Alte Texte, aktuelle Muster

Wir leben in merkwürdigen Zeiten, aber offenbar nicht in außergewöhnlichen. Ich habe in letzter Zeit zwei Mal beim Lesen von älteren Texten eine Art Aha-Erlebnis gehabt: Einmal beim Lesen der Texte im Heft der Geburtsurkunde meiner Mutter (»Das Buch der Kindheit. Urkunden. Amtliche Eintragungen. Abstammungsnachweis«), auf das ich eher zufällig gestoßen bin. Der zweite Text war »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« von Paul Julius Möbius, von dem ich immer wieder mal gehört hatte, den ich aber nie gelesen hatte. Beide Texte erscheinen mir in einer bedrückenden Art aktuell: Die Grundmuster der Argumentation und der Ausführung erinnern mich an moderne Rechtspopulisten.

Fangen wir mit dem ersten Text an – »Kind – Familie – Volk« von Friedrich Burgdörfer. Da meine Mutter kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde und Friedrich Burgdörfer Verfasser von Schriften wie »Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörper« (1932), »Völker am Abgrund« (1936), »Kinder des Vertrauens. Bevölkerungspolitische Erfolge und Aufgaben im Großdeutschen Reich« (1940) oder »Bevölkerungsdynamik und Bevölkerungsbilanz; Entwicklung der Erdbevölkerung in Vergangenheit und Zukunft« (1951) ist, ist die Grundrichtung des Textes nicht unerwartet.

Auf knapp zwei Seiten skizziert Burgdörfer (nicht ohne auf Zitate des Führers und des Reichsführers SS zu verzichten) die Aufgabe der Familie, »die entscheidende Frage der nationalsozialistischen Revolution an das deutsche Volk, an jeden erbgesunden deutschen Mann und jede erbgesunde deutsche Frau im neuen Reich, vor der es kein Ausweichen geben darf«: Kinder zu bekommen. Da es sich um die Geburtsurkunde handelt war das offenbar schon passiert, und es mussten dringend mehr werden, denn »sonst würdet Ihr Euch an dem Schicksal Eures Volkes, Eurer Familie und Eures Kindes zugleich versündigen«. Das ist die Sprache eines Mitläufers¹, der in der 1945 von den Amerikanern aus allen Ämtern entfernt wurde, aber später in der Bundesrepublik wieder auf seinem Gebiet arbeiten konnte, wenn auch nicht mehr an der Behördenspitze. Dafür war er wohl auch zu alt (»22.09.1948 Wiedereinsetzung als Präsident des Statistischen Landesamtes [Bayern] und gleichzeitige Versetzung in den Ruhestand«), aber zur Honorarprofessur und zu Ehrenmitgliedschaften hat es noch gereicht.

Die Biografie nach 1945 wäre ein interessantes Thema, aber das war nicht der Punkt, der mich an dem Text fasziniert hat. Was ich spannend fand, war der Rückblick auf die »hinter uns liegenden Jahren des Verfalls«. Mit Verfall scheinen die Änderungen der Moderne gemeint zu sein: Aufbruch der Frau aus den traditionellen Werten und kleinere Familien. Die schlimmen Jahre des Verfalls scheinen aus seiner Sicht mit der »nationalsozialistischen Revolution« beendet worden zu sein, die offenbar die Moderne zurückgedrängt hat. Veränderungen als Verfall auffassen – das scheint mir auch heute ein wichtiger Punkt bei der AfD zu sein – von Putins Zerrbild des dekadenten Westens ganz abgesehen. Hoffnung auf die Revolution, die alles macht, wie es früher (auch nicht) war – das fühlt sich unangenehm aktuell an.

Der zweite Text, den ich eigentlich seit meinem Studium mal im Original lesen wollte, ist »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« von Möbius. Seit dem Studium weil er im Zusammenhang mit dem Streit um die Habilitation von Emmy Noether (Disclaimer: Ich kann und mag keine Algebra) erwähnt wurde, quasi als Gegenposition zu Hilbert (»Aber meine Herren, eine Fakultät ist doch keine Badeanstalt!«). Gestern hatte ich tatsächlich mal die Muße und die Nervenstärke, mir den Text anzuschauen. Und schon beim Lesen des Vorworts war mir klar: Paul Julius Möbius ist ein Troll, wenn auch einer vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Herz thut mir weh darum, dass ich nicht alle gedruckten und schriftlichen Aeusserungen meiner Gegner und Freunde, meiner lieben Gegnerinnen und Freundinnen besprechen kann, die mir seit dem Erscheinen der 4. Auflage zugekommen sind.

DerDas ist der erste Satz des Vorworts – es geht mit offenkundiger Befriedigung über das Echo auf sein Pamphlet los. Dabei zieht er sowohl aus der Zustimmung als auch in Kritik Nahrung: Direkte Zustimmung freut ihn, Kritik ist Beachtung und weibliche Kritik »könnte ein Beweisstück für mich abgeben«. Es scheint mir allerdings unwahrscheinlich, dass die Kritik immer sachlich war.

Letztlich geht es ihm – wie auch Burgdörfer – aber auch nur um die Rolle der Frau als Gebär- und Bertreuungs-Maschine:

Ebenso wie ein verständiger Mann sich zur Pflege seiner kleinen Kinder nicht ein gelehrtes Frauenzimmer aussuchen wird, so stellte die ewige Weisheit nicht neben den Mann noch einen Mann mit einem Uterus, sondern das Weib, dem sie alles zu seinem edlen Berufe Nöthige gab, dem sie aber die männliche Geisteskraft versagte.
Nach alledem ist der weibliche Schwachsinn nicht nur vorhanden, sondern auch nothwendig, er ist nicht nur ein physiologisches Factum, sondern auch ein physiologisches Postulat. Wollen wir ein Weib, das ganz seinen Mutterberuf erfüllt, so kann es nicht ein männliches Gehirn haben.

Es kommt noch viel Pseudowissenschaft von Schädelgrößen und Schwachsinn (das gilt auch für Männer mit kleinen Köpfen), viel Behauptung, aber er kommt noch auf seine Motivation zu sprechen:

Woher kommt Dir, fragt man mich, der Zorn gegen „das neue Weib“? Sicher nicht aus persönlichen Erwägungen, denn ich stehe ganz allein und habe keine persönlichen Wünsche mehr, auch hat mir niemals ein neues Weib etwas zu leide gethan. Dass ein wirklicher Zorn mich erfasste, das war bei Gelegenheit von Ibsen’s Nora. In diesem Stücke handelt es sich darum, dass die Nora, die als kleines dummes Frauenzimmer geschildert wird, schliesslich auf- und davongeht, weil ihr Mann sie ihrer Meinung nach als Puppe behandelt hat. Was Ibsen sich eigentlich dabei gedacht hat, weiss ich nicht; man bekommt ja in der Regel nicht heraus, was der Apotheker-Dichter will. Zu seiner Ehre möchte ich annehmen, dass er die Gesinnung, der Nora huldigt, mit grimmigem Hohne verspotte. Nun aber musste ich sehen, dass die Leute in der entarteten, halb verrückten Person, die ihre Kinder im Stiche lässt, weil sie sich einbildet, sie müsste ihr erbärmliches Ich ausbilden, eine Heldin erblickten. Das empörte mich und je mehr ich darüber nachdachte, um so abscheulicher und widerwärtiger kam mir die Sache vor. In der That kann die tiefe Unsittlichkeit des Individualismus gar nicht treffender gezeichnet werden, als es durch Nora’s Fortgang geschieht. Einem Weibe, das der Mutterpflicht durch wilde Leidenschaft untreu wird, mag man verzeihen, eine Mutter aber, die ihre Kinder verlässt, weil sie sich nicht gebildet genug vorkommt, ist ein Scheusal oder, wenn man den Gesichtspunkt wechselt, eine Geisteskranke.

Da soll noch jemand behaupten Literatur bewirke nichts. Man sieht Verlustangst. Angst vor Änderungen. Spekulativ (weil ich die Biografie von Möbius nicht kenne): Erinnerung an alte Kränkungen. Dazu eine kräftige Meinung von sich selbst und eine Befriedigung am Herabsetzen Anderer. Das kommt mir als Motiv in der heutigen Zeit sehr bekannt vor: Es ist ein Troll.

Links

¹Biografie auf bavirikon / Bayerische Staatsbibliothek

Pyramide, Glocke, Urne: Friedrich Burgdörfers "Die drei Grundformen der Bevölkerungsstruktur", 1932

Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (wikisource)

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2024-03-08T12:45+01:00

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