Wir thematisieren die wichtigen Fragestellungen rund um Internet, Gesellschaft und Politik und zeigen Wege auf, wie man sich auch selbst mit Hilfe des Netzes für digitale Freiheiten und Offenheit engagieren kann. Mit netzpolitik.org beschreiben wir, wie die Politik das Internet durch Regulierung verändert und wie das Netz Politik, Öffentlichkeiten und alles andere verändert.
Zuletzt aktualisiert: Thu, 21 Mar 2024 16:58:52 +0100
Thu, 21 Mar 2024 16:58:16 +0000
Markus Reuter
Das Bundesverwaltungsgericht hält anonyme Informationsfreiheitsanfragen für unzulässig. Damit zerstört es auf Antrag des Bundesinnenministeriums den niedrigschwelligen Zugang, den FragDenStaat anbietet. Das Transparenz-Projekt kritisiert das „skandalöse Urteil“.
Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute anonyme Informationsfreiheitsanfragen |für unzulässig erklärt|. Das Urteil hat vor allem Auswirkungen auf die erfolgreiche zivilgesellschaftliche Plattform FragDenStaat.de, auf der Menschen einfach digital und ohne Angabe einer Meldeadresse bei Behörden nach Dokumenten fragen können.
Seit 13 Jahren funktioniert die Plattform so und das war dem für die Informationsfreiheit zuständigen Innenministerium (BMI) |immer schon ein Dorn im Auge|. Das Ministerium hatte früher moniert, dass durch FragDenStaat „immer mehr Dinge an die Öffentlichkeit“ gelangten. „Das ist eine Entwicklung, die für die Verwaltung nicht wünschenswert ist“, so ein Vertreter des BMI damals.
In dem jetzt verhandelten Fall ging es um FragDenStaat, doch vor Gericht stritten sich das von der SPD geführte BMI und der Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit. Ursprünglich sollte FragDenStaat für das Verfahren beigeladen werden, wurde aber vom Gericht |nach eigener Aussage| auf „perfide Weise“ ausgeladen: „Erst wurden wir nur zu einem der beiden Verfahren zugelassen, zu dem anderen nicht, da es inhaltsgleich sei. Dann wurde nur das Verfahren zur Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen, zu dem wir nicht beigeladen waren. So wurden wir aus dem weiteren Verfahren als Beigeladene ausgeschlossen.“
„Das Ministerium bekämpft seit vielen Jahren unsere Plattform und weigert sich, darüber zu antworten, während der Bundesbeauftragte durchsetzen wollte, dass Behörden weniger Daten von Antragsteller*innen erheben“, |heißt es bei FragDenStaat|. In einem früheren Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster hatte das BMI noch |eine Niederlage kassiert|, dieses Gericht erlaubte das generelle Erheben der Postadresse nicht.
Auf FragdenStaat können Nutzer:innen eine Anfrage per E-Mail an die jeweilige Behörde schicken und diese kann per E-Mail antworteten. Das Prinzip erlaubt nicht nur eine schnelle Kommunikation, sondern kommt ganz digital auch ohne Post und teure Briefe aus. Doch das Innenministerium zieht die Kommunikation immer wieder auf den Postweg und nutzt die Plattform nicht für Kommunikation.
Das Urteil bestätigt nun die restriktive Praxis des BMI. Das könnte nicht nur potentielle Anfragende abschrecken, sondern erlaubt Behörden auch eine Verzögerung, indem sie die Kommunikation von der Mail wieder auf den Postweg zurückbringen. „Das Urteil mutet an wie aus der Zeit gefallen“, |schreibt FragDenStaat in einem Blogbeitrag|. Während überall die Digitalisierung Einzug hält, bringst das Bundesverwaltungsgericht Papier und Brief zurück.
FragDenStaat wird nun nach eigener Auskunft seine Plattform erweitern und wenn möglich weiter klagen. Gleichzeitig fordert das Transparenz-Projekt, dass die Ampel-Koalition das versprochene |Transparenzgesetz| auf den Weg bringt und damit pseudonyme Anfragen erlaubt.
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|immer schon ein Dorn im Auge|
|schreibt FragDenStaat in einem Blogbeitrag|
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Thu, 21 Mar 2024 12:53:02 +0000
Lea Binsfeld
Standortdaten von Menschen in Notsituationen werden automatisch an die zuständigen Leitstellen übermittelt. Für den Notruf 112 ist das bereits gängige Praxis. In Deutschland soll nun auch die Polizei die Standortdaten bekommen, wenn jemand die 110 anruft und Hilfe braucht.
Um in Notsituationen schnell helfen zu können, müssen Feuerwehr oder Rettungsdienste wissen, wo sich Personen in Not befinden. Wo und was passiert ist, sind die ersten Fragen an der europaweiten Notruf-Hotline 112. Doch nicht immer kennen die Anrufenden ihren genauen Standort oder können ihn in einer Stresssituation verständlich durchgeben. Eine automatische Ortung der Anruf-Geräte – und somit der Verletzten und Gefährdeten – kann in solchen Momenten lebensrettend sein.
Beim Rettungs-Notruf ist es daher in vielen europäischen Ländern möglich, die Anrufenden automatisiert schnell und effizient zu orten, das gibt eine |EU-weite Richtlinie| vor. Neben der 112 gibt es in Deutschland auch den Polizei-Notruf 110. Dort wurden bisher wegen Datenschutzbedenken keine genauen Ortungsdaten genutzt. Ein Pilotprojekt soll das nun ändern.
Die Position von Anrufenden aus dem Festnetz wird durch die Installationsadresse des Telefonanschlusses oder die Postadresse der Anrufenden ermittelt. Es gibt jedoch mittlerweile wesentlich mehr Notruf-Anrufe von Mobiltelefonen. 78 Prozent der 112-Notrufe im Jahr 2021 wurden von Mobiltelefonen aus getätigt, wie aus einem |Bericht über die Wirksamkeit der europäischen Notrufnummer| hervorgeht.
Mobile Geräte können netzbasiert geortet werden, das heißt über Funkzellen in der Nähe. Wie genau diese Ortung ist, hängt von der Region ab. In dicht besiedelten Räumen mit vielen Mobilfunk-Antennen kann ein Standort auf etwa 500 Meter genau geschätzt werden. Auf dem Land sinkt die Genauigkeit teils auf mehrere Kilometer. Eine präzisere Standortermittlung kann direkt über das Gerät erfolgen. Entweder passiert das über eine zuvor installierte Anwendung oder über Advanced Mobile Location (AML) – ein Protokoll, das auf fast allen Mobiltelefonen läuft.
