Verpflichtung stehen als andere.
Andersherum will die EU-Kommission Geschäfte auch dazu verpflichten, den Digitalen Euro als Zahlungsmittel anzunehmen – zumindest, wenn sie mehr als zehn Angestellte haben oder mehr als 2 Millionen Euro Umsatz im Jahr machen. Wenn sie ein anderes digitales Zahlungsmittel akzeptieren, gelten die Ausnahmen allerdings nicht mehr. Dann gilt auch für diese Geschäfte, so wie für alle anderen: Wer sie in einem Euroland in Zukunft betritt, wird ein gesetzliches Recht haben, mit dem Digitalen Euro zu bezahlen.
Diese Zahlung wird über einen Zahlungsdienstleister laufen, das werden wahrscheinlich meistens Banken sein. Die sollen etwa in ihren Banking-Apps zusätzliche Funktionen anbieten, damit Menschen über sie den Digitalen Euro nutzen können. Wie genau das aussehen wird, steht momentan noch nicht fest. Vorstellbar wäre, dass die Bank einfach in einem schon registrierten Account ein zusätzliches Konto für Digitale Euros anbietet. Normale Funktionen müssen dabei kostenlos sein. Ansonsten kann auch die EZB eine eigene App anbieten. Nutzer:innen sollen sich frei zwischen den Apps eines Dienstleisters und der EZB entscheiden können.
Wer kein Bankkonto hat, soll bei bestimmten Institutionen ein Konto nur für Digitale Euros eröffnen und benutzen können, etwa bei der Post. Dabei soll es auch Unterstützung etwa für Menschen mit Behinderungen geben.
Mit den Digitale-Euro-Apps sollen Zahlungen dann auch von einem Handy zum anderen möglich sein. Das heißt zum Beispiel: Wer einer Freundin fünf Euro geben will, tippt das in der eigenen App ein, hält das Handy an das der Freundin – und das Geld ist übertragen. Das soll auch offline funktionieren, ohne Internetverbindung. Selbst in Deutschland steht damit der flächendeckenden Nutzung nichts mehr im Weg.
Noch mehr offline soll es mit aufladbaren Karten gehen. Die EZB |denkt sogar darüber nach|, wie diese Karten so gestaltet werden können, dass sie keine zusätzliche Ausrüstung brauchen. Zwei Karten mit eigener Batterie und Eingabefeld würden für eine Überweisung reichen.
Natürlich soll man mit dem Digitalen Euro auch im Internet einkaufen können. Auch hier werden Unternehmen verpflichtet, ihn als Zahlungsmittel zu akzeptieren, mit den genannten Ausnahmen. Wahrscheinlich wird er dann eine zusätzliche Bezahlmöglichkeit unter anderen sein: Kreditkarte, PayPal, Digitaler Euro. Dabei soll der Digitale Euro allerdings überall in der Eurozone verfügbar sein, potenziell für die Endkundin billiger sein als andere Optionen – dazu später mehr – und vor allem die eigenen Daten besser schützen.
Denn im Gegensatz zu aktuellen Bezahldiensten wurde der Digitale Euro von Anfang an datenminimierend konzipiert. Die EZB betont immer wieder, dass sie eine öffentliche Institution sei und deshalb kein Interesse daran habe, mit Daten Geld zu verdienen. Die Kommission hat in ihren Entwurf für das Gesetz klar geschrieben: Weder die EZB noch die Privatbanken, die die Zahlungsdienste anbieten, sollen Nutzer:innen direkt identifizieren können.
Die Banken sollen überhaupt nur so weit Zugriff auf Informationen bekommen, wie sie das brauchen, um etwa den Gesetzen gegen Geldwäsche und Terrorismus zu entsprechen. Offline-Transaktionen sollen komplett ohne das Wissen von anderen ablaufen. Nur Zahler und Empfängerin würden wissen, dass Digitale Euros die Hand gewechselt haben.
Wohlgemerkt: Das heißt nicht, dass |alle Fragen zum Datenschutz |schon geklärt wären. So können Privatbanken etwa in ihre Apps durchaus Funktionen einbauen, die mehr Daten brauchen – dafür bräuchten sie aber die Zustimmung der Nutzenden. Außerdem soll die EZB laut dem Gesetz zum Digitalen Euro einen „zentralen Zugangspunkt“ für die Kennungen von Nutzer:innen betreiben können. Wie genau der gestaltet werden soll, ist noch offen.
Trotzdem ist momentan auf EU-Ebene allen Beteiligten sehr bewusst, dass der Digitale Euro datenschutztechnisch wasserdicht sein muss, wenn er Erfolg haben soll. Denn anders als PayPal hat die EU kein gewaltiges Marketingbudget, um Probleme zu übertünchen. Es ist ähnlich wie damals |bei der staatlichen Corona-Warn-App| im Verhältnis zur kommerziellen App |Luca|: Wo die staatliche Lösung den |Chaos Computer Club zufriedenstellen| muss, reicht es für die private Lösung, wenn |ein Musiker für sie Werbung macht.|
Neben dem hehren Datenschutz gibt es auch noch einen anderen Punkt, der den Digitalen Euro interessanter machen könnte als aktuelle Bezahldienste: Er könnte billiger werden. Denn die EZB wird die Infrastruktur als öffentliches Gut betreiben, ohne damit Gewinn machen zu wollen. Auch die Privatbanken müssen grundlegende Funktionen kostenlos anbieten, ansonsten sollen sie einen „angemessenen“ Gewinn machen können. Der soll sich aus Gebühren für Händler:innen finanzieren, so wie auch bei aktuellen Bezahldiensten. Die Gebühren für den Digitalen Euro sollen aber die von anderen Zahldiensten nie übersteigen dürfen.
Eine noch offene Frage ist die nach den Haltelimits. Europäische Banken haben momentan die sehr große Befürchtung, dass ihre Kund:innen all ihr Geld aus ihren Sparkonten in Digitale-Euro-Konten übertragen könnten. Auf diesen Spareinlagen fußt aber ihr Geschäftsmodell. Es soll nun deshalb Haltelimits für den Digitalen Euro geben, irgendwo im Bereich zwischen 500 und 3.000 Euro. Wo genau, wird wie so viele andere Fragen bei diesem Projekt gerade noch ausdiskutiert.
Dieser Artikel ist Teil einer |Reihe zum Digitalen Euro|. Die Recherche wurde vom |Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung| durch sein Journalist-in-Residence-Programm finanziell unterstützt.
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Wed, 03 Jul 2024 11:19:23 +0000
Martin Schwarzbeck
Zwei Gesetze aus Texas und Florida sollten es Social-Media-Plattformen erschweren, von Nutzer*innen erstellte Beiträge zu moderieren. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat nun entschieden, dass die Gesetze erneut überprüft werden müssen.
Dürfen Soziale Netzwerke nach eigenem Ermessen Postings moderieren oder löschen? Diese Frage stand im Zentrum zweier Gesetze aus Florida und Texas, die nun vor dem Supreme Court of the United States (SCOTUS) auf den Prüfstand kamen. Die beiden konservativ regierten Bundesstaaten sahen in der Moderation von Inhalten einen Eingriff in die Redefreiheit und schoben ihr einen Riegel vor. |Der Supreme Court entschied am Montag| ganz im Gegenteil: Social-Media-Diensten vorzuschreiben, was sie verbreiten müssen, sei der viel größere Eingriff in die freie Meinungsäußerung.
Der Supreme Court sieht die Plattformen generell erst einmal als eine Art Verleger. Die Zusammenstellung und Kuratierung von Inhalten anderer zu einem eigenen Produkt gewähre den Plattformen den Schutz des |ersten Verfassungszusatzes|, der unter anderem die Rede- und die Pressefreiheit absichert.
Die entsprechenden Gesetze in Texas und Florida waren 2022 verabschiedet worden. Zuvor hatten republikanische Politiker die oft aus dem liberalen Kalifornien stammenden Technologieunternehmen dafür kritisiert, dass sie konservative Ansichten diskriminieren würden. Auslöser war auch der |Ausschluss von Donald Trump von Twitter und anderen Plattformen| nach dem Angriff auf das Kapitol im Januar 2021.
Daraufhin hatten die beiden Bundesstaaten leicht unterschiedliche Gesetze erlassen, die die Möglichkeit zur Moderation limitieren sollten. |Das Gesetz aus Florida| verbietet großen Internetplattfomen, Politiker*innen und Medienunternehmen länger als 14 Tage auszuschließen. Ihre Postings dürfen weder weiter noch weniger weit verbreitet werden als die anderer. Zudem müssen die Plattformen bei Sperrung von Kommentaren die Urheber*innen informieren und diesen das Recht einräumen, die Entscheidung anzufechten.
|Das Gesetz von Texas| untersagt es Plattformen, Beiträge zu entfernen, mit Hinweisen wie Faktenchecks zu versehen, oder einige, etwa mittels Empfehlungsalgorithmen, weiter zu verbreiten als andere. Maßnahmen zum Jugendschutz sind nur erlaubt, wenn die Betreiber dazu von außen aufgefordert werden, auch Gewaltaufforderungen sind weitgehend zu dulden. Beide Gesetze verpflichten die Unternehmen auch, jede einzelne Moderationsentscheidung zu begründen. Die Gesetze betreffen nicht nicht nur Soziale Netzwerke, sondern auch andere Online-Dienste wie Uber und Etsy, wo die Auswirkungen noch völlig ungeklärt sind.
Die Branchenverbände Netchoice und Computer and Communications Industry Association klagten gegen die Gesetze, die angerufenen Berufungsgerichte kamen zu unterschiedlichen Schlüssen und reichten die Entscheidung an das höchste Gericht weiter.
Obwohl der SCOTUS eine einstimmige Entscheidung getroffen hat, ist die Auseinandersetzung noch nicht fertig ausgefochten. Um ausstehende Details zu klären, müssen sich nun untergeordnete Gerichte erneut mit den Fällen beschäftigen. Doch die Leitlinien, wie die Gesetze und ihre Auswirkungen zu analysieren sind, hat der Supreme Court recht klar mitgegeben. Die Electronic Frontier Foundation spricht in einer ersten Einschätzung sogar |schon von einem „Sieg“| für die Internetfreiheit.
So ist die Inhaltsmoderation erst einmal grundsätzlich durch den ersten Verfassungszusatz geschützt. Auch die Zielrichtung der Gesetze – gegen die Diskriminierung konservativer Stimmen – hält der Oberste Gerichtshof für fragwürdig. Die Begründung, dass dadurch der „Marktplatz der Ideen“ bereichert würde, sei nicht ausreichend. Denn es sei nicht Aufgabe der Regierung, zu entscheiden, was das richtige Maß von privater Meinungsäußerung ist, so die Begründung des Gerichts. „So unvollkommen der private Marktplatz der Ideen auch sein mag, hier gab es einen noch schlechteren Vorschlag – die Regierung selbst entscheidet, wann die Rede unausgewogen ist, und zwingt dann die Sprecher, mehr von einigen Ansichten oder weniger von anderen zu liefern“, so die Begründung der Mehrheit der Richter*innen.
Eine der Richter*innen beleuchtete in einer weiterführenden Stellungnahme auch die Auswirkungen, die der Einsatz von sogenannter Künstlicher Intelligenz bei der Moderation und Zusammenstellung der Streams juristisch haben könnte. Laut der konservativen Amy Coney Barrett könnten Algorithmen, die darauf programmiert sind, bestimmte Inhalte zu entfernen oder zu priorisieren, als Umsetzung der Entscheidungen eines Menschen angesehen werden. Die Analyse könne jedoch anders ausfallen, wenn ein Plattformbetreiber eine sogenannte KI auffordert, zu bestimmen, welche Inhalte entfernt werden sollen. Laut Barrett ist die Gesetzeslage noch einmal anders, wenn die Plattform nicht in den USA residiert. Denn nur US-amerikanische Unternehmen könnten sich auf den ersten Verfassungszusatz berufen.
Kurz zuvor hatte der SCOTUS zwei weitere netzpolitisch relevante Entscheidungen gefällt. Beide betreffen die Macht von Exekutivbehörden. Vor einer Woche hatte das Oberste Gericht klargestellt, dass die Regierung oder Behörden wie das FBI weiterhin |an Online-Dienste herantreten können|, um etwa gegen Desinformation vorzugehen.
Und am Freitag hob der SCOTUS die 40 Jahre alte „Chevron“-Doktrin auf, die besagte, dass Gerichte sich bei der Auslegung von Gesetzen auf die Expertise von Bundesbehörden verlassen müssen. Bislang waren in den USA zahlreiche Entscheidungen, beispielsweise die zur |Netzneutralität| oder auch solche zur Begrenzung von Schadstoffausstößen, von Regulierungsbehörden wie der FCC getroffen worden.
Künftig haben bei der |Auslegung unklarer Gesetze immer Gerichte| das letzte Wort. Schon jetzt reiben sich Lobbyorganisationen die Hände, die in den kommenden Jahren |viele Regulierungsentscheidungen juristisch anfechten| dürften. Nicht wenige davon könnten letztlich vor dem SCOTUS landen – was dessen zunehmende Machtfülle noch weiter steigern wird.
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|viele Regulierungsentscheidungen juristisch anfechten|
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Wed, 03 Jul 2024 10:13:38 +0000
Nora Nemitz
Der FRITZ!Box-Hersteller hat mit Händlern die Preise seiner Produkte abgesprochen. Nach Ermittlungen des Bundeskartellamts kam es jetzt zu einer Vereinbarung, die eine Geldstrafe in Millionenhöhe umfasst.
Der Hersteller hinter der Marke „FRITZ!“, die AVM Computersysteme Vertriebs GmbH, muss eine Strafe von 16 Millionen Euro zahlen,| die das Bundeskartellamt am gestrigen Dienstag verhängte|. AVM ist ein deutscher Hersteller von Routern, Repeatern, Telefonen und Smart-Home-Geräten. Laut Bundeskartellamt hat sich das Unternehmen mit Elektronikfachhändlern abgesprochen, um Preise festzulegen.
AVM hat gezielt die freie Preisbildung beeinflusst. Zusammen mit sechs Elektronikfachhändlern hat das Unternehmen Preise für Produkte festgelegt oder diese erhöht. Die Vereinbarungen sahen bestimmte Mindestpreise für Endverbraucher vor oder eine Anhebung der Preise. Das bedeutet, dass die Geräte von AVM bei Elektronikhändlern mindestens einen bestimmten Preis haben mussten. Dieser Preis lag zwischen der unverbindlichen Preisempfehlung und dem Einkaufspreis der Verkäufer. Damit sich die Fachhändler an diese Regelungen hielten, wurden die Preise von Mitarbeiter*innen des Unternehmens AVM überwacht. Dabei wurden neben Recherchen in Läden Preisvergleichsdienste im Internet genutzt. Auch eine spezielle Software zur Überwachung der Händler und ihrer Preise ist seit 2019 zum Einsatz gekommen. Wenn die Preise nicht mehr den Preisvorgaben von AVM entsprachen, griff AVM ein und setzte sich mit den Händlern in Kontakt, um Preiserhöhungen zu fordern. Dies geschah auch, wenn sich Händler darüber beschwerten, dass die gesetzten Preise zu niedrig waren.
Durch dieses Vorgehen wurde der freie Wettbewerb eingeschränkt. Das Bundeskartellamt bekam anonyme Tipps über sein Hinweisgebersystem sowie weitere Hinweise aus dem Markt, auf deren Grundlage es die Ermittlungen aufnahm. Anfang Februar 2022 gab es aufgrund der Hinweise eine Durchsuchung. Nach Abschluss der Ermittlungen stellte das Bundeskartellamt klar, dass das Vorgehen von AVM nicht zu tolerieren ist. Damit begründet es auch die Strafzahlung in Höhe von 16 Millionen Euro, die AVM leisten muss. Diese Strafe kam durch ein Settlement zustande. Das bedeutet, dass das Bundeskartellamt und AVM eine Vereinbarung geschlossen haben. AVM gesteht damit den Verstoß gegen das |Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen| ein und akzeptiert die Strafe, wodurch es zu keiner langwierigen und kostspieligen rechtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Bundeskartellamt und AVM kommt.
|AVM äußerte sich in einer Stellungnahme dazu|. Das Unternehmen behauptet, die Preisabsprachen nur getroffen zu haben, um stationäre Händler im Wettbewerb mit dem Onlinehandel zu unterstützen. Denn die Preise waren nicht für den Onlinehandel, sondern ausschließlich für den stationären Handel gedacht. Das Unternehmen betonte auch, dass es während der Ermittlungen eine Änderung der EU-Regeln gab und es nun laut dieser EU-Regelung erlaubt sei, unterschiedliche Preise für Online- und stationäre Händler zu haben. AVM bedauert, dass bei dem Vorgehen Verwirrung entstanden sei, und stellt dar, dass die Verbraucher trotz dessen gute Preise bekommen hätten und hinter dem Handeln keine böse Absicht gestanden habe.
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| die das Bundeskartellamt am gestrigen Dienstag verhängte|
|Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen|
|AVM äußerte sich in einer Stellungnahme dazu|
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Wed, 03 Jul 2024 09:53:00 +0000
Laura-Kristine Krause
Der ZDF-Fernsehrat konstituiert sich neu. Ihm werden so viele neue Fernsehräte – oder besser Fernsehrätinnen – angehören wie noch nie. Dies ist einer Reform aus dem Jahr 2016 zu verdanken.
Die Serie „Neues aus dem Fernsehrat“ beleuchtet seit dem Jahr 2016 die digitale Transformation öffentlich-rechtlicher Medien. Hier entlang zu allen Beiträgen der |Reihe|.
Am 4. und 5. Juli 2024 treffen sich in Mainz erstmalig die Mitglieder des neuen Fernsehrats zu seiner 17. Amtsperiode. Wer dem Gremium in den nächsten vier Jahren angehören wird, haben die sogenannten entsendenden Organisationen bereits in den vergangenen Monaten bestimmt. Denn die Zusammensetzung der 60 Mitglieder ist im ZDF-Staatsvertrag und in unterschiedlichen Landesgesetzen geregelt.
Neben der sogenannten Staatsbank – zwei Vertreter*innen des Bundes und je eine Person pro Landesregierung – sollen vor allem die 42 Vertreter*innen der Zivilgesellschaft die Interessen der Allgemeinheit gegenüber dem ZDF vertreten und die Vielfalt der Gesellschaft (und damit auch die Gebührenzahlerinnen und -zahler) abbilden.
|Entsendende Organisationen| für den ZDF-Fernsehrat sind unter anderem der Deutsche Städte- und Gemeindebund, alle großen Religionsgemeinschaften in Deutschland, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, das Handwerk, Wohlfahrtsverbände, die Verlagsbranche, der Naturschutz und viele mehr.
Ich selbst darf für „das Internet“ (gemeinsam nominiert durch CCC, D64, eco e. V. und medianet Berlin-Brandenburg) die kommenden vier Jahre Mitglied im Fernsehrat sein, nachdem ich in den vergangenen zwei Jahren die Amtszeit von Leonhard Dobusch vollendet habe, der 2022 in den ZDF-Verwaltungsrat gewechselt ist.
Trotz der diversen entsendenden Organisationen gelingt es bisher nur begrenzt, in den Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Vielfalt der deutschen Gesellschaft abzubilden. Das hat 2022 |eine lesenswerte Studie| der neuen deutschen Medienmacher:innen eindrücklich aufgearbeitet. Demnach fehlen in den Aufsichtsgremien vor allem die Perspektiven junger Menschen und die von Menschen mit Migrationsgeschichte. Außerdem ist die Geschlechterparität in vielen Rundfunkanstalten nicht gegeben. Für den ZDF-Fernsehrat ermittelte die Studie 2022 lediglich einen Frauenanteil von genau einem Drittel.
Hier zeichnet sich mit der neuen Zusammensetzung des ZDF-Fernsehrats nun eine kleine Revolution ab. Zum einen erneuert sich der Fernsehrat grundlegend: Von 60 Mitgliedern werden 31 Personen neu entsandt sein, die meisten davon sind Frauen.
Der Grund dafür liegt in einer großen Reform aus dem Jahr 2016: Als Reaktion auf das |ZDF-Urteil des Bundesverfassungsgerichts| musste damals die Zusammensetzung des Fernsehrats geändert werden, um ihn staatsferner, vielfältiger und paritätischer zu machen. Die Zahl der Posten für staatliche Vertreter*wurden im ZDF-Staatsvertrag reduziert und neue Entsendeorganisationen eingeführt - zum Beispiel „das Internet“. Außerdem wurde eine Amtszeitbegrenzung auf maximal drei Amtsperioden in Fernsehrat und Verwaltungsrat festgelegt.
Die sinnvolle Begrenzung der Dauer der Mitgliedschaft in einem Gremium wurde seinerzeit mit einer sehr „sanften“ Übergangsfrist versehen. Wer 2016 bereits Mitglied im Fernsehrat war, fing offiziell bei Null an und konnte noch zwei volle Amtsperioden weiter amtieren.
Diese Amtsperioden der Übergangsfrist enden – richtig geraten – im Jahr 2024. Das führt dazu, dass sehr viele und vor allem langjährige Mitglieder aus dem Fernsehrat ausscheiden. Prominente Beispiele: die Fernsehratsvorsitzende Marlen Thieme (20 Jahre), der Chef der Staatskanzlei Sachsen-Anhalt Rainer Robra (22 Jahre), Pater Langendörfer als Vertreter der katholischen Kirche (20 Jahre) oder der verdi-Vorsitzende Frank Werneke (22 Jahre).
Zum anderen kommt in Kombination mit der neuen Amtszeitbegrenzung eine weitere Reform von 2016 erst jetzt richtig zum Tragen: Damals wurde festgelegt, dass „Frauen und Männer angemessen zu berücksichtigen sind“: Bei jeder Neuentsendung eines Mitglieds |soll auf einen Mann eine Frau folgen| und umgekehrt auf eine Frau ein Mann folgen. Das gilt sowohl für die Vertreterinnen und Vertreter der Länder als auch der Zivilgesellschaft und ist noch nicht in allen deutschen Rundfunkanstalten so üblich. Auf dem Papier wäre die Geschlechterparität damit erreicht. Sie gilt aber nur, wenn es einen Wechsel gibt.
Da nun besonders Männer nach langer Zugehörigkeit aus dem Fernsehrat ausscheiden müssen, sind unter den neuen Mitgliedern fast nur Frauen: 26 der 31 neuen Mitglieder sind weiblich beziehungsweise weiblich gelesen. 14 der 18 Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Ländern sind daher nun weiblich sowie 31 der 42 Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft.
Damit liegt der Männeranteil im ZDF-Fernsehrat bei 25 Prozent und der Frauenanteil bei 75 Prozent. Zur Erinnerung: 2022 lag der Anteil der Männer laut der oben zitierten Studie noch bei gut 60 Prozent. Er hat sich also innerhalb weniger Jahre mehr als halbiert.
Ob und wie sich dies auf die Arbeit und Diskussionskultur im ZDF-Fernsehrat auswirkt und ob die Offenheit für digitalpolitische Themen größer sein wird als in vergangenen Amtsperioden, bleibt abzuwarten. Und um Aussagen darüber treffen zu können, ob der runderneuerte Fernsehrat auch die dringend erforderliche Vielfalt in Bezug auf Altersgruppen und Migrationsgeschichte verbessert hat, müssen zunächst alle Biografien der neuen Mitglieder bekannt und daraufhin analysiert werden.
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|ZDF-Urteil des Bundesverfassungsgerichts|
|soll auf einen Mann eine Frau folgen|
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Tue, 02 Jul 2024 14:01:51 +0000
Maximilian Henning
Es gibt in Deutschland einen klaren Platzhirschen im Online-Zahlungsmarkt: PayPal. Dazu kommen noch Kreditkarten, also Visa und Mastercard. Neben dem Geld fließen dabei aber auch Daten – und zwar nicht zu knapp.
Stellen wir uns vor, Helga aus Aachen hat in irgendeinem Webshop alle Produkte ausgewählt, die sie haben will. Sie drückt auf den kleinen Einkaufswagen oben rechts auf der Seite, um den Einkauf abzuschließen. Dann sieht sie die Liste der Optionen, wie sie bezahlen kann – und wird wahrscheinlich auf „PayPal“ klicken.
Deutsche lieben PayPal. Jeder vierte Euro, den sie 2023 im Online-Handel ausgegeben haben, |floss durch den Zahlungsdienst|. Danach kamen der Kauf auf Rechnung und die Lastschrift, gefolgt von Kartenzahlung. Die dominieren wiederum Visa und Mastercard. Ganz hinten im Feld, weit abgeschlagen, liegen Sofortüberweisung und Giropay.
Das heißt zunächst einmal: Wer in Deutschland einen Zahlungsdienst nutzt, nutzt meist den Dienst eines US-amerikanischen Unternehmens. Sofortüberweisung und Giropay machen zusammen weniger als zwei Prozent des Umsatzes aus. Giropay ist ein Projekt deutscher Banken, mit dem sie eigentlich PayPal Marktanteile ablaufen wollten – das hat offensichtlich nicht geklappt. Die Banken haben deshalb vor einigen Wochen angekündigt, den Dienst |wieder einstellen zu wollen|.
Giropay sollte eigentlich eine datenschutzfreundliche Option zum Online-Bezahlen sein. Mit „extra sicheren Servern in Deutschland“ |wirbt der Dienst|: „Das bedeutet für dich besonders guten Datenschutz nach strengsten deutschen Regeln.“ Trotz deutscher Begeisterung für den Datenschutz: Die angepriesenen extra sicheren Server haben offensichtlich nicht gereicht, um sich gegen PayPal, Visa und Mastercard durchzusetzen.
Aber braucht es denn eine datenschutzfreundliche Alternative zu deren Angeboten?
Für diese Frage ist gut zu wissen: PayPal hat eine luxemburgische Banklizenz. Damit muss das Unternehmen sich an luxemburgisches Bankrecht halten. Dazu gehört, dass es eine Liste mit allen Unternehmen veröffentlichen muss, an die Daten von Kund:innen weitergegeben werden.
Diese Liste ist |als PDF-Dokument 46 Seiten lang| und enthält ungefähr 1.000 Unternehmen. Die sind unterteilt in Zahlungsanbieter, Kreditauskunfteien, Finanzprodukte, Geschäftspartnerschaften, Marketing und Sonstige. Dort findet sich etwa LLC Havas Digital, die russische Tochter des französischen Werbeunternehmens Havas, oder Cheetah Mobile Inc. in China. Auch an Facebook, Twitter und Yahoo gibt PayPal Daten für personalisierte Werbeanzeigen weiter.
Die weitergegebenen Daten sind umfangreich: beispielsweise Name, Anschrift, E-Mail-Adresse, die Art der genutzten PayPal-Dienste, Transaktionsinformationen, IDs von Cookies, Anzeigen und Geräten. |Laut seiner Datenschutzerklärung| erstellt PayPal auch Profile über seine Kund:innen. Die können „Verhaltensmuster und persönliche Vorlieben wie Geschlecht, Einkommen, Surf- und Kaufgewohnheiten und Kreditwürdigkeit“ widerspiegeln.
PayPal will diese Daten in Zukunft nicht mehr nur an Dritte weitergeben, sondern selber ein Werbegeschäft aufbauen, |berichtete das Wall Street Journal|. Der „Advanced Offers“-Dienst soll etwa Händlerinnen dabei helfen, Rabatte und andere Angebote für PayPal-Kunden zu personalisieren. Wer seine Daten nicht in dem neuen PayPal-Werbenetzwerk haben will, muss der Benutzung widersprechen. Das Angebot ist momentan für die Vereinigten Staaten geplant.
Auf Anfrage von netzpolitik.org sagte PayPal, man verdiene kein Geld mit Transaktionsdaten. Die Verarbeitung personenbezogener Daten entspreche den maßgeblichen Gesetzen.
Ähnlich sieht es bei Visa und Mastercard aus, den zwei weltweit führenden Anbietern von Kartenzahlungen. Visa sammelt laut |seiner Datenschutzerklärung| unter anderem Daten, um Werbung auszuspielen. Dazu gehören etwa Daten über Interaktionen und Standorte, oder auch biometrische Daten. Das Unternehmen führt auch andere Analysen durch und erstellt größere Datensätze, um andere Unternehmen zu beraten. Welche Daten darin landen, steht aber nicht in der Erklärung – denn dabei handele es sich nicht mehr um persönliche Daten, meint Visa.
Den Standpunkt teilt Mastercard. „Wir bei Mastercard haben einen ungewöhnlichen Vorteil, und zwar können wir Echtzeitdaten sehen und so erkennen, was funktioniert und was nicht“, so der Marketingchef von Mastercard |in einem Interview|. „Wir haben sogar ein paar Analyseunternehmen aufgekauft, um die Daten zu untersuchen, die wir haben – dabei respektieren wir völlig die Privatsphäre der Kund:innen. Wir schauen uns also keine persönlichen Daten an, es sind alles aggregierte Daten, die komplett anonymisiert wurden.“ Auch eine Sprecherin des Unternehmens unterstrich gegenüber netzpolitik.org, dass Mastercard anonymisierte und aggregierte Datensätze nutzt.
Nur weil Datensätze keine Klarnamen enthalten, |sind sie nicht automatisch anonym|. Wenn eine Person laut ihren Bewegungsdaten jeden Tag nachts im gleichen Haus ist, dann lässt sich darauf schließen, dass sie dort wohnt. Mit genug zusammengeführten Daten auch aus anderen Quellen könnten sich Personen eventuell wieder identifizieren lassen.
Mastercard machte vor einigen Jahren |einen Werbedeal mit Google|, seine Daten waren auch in andere Datenplattformen wie |Audience Marketplace von Adobe und Microsofts Xandr| verfügbar. Von den Mastercard-Analysen kann man sich |online abmelden|.
Visa stellte sein bisheriges Werbungsdatengeschäft |2021 überraschend ein|. Im Mai kündigte das Unternehmen dann an, man werde die Daten seiner Kund:innen bald |durch sogenannte Tokens mit Geschäftskund:innen teilen|. Visa antwortete nicht auf eine Anfrage von netzpolitik.org zu seinem Umgang mit Daten.
Marek Jessen forscht beim Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung, einem Netzwerk hessischer Hochschulen, zu Finanzen und Daten. (Hinweis: Das Netzwerk hat die Recherche für diese Artikelserie finanziell unterstützt.) „Es ist schwierig, entsprechende Infos zu finden“, sagt er zu netzpolitik.org. „Da können wir nur mit Indizien arbeiten.“
Er hat dabei auch das beste Werkzeug eingesetzt, das Menschen in der EU gegenüber großen Datenunternehmen haben: |Artikel 15 der Datenschutzgrundverordnung|. Demnach haben Nutzer:innen Anspruch auf eine Kopie der Daten, die ein Unternehmen über sie hält. Diese Kopie hat Jessen dreimal angefordert – zuerst online, dann per Einschreiben an die PayPal-Zentralen in Deutschland und in Luxemburg.
„Das hat in allen drei Varianten, in denen ich es probiert habe, nicht funktioniert“, berichtet Jessen. Zurück kam immer nur ein Standardhinweis auf die Datenschutzerklärung von PayPal. Das sei ernüchternd, aber auch bezeichnend gewesen, meint der Wissenschaftler. Er würde gerne sehen, dass Datenschutzbehörden hier mehr hinter den Rechten von Bürger:innen stehen.
PayPal wies auf Anfrage von netzpolitik.org darauf hin, dass Nutzer:innen ihre Daten über die |Webseite des Unternehmens| herunterladen können. Die Seite enthält aber einen Hinweis, dass in diesem Download manche gespeicherte Daten nicht enthalten sind. Dazu gehören etwa Marketing-Präferenzen und für „andere Dienste“ genutzte Daten.
Auch Jan Penfrat von European Digital Rights, dem Dachverband der europäischen digitalen Zivilgesellschaft, sieht die Lage auf dem Zahlungsmarkt kritisch. „Der Status Quo ist nicht so gut“, meint er im Gespräch mit netzpolitik.org. „Momentan ist die einzige datensparsame Variante, online zu bezahlen, Bargeld zu schicken – oder eine SEPA-Überweisung.“
Denn die gibt es ja auch noch: Kostenlose, sofortige Überweisungen zwischen Banken im Euroraum, ohne Dienstleister dazwischen. Auch die dümpeln aber bei einem einstelligen Prozentanteil des Onlinehandels herum. Für „sehr enttäuschend“ hält es Penfrat, dass die europäische Bankenindustrie es im letzten Jahrzehnt nicht hinbekommen hat, eine Alternative zu den US-Anbietern aufzubauen. Hier habe es eine Enttäuschung nach der anderen gegeben.
Auch gerade werkeln Banken in einigen europäischen Ländern an einem neuen Projekt. Das heißt |European Payments Initiative|, kurz EPI. Beteiligt sind Banken aus Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Spanien. Deren Dienst, genannt „wero“, soll nun auch grenzübergreifend Online-Zahlungen ermöglichen – im Gegensatz zu Giropay etwa, oder den nationalen Bezahlsystemen in Belgien oder den Niederlanden. In Deutschland ist wero |heute gestartet|.
Ob diese Initiative aber Erfolg haben wird, wird sich erst noch zeigen müssen. Und auch wenn EPI es einmal auf den Markt schafft: Es sind noch nicht alle Euroländer vertreten, ganz zu schweigen von allen EU-Ländern. Und selbst in den schon beteiligten Ländern machen nicht alle Banken mit, |es gibt auch schon ein Konkurrenzprojekt|.
Die Europäische Union und die Europäische Zentralbank hatten schon vor einigen Jahren die Nase voll von den Fehlstarts der Bankenbranche. Sie arbeiten gerade an einem staatlichen Projekt: dem Digitalen Euro. Ein öffentliches Zahlungssystem, mit dem Nutzer:innen einfach und datensparsam bezahlen können sollen, im Internet und im echten Leben, auch offline. Wenn der aber überhaupt kommt, soll er frühestens 2028 eingeführt werden.
Dieser Artikel ist Teil einer |Reihe zum Digitalen Euro|. Die Recherche wurde vom |Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung| durch sein Journalist-in-Residence-Programm finanziell unterstützt.
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|floss durch den Zahlungsdienst|
|als PDF-Dokument 46 Seiten lang|
|Laut seiner Datenschutzerklärung|
|berichtete das Wall Street Journal|
|sind sie nicht automatisch anonym|
|Audience Marketplace von Adobe und Microsofts Xandr|
|durch sogenannte Tokens mit Geschäftskund:innen teilen|
|Artikel 15 der Datenschutzgrundverordnung|
|European Payments Initiative|
|es gibt auch schon ein Konkurrenzprojekt|
|Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung|
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Tue, 02 Jul 2024 13:18:14 +0000
Daniel Leisegang
Der Global Digital Compact soll die Regulierung des Internets auf internationaler Ebene neu regeln. Schon der erste Entwurf des Abkommens stieß in der Zivilgesellschaft auf Kritik. Nun warnen namhafte Entwickler:innen vor einer Zentralisierung des Netzes.
Am 22. September beginnt in New York City der |Summit of the Future|. Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen entscheiden dann auch über die Frage, wie künftig das Internet reguliert wird. Die Leitlinien dafür soll der |Global Digital Compact| (GDC) vorgeben, der seit zwei Jahren auf zwischenstaatlicher Ebene diskutiert wird.
Einen Ende Mai veröffentlichten Entwurf des GDC hatten zivilgesellschaftliche Organisationen |erheblich kritisiert|. Nun melden sich rund 40 namhafte Entwickler:innen der Internet Engineering Task Force und des W3C zu Wort. |In einem offenen Brief| warnen sie vor einer drohenden Zentralisierung der Internetregulierung zulasten der Zivilgesellschaft.
Am 26. Juni haben die Verhandlungsführer aus Sambia und Schweden eine aktualisierte Fassung des geplanten GDC veröffentlicht. Darin wird zwar ausdrücklich die Bedeutung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit verschiedener Interessengruppen bei der Regulierung des Internets betont. Dazu gehören „der Privatsektor, die Zivilgesellschaft, internationale und regionale Organisationen sowie die technische und akademische Gemeinschaft“.
Dennoch sehen die Unterzeichnenden den aus ihrer Sicht bewährten Stakeholder-Prozess weiterhin als bedroht an. Allen voran die |Internet Engineering Task Force| (IETF) und das |World Wide Web Consortium| (W3C) hätten dafür gesorgt, dass sich ein interoperables Internet herausbilden konnte. Beide Gremien zeichneten sich durch eine offene und konsensorierentierte „Bottom-up“-Arbeitsweise aus.
Dass das Internet über keine zentrale Kontrollinstanz verfüge, sei so gewollt, schreiben die Entwickler:innen weiter. Der GDC-Entwurf enthalte allerdings Vorschläge, die zu einer solchen Zentralisierung führen könnten. Diese Entwicklung hätte nicht nur negative Folgen für das Internet und das World Wide Web, sondern für Volkswirtschaften und Gesellschaften weltweit.
Schon die Verhandlungen zum GDC erfolgten weitgehend zwischen Vertreter:innen der UN-Mitgliedstaaten. Die technische Community und die Zivilgesellschaft seien hingegen nur am Rande in die Verhandlungen eingebunden worden.
Der offene Brief appelliert an UN-Generalsekretär António Guterres und seinen Sondergesandten für Technologie, Amandeep Singh Gill. Sie sollen dafür sorgen, „dass die Vorschläge zur digitalen Governance vereinbar bleiben mit jener äußerst erfolgreichen Praxis der Internet-Governance unter Einbeziehung vieler Interessengruppen, die uns das heutige Internet beschert hat.“
Der GDC geht auf eine Initiative von Guterres zurück. Im September 2021 veröffentlichte der UN-Generalsekretär den Bericht „|Our Commons Agenda|“, in dem er unter anderem für den GDC wirbt.
In der ersten Jahreshälfte 2023 fanden weltweit Konsultationen statt, |an denen Regierungen und verschiedene Interessengruppen teilnahmen|. Dabei ging es unter anderem um Themen wie digitale Inklusion, Datenschutz, Sicherheit und KI. Bereits im Vorfeld hatten Vertreter:innen |die Befürchtung geäußert|, dass der GDC diese offene und interoperable Struktur des Internets gefährden könnte.
Laut aktuellem Entwurf strebt der GDC „eine offene, freie und sichere Zukunft für alle“ an. Dazu sieht er unter anderem neue Regeln für die Verwaltung des Internets vor. Er steht damit im Einklang mit und zugleich teilweise im Widerspruch zum |Net Mundial+10|, dem |Weltgipfel zur Informationsgesellschaft| (WSIS+20) und dem |Internet Governance Forum| (IGF). Diese Institutionen befassen sich ebenfalls mit der Zukunft des Netzes.
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|Internet Engineering Task Force|
|an denen Regierungen und verschiedene Interessengruppen teilnahmen|
|Weltgipfel zur Informationsgesellschaft|
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Tue, 02 Jul 2024 11:49:11 +0000
Anna Biselli
Im Januar begannen Forschende mit der Überwachungsgesamtrechnung. Doch bevor die Ergebnisse vorliegen, machen die Innenminister:innen der Länder klar: Wir lehnen die Maßnahme aus dem Bundeskoalitionsvertrag ab – egal, was rauskommt.
Seit Januar arbeitet das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht (MPI) an einer Überwachungsgesamtrechnung. Der Grund: SPD, Grüne und FDP hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen zu untersuchen, wie etwa polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse sich auf Grundfreiheiten auswirken. Die Annahme: Grundrechtseingriffe können nicht allein isoliert betrachtet werden, es kommt auch auf die Gesamtauswirkung an. |Das MPI bekam den Zuschlag|.
|Die Wissenschaftler:innen am MPI wollen| „die Überwachungslast nach einem einheitlichen Maßstab messen“, sodass die Ergebnisse auch für künftige Gesetzesvorhaben nützlich und erweiterbar bleiben. Doch vor Abschluss des Projekts schießt die Innenministerkonferenz (IMK) gegen die „Trendumkehr hin zu einer grundrechtsorientierten und evidenzbasierten Innen- und Rechtspolitik“, die sich das Bundesinnenministerium einst vorgenommen hatte.
In einem |Beschluss zu Tagesordnungspunkt 57|, der Ende Juni auf dem halbjährlich stattfindenden Treffen der Innenminister und -senatoren der Länder getroffen wurde, heißt es: „Die IMK stellt fest, dass die Überwachungsgesamtrechnung keine geeignete Grundlage für eine sachgerechte und verantwortliche politische bzw. gesetzgeberische Entscheidung für die Gestaltung sicherheitsbehördlicher Befugnisse sein kann.“
Konkrete Ergebnisse, mit denen die IMK diesen Schluss untermauern könnte, liegen indes nicht vor. Ein erster Zwischenbericht des MPI ist ein halbes Jahr nach Start der Untersuchung fällig, also in Kürze. Das wird ein „interner Arbeitsbericht, der nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist“, so das MPI auf Anfrage.
Warum die Innenminister:innen bereits jetzt wissen, dass mit der Überwachungsgesamtrechnung nichts anzufangen sei? Der Beschluss des Potsdamer Treffens beschwört erneut eine Zeitenwende, die nicht nur in der Außenpolitik zu sehen sei. Das Land sei etwa mit terroristischen Bedrohungen, internetbasierter Kriminalität und Spionage konfrontiert.
Eine Überwachungsgesamtrechnung sei rechtlich „nicht geboten“ und fuße auf einem „eindimensionalen Freiheitsverständnis“. Damit meinen die Minister:innen, dass „ Freiheit und Sicherheit als Gegensätze“ betrachtet würden. Dabei bemühen sie dieses Bild der vermeintlichen Pole selbst gern. So sagte just Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen, der diesmal den IMK-Vorsitz übernahm, |in seinem Statement|: „Das beste Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit muss individuell abgewogen werden.“
Abgesehen davon greife die Überwachungsgesamtrechnung in föderale Strukturen ein, „wenn der Bundesgesetzgeber sich Überwachungsmaßnahmen der Länder vorhalten lassen müsste und umgekehrt“. Vereinfacht mit einem fiktiven Beispiel dargestellt: Wenn der Bund keine Vorratsdatenspeicherung einführen soll, weil die Überwachungslast der Telekommunikation durch Landesgesetze schon auf Anschlag steht, finden die Innenminister:innen das unangemessen.
Statt einer Überwachungsgesamtrechnung fordern sie nun eine sogenannte Sicherheitsgesamtrechnung. Die solle unter anderem Schutzlücken analysieren und Ermittlungsbefugnisse auf Praxistauglichkeit abklopfen. Ob diese für jeweils einzelne Länder und Bund getrennt werden soll, um föderale Strukturen zu berücksichtigen? Dazu schweigt sich der Beschluss aus.
Teil der IMK ist neben den Ländervertreter:innen auch das Bundesinnenministerium (BMI) unter Nancy Faeser (SPD). Gemeinsam mit dem Bundesjustizministerium verantwortet das Haus die kritisierte Überwachungsgesamtrechnung. Daher gibt das BMI als Notiz zu Protokoll, dass diese „auch die positiven Auswirkungen der Sicherheitsgesetze auf Demokratie und Ausübung individueller Freiheit“ umfassen werde. Der Beschluss berücksichtige das nicht ausreichend. Man ist offenbar nicht ganz einverstanden mit der Ablehnung der Landesminister:innen.
Was das BMI in der Notiz nicht erwähnt: die in Kombination mit der Überwachungsgesamtrechnung geplante Freiheitskommission. Hier ist das Bundesjustizministerium federführend. Damit die Überwachungsgesamtrechnung nicht nur ein einmalig erstelltes Papier bleibt, soll diese Kommission Gesetzesvorhaben „auf eine grundrechtsfreundliche und verhältnismäßige Ausgestaltung der Eingriffsbefugnisse“ hin bewerten.
Laut einem |Bericht des Spiegel| hatte Marco Buschmanns (FDP) Ressort dazu bereits im Herbst 2023 Eckpunkte ausgearbeitet. Doch es gab Unstimmigkeiten mit Nancy Faesers Innenministerium. Strittig ist etwa, welches Gewicht der Kommission zukommen könnte. Soll sie beraten, ohne dass ihre Einschätzung zwingend berücksichtigt werden muss? Oder darf es ein bisschen mehr Kontrolle sein, vielleicht sogar eine „formale Integration in den Gesetzgebungsprozess“?
Auf eine Anfrage von netzpolitik.org zum aktuellen Status der Freiheitskommission antwortet eine Sprecherin des BMJ, die Einrichtung des Gremiums sei „dem Bundesjustizminister ein wichtiges Anliegen“. Angaben zum Zeitplan könne man allerdings keine machen. Regierungsinterne Abstimmungen „dauern noch an“. Mit der selben Begründung hatte das Bundesjustizministerium schon Anfang des Jahres eine |IFG-Anfrage abgelehnt|.
Obwohl wie bei den Ergebnissen der Überwachungsgesamtrechnung also alle Details offen sind, sagt die IMK erneut im Voraus, was sie von einer Freiheitskommission hält: gar nichts. Sie lehnt das unabhängige Fachleutegremium „grundsätzlich“ ab, kritisiert den vermeintlich „einseitigen und einschränkenden Blickwinkel“ und verbittet sich jede weitere Einmischung in die Gesetzgebung.
Auf unsere Anfrage, ob das BMI diesem Teil des Beschlusses zustimmt, haben wir bisher keine Antwort bekommen. Aber auch so zeichnet sich ab: Ob die Überwachungsgesamtrechnung jemals als Grundlage für gesetzgeberisches Handeln genutzt und ob sie nach dieser Legislaturperiode jemals berücksichtigt wird, ist mehr als unsicher.
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|Die Wissenschaftler:innen am MPI wollen|
|Beschluss zu Tagesordnungspunkt 57|
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Tue, 02 Jul 2024 05:03:01 +0000
Tomas Rudl
Das Recht auf Internet hat sich zwar noch nicht weitflächig durchgesetzt. Jetzt sollen aber die Mindestbandbreiten angehoben werden, um mehr Menschen digitale Teilhabe zu ermöglichen. Als Basis dient ein Prüfbericht der Bundesnetzagentur, den wir veröffentlichen.
Jede:r Bürger:in in Deutschland hat den Anspruch auf einen Internetanschluss zu Hause. Doch gerade in abgelegenen Gebieten sind die Verbindungen schlecht. Geht es nach der Ampelmehrheit im Digitalausschuss, soll die Mindestbandbreite beim „Recht auf Internet“ nun erhöht werden: von 10 MBit/s auf 15 MBit/s im Download und von 1,7 MBit/s auf 5 MBit/s im Upload.
Damit schließen sich die Abgeordneten der Sicht der Bundesregierung sowie der Bundesnetzagentur an. Die entsprechenden Anträge soll der Digitalausschuss am Mittwoch billigen und damit den Weg für die Erhöhung freimachen.
Darüber berichtet hatte zuerst die |Deutsche Presse-Agentur am Wochenende|. Wir veröffentlichen |die| |Dokumente| nun in Volltext, einschließlich des |Prüfberichts der Bundesnetzagentur zur sogenannten TK-Mindestversorgungsverordnung (TKMV)|.
Der lange erwartete Bericht der Regulierungsbehörde bildet die Grundlage für die geplante Erhöhung, die |TKMV steckt wiederum den Rahmen für den Rechtsanspruch| im Detail ab. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) hat sein Einvernehmen zum Ergebnis des Prüfberichts bereits erteilt.
Die Evaluation habe ergeben, dass die Erhöhung der Werte für den Internetzugangsdienst „angemessen“ und sogar „erforderlich“ ist, heißt es im Bericht. Denn erstmals wurde dabei auch die „Lebenswirklichkeit und die Nutzererfahrung bei der Verwendung der Dienste“ berücksichtigt.
Dazu zählen insbesondere Mehrpersonenhaushalte, wo sich mehrere Nutzer:innen die Bandbreite teilen müssen. Darauf hingewirkt hatten unter anderem |Verbraucherschützer:innen, der Deutsche Landkreistag, der Bundesrat und nicht zuletzt der Digitalausschuss|.
„Mit der Mindestversorgung schaffen wir Klarheit darüber, was jedem Haushalt an Internetversorgung zustehen muss“, sagt Johannes Schätzl, Berichterstatter der SPD. Zur gesellschaftlichen Teilhabe gehöre die digitale Teilhabe klar dazu. „Deshalb müssen alle Haushalte, auch mit mehreren Personen, ein Recht darauf haben, am digitalen Leben und Arbeiten teilhaben zu können“, sagt Schätzl.
Allerdings soll der Anspruch auf Internet weiterhin nur die letzte Haltelinie darstellen, wie der Prüfbericht klarstellt: „Das Recht auf Versorgung mit Telekommunikationsdiensten soll aufgrund der europäischen Vorgaben als Sicherheitsnetz dienen und die Erbringung der Dienste im Rahmen der Grundversorgung daher nur als Ultima Ratio in Frage kommen.“ Würden die Werte zu hoch liegen, könnte dies den flächendeckenden privatwirtschaftlichen und geförderten Ausbau beeinträchtigen, so die Sorge.
Vor solchen |Verdrängungseffekten hatte die Breitbandindustrie gewarnt|, was der Regulierungsbehörde zufolge jedoch nicht eingetreten ist. „Der Bundesnetzagentur sind keine Fälle bekannt, in denen aufgrund der Grundversorgung die Nachfrage nach einer Förderung zum Ausbleiben des Projekts geführt hätte“. Auch von einem Hemmnis für den privatwirtschaftlichen Ausbau sei nicht auszugehen, heißt es im Bericht.
Als unbegründet hatte sich auch die Angst vor einer Antragsflut erwiesen. Mit rund |300.000 betroffenen Haushalten| hat die Bundesnetzagentur im Vorfeld gerechnet, bislang eingegangen sind jedoch nur einige hundert Anträge. In ein paar Dutzend Fällen hat die Regulierungsbehörde tatsächlich eine Unterversorgung festgestellt.
Zur Versorgung eines Haushaltes hat sie bisher aber nur einen einzigen Netzbetreiber verpflichtet. Es soll sich um das Unternehmen SpaceX handeln, das das Satellitennetzwerk Starlink betreibt. SpaceX soll einen Neubau in Niedersachsen mit einem Anschluss ausstatten, wie jüngst eine |Recherche von netzpolitik.org herausgefunden| hat.
Die moderate Erhöhung der Mindestbandbreiten werde die Anzahl potenziell unterversorgter Adressen nicht explodieren lassen, schätzt nun der Prüfbericht. Vielmehr könnte sie sich beim verbesserten Upload bemerkbar machen: „Bei einer Erhöhung im Upload von 1,7 auf 5 Mbit/s steigt die Anzahl der potenziell unterversorgten Adressen bereits um ca. 13 % (2,54 auf 2,86 Mio.)“, heißt es.
Allerdings wurden hierbei bloß leitungsgebundene Anschlüsse einbezogen, die Mindestversorgung lässt sich freilich auch über Mobilfunk herstellen. Am Wert für die Latenz soll im Übrigen nicht gerüttelt werden, weiterhin sollen 150 Millisekunden als maximal zumutbarer Wert gelten.
Verbesserungen soll es zudem beim Antragsprozess geben, der sich in der Praxis als umständlich und langwierig herausgestellt hat. „Wir haben uns dafür stark gemacht, dass die Unterversorgung innerhalb weniger Monate festgestellt werden kann“, sagen die grünen Berichterstatter:innen Tabea Rößner und Maik Außendorf in einer gemeinsamen Stellungnahme. „Weil auch der Prozess der Messung sehr aufwendig ist, wollen wir die Bundesnetzagentur auffordern, das |Messtool| zu vereinfachen beziehungsweise zu automatisieren.“
Auch der FDP-Berichterstatter Maximilian Funke-Kaiser wünscht sich ein schnelleres Verfahren. „Mit dem Entschließungsantrag stellen wir nun sicher, dass die Meldung einer Unterversorgung bei der Bundesnetzagentur bürokratieärmer und nutzerfreundlicher wird“, so der Bundestagsabgeordnete. „Das ist ein weiterer Schritt hin zu einem modernen Staat.“
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|Deutsche Presse-Agentur am Wochenende|
|Prüfberichts der Bundesnetzagentur zur sogenannten TK-Mindestversorgungsverordnung (TKMV)|
|TKMV steckt wiederum den Rahmen für den Rechtsanspruch|
|Verdrängungseffekten hatte die Breitbandindustrie gewarnt|
|300.000 betroffenen Haushalten|
|Recherche von netzpolitik.org herausgefunden|
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Mon, 01 Jul 2024 11:36:25 +0000
Anna Biselli
48 zivilgesellschaftliche Organisationen wie CCC und Kinderschutzbund fordern die ungarische Ratspräsidentschaft auf, wirksame Maßnahmen zum Schutz von Kindern zu erarbeiten. Der Verordnungsvorschlag zur Chatkontrolle soll hingegen endlich beerdigt werden.
Bei den EU-Staaten im Rat gibt es nach jahrelangen Verhandlungen immer noch keine Mehrheit für eine Chatkontrolle. Zuletzt hatte die belgische Ratspräsidentschaft eine geplante |Abstimmung am 20. Juni abgesagt|, sehr zur Freude von Datenschützer:innen und Bürgerrechtsorganisationen. Sie lehnen das anlasslose massenhafte Scannen auch verschlüsselter Kommunikation ab und sagen seit langem: Um Kinder vor sexualisierter Gewalt zu schützen, braucht es nicht mehr Überwachung und Grundrechtseingriffe, sondern andere Maßnahmen.
Mit dem 1. Juli endet die Ratspräsidentschaft Belgiens, für die nächsten sechs Monate übernimmt Ungarn den Vorsitz im Gremium der EU-Mitgliedstaaten. Das hat ein Bündnis aus 48 zivilgesellschaftlichen Organisationen zum Anlass für einen Appell genommen. |Sie fordern|: EU-Parlament und Rat sollen die Kommission auffordern, den Verordnungsvorschlag zur Chatkontrolle zurückzuziehen und stattdessen an wirksamen Maßnahmen zum Kinderschutz zu arbeiten.
Dafür sollen sie „mit Kinderrechtsgruppen, Kinderschutzanwälten, digitalen Menschenrechtsgruppen, IT-Sicherheitsexperten und anderen Technikern“ zusammenarbeiten, um sowohl technische als auch nicht-technische Lösungen zu erarbeiten. Als Beispiele nennen die Organisationen Kinderschutz-Hotlines und Präventionsprogramme, eine kinderfreundlichere Justiz und gesellschaftliche Maßnahmen, „die den Missbrauch wirksam stoppen, bevor er geschieht“.
Zu den unterzeichnenden Organisationen gehören neben der digitalen EU-Bürgerrechtsorganisation EDRi und dem Chaos Computer Club unter anderem auch der Deutsche Kinderschutzbund Bundesverband und der österreichische Verein Lobby4Kids, die sich für die Rechte Minderjähriger einsetzen.
Im Vorfeld des Vorsitzes hatte die designierte ungarische Ratspräsidentschaft angekündigt, weiter an „einer langfristigen gesetzlichen Lösung zur Verhinderung und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet“ arbeiten zu wollen.
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|Abstimmung am 20. Juni abgesagt|
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Mon, 01 Jul 2024 10:15:48 +0000
Tomas Rudl
Es wird noch dauern, bis der Digital Services Act sein Versprechen von umfassender Transparenz über die Moderationspraktiken von Plattformen erfüllt. Seit einigen Monaten ist die Verordnung vollständig in Kraft, trotzdem befüllen bislang fast nur besonders große Online-Dienste die Transparenzdatenbank der EU.
Die Umsetzung der Transparenzvorgaben des Digital Services Act (DSA) in der Fläche verzögert sich. So befüllt bislang nur ein einziger kleinerer Online-Dienst die Transparenzdatenbank des DSA. Das geht aus einer |Antwort des EU-Binnenmarktkommissars Thierry Breton| auf eine Frage des inzwischen aus dem EU-Parlament ausgeschiedenen Abgeordneten Patrick Breyer hervor. Ansonsten enthält die Datenbank bislang nur Angaben der besonders großen Plattformen, die direkt von der EU-Kommission beaufsichtigt werden.
In Betrieb ist die |öffentlich zugängliche Datenbank| seit dem Vorjahr. Sie soll mehr Transparenz in das Verhalten von Online-Diensten bringen, die bislang weitgehend unreguliert Inhalte von Nutzer:innen entfernt, verborgen oder sonstwie moderiert haben. Dem DSA nach, der im |Februar vollständig in Kraft| getreten ist, müssen sie alle ihre Moderationsentscheidungen in einem maschinenlesbaren Format übermitteln und grob offenlegen, aus welchen Gründen sie bestimmte Entscheidungen getroffen haben.
Für sehr große Online-Plattformen mit über 45 Millionen monatlichen Nutzer:innen in der EU, sogenannte VLOPs („Very Large Online Platforms“) wie Facebook oder Pinterest, |gelten die Regeln bereits seit knapp einem Jahr|. Sie haben im vergangenen Herbst erstmals entsprechende Daten übermittelt. Alle anderen erfassten Anbieter müssen sich erst seit einigen Monaten an die Auflagen halten.
Während die VLOPs von der EU-Kommission kontrolliert werden, sind für die kleineren Dienste eigens eingerichtete Koordinierungsstellen im EU-Land zuständig, in dem der jeweilige Anbieter angesiedelt ist. In Deutschland wurde die |Bundesnetzagentur für die Aufgabe als „Digital Services Coordinator“| (DSC) abgestellt. Diese Behörden übernehmen auch den sogenannten „Onboarding“-Prozess, der einen möglichst reibungslosen Austausch mit der Transparenzdatenbank sicherstellen soll.
Doch in vielen EU-Ländern, |darunter Deutschland|, hat sich die Ernennung der DSCs verzögert. Gegen einige Staaten hat die EU-Kommission deshalb sogar |Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet|. Und ohne ein vollständig abgeschlossenes Onboarding, das von den jeweiligen DSCs begleitet wird, sei kein Zugang zu der Datenbank möglich, führt Breton in seiner Antwort aus.
„Derzeit übermittelt eine Nicht-VLOP-Plattform aktiv Inhalte an die DSA-Transparenzdatenbank, während sich 30 Nicht-VLOP-Plattformen mit den DSCs im Onboarding-Prozess befinden und einen Test ihrer Übermittlungssysteme in einer Sandbox-Umgebung der DSA-Transparenzdatenbank abschließen“, schreibt der EU-Kommissar. Aufgrund der hohen Anzahl von Online-Diensten und der Verzögerung bei der Ernennung der DSCs werde der Prozess wohl noch einige Monate dauern, so Breton.
Dies dürfte auch für Deutschland gelten. Im Vorjahr hatte die Bundesnetzagentur eine Studie in Auftrag gegeben, um die für den deutschen DSC relevanten Marktakteure zu identifizieren. Demnach gibt es hierzulande |knapp 1.500 Onlineplattformen|, die sich an die Regeln halten müssen. Offenbar hat sich das aber noch nicht so recht herumgesprochen: „Bisher wurden dem deutschen DSC etwa 30 Registrierungen deutscher Plattformen durch die EU-Kommission mitgeteilt“, gibt eine Sprecherin der Behörde gegenüber netzpolitik.org an.
Der DSC werde in Kürze diese Plattformen zwecks Validierung ihrer Daten kontaktieren, so die Sprecherin. „Darüber hinaus werden wir alle uns zur Verfügung stehenden Informationswege nutzen, um deutsche Plattformen über ihre Registrierungspflicht in der EU-Transparenzdatenbank zu informieren.“
Wie sich der Datenbank entnehmen lässt, handelt es sich bei der einen bereits meldenden kleineren Plattform um die |Shopping-Plattform Joom|. Das Unternehmen wurde ursprünglich in Lettland gegründet, hat seinen Hauptsitz aber inzwischen nach Portugal verlegt. Offenkundig war ein rechtzeitiges Onboarding dennoch möglich. Mit rund 3.000 Einträgen verblasst jedoch die von dem Unternehmen übermittelte Zahl der Moderationsentscheidungen im Vergleich zum Spitzenreiter Google Shopping. Dieser hat weit mehr Inhalte angefasst als alle anderen Anbieter zusammengerechnet, mehr als zwei Milliarden.
Bis die Datenbank ihren Zweck vollständig erfüllt, dürfte noch einige Zeit ins Land ziehen. Etwa seien die übermittelten Daten nicht einheitlich genug, um sie wirklich miteinander vergleichen zu können, lauteten die |Reaktion auf den ersten Zwischenstand| im Herbst. Zugleich lässt sich aber jetzt schon ablesen, dass beispielsweise TikTok rund 350 Mal öfter Moderationsentscheidungen pro Nutzer:in trifft als X (ehemals Twitter), ergab |eine der ersten Studien|, die auf das Zahlenmaterial zurückgegriffen hatte.
Trotz der ersten „positiven Schritte“ sollte die EU-Kommission die Online-Dienste dazu drängen, die Regeln einheitlich auszulegen und ihre Entscheidungen ausführlicher zu begründen, fordert die |Rechtswissenschaftliche Fakultät Leuven| in Belgien. Tiefere Einblicke sollte der ebenfalls im |DSA vorgesehene Zugang für Forschung| gewähren, der allerdings auch noch nicht |umfänglich ins Rollen| gekommen ist.
Zumindest hat indes der politische Druck gewirkt: Nachdem Meta im März überraschend den |Zugang zum Analysetool CrowdTangle für Journalist:innen abgeklemmt| hatte, reagierte die |Kommission mit einer Prüfung|. Knapp einen Monat später |öffnete Meta den Dienst wieder|, mit dem sich unter anderem die Ausbreitung von Desinformation untersuchen lässt.
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|Antwort des EU-Binnenmarktkommissars Thierry Breton|
|öffentlich zugängliche Datenbank|
|Februar vollständig in Kraft|
|gelten die Regeln bereits seit knapp einem Jahr|
|Bundesnetzagentur für die Aufgabe als „Digital Services Coordinator“|
|Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet|
|knapp 1.500 Onlineplattformen|
|Reaktion auf den ersten Zwischenstand|
|Rechtswissenschaftliche Fakultät Leuven|
|DSA vorgesehene Zugang für Forschung|
|Zugang zum Analysetool CrowdTangle für Journalist:innen abgeklemmt|
|Kommission mit einer Prüfung|
|öffnete Meta den Dienst wieder|
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Mon, 01 Jul 2024 06:56:27 +0000
Casey Kreer
Der „Atlas Digitale Barrierefreiheit“ kommt zu dem Ergebnis, dass nahezu alle Online-Angebote der deutschen Kommunen erhebliche Mängel bei der digitalen Barrierefreiheit aufweisen. An der Auswertung waren erstmals auch Menschen mit Behinderung beteiligt. Das klingt fundiert recherchiert und dramatisch – allerdings nur auf den ersten Blick.
Manchmal berichten Medien darüber, wie schlecht es um die digitale Barrierefreiheit bei deutschen Behörden bestellt ist. Dass Menschen mit Behinderung von vielen staatlichen Online-Angeboten ausgeschlossen sind, ist dabei längst keine Neuigkeit mehr.
Der neue |„Atlas digitale Barrierefreiheit“| hat bei 97 Prozent der insgesamt 10.835 getesteten kommunalen Websites Mängel festgestellt. Das klingt zunächst schockierend hoch, deckt sich aber auf den ersten Blick weitgehend mit dem |Bericht der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit in der Informationstechnik (BFIT Bund) aus dem Jahr 2021|. Er kam zu dem Schluss, dass keines der geprüften Digitalangebote alle Anforderungen erfüllen konnte. Insgesamt bewertete das BFIT jedoch 80 Prozent der Anforderungen als „erfüllt“.
Der „Atlas digitale Barrierefreiheit“ wird vom Verein „Inclusion Tech Lab e.V.“ herausgegeben. Nach Angaben des Vereins haben auch Menschen mit Behinderung daran mitgewirkt. Jede untersuchte Kommune konnte maximal fünf Punkte erreichen. Bestehende gesetzliche Vorgaben und Definitionen digitaler Barrierefreiheit wurden dabei allerdings nicht berücksichtigt. Stattdessen entwickelte der Verein gemeinsam mit behinderten Menschen ohne technische Vorkenntnisse eigene Testkriterien.
All dies erweckt den Anschein von direkter Betroffenheit, Authentizität und Glaubwürdigkeit. Tatsächlich weist die Studie aber grobe Schnitzer auf. Im Ergebnis könnte sie der Barrierefreiheit mehr schaden als nützen.
Die Untersuchung basiert auf den folgenden manuell geprüften Kriterien:
Kann die Schriftgröße verändert werden?
Gibt es eine Vorlesefunktion?
Gibt es ein Angebot in Leichter Sprache?
Wird das Thema Barrierefreiheit auf der Seite erwähnt?
Kann man in wenigen Minuten herausfinden, wo man einen Termin zur Verlängerung des Personalausweises vereinbaren kann?
Die Kriterien 1 bis 4 ließen sich mit relativ geringem Aufwand auch automatisiert zuverlässig überprüfen. Dennoch hat sich der Verein für eine manuelle Prüfung entschieden. Ein Sprecher des Vereins bestätigte gegenüber netzpolitik.org, was auch auf der Internetseite des Projekts zu lesen ist: Eine technische Analyse habe nicht im Vordergrund gestanden. Vielmehr hätten sich behinderte Menschen dem Thema „aus ihrem eigenen Erleben heraus genähert“.
Die Prüfkriterien haben viel Kritik hervorgerufen, auch von behinderten Menschen. So sagte der Barrierefreiheitsexperte Dennis Westphal gegenüber netzpolitik.org:
Drei der fünf Kriterien sind aus meiner Sicht nicht nützlich, um Barrierefreiheit zu testen. Die Vorlesefunktion und die Schriftgrößenveränderung einerseits. Wer eine größere Schrift oder den Inhalt vorgelesen braucht, der braucht diese Funktionen systemweit und nicht auf jeder Internetseite erneut – und damit andersartig – implementiert. Ob das Thema Barrierefreiheit auf der Seite erwähnt wird, ist zudem ein sehr merkwürdiges Kriterium. Schreibt eine Kommune also: „Barrierefreiheit ist uns komplett egal“ wäre dieses Kriterium erfüllt.
Darüber hinaus weisen die Daten der Erhebung gravierende Fehler auf oder sind veraltet. So erhielt die sächsische Landeshauptstadt Dresden keinen Punkt für ihr Angebot in „Leichter Sprache“, obwohl ein solches Angebot vorhanden ist. |Gleichzeitig bekamen 38 Orte der rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinde Kirchberg (Hunsrück) die Höchstnote|, obwohl ihre Seite offensichtlich keines der fünf Kriterien erfüllt.
Erfüllt ein Angebot die Kriterien 3 und 4 nicht, verstößt es gegen die |Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0)|. Behinderte Menschen haben dann die Möglichkeit, ein – oft langwieriges – Beschwerdeverfahren bei einer Durchsetzungsstelle einzuleiten. Jede behördliche Website muss mindestens eine „Erklärung zur Barrierefreiheit“ enthalten und grundlegende Informationen auch in Leichter Sprache anbieten. Die Kriterien 1, 2 und 5 werden von keiner Spezifikation in diesem Bereich abgedeckt.
Auf Nachfrage von netzpolitik.org erklärte der Vereinssprecher zudem, dass aufgrund von Gemeindeverbänden in einigen Bundesländern statt der angekündigten 11.000 Links nur rund 7.000 verschiedene URLs überprüft worden seien. Also nur etwa zwei Drittel der Seiten, mit denen der Verein den Atlas bewirbt.
Die manuellen Überprüfungen führten Mitarbeitende der DasDies Service GmbH durch. Das Unternehmen ist eine Tochtergesellschaft der Arbeiterwohlfahrt und betreibt eine sogenannte Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM). |Behindertenrechtsaktivist*innen wie Raùl Krauthausen fordern regelmäßig die Schließung dieser Betriebe|, da die Beschäftigten dort in der Regel keinen Mindestlohn erhalten und die Vermittlungsquote an den sogenannten ersten Arbeitsmarkt bei unter einem Prozent liegt.
Die Überprüfung einer einzelnen Seite dauert schätzungsweise mehr oder weniger 15 Minuten. Legt man dabei den Mindestlohn zugrunde, kostet die Überprüfung von 7.000 URLs mehr als 26.000 Euro. Hinzu kommen Kosten für Marketing und die eigens entwickelte Projekt-Website. Die Aktion Mensch, die das Projekt finanziert hat, teilte gegenüber netzpolitik.org mit, dass die Förderung insgesamt 298.693 Euro betrug – mehr als das Elffache dessen also, was den mit Abstand größten Kostenpunkt des Projekts ausmachen sollte.
Unabhängig davon stellt sich die Frage, inwieweit es der Inklusion dient, wenn solche vermeintlich wichtigen Projekte ein grundsätzlich diskriminierendes System nutzen. Um das bloße Vorhandensein einzelner Funktionalitäten zu prüfen, spielt die Behinderung der Prüfenden keine Rolle.
Akteure im Bereich der digitalen Barrierefreiheit befürchten, dass die Kommunen das Thema wegen der schlichten Prüfungskriterien auch weiterhin oberflächlich behandeln werden, anstatt für umfassende Barrierefreiheit und echte Teilhabemöglichkeiten zu sorgen.
Tatsächlich ist zu befürchten, dass die Behörden in Zukunft verstärkt auf automatisierte Lösungen wie „DigiAccess“ oder „EyeAble“ setzen werden, wie es beispielsweise auch die mit fünf von fünf Punkten bewertete |Stadt Kiel| tut. Diese sogenannten Overlays erweitern digitale Angebote zwar um eine Vorlesefunktion und können die Darstellung einzelner Webseiten individuell anpassen, garantieren aber noch keine Barrierefreiheit, wie der Deutsche |Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV)| und das |European Disability Forum| kritisieren.
In der Diskussion um Barrierefreiheit spielt auch die sogenannte Künstliche Intelligenz eine immer größere Rolle. |Die Neue Rhein Zeitung zitiert| den Vorstandsvorsitzenden vom Inclusion Techn Lab e.V., Dr. Raimund Schmolze-Krahn, in einem Artikel über den „Atlas“: „So könnte sich das Argument, dass [Übersetzungen in Leichte Sprache] zu teuer sind, bald erledigt haben“. Dass das einen |großen Einschnitt in die Selbstbestimmung und die Freiheit| von Menschen mit Behinderung bedeuten könnte, findet dabei keine Erwähnung.
Eric Eggert befürchtet, dass der Atlas in dieser Hinsicht mehr schadet als nützt. Eggert ist Experte für digitale Barrierefreiheit und ehemaliges Mitglied des World Wide Web Consortium. Auf Mastodon |schreibt er| über den „Atlas digitale Barrierefreiheit“:
Die ganze Aktion ist amateurhaft – was ok ist, wenn man die Sache entsprechend qualifiziert. Es gibt nämlich oft eine Dissonanz zwischen dem, was Menschen (mit Behinderungen ganz speziell) benötigen und was technisches Testen nicht abbilden kann. Diese Lücke schließen wir aber nicht mit Marketing-Kampangen, die nur dazu führen, dass Gemeinden Overlays auf ihre Seiten werfen, sondern mit guter, fundierter Barrierefreiheitsarbeit.
Eggert stellte fest, dass die Kampagnen-Website selbst |einige Probleme mit der Barrierefreiheit aufweist|.
Der „Atlas digitale Barrierefreiheit“ enthält keine relevanten neuen Erkenntnisse. Neu sind vor allem der vermeintlich selbstbestimmte Anstrich und der regionale Bezug. Menschen mit Behinderungen könnten einen wesentlich wertvolleren Beitrag zur Verbesserung ihrer Teilhabemöglichkeiten leisten als mit einer solchen Analyse. Sie wissen aus eigener Erfahrung oft sehr gut, wie Probleme der Barrierefreiheit gelöst werden können. In vielen Fällen reichen die gesetzlichen Anforderungen aus, um diese Probleme aufzudecken.
Die BFIT Bund wird in diesem Jahr einen neuen Bericht für die Europäische Union vorlegen – mit wahrscheinlich ähnlich niederschmetternden Ergebnissen wie der Atlas. Allerdings ist der Bericht des BFIT Bund fundierter als dieser. Denn er stütz sich auf zahlreiche Fachgutachten, die die Überwachungsstelle in den vergangenen Jahren eingeholt hat.
Mit den Erkenntnissen aus diesen Gutachten können die Behörden an die Arbeit machen. Und sie können Expert*innen mit Behinderung einladen, die die Erkenntnisse des Berichts bewerten und gemeinsam mit den Behörden die angeführten Probleme beheben. Zielstrebig und ohne viele Irrwege.
Update, 1. Juli, 20:00 Uhr: Wir haben den Beitrag um Informationen von Aktion Mensch ergänzt.
|Casey Kreer| ist Software-Entwicklerin und arbeitet freiberuflich als Consultant für digitale Barrierefreiheit. Sie ist Aktivistin für die Rechte von Menschen mit Behinderung, insbesondere bei der Verwaltungsdigitalisierung. Casey engagiert sich für einen selbstbestimmten Zugang zu staatlichen Informationen und einen reflektierten Einsatz von künstlicher Intelligenz.
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|„Atlas digitale Barrierefreiheit“|
|Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0)|
|Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV)|
|Die Neue Rhein Zeitung zitiert|
|großen Einschnitt in die Selbstbestimmung und die Freiheit|
|einige Probleme mit der Barrierefreiheit aufweist|
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Sun, 30 Jun 2024 06:08:50 +0000
Martin Schwarzbeck
Im Mai warf der Podcast von netzpolitik.org ein Schlaglicht auf zunehmendes staatliches Vorgehen gegen Kirchenasyl. Inzwischen verhandelt die evangelische Kirche darüber mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Niedersachsen will solange auf Abschiebungen aus sakralen Räumen verzichten, andere Bundesländer sind dazu nicht bereit.
Es ist Sonntag, spät am Abend, als die Polizei mit mehreren Fahrzeugen die Zufahrt des Pfarrhauses der St.-Michaelis-Gemeinde im niedersächsischen Bienenbüttel blockiert. Etwa zehn Beamt*innen, |so der zuständige Kirchenkreis Uelzen|, umstellen das Gemeindehaus. Die Polizei hat einen Durchsuchungsbeschluss für alle Räume der Gemeinde dabei, dringt in eine Wohnung im Gemeindehaus ein und führt eine russische Familie ab, die dort Unterschlupf gefunden hatte.
Vater und Sohn verweigern den Kriegsdienst für Russland. Sie können nicht zurück in ihr Land. Hier im Landkreis Uelzen haben sie Verwandte und Freunde, die ihnen halfen, in der Fremde zurechtzukommen. Doch das ist jetzt vorbei. Noch in der gleichen Nacht, vom 12. auf den 13. Mai dieses Jahres, setzen Beamt*innen die Familie in ein Flugzeug nach Spanien, da sie für das Land Visa besitzt. Dort kennt die Familie niemanden. Die spanischen Behörden wurden nicht über die Überstellung informiert, Hilfsangebote gibt es keine. Die Familie ist nun auf sich allein gestellt.
Der Vorfall ist ein Beispiel dafür, wie die Polizei zuletzt verstärkt gegen das Kirchenasyl vorgeht – und nicht das einzige. Dass die Polizei Kirchen oder kirchlich genutzte Räume stürmt, war lange Zeit ein Tabu. Doch im Zuge eines zunehmend repressiven Asyldiskurses werden immer öfter Geflüchtete von der Polizei im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Kirchenasyl geholt und abgeschoben oder an andere EU-Staaten überstellt. Seit Juli 2023 gab es sieben versuchte oder vollzogene Räumungen eines Kirchenasyls, das sind |nach Recherchen von netzpolitik.org| mehr Räumungen als in den zehn Jahren zuvor.
Der jüngste Fall stammt vom 20. Juni, dabei wurde |ein 24-jähriger Georgier aus dem Kirchenasyl in Nordrhein-Westfalen nach Tiflis abgeschoben|. Im Februar wurde ein |syrischer Kurde aus dem Kirchenasyl in Rheinland-Pfalz nach Dänemark überstellt|, wo er jetzt auf unbestimmte Zeit in Abschiebehaft sitzt. Kurz vor Weihnachten war bei der versuchten |Abschiebung zweier afghanischer Brüder aus dem Kirchenasyl in Schwerin|, Mecklenburg-Vorpommern, sogar ein Spezialeinsatzkommando im Einsatz.
Auch die für das Kirchenasyl Verantwortlichen sind neuerdings verstärkt im Visier. In |Folge zwei unseres Podcasts Systemeinstellungen| berichten wir über eine Pfarrerin aus Rheinland-Pfalz, die Geflüchteten Schutz in kirchlichen Räumen bot. Daraufhin durchsuchte die Polizei ihr Büro, ihren Computer und ihr Handy. Gleichzeitig drang die Polizei in vier weitere Büros und Privathäuser von Geistlichen aus der Gegend ein.
Steht das Kirchenasyl vor dem Aus? Die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens, SPD, veröffentlichte Ende Mai ein Statement mit dem Wortlaut: „In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Fälle von Kirchenasyl in Deutschland und in Niedersachsen stark gestiegen. Gleichzeitig erkennt das BAMF nur in den wenigsten Fällen an, dass es sich bei den Verfahren um Härtefälle handelt. Das bringt uns als Land in eine Situation, in der wir Überstellungen, wie die der Familie aus Bienenbüttel nach Spanien, in Vollzugshilfe für das BAMF trotz menschlicher Härten durchführen müssen.“
Behrens kommunizierte im Nachgang des Falls, dass ihr durchaus bewusst sei, wie belastend dieses Vorgehen für die Betroffenen und auch die betroffenen Gemeinden sei und kündigte an, dass in Niedersachsen zunächst keine Abschiebungen und Überstellungen mehr aus dem Kirchenasyl stattfinden sollen.
Andere Bundesländer geben sich weniger zurückhaltend. Wie eine Umfrage von netzpolitik.org zeigt, bekennen sich lediglich Berlin und Hessen zum Verzicht auf Abschiebungen aus sakralen Räumen, Rheinland-Pfalz kommuniziert zumindest den Wunsch, dass solche Räumungen nicht stattfinden. Acht weitere Bundesländer, die geantwortet haben, wollen ihre Praxis nicht ändern. Das Innenministerium von Sachsen-Anhalt etwa schreibt, Kirchenasyl bestehe „als gegenüber staatlichen Institutionen geltendes und zu beachtendes Recht nicht (mehr)“.
Der Druck, einen sinnvollen Umgang mit dem Kirchenasyl zu finden, wird immer höher. Denn die Zahl der Menschen, die in Kirchenasylen beherbergt werden, steigt. 2023 zählte die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche |2.065 Fälle von Kirchenasyl| in Deutschland, so viele wie noch nie seit Beginn der Zählung in 2015. Für dieses Jahr sind mit Stand April bereits |594 Fälle von Kirchenasyl| mit mindestens 780 schutzsuchenden Personen bekannt, darunter etwa 131 Kinder.
Meist geht es um Menschen, die über ein anderes Land in die EU eingereist sind. Nach der |Dublin-III-Verordnung| ist der entsprechende Staat für ihren Asylantrag zuständig. Halten sich die Betroffenen jedoch länger als sechs Monate in Deutschland auf, während ihr Aufenthaltsort den Behörden bekannt ist, wird ihr Asylverfahren in Deutschland geführt. Diese sechs Monate überstehen immer mehr Betroffene im Kirchenasyl. In den meisten Fällen ist das Vorgehen erfolgreich.
Das |Kirchen- oder Heiligtumsasyl ist ein uralter Brauch|, er stammt noch aus vorchristlichen Zeiten. Die moderne Form existiert in Deutschland seit 1983, als in einer Kirche in Berlin-Kreuzberg drei palästinensische Familien Schutz vor der Abschiebung fanden.
Es gibt keine gesetzliche Grundlage für das Kirchenasyl, aber eine |Vereinbarung der Kirchen mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge| aus dem Jahr 2015. Diese sieht vor, dass die Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, das BAMF kontaktieren und in einem Dossier darlegen, warum es sich bei den Schutzsuchenden ihrer Meinung nach um besondere Härtefälle handelt. Das BAMF lehnt die Argumentation in der Praxis meist ab. Seit Ende Mai laufen neue Gespräche zwischen der Evangelischen Kirche und dem BAMF über die Definition schutzwürdiger Härtefälle.
Initiiert hat die Gespräche Daniela Behrens, die Innenministerin von Niedersachsen. |Sie versprach|, dass das Land Niedersachsen keine Menschen aus dem Kirchenasyl abschieben oder an andere EU-Staaten überstellen wird, so lange kein Ergebnis der Gespräche vorliegt. „Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport (MI) hat die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) und die niedersächsischen Ausländerbehörden gebeten, zunächst keine weiteren Überstellungen aus dem Kirchenasyl vorzunehmen, bis ein Ergebnis der handelnden Akteure (BAMF/Kirche) vorliegt“, schreibt ihr Ministerium auf Nachfrage von netzpolitik.org.
Und wie sieht es aus in den anderen Bundesländern? Nimmt man sich dort Niedersachsen zum Vorbild und achtet das Kirchenasyl zumindest so lange, bis BAMF und Kirche sich geeinigt haben? Wir haben alle Bundesländer angefragt, 13 haben geantwortet. Nur drei davon bekennen sich zum Verzicht auf Abschiebungen aus dem Kirchenasyl, ein weiteres gibt zumindest an, sie vermeiden zu wollen.
Das Innenministerium von Sachsen-Anhalt betont hingegen die fehlende Rechtsgrundlage des Kirchenasyls. Weiter heißt es: „Insbesondere gibt es Einzelfälle, die die Entscheidung der jeweiligen Kirchengemeinde für ein Kirchenasyl besonders fragwürdig erscheinen lassen und ein staatliches Handeln erfordern.“ Bei einer im Kirchenasyl aufgenommenen Person habe es sich beispielsweise um ein mutmaßliches Mitglied der Terrororganisation Islamischer Staat gehandelt.
Das Innenministerium von Thüringen schreibt: „Das zwischen dem BAMF und den Kirchen abgestimmte Verfahren findet unverändert Anwendung.“ Das bedeutet, sobald das BAMF die Härtefallargumentation bezüglich einer oder eines Schutzsuchenden ablehnt, kann eine Abschiebung erfolgen.
Auch Bayern gibt an, das Kirchenasyl weiter wie gehabt handhaben zu wollen.
In Baden-Württemberg ist man ebenfalls nicht bereit, über die aktuell gültige Vereinbarung hinaus Zugeständnisse zu machen – auch nicht im Rahmen der laufenden Gespräche. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen werden „bis zur negativen Mitteilung des BAMF über eine erneute Einzelfallprüfung zurückgestellt“, so das Justizministerium. Danach sind sie durchführbar.
Auch im Saarland gibt es kein Moratorium im Rahmen der laufenden Gespräche zwischen Kirche und BAMF. „Wir respektieren im Rahmen des geltenden Rechts und der mit den Kirchen getroffenen Absprachen deren Räume. Es handelt sich hierbei aber nicht um rechtsfreie Räume“, so das Innenministerium.
Sachsen ist ebenfalls nicht bereit, sich dem Vorbild von Niedersachsen anzuschließen. "Nichtstaatliche Einrichtungen wie die Kirchen können keine Sonderrechte für sich beanspruchen und selbständig Asyl gewähren, sondern auch kirchliche Räume unterliegen der Rechtsbindung." Das Grundrecht auf Asyl werde nur durch den Staat garantiert. "Umgekehrt können sich auch die Kirchen auf den Schutz vor Rechtsverletzung und Ahndung von Straftaten gegen die Kirche durch den Staat verlassen", so das Sächsische Staatsministerium des Innern.
In Hamburg ist man noch am Hadern. Die Überlegungen, ob man sich dem Vorbild von Niedersachsen anschließen wolle, „sind noch nicht abgeschlossen“, so die Innenbehörde. Am Vorgehen der Gemeinden, die Kirchenasyl aufrecht erhalten, nachdem das BAMF das Vorliegen eines Härtefall verneint hat, übt man Kritik. Das Ministerium respektiere den besonderen Charakter sakraler Räume, "wir erwarten jedoch auch, dass die Kirche das geltende Recht und die Vereinbarung mit dem BAMF respektiert.“
Die Pressesprecherin des Bremer Innensenators stellt fest, dass die Fälle von Kirchenasyl „in jüngster Zeit sehr stark zugenommen haben. Auf Grundlage dieser neuen Situation beabsichtigt der Bremer Innensenator kurzfristig das Gespräch mit den Kirchen als auch mit dem BAMF zu führen.“
Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es trotz der laufenden Gespräche kein Moratorium. Allerdings würde sich das Land in ebendiese aktiv einbringen. „Dialog und Kompromissbereitschaft der zentralen Akteure (BAMF und Kirchen) sind dabei zwei wichtige Pfeiler, die nach unserer Beobachtung von beiden Seiten wieder stärker in den Blick zu nehmen sind. Dafür wirbt das Land intensiv, beispielhaft während eines Austausches von Ministerin Paul mit Vertretern der Landeskirchen von Anfang Mai 2024“, so das Ministerium für Flucht und Integration.
In Rheinland-Pfalz fanden gerade Gespräche zum Thema Kirchenasyl statt, zwischen evangelischer und katholischer Kirche, den Kommunalen Spitzenverbänden und dem Ministerium für Integration, "um sich erneut über das Vorgehen in diesen Fällen auszutauschen", so das Ministerium. "Ausgehend vom Konsens, Kirchenasyle nicht polizeilich räumen lassen zu wollen, wurde der unbedingte Vorrang einvernehmlicher und konfliktfreier Lösungen und die Bedeutung einer von beiden Seiten ausgehenden und kontinuierlichen Kommunikation hervorgehoben."
Berlin kommuniziert derweil deutlichen Respekt vor dem Kirchenasyl. „Selbst nach negativem Abschluss des Dossierverfahrens sieht das Land Berlin von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen aus einem weiterhin gewährten Kirchenasyl grundsätzlich ab, wenn sich die/der Betroffene weiterhin dauerhaft in den Räumlichkeiten der Religionsgemeinschaft aufhält und dies dem Landesamt für Einwanderung konkret mitgeteilt wurde. Rückführungen und Überstellungen aus diesen Räumlichkeiten finden nicht statt“, so die Senatsverwaltung für Inneres. Allerdings sieht man dort auch die Gemeinden in der Pflicht. Die Vereinbarung schreibe vor, „dass die Gemeinde das Kirchenasyl beendet, wenn das Dossierverfahren negativ abgeschlossen wurde.“
Hessen präsentiert sich ganz ähnlich: "In der Vergangenheit wie auch aktuell werden in Hessen aus Respekt vor der christlich-humanitären Tradition des Kirchenasyls und den kirchlichen Institutionen keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen während der Dauer des Kirchenasyls durchgeführt", schreibt das hessische Innenministerium. Umso wichtiger sei es aber "um ein gezieltes Unterlaufen der Asylgesetze zu verhindern - dass die Kirchen das mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vereinbarte sog. Dossier-Verfahren, durch das ein Härtefall begründet werden kann, einhalten und Betroffene danach umgehend wieder aus dem Kirchenasyl entlassen, um deren Rückführung nicht dauerhaft zu vereiteln."
Das deutlichste Bekenntnis pro Kirchenasyl kommt aus Mecklenburg-Vorpommern. Abschiebungen aus dem Kirchenasyl durch die Ausländerbehörden in Mecklenburg-Vorpommern hätten in der Vergangenheit nicht stattgefunden und seien auch für die Zukunft nicht geplant, so das dortige Innenministerium. "Die von Niedersachsen gegebene Zusicherung, Abschiebungen aus dem Kirchenasyl auszuschließen, entspricht der in MV gelebten Praxis im Umgang mit dem Kirchenasyl", heißt es weiter.
Allerdings gab es im Dezember 2023 eine versuchte Abschiebung von zwei afghanischen Brüdern aus einem Kirchenasyl in Schwerin, das in Mecklenburg-Vorpommern liegt. Sie kam nicht zustande, weil die Mutter der beiden |mit einem erweiterten Suizid gedroht hatte|. Laut dem Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern widerspricht die versuchte Abschiebung nicht der Zusicherung, dass die Ausländerbehörden von Mecklenburg-Vorpommern das Kirchenasyl respektieren. Denn der Zugriff der Polizeiinspektion Schwerin habe aufgrund eines Amtshilfeersuchens der Ausländerbehörde von Kiel in Schleswig-Holstein stattgefunden.
Update, 1.7.2024, 10.53 Uhr: Wir haben den Beitrag um die Antwort von Mecklenburg-Vorpommern ergänzt.
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|nach Recherchen von netzpolitik.org|
|ein 24-jähriger Georgier aus dem Kirchenasyl in Nordrhein-Westfalen nach Tiflis abgeschoben|
|syrischer Kurde aus dem Kirchenasyl in Rheinland-Pfalz nach Dänemark überstellt|
|Abschiebung zweier afghanischer Brüder aus dem Kirchenasyl in Schwerin|
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Sat, 29 Jun 2024 06:09:51 +0000
Vincent Först
Content Creator:innen machen Handarbeit und erstellen daraus digitale Inhalte für die sozialen Medien. Jenseits von Selbstinszenierung und verstecktem Product Placement erleben so Millionen Menschen traditionelle Handwerkskunst im Netz.
Mitte der 1960er Jahre fand der französische Philosoph Guy Debord |harte Worte| für die westliche Gesellschaft: Die Menschen verlieren sich im Kaufrausch und oberflächlicher Unterhaltung. Je mehr Bilder sie konsumieren und sich dabei selbst zu Abbildern machen, desto weniger verstehen sie ihre Existenz und ihre wahren Bedürfnisse. Glücklicherweise musste Debord den Aufstieg der sozialen Medien nicht mehr miterleben. Rund dreißig Jahre nach seinem Tod verbringen deutsche Jugendliche durchschnittlich |3,5 Stunden täglich an ihrem Smartphone|.
Es ist nicht alles schlecht, was dabei über die Bildschirme flimmert. In den endlosen Feeds der sozialen Medien finden sich auch berührende, differenzierte und sehenswerte Inhalte. Und manchmal gewähren sogenannte „Maker“ auch Einblicke unter die glatte Oberfläche von Tech-Gadgets und hinter die strahlende Haut von Influencer:innen.
Einer von ihnen ist der Erfinder, Handwerker und Künstler Uri Tuchman. Tuchman bezeichnet sich selbst als „YouTube-Maker“. „Wenn du etwas mit deinen Händen herstellst und es später als Video hochlädst, macht dich das eigentlich schon zu einem YouTube-Maker“, sagt Tuchman im Gespräch mit netzpolitik.org. YouTube-Maker seien in erster Linie Content Creator:innen, da sie ihr Handwerk zu Content machen.
Tuchman baut wundersame Maschinen und Objekte, die einem Fantasy-Roman entsprungen sein könnten. Eine motorbetriebene |Nasenbohrmaschine| zum Beispiel. Oder ein |Gemälde|, das dem Betrachter mit den Augen folgt. Oder eine Nachbildung seiner selbst als |antiken Automaten|. Den Herstellungsprozess begleitet er mit der Kamera. Aus den Bauprojekten, an denen Tuchman manchmal monatelang arbeitet, entstehen |YouTube-Videos|, die zwischen 10 und 25 Minuten lang sind. Rund 340.000 Abonnent:innen folgen dem Maker dafür.
Tuchman muss bei der Arbeit oft improvisieren. Er wiederholt Arbeitsschritte, tauscht defekte Teile aus oder verwendet alternative Materialien. Der Reiz der Videos liegt letztlich nicht in einem fehlerfreien Endprodukt, sondern in der Sichtbarmachung des Prozesses und des Menschen dahinter. „Die Zuschauer wollen vor allem hinter den Vorhang schauen und sehen, wie man seine Fertigkeiten verbessert“, sagt Tuchman.
Content Creation stellt für Erfinder:innen, Handwerker:innen und Do-it-yourself-Fans eine Möglichkeit dar, mit ihren ungewöhnlichen Fähigkeiten den Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihre handgefertigten Werkstücke haben kaum eine Chance, mit massengefertigten Produkten zu konkurrieren. Für Tuchman, der ursprünglich aus der zeitgenössischen Kunstszene kommt, bot YouTube eine Alternative zum oftmals komplizierten Geschäft mit Galerien und Kurator:innen.
„Einen YouTube-Kanal zu eröffnen, dauert nur fünf Minuten. Es gibt keine Gatekeeper. Das war für mich sehr verlockend“, erklärt Tuchman. Als Arbeitgeber sei YouTube zudem fast unsichtbar. Zwar stellt die Plattform eine Reihe von Tools zur Verfügung, um die Performance der Videos zu analysieren und zu verbessern. Bei Notfällen – wie |gehackten Accounts| – müssen Content Creator:innen oft erst ihre Community auf anderen Plattformen wie Twitter um Hilfe bitten, damit ein Problem sichtbar wird. „Wenn du nicht genug Follower hast, kann das zum Problem werden“, fügt Tuchman hinzu.
Wer mit seinem Kanal am sogenannten „|Youtube-Partnerprogramm|“ teilnehmen möchte, muss mindestens 1000 Abonnent:innen und 4000 Stunden Videowiedergabe oder wahlweise 10 Millionen Aufrufe von YouTube-Shorts vorweisen können (Stand Juni 2024). Den Partner:innen zahlt YouTube einen Teil der Werbeeinnahmen aus. Der Betrag liegt nach der Recherche eines YouTubers |zwischen einem und dreißig Dollar| pro 1000 Videoaufrufe.
Wie viel Geld die Creator:innen letztendlich mit ihren Videos verdienen, hängt von |verschiedenen Parametern| ab. Werbekund:innen zahlen mehr für Werbeanzeigen bei thematisch relevanten Videos, die zum eigenen Produktsortiment passen. Eine Werbeanzeige von Apple in dem Video eines Creators, der Tech-Produkte vorstellt und bewertet, bringt dementsprechend mehr Geld.
Wer sich nicht an die Regeln der Plattform hält, kann Probleme mit YouTube bekommen. Creator:innen, die im YouTube-Partnerprogramm bleiben wollen, müssen also vorsichtig agieren. Sie sind dazu verpflichtet, eine Vielzahl von |Richtlinien| einzuhalten, um ihre Kanäle zu monetarisieren – sprich: von YouTube bezahlt zu werden.
Dazu gehören unter anderem die |Community-Richtlinien|, die |Richtlinien für werbefreundliche Inhalte| und die |Programmrichtlinien|. Verstöße können zur Löschung von Videos oder im schlimmsten Fall zur kompletten Sperrung eines Kanals führen.
Der YouTuber und Maker Jimmy DiResta hat für seinen Kanal ein |altes Gewehr restauriert|. Den |finalen Test|, das Abfeuern eines Schusses, hat DiResta nicht auf YouTube, sondern auf Instagram hochgeladen, um einer möglichen „Demonetarisierung“ des Videos zu entgehen. In diesem Fall hätte DiResta mit seinem Video keine Einnahmen mehr erzielen können – bei rund 29 Millionen Aufrufen wäre das ein erheblicher finanzieller Verlust.
Als Hinweis zu den teils schwammig formulierten Regeln, etwa das Verbot von „Nacktheit und sexuellen Inhalten“ schreibt |YouTube|: „Wenn du glaubst, dass Inhalte gegen diese Richtlinien verstoßen könnten, solltest du sie nicht posten.“ Das liest sich wie ein Aufruf zur |Selbstzensur|.
Der Erfolg von Videos wird zudem maßgeblich von |Algorithmen| bestimmt, deren komplexe Funktionsweise sich ständig ändert. Von der Erfassung des Algorithmus hängt die Sichtbarkeit des Videos und damit die Höhe der Werbeeinnahmen ab.
Diese „algorithmische Kontrolle“ über die Inhalte schränkt die Autonomie der Creator:innen ein und erfordert eine dauerhafte Anpassung der eigenen Inhalte an den Algorithmus. Die Algorithmen der Plattformen |agieren dabei unterschiedlich|: Ein Video, das auf YouTube viral geht, kann auf TikTok untergehen und umgekehrt.
Meistens verlassen sich Creator:innen deshalb auf einen Mix an Einnahmequellen. Tuchman setzt auch auf |Patreon|. Der Social Payment Service bietet den Creator:innen die Möglichkeit, sich von sogenannten „Patrons“ durch Abonnements finanziell unterstützen zu lassen. Im Gegenzug erhalten die Patrons beispielsweise exklusive Inhalte.
Trotzdem kommen Creator:innen, die von ihren Inhalten leben wollen, kaum an Sponsoren vorbei. Sponsoren sind Unternehmen, die |in direkter Zusammenarbeit mit Creator:innen| ihre Produkte bewerben lassen. Dafür erhalten diese finanzielle oder materielle Gegenleistungen.
Anders als externe Werbeanzeigen, die ähnlich wie Fernsehwerbespots in die Videos eingeblendet werden, können die Creator:innen ihre Sponsoren direkt in den Content einbinden. Viele Creator:innen behalten dabei ihren gewohnten Stil bei. Sie bewerben die Produkte zum Teil satirisch und spielerisch, um den „Flow“ ihrer Videos nicht zu unterbrechen.
Kreativität ist auch bei der Werbung gefragt und manchmal wird sie auch gewürdigt. „Der |Übergang zur Werbung| war ein Meisterwerk für sich“, schreibt ein Follower über einen Werbeclip für einen VPN-Anbieter (Virtual Private Network), den Tuchman in eines seiner Videos eingebunden hat. Der Zugang zum Internet durch ein VPN-Netzwerk verschleiert die Identität der Anwender:innen. Ironischerweise gehört YouTube zu Google, einem Unternehmen, das wegen seiner nutzer:innenfeindlichen Datenschutzpraxis in der Kritik steht.
Die Maker machen also aus der Not eine Tugend. Wer von seiner Arbeit auf der Plattform leben will, sei auf das YouTube-Partnerprogramm und externe Sponsoren angewiesen, so Tuchman. Und |YouTubes Geschäftsmodell| basiert nun einmal auf Werbung. „YouTube ermöglicht es den Makern, verrückte Dinge zu bauen und Videos davon hochzuladen, was die Renaissance des Handwerks in den sozialen Medien erst möglich macht“, sagt Tuchman. Dessen seien sich auch die Zuschauer:innen bewusst.
Der Einsatz von Werbung erlaubt es den Makern, sich mit ihren Inhalten eine Existenz aufzubauen. Für Tuchman zählt dabei auch die pädagogische Botschaft des „Making“. Im Vordergrund der |Maker-Community| stehe das Motto: Do it yourself. Maker tüfteln, reparieren, erfinden, probieren aus und |ermutigen andere|, es ihnen gleichzutun.
Viele Menschen kommen durch soziale Medien zum ersten Mal in Berührung mit den Möglichkeiten von Handarbeit und traditionellen Arbeitstechniken in Berührung. Durch die Perspektive der Maker sehen sie, wie Tischlerei, Elektrotechnik oder Schmiedekunst funktionieren.
Jessie Uyeda aka |ijessup| räumt verlassene Häuser auf, renoviert Möbel und baut Filmrequisiten. |Estefannie| bezeichnet ihre Arbeit als „feminine rage tech“. Dazu gehört auch ein von Estefannie entworfener Büstenhalter, der Grapscher durch Funkenflug von unerwünschten Berührungen abhalten soll. Nachhaltigkeit, Kreativität und Spaß am Konstruieren vermischen sich in dieser Art von Maker-Content.
Wohl auch deshalb erreichen einige YouTube-Maker mit ihren Inhalten Millionen von Zuschauer:innen, ohne unrealistische Körper-, Business-, und Lebensideale zu propagieren oder die |Privatsphäre ihrer Mitmenschen| zu verletzen.
Das Selbstverständnis der Maker zielt bisher darauf ab, |lieber zu kreieren statt zu konsumieren|. Die Werbung ist dabei notwendiges Übel und Existenzsicherung zugleich. Für Tuchman bleibt die Handarbeit der wichtigste Teil der YouTube-Maker: „Handgefertigte Dinge sind immer schöner als Massenware – weil du darin bist.“
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|lieber zu kreieren statt zu konsumieren|
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Skriptlauf: 2024-07-09T05:02:02