Die via AML übermittelbaren Daten aller Notrufe in Deutschland fließen an zwei zentrale Stellen. Das sind die |Berliner Feuerwehr| und die |Integrierte Leitstelle Freiburg im Breisgau Hochschwarzwald|. Beim Notruf an die 112 werden die Informationen von dort an die zuständigen Leitstellen der Feuerwehr oder Rettungsstellen weitergegeben.
Auch bei Anrufen an die 110 bekommt die Leitstelle solche Ortungsdaten – bloß die Weiterleitung an die lokalen Polizei-Leitstellen war wegen unklarer Rechtslage bisher nicht erlaubt. Die Polizei nutzte also die ungenauere und aufwändige Technik der netzbasierten Ortung.
Das soll sich nun ändern: Anrufende sollen auch für die Polizei über AML ortbar sein. Der Datenschutzbeauftragte des Landes Baden-Württemberg Tobias Keber |stimmte einem bundesweiten Pilotbetrieb zu|.
Keber kritisierte, dass bislang die Rechtsgrundlage für die automatische Übermittlung der Daten an die Polizei fehle. Der Standort hilfloser Menschen dürfe nur im Einzelfall ermittelt werden. Was genau mit den Daten gemacht werden dürfe, müsse genau geregelt werden. Dies gelte insbesondere bei der Polizei. Denn sie muss nicht nur in Notlagen helfen, sondern auch bei Anhaltspunkten für Straftaten ermitteln, erklärte ein Sprecher des Landesdatenschutzbeauftragten.
Zunächst hatte Keber deswegen Bedenken. Daher stellt er die Bedingung: Datenschutzvorgaben müssten beachtet werden. Insbesondere müsse eine strenge Zweckbindung gegeben sein, die Standortdaten dürfen also nur zur Hilfe und nicht zur Strafverfolgung erfolgen – etwa um jemanden zu orten, der die 110 wählt, weil gerade bei ihm eingebrochen wird. Keber warnte davor, dass Menschen sonst aus Angst vor der automatisierten Standortübermittlung davor zurückschrecken, den Notruf zu wählen.
Um die nötigen Rechtsgrundlagen zu schaffen, prüft das baden-württembergische Innenministerium nun, ob Änderungen im Landespolizeigesetz oder sogar auf Bundesebene erforderlich sind.
Wenn jemand eine Notrufnummer wählt und auf dem Gerät AML funktioniert, werden auf dem benutzten Mobiltelefon WLAN und Satellitenortung wie GPS aktiviert. Das Gerät ermittelt damit seine Position bis auf wenige Meter genau und überträgt sie an einen Endpunkt. Für Deutschland sind das die Leistellen in Berlin und Freiburg. Von dort werden die übermittelten Informationen an eine lokale Leitstelle weitergeleitet. Bei den Endpunkten werden die Standortdaten nach einer Stunde gelöscht. Lediglich technische Daten wie Zeitstempel, Netzbetreiber und Genauigkeiten der Positionsdaten bleiben zu Evaluationszwecken gespeichert.
Für die Übermittlung der Daten müssen die Endnutzer:innen nichts tun. Hierzulande passiert das standardmäßig über eine nicht sichtbare SMS. Üblich ist auch eine Übermittlung mit HTTPS, dafür ist jedoch eine Datenverbindung notwendig. Welcher Transportweg genau verwendet wird, hängt vom Land ab, aus dem der Notruf stammt, sowie vom Betriebssystem des Geräts.
Android-Handys können mit dem |Emergency Location Service| (ELS) – das ist Googles Implementation von AML – die Standortdaten sowie die Sprache des mobilen Geräts per SMS und HTTPS-Nachricht übermitteln. Weitere Zusatzinformationen wie hinterlegte medizinische Informationen oder die automatisierte Erkennungen von Stürzen können nicht geteilt werden. Eine Übermittlung kann auch über Roaming erfolgen, dann aber nur per HTTPS. Android-Geräte, auf denen keine Google-Dienste laufen, unterstützen AML nicht.
Apples iPhones können mit AML nur die Standortdaten per SMS übermitteln. Die Bereitstellung von Zusatzinformationen oder die Übertragung via Roaming sind nicht verfügbar. Das geht aus einem |Bericht der European Emergency Number Association| (EENA) hervor, eine Nichtregierungsorganisation, die das Ziel hat, notrufbearbeitende Stellen in Europa besser zu vernetzen.
Die Standortübermittlung beim Notruf ist bei Android- und Apple-Geräten standardmäßig aktiviert. Solange keine Notrufnummer angerufen wird, ist keine Ortung des Geräts durch die Leitstellen möglich. Eine Deaktivierung ist bei einigen Android-Versionen möglich, wird aber von den Leitstellen ausdrücklich nicht empfohlen.
Laut der europäischen Richtlinie müssen Endnutzer:innen mit Behinderung gleichwertige Möglichkeiten zu Notrufen geboten werden. Dazu zählt auch die Lokalisierung in einer Notsituation. Im Report über die europäische Notrufnummer ist beschrieben, wie Menschen mit Einschränkungen wie Sprach- oder Hörschädigungen Notrufe tätigen können.
In 22 EU-Staaten und Norwegen ist es möglich, über eine SMS an die 112 den Notdienst zu erreichen. In Deutschland geht das nicht – hier sind Menschen, die in einer Notfallsituation nicht (mehr) hören oder sprechen können, auf zusätzliche Medien angewiesen. In dem recht unwahrscheinlichen Fall, dass ihnen ein Faxgerät zu Verfügung steht, können sie seit 2002 ein |Notruf-Fax| absenden. Dabei sind Rückfragen kaum möglich.
Eine Alternative ist die 2021 ins Leben gerufene |Anwendung nora|. Mit ihr können Nutzende textbasiert kommunizieren und ihren |Standort sowie weitere Informationen übermitteln|. Sie müssen dafür jedoch vorher die App herunterladen und sich registrieren.
Weiterhin können Menschen mit einer Hör- oder Sprachbehinderung den |Tess-Relay-Dienst| nutzen. Über ihn wird der Notruf an die jeweils zuständige Leitstelle vermittelt und die Kommunikation durch einen Gebärden- bzw. Schriftdolmetscherdienst unterstützt. Auch hier ist eine Vorregistrierung erforderlich.
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|Bericht über die Wirksamkeit der europäischen Notrufnummer|
|Integrierte Leitstelle Freiburg im Breisgau Hochschwarzwald|
|stimmte einem bundesweiten Pilotbetrieb zu|
|Bericht der European Emergency Number Association|
|Standort sowie weitere Informationen übermitteln|
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Thu, 21 Mar 2024 11:58:51 +0000
Anna Biselli
Dass EU-Bürger:innen für ihren Personalausweis Fingerabdrücke abgeben müssen, ist laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs rechtmäßig. Aber die EU hat einen Fehler im Gesetzgebungsprozess gemacht. Deshalb muss sie nun dennoch nachbessern.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat heute einen deutschen Fall |entschieden|, der die verpflichtende Abgabe zweier Fingerabdrücke für den Personalausweis betrifft. Diese Verpflichtung „ist mit den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten vereinbar“, schreibt der EuGH in seiner Pressemitteilung.
Geklagt hatte der Bürgerrechtler Detlev Sieber, ehemaliger Geschäftsführer bei digitalcourage. Die Fingerabdruckpflicht sei ungerechtfertigt, fand Sieber. Es sei nicht notwendig, die Biometriedaten in den Ausweis aufzunehmen. Es fühle sich an, als sei man nicht Bürger, sondern „Tatverdächtiger“. Sieber verlangte daher auf dem Amt einen Ausweis ohne biometrische Vermessung. Das wurde ihm verwehrt, woraufhin er vor Gericht zog. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden wiederum legte den Fall dem EuGH vor.
Nach einer Anhörung, die vor einem Jahr stattfand, war die |Generalanwältin beim EuGH der Argumentation von Sieber nicht gefolgt|: Sie hatte in ihrer Stellungnahme im Jahr 2023 den Zwang zum Fingerabdruck im Ausweis als zulässig angesehen. Das heutige Urteil bestätigt diese Sichtweise.
Das Urteil wirkt sich auf die gesamte EU aus. Seit einer Verordnung aus dem Jahr 2019 sollen in allen EU-Staaten Fingerabdrücke und biometrische Gesichtsbilder auf einem Chip im Personalausweis gespeichert werden. Daher hat der EuGH auch die Gültigkeit der Unionsverordnung geprüft. Die Fingerabdruckpflicht schränke zwar die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten ein, sei aber in diesem Fall dennoch gerechtfertigt und verhältnismäßig.
Die Pflicht sei durch die Ziele gerechtfertigt, „die Herstellung gefälschter Personalausweise und den Identitätsdiebstahl zu bekämpfen sowie die Interoperabilität der Überprüfungssysteme zu gewährleisten“, so das Gericht. Dennoch muss die EU nun nachbessern, denn sie hat die Verordnung auf eine falsche Rechtsgrundlage gestützt. Es braucht eine neue Verordnung und dafür eine Einstimmigkeit im Rat, so der EuGH.
Damit ist die zugrundeliegende EU-Verordnung ungültig. Sie wird jedoch nicht sofort nichtig, denn das könnte „schwerwiegende negative Folgen für eine erhebliche Zahl von Unionsbürgern und für ihre Sicherheit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben“. Sie bleibt daher bis Ende 2026 wirksam, bis dahin muss nachgebessert werden.
Der Deutsche Bundestag beschloss die |Speicherpflicht für Fingerabdrücke in Ausweisen| im Jahr 2020. Seit August 2021 müssen alle Deutschen zwei Fingerabdrücke hinterlassen, wenn sie einen Personalausweis beantragen, meist von beiden Zeigefingern.
Bei der zwangsweisen Abgabe der Fingerabdrücke für die Reisepässe hatte der EuGH |vor mehr als zehn Jahren| entschieden, dass die Verpflichtung zur Körperdatenspeicherung mit EU-Recht vereinbar sei. Mittlerweile ist eine Gewöhnung eingetreten, dass für Ausweis und Pass eine biometrische Vermessung und Speicherung normal sei – |selbst bei Kindern|. Der deutsche Personalausweis als innerstaatliches Dokument verbindet die Fingerabdruckabgabe – anders als beim Pass – auch noch mit einer 90-tägigen Speicherung der Biometriedaten bei den zuständigen Behörden.
Der Rechtsanwalt des Klägers, Wilhelm Achelpöhler, hatte argumentiert, dass die Fingerabdrücke ihren angegebenen Zweck nicht erfüllen würden. Die angebliche sicherheitspolitische Notwendigkeit der biometrischen Datenpflicht sei nicht belegt. Die Fingerabdrücke seien daher ein „untaugliches Instrument“. Dass die Biometriedaten nach der Ausweiserstellung für die Dauer von 90 Tagen gespeichert werden dürfen und für andere Zwecke missbraucht werden könnten, sei nicht akzeptabel. Denn die Fingerabdrücke können in dieser Zeit beispielsweise Behörden zur Verfügung gestellt werden.
Der EuGH widerspricht dieser Argumentation. Ein Gesichtsfoto allein wäre weniger wirksam als die zwei Fingerabdrücke. „Alterung, Lebensweise, Erkrankung oder ein chirurgischer Eingriff können nämlich die anatomischen Merkmale des Gesichts verändern“, so das Gericht.
Nach dem Urteil des EuGH geht der konkrete Fall aus Deutschland wieder zurück an das Verwaltungsgericht Wiesbaden.
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|Generalanwältin beim EuGH der Argumentation von Sieber nicht gefolgt|
|Speicherpflicht für Fingerabdrücke in Ausweisen|
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Thu, 21 Mar 2024 10:52:53 +0000
Anna Biselli
Das Digitale-Dienste-Gesetz ist da. Damit kann die zentrale Koordinierungsstelle für Online-Dienste in Deutschland ihre Arbeit offiziell beginnen. Auf die zuständige Bundesnetzagentur kommt jetzt viel Arbeit zu.
Mit einem Monat Verspätung hat der deutsche Bundestag das Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) beschlossen. Es regelt nationale Details zum Digital Services Act (DSA) der EU. Im Zentrum des Regelwerks: Welche Behörden sind in Deutschland wofür zuständig?
Die Regeln des europäischen DSA gelten seit Mitte Februar |für alle Online-Dienste| und sollen unter anderem dafür sorgen, dass illegale Inhalte schneller aus dem Netz verschwinden und Nutzer:innen mehr Transparenz und Widerspruchsrechte bei Moderationsentscheidungen bekommen. Während die EU-Kommission |die ganz großen Plattformen| dabei selbst beaufsichtigt, ist für alle anderen das jeweilige Land zuständig.
Nun ist beschlossen: Die zentrale Koordinierungsstelle wird in Deutschland bei der Bundesnetzagentur angesiedelt sein. Das war absehbar, die Bundesnetzagentur hat bereits begonnen, sich auf ihre neuen Aufgaben vorbereitet. So hat sie beispielsweise eine |Studie in Auftrag gegeben|, um sich einen Überblick über die relevanten Dienste in Deutschland zu verschaffen.
Nutzer:innen sollen außerdem bald ein |Formular bei der Koordinierungsstelle| finden. Damit können sie sich beschweren, wenn sie glauben, dass ein Online-Dienst sich nicht an die Regeln des DSA hält. Außerdem können sich bei der Stelle sogenannte „Trusted Flaggers“ bewerben. Das sind privilegierte Hinweisgeber. Wenn sie einen mutmaßlich illegalen Inhalt melden, sollen die Plattformen den Hinweise priorisiert behandeln.
Im Lauf des Gesetzgebungsverfahren hat der Bundestag noch einige Regeln im DDG konkretisiert. Tabea Rößner, grüne Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Digitalausschusses, verweist auf eine ihr besonders wichtige Änderung zum Aufbau der Koordinierungsstelle: „Ministerien und Bundestag sollen bei der Auswahl der Leitung nicht mitreden.“ So soll die Stelle möglichst unabhängig arbeiten können. „Dafür wollen wir im Hinblick auf Qualifikation und Unabhängigkeit höhere Anforderungen an die Leitungsposition stellen“, so Rößner in einer Pressemitteilung. „Sie soll zudem in einem Ausschreibungsverfahren und allein durch den Präsidenten der Bundesnetzagentur ausgewählt werden.“
Wie wirksam die Regeln des DSA und DDG werden und ob Nutzer:innen dadurch in Zukunft ein sichereres Online-Umfeld haben werden, wird neben den gesetzlichen Regelungen wesentlich von der Durchsetzung der neuen Regeln abhängen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband |stellte bei einer Untersuchung| fest, dass einige Tech-Konzerne versuchen, sich teils um die Regulierung herumzuwinden. Auf die neue Koordinierungsstelle kommt also viel Arbeit zu.
Die Organisation |AlgorithmWatch bedauert|, dass das Gesetz wohl zu spät kommt, um Wirkung zur Europawahl zu entfalten. „Der Gesetzgeber hat argumentiert, dass der DSA nicht zuletzt das Ziel hat, die Integrität demokratischer Wahlen zu schützen”, so Geschäftsführer Matthias Spielkamp. Aber ein Streit über Zuständigkeiten habe dazu geführt, „dass die Chancen enorm gesunken sind, die Plattformen schon im Vorfeld der Europawahl wirksam zu kontrollieren.“
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|Formular bei der Koordinierungsstelle|
|stellte bei einer Untersuchung|
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Wed, 20 Mar 2024 18:37:47 +0000
Tomas Rudl
Das Digitalministerium hat untersucht, wie gut der staatlich geförderte Breitbandausbau läuft. Rund ein Drittel aller Kommunen wollte finanzielle Unterstützung, erhalten hat sie knapp ein Viertel. Erneut versiegende Fördertöpfe hat eine Priorisierung verhindert.
Inzwischen scheint sich herumgesprochen zu haben, dass zeitgemäße Internetanschlüsse zur Grundversorgung gehören. Geradezu überrannt wurde im letzten Jahr das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), weil so viele Gemeinden um Unterstützung beim Breitbandausbau angesucht haben.
Rund ein Drittel aller Kommunen in Deutschland (3.553) hat einen Förderantrag gestellt, bei einem beantragten Fördervolumen von 6,8 Milliarden Euro. Das geht aus der Evaluation der Gigabit-Richtlinie 2.0 hervor, die heute dem Bundestag präsentiert wurde. Noch ist sie nicht auf der Website des BMDV verfügbar, wir |veröffentlichen sie deshalb an dieser Stelle|.
Schon im Jahr 2022 war das Interesse am Förderprogramm des Bundes so hoch, dass das BMDV über Nacht den Stecker gezogen und das |Programm vorübergehend auf Eis gelegt| hatte. Die danach |neu aufgelegte Richtlinie| sollte eine Wiederholung verhindern: Maßnahmen wie ein Punktesystem und Landesobergrenzen sollen dafür sorgen, dass die Mittel vor allem in den Regionen ankommen, die sie am dringendsten benötigen.
Aus Sicht des BMDV ist dies gelungen: „Das neu konzipierte Förderprogramm erreicht die verfolgten Ziele“, heißt es in dem Bericht des Ministeriums. Tatsächlich ausgeschüttet wurden vom Bund demnach 3,6 Milliarden Euro, rund 600 Millionen Euro mehr als ursprünglich im Budget vorgesehen – zu Lasten der für Änderungsbewilligungen vorgesehenen Mittel wurden nicht nur Projekte bewilligt, die gerade die jeweilige Landesobergrenze überschritten hatten, sondern auch die jeweils punktgleichen Anträge.
Insgesamt haben die Ausbauvorhaben ein Gesamtprojektvolumen von 6,6 Milliarden Euro erreicht, zusammengesetzt aus Bundes-, Landes- und privaten Mitteln. Konkret wurden damit 436 Projekte bewilligt und knapp 640.000 Anschlüsse gefördert. Fast ein Viertel aller Kommunen, 23 Prozent, konnte sich im Vorjahr über einen bewilligten Antrag freuen. Rund 40 Prozent der Fördermittel, rund 1,4 Milliarden Euro, wurden hierbei an sogenannte Fast-Lane-Projekte ausgeschüttet. Das sind Ausbauprojekte in Kommunen mit besonders großem Nachholbedarf.
Zufrieden zeigte sich auch Daniela Kluckert, parlamentarische Staatssekretärin beim BMDV, bei einer heutigen |Anhörung im Digitalauschuss des Bundestages|. Das neue System habe sich „als sehr wirksam erwiesen“ und werde „in seinen Grundzügen beibehalten“, sagte die FDP-Politikerin. So habe etwa die Priorisierung der Anträge das bisherige Windhundverfahren abgelöst. Die Landesobergrenzen hätten zu einer gerechteren Verteilung der Mittel geführt. „Es ist nicht mehr so, dass der, der am lautesten schreit, das Geld bekommt“, sagte Kluckert.
Derzeit arbeite das BMDV an „Optimierungen“, so Kluckert. Eine überarbeitete Förderrichtlinie soll zeitgleich mit der nächsten Förderrunde im April startklar sein. So soll etwa ein neuer Punktekompass den Ländern künftig Orientierung bieten, ob es sich für sie überhaupt auszahlt, einen Antrag zu stellen. Damit erreichen will das BMDV eine Reduzierung der Anträge und vor allem der Markterkundungsverfahren.
Mit dem Verfahren müssen die Kommunen ausloten, ob es in den nächsten Jahren eine Aussicht auf eine privatwirtschaftliche Erschließung des Gebietes gibt. Geld vom Bund fließt nur dann, wenn sich kein ausbauwilliger privater Betreiber findet. Der Evaluierung zufolge wurden im Vorjahr 902 solcher Verfahren in 4.297 Gemeinden durchgeführt, also in rund 40 Prozent aller Gemeinden. Für viele Betreiber ist das ein sehr hoher Aufwand, sie können auch bei weitem nicht an allen Markterkundungsverfahren teilnehmen, weil ihnen die Ressourcen dazu fehlen.
Für Frust sorgen sie auch bei Kommunen, die den Prozess zwar durchlaufen, aber dennoch keine Förderung erhalten haben – beispielsweise, weil bereits die Landesobergrenze überschritten wurde, die die Förderung pro Bundesland deckelt. Auch sogenannte Branchendialoge sollen schon im Vorfeld mehr Klarheit darüber schaffen, ob ein privater Ausbau realistisch ist. Bislang freiwillig durchgeführte Dialoge hätten im Vorjahr dazu geführt, dass in nahezu 20 Prozent der beteiligten Gemeinden kein solches Verfahren gestartet wurde, so die BMDV-Auswertung.
In die neue Förderrichtlinie soll zudem ein Lückenschlussprogramm ab Sommer eingehen. Hierbei geht es um schwer zu realisierende Anschlüsse, wohl in abgelegenen Lagen. Details dazu würden derzeit noch erarbeitet, betreffen soll es aber nur kleine Projekte mit einem Gesamtvolumen von 500.000 Euro. Diese sollen sich dem Ranking des Punktesystems nicht unterwerfen müssen, auch die Landesobergrenzen sollen nicht für sie gelten. Stattdessen sollen sie direkt bewilligt werden, hieß es in der Ausschussitzung seitens des BMDV.
Auf Kurs sieht Kluckert jedenfalls den Ausbau insgesamt: Das Ziel bleibe bestehen, bis zum Jahr |2030 eine flächendeckende Gigabit-Versorgung| herzustellen. Bis dahin soll in der gleichen Größenordnung weiter staatlich gefördert werden, also mit rund 3 Milliarden Euro pro Jahr. Kein Kurswechsel lasse sich auch in der Branche vernehmen, die laut Eigenaussage 50 Milliarden Euro bis zum Ende des Jahrzehnts in den Ausbau investieren will. „Die Aussage der Branche steht noch“, sagte Kluckert.
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|Programm vorübergehend auf Eis gelegt|
|Anhörung im Digitalauschuss des Bundestages|
|2030 eine flächendeckende Gigabit-Versorgung|
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Wed, 20 Mar 2024 18:24:37 +0000
Anna Biselli
Für den eigenen Blog eine Privatadresse ins Internet schreiben? Die Impressumspflicht ist in ihrer heutigen Form eine Bedrohung für die Meinungsfreiheit. Die Ampelparteien im Bundestag wollen eine Überarbeitung prüfen, verpassen aber die Chance, das Problem schon im Digitale-Dienste-Gesetz anzugehen.
Morgen will der Bundestag das Digitale-Dienste-Gesetz beschließen. Dann wären die nationalen Regelungen zu dem europäischen Digital Services Act mit einem Monat Verspätung auch in Deutschland umgesetzt. Im Windschatten des Gesetzes setzt der federführende Digitalausschuss nun ein Thema auf die Agenda, das schon lange auf der Forderungsliste der digitalen Zivilgesellschaft steht: die Impressumspflicht.
Die meisten Websites in Deutschland müssen ein Impressum haben. Ausnahmen gibt es für vollständig private Websites, aber schon Werbeeinblendungen oder |Affiliate-Provisionen| machen den privaten Blog impressumspflichtig. Darin soll zum einen der Name der verantwortlichen Person enthalten sein, zum anderen auch eine Postadresse.
Ein Postfach ist dafür nicht ausreichend. Und wer keine Geschäftsadresse hat, muss seine Privatadresse angeben. Damit soll sichergestellt werden, dass die Website-Anbieter erreichbar sind. Doch das wird für Betroffene oft zum Problem: zum Beispiel für die freie Journalistin, die zu Rechtsradikalismus recherchiert und nicht will, dass ihre Wohnadresse leicht im Internet zu finden ist. Oder für den Buchrezensions-Blogger, der auf seiner Seite ab und an Affiliate-Links postet, aber privat Probleme mit Stalkern hat. Oder für Soloselbstständige ohne Büro und Feministinnen, die regelmäßig Hass ausgesetzt sind. Oder, oder, oder.
Kurzum: Die Impressumspflicht in ihrer jetzigen Form ist abschreckend und ein Problem für die freie Meinungsäußerung.
Vor allem die frühere Linksfraktion im Bundestag hatte |immer wieder gefordert|, die gesetzlichen Regelungen zu ändern. Sie machte auch Vorschläge, wie die Website-Betreiber stattdessen erreichbar sein könnten: Es könnte etwa eine neutrale Instanz als Intermediär geben, bei der sie eine Adresse angeben und die sie im Bedarfsfall zum Beispiel gegenüber Behörden offenbart. Ihre Anträge jedoch wurden – ebenso oft wie sie gestellt wurden – immer wieder abgelehnt.
Die Netzpolitikerin Anke Domscheit-Berg von den Linken im Bundestag kommentiert dazu gegenüber netzpolitik.org: „Seit Jahren haben wir als Linke im Bundestag dafür gekämpft, dass es eine Reform zur Impressumspflicht gibt, im Digitalausschuss alte und neue Digitalminister dazu befragt, Anträge bei Großer Koalition und Ampel gestellt und immer sind wir gegen eine Wand gerannt.“
Nun wollen die Ampelparteien das Problem offenbar selbst noch einmal angehen. In einem Antrag des Digitalausschusses heißt es: Die Impressumspflicht werde „insbesondere von Journalistinnen und Journalisten, aber auch von vulnerablen Gruppen mit Blick auf digitale Gewalt dahingehend kritisiert, dass Betroffene ihre Privatadresse angeben müssen.“ Man brauche nun eine Regel, die diese Personen schütze und „ein ausreichendes Maß an Transparenz und die Erreichbarkeit sicherstellt“.
Domscheit-Berg freut sich darüber, „dass nun zumindest die Absicht erklärt wird, hier nach Lösungen zu suchen, die das Schutzbedürfnis vulnerabler Menschen angemessen berücksichtigen, aber auch bezahlbar sind.“ Sie schlägt vor, dass Interessierte ihre Adresse und Kontaktdaten mit einer Chiffrenummer bei einer öffentlichen Stelle hinterlegen könnten. „Gibt es dann berechtigte Anliegen, wie bei der Zustellung von Gerichtspost, kann sie über ein Postweiterleitungsverfahren an die Wohnadresse weitergeleitet werden.“
Wichtig ist ihr, dass die Kosten für diese Dienstleistung die Kosten für die Briefzustellung nicht überschreiten sollen: „Denn Sicherheit darf nicht vom Geldbeutel abhängen“, so Domscheit-Berg.
Sofort wird es aber nichts mit der Änderung, zumindest nicht im Zuge des Digitale-Dienste-Gesetzes. Es soll zunächst geprüft werden, was möglich ist. Denn die Impressumspflicht setzt auch EU-Vorgaben um. Die Bundestagsfraktionen wollen daher, dass die Bundesregierung das im Zuge des Gesetzes gegen digitale Gewalt untersucht.
Bis es also konkret wird, dürfte es noch dauern. Eckpunkte für ein Gesetz gegen digitale Gewalt hatte das Bundesjustizministerium zwar bereits im April 2023 vorgelegt, doch danach wurde es still. |Kritik an den ersten Punkten| gab es von vielen Seiten: Die |Definition von digitaler Gewalt| darin ist unklar, an manchen Stellen regulieren die Eckpunkte viel mehr als das genannte Phänomen, an anderen wiederum |lassen sie Probleme unangetastet|.
Die Chance, gleich im Digitale-Dienste-Gesetz einen Aufschlag zur Änderung der Impressumspflicht zu machen, haben die Parteien verpasst. Im Paragrafen zu „Allgemeinen Informationspflichten“ werden die Regelungen aus dem Telemediengesetz auf Online-Diensteanbieter übertragen. Sie sollen weiterhin „Namen und die Anschrift, unter der sie niedergelassen sind“, angeben müssen.
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|Kritik an den ersten Punkten|
|Definition von digitaler Gewalt|
|lassen sie Probleme unangetastet|
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Wed, 20 Mar 2024 16:09:12 +0000
Chris Köver
Der Europarat hat sich auf einen internationalen Vertrag geeinigt, der die Menschenrechte schützen soll, wenn „Künstliche Intelligenz“ zum Einsatz kommt. Doch der jetzt geleakte Text ist windelweich und lässt riesige Lücken für Staaten und Unternehmen. Eine Analyse.
Während die EU in den letzten Jahren |an strengeren Regeln für den Einsatz „Künstlicher Intelligenz“ feilte|, kam zu diesem Thema auch ein anderes, sehr ähnlich klingendes Organ zusammen: Der Europarat wollte ebenfalls Rahmenbedingungen für die sich rasant entwickelnden Technologien schaffen, die unter dem Sammelbegriff KI gefasst werden – in Form eines internationalen Abkommens.
Der Europarat gehört nicht zur EU, sondern will als internationale Organisation Menschenrechte und Demokratie schützen. Abkommen des Europarates sind für die Staaten völkerrechtlich bindend. Das heißt: Staaten steht zwar frei, sie zu unterzeichnen – aber wenn sie es tun, müssen sie sich daran halten. Sie müssen dann eigene nationale Gesetze schaffen und umsetzen, was in den Verträgen festgehalten wird.
Ein internationales Abkommen zu KI hätte also durchaus eine Chance sein können. Denn nicht nur die |46 Mitgliedstaaten| des Europarates können den Vertrag unterschreiben, er steht allen geneigten Staaten offen. Deswegen waren in die Verhandlungen auch Staaten wie die USA, Kanada, Großbritannien oder Israel mit eingebunden.
In der Summe hätten so im besten Fall für sehr viele Menschen weltweit eine bessere Rechtslage wachsen können, ein stärkerer Schutz vor potentiell gefährlichen Technologien wie Gesichtserkennung, Lügendetektoren, vor Prognose-Werkzeugen der Polizei oder vor Deepfakes. Das Ergebnis der zweijährigen Verhandlungen löst bei Fachleuten jedoch vor allem Kritik und Ernüchterung aus.
Zwei große Lücken fallen besonders ins Auge: Die Ausnahmen für Unternehmen und die Ausnahmen für die nationale Sicherheit. Vor allem die USA |haben sich in den Verhandlungen dafür eingesetzt|, dass Unternehmen von den Regeln ausgenommen werden. Staaten sollte es selbst überlassen sein, ob und wie sie die Regeln auch auf den privaten Sektor anwenden, eine Opt-in-Lösung. Die aktuelle Fassung des Vertrages, die nun öffentlich wurde, zeigt: Sie konnten sich weitgehend durchsetzen.
Zwar sind Unternehmen nicht komplett ausgenommen. Aber die unterzeichnenden Staaten werden selbst entscheiden können, wie streng oder auch nachlässig sie mit ihren Unternehmen umgehen wollen. Im Text heißt es dazu: „Jede Vertragspartei befasst sich mit den Risiken und Auswirkungen, die sich aus Tätigkeiten innerhalb des Lebenszyklus von Systemen der Künstlichen Intelligenz durch private Akteure ergeben, in einer Weise, die mit Ziel und Zweck des Übereinkommens übereinstimmt“. Lediglich für Unternehmen, die im Auftrag von staatlichen Behörden handeln, gelten die Pflichten in jedem Fall.
Für alle Anwendungen, die in den Bereich „nationale Sicherheit“ fallen, also etwa Sicherheitsbehörden oder Verteidigung, ist die Lage hingegen klar: Sie sind ausgenommen von den Verpflichtungen im Vertrag. Für sie müssen laut Vereinbarung lediglich geeignete Maßnahmen zum Schutz des Völkerrechts und der demokratischen Normen ergriffen werden.
Das wirft die Frage auf: Welchen Mehrwert bringt ein internationales Abkommen zu Künstlicher Intelligenz, wenn die darin vorgesehenen Pflichten nicht dort gelten, wo Menschenrechte besonders gefährdet sind, weil es um Staatsgewalt geht? Und wenn die Pflichten nicht zwingend für die Tech-Konzerne gelten, deren Technologien oft den größten Schaden für die Demokratie anrichten, allein schon aufgrund der Reichweite?
Diese Frage stellte schon Anfang März etwa die Europäische Datenschutzaufsicht EDPS. In einem regelrecht |vernichtenden Statement| an das zuständige Komitee im Europarat schrieb die Aufsicht, der „sehr hohe Grad an Allgemeinheit“ der Vorschriften zusammen mit einem „weitgehend deklarativen Charakter“ werde unweigerlich zu sehr unterschiedlichen Auslegungen des Übereinkommens führen. Anders gesagt: So lax wie ihr das formuliert habt, macht eh jeder, was er will.
Beim Lesen der Einigung fällt es tatsächlich schwer, sich konkret vorzustellen, was gemeint ist. Von „Transparenz“ ist da die Rede. Auch davon, dass Staaten Maßnahmen ergreifen sollten, um Diskriminierung zu verhindern, um die Demokratie zu schützen und auch die Menschenwürde. Teils sind die Artikel nur einen Satz lang. Dort steht dann etwa, jede Vertragspartei treffe „Maßnahmen zur Achtung der Menschenwürde und der individuellen Autonomie im Zusammenhang mit Tätigkeiten innerhalb des Lebenszyklus von Systemen der künstlichen Intelligenz.“ Das hier ein „sehr hoher Grad von Allgemeinheit“ vorliegt, ist wohl noch freundlich formuliert – es sind vorwiegend Worthülsen.
Auch mehr als 100 Organisationen aus der Zivilgesellschaft |hatten die verhandelnden Staaten vor den letzten Verhandlungen noch aufgefordert|, doch bitte keinen Freifahrtschein für Konzerne und Sicherheitsbehörden zu gewähren – weitgehend vergeblich. Ohnehin konnten die Organisationen zu diesem Zeitpunkt nur noch von der Seitenlinie reinrufen. Das Komitee für Künstliche Intelligenz, in dem über den Vertrag verhandelt wurde, hatte sie vergangenen Sommer |kurzerhand vor die Tür gesetzt|. Die weiteren Verhandlungen sollten ohne kritische Beobachter:innen stattfinden.
Das Urteil von AlgorithmWatch fällt jetzt entsprechend klar aus: Selbst Verbote von KI-Systemen, die mit Menschenrechten unvereinbar scheinen, seien nicht mehr explizit vorgesehen, kritisiert die Menschenrechtsorganisation. Tatsächlich sieht der Entwurf in seiner jetzigen Form keinerlei rote Linien vor. Aus Sicht des Europarates gibt es demnach keine Technologie, die so riskant wäre, dass sie in einem internationalen Abkommen zu KI pauschal verboten werden sollte. Selbst für |biometrische Identifikation| oder |Emotionserkennung| gilt: Unterzeichnende Staaten können weiterhin selbst entscheiden, ob und wie sie deren Einsatz regulieren wollen.
Schon die KI-Verordnung der EU hat biometrische Identifikation im öffentlichen Raum und Emotionserkennung nicht generell verboten. Sie hat die Technologien jedoch als hoch-riskant eingestuft und mit entsprechenden Auflagen versehen.
Den aktuellen Entwurf hat nicht der Europarat öffentlich gemacht, sondern |der Journalist Luca Bertuzzi|. |Er schreibt,| er sehe nicht, warum ein internationales Abkommen zum Schutz der Menschenrechte geheim bleiben sollte. Der Europarat hat bislang nur bekannt gegeben, dass |am 15. März eine Einigung zum Text erzielt wurde|. Dieser wird jetzt erst an das Ministerkomitee des Europarats weitergeleitet, danach kann es losgehen mit dem Unterschreiben.
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|an strengeren Regeln für den Einsatz „Künstlicher Intelligenz“ feilte|
|haben sich in den Verhandlungen dafür eingesetzt|
|hatten die verhandelnden Staaten vor den letzten Verhandlungen noch aufgefordert|
|kurzerhand vor die Tür gesetzt|
|der Journalist Luca Bertuzzi|
|am 15. März eine Einigung zum Text erzielt wurde|
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Wed, 20 Mar 2024 11:07:28 +0000
Markus Reuter
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber äußert in zahlreichen „Empfehlungen“ an Bundestag und Bundesregierung klare Kritik am Umgang mit dem Datenschutz. Der jährliche Tätigkeitsbericht gibt Einblicke, wo es besonders klemmt.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte (BfDI) Ulrich Kelber hat heute seinen |jährlichen Tätigkeitsbericht| veröffentlicht. In diesem befasst sich die Behörde mit allen möglichen Belangen des Datenschutzes: von der Digitalisierung des Gesundheitswesen bis hin zur Frage, welche Daten die Polizei und Geheimdienste wie nutzen dürfen. Dabei verweist die Behörde an vielen Stellen sehr klar darauf, dass die Ampel beim Datenschutz vieles besser machen müsste. Er geht dabei nicht nur auf konkrete Datenschutzvorfälle ein, sondern äußert sich auch grundsätzlich zu bestehenden und geplanten Gesetzen.
Im knapp |180 Seiten starken Bericht (PDF)| empfiehlt er unter anderem dem Deutschen Bundestag, in Sachen Chatkontrolle gegenüber der Bundesregierung und dem EU-Gesetzgeber auf eine „erhebliche, grundrechtskonforme Überarbeitung“ des Verordnungsentwurfs zu drängen und sich am Beispiel der |Position des Europaparlamentes| zu orientieren.
Hierbei sei eine durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu gewährleisten, die deutsche und europäische Grundrechte zu wahren und ein flächendeckendes und anlassloses Auslesen privater Kommunikation zu verbieten. Sollte dies nicht möglich sein, sollte der Verordnungsentwurf insgesamt abgelehnt werden, so der Bundesdatenschutzbeauftragte.
Bei den digitalen Identitäten plädiert Kelber darauf, dass bei der eIDAS-Verordnung Freiräume zur Ausgestaltung der nationalen, europäischen Brieftasche (EUDI-Wallet) genutzt werden. Deutschland solle hierbei „Vorreiter in Europa“ werden und eine Wallet-Infrastruktur etablieren, „die auch vor Überidentifizierung schützt und Vorteile der Digitalisierung für die Datenminimierung nutzt“.
Bereichspezifische Vorschriften sollten dabei „klare Beschränkungen insbesondere hinsichtlich Zweck und Dauer einer elektronischen Weiterverarbeitung von Daten, die durch Polizei- und Verwaltungsbehörden aus dem Chip eines Passes oder Personalausweises ausgelesen wurden“ festlegen, fordert die Datenschutzbehörde. Das neue Pass- und Personalausweisgesetz eröffnet hier Möglichkeiten für Behörden. Kelber befürchtet, dass „Schattendatenbanken“ entstehen könnten, die ohne Zweckbindung für „nicht absehbare künftige Verwendungen“ genutzt werden können.
Zudem sollte der Gesetzgeber „öffentlichen Stellen nur dann den Zugriff auf das biometrische Lichtbild im Chip eines Passes, Personalausweises oder elektronischen Aufenthaltstitels gestatten, wenn es für die Erfüllung besonders gewichtiger, im öffentlichen Interesse liegender Aufgaben zwingend notwendig ist und alternative, eingriffsmildere Verfahren nicht zur Verfügung stehen“.
Kritik hat die Datenschutzbehörde auch am Einsatz „komplexer Datenanalysemethoden“, gemeint sind Big-Data- und KI-Anwendungen wie die von Palantir. Hier empfiehlt Kelbers Behörde zumindest klare Rechtsgrundlagen und geeignete Rahmenbedingungen. Ebenso empfiehlt der BfDI beim geplanten zweiten Teil der Reform des Nachrichtendienstrechts für die Datenerhebung aus dem Internet und deren Weiterverarbeitung durch die Dienste genaue Vorgaben zu machen. Kelber verweist hier auf die |Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes|, das dem Einsatz solcher Technologien Grenzen gesetzt hat.
Bei der Verwaltungsdigitalisierung und der Registermodernisierung drängt der BfDI zu mehr Transparenz. Hierbei hat die Ampel die Steuer-ID |entgegen aller Warnungen von Datenschützer:innen| zur Identifikationsnummer gemacht, anhand derer Verwaltungsleistungen erbracht werden. Dies hält Kelber wegen der Gefahr der Profilbildung für verfassungswidrig, er hätte sich grundsätzlich eine andere Lösung gewünscht. Die Bundesregierung fordert er nun auf, zumindest die Transparenz gegenüber den Bürger:innen mit einem „Datenschutzcockpit“ so zu gestalten, dass diese sehen, welche Behörde wann auf die Daten zugegriffen hat. Kelber ermahnt hier, dass diese Transparenz unterlaufen würde, wenn einfach Stellen, die keine Finanzbehörde seien, zu einer solchen erklärt würden.
Auch zum Dauerbrenner Vorratsdatenspeicherung findet Kelber deutliche Worte. Die Bundesregierung solle sich bei der Diskussion für eine grundrechtsschonende Balance aus Freiheit und Sicherheit einsetzen. Konkret verweist Kelber hier auf das alternative Quick-Freeze-Verfahren, das aber wegen Uneinigkeit in der Ampel auf Eis liegt.
Handlungsbedarf sieht Kelber auch beim Fluggastdatengesetz. Hier hat der Europäische Gerichtshof engere Grenzen zum Beispiel bei Speicherfristen gesetzt, die Ampel hat das Gesetz allerdings noch nicht nachgebessert.
Ein Thema enthält der Jahresbericht allerdings nicht: den |umstrittenen Umgang mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber| selbst. Dessen Amtszeit hat die Koalition nicht verlängert und bislang schweigen sich die Beteiligten aus, warum das so ist. Kelber, der sich selbst für eine weitere Amtszeit beworben hat, ist nur noch „kommissarisch“ im Amt.
Namhafte Digital- und Datenschutzorganisationen sowie Einzelpersonen wie der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar beklagen diesen Umgang mit Kelber. In einem |offenen Brief| heißt es:
Die Vorgänge in Bezug auf die Neu- oder Weiterbesetzung des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI) schaden dem Amt jedoch in noch nie dagewesener Weise. Eine Unklarheit über die Fortführung der Amtsgeschäfte schwächt den gesamten Datenschutz in Bund und Ländern. Nichts fügt dem Datenschutz in Deutschland jedoch einen größeren und nachhaltigeren Schaden zu, als das verheerende Zeichen, dass der BfDI bei seinen unabhängigen Amtsgeschäften nicht sicher vor politischer Sanktion und damit vor politischer Einflussnahme sein kann. Es entsteht der Eindruck, der bisherige Amtsinhaber könnte sich eine mögliche zweite Amtszeit nicht durch den Einsatz für die Sache erarbeiten, sondern insbesondere durch politische Gefügigkeit.
Die Unterzeichnenden fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, schnellstmöglich Klarheit über die Fortführung zu schaffen. Zudem müssten Weichen für die Stärkung der Unabhängigkeit des Bundesbeauftragten durch ein transparentes Benennungsverfahren gestellt werden.
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|jährlichen Tätigkeitsbericht|
|180 Seiten starken Bericht (PDF)|
|Position des Europaparlamentes|
|Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes|
|entgegen aller Warnungen von Datenschützer:innen|
|umstrittenen Umgang mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber|
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Mon, 18 Mar 2024 16:54:40 +0000
Tomas Rudl
Seit bald einem Jahr ist das Hinweisgeberschutzgesetz in Kraft. Es soll das vertrauliche Melden von Missständen garantieren. Doch die meisten Polizist:innen wissen nichts davon – und haben laut einer Studie immer noch Hemmungen dabei, gegen Verfehlungen ihrer Kolleg:innen vorzugehen.
Fast ein Drittel aller Polizeibediensteten haben schon einmal direkt oder indirekt Fehlverhalten von Kolleg:innen oder Vorgesetzten bemerkt, etwa Straftaten oder verfassungsfeindliche Äußerungen. Jedoch haben viele Angst davor, solche Missstände zu melden, wie aus einer aktuellen |Studie der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF)| hervorgeht. Glatte 74 Prozent der Befragten wurden zudem nicht darüber informiert, dass ihnen seit vergangenem Sommer ein rechtlicher Schutz zusteht und sie, zumindest auf dem Papier, keine Repressalien zu befürchten haben.
„Polizist:innen haben Angst, wenn sie Missstände melden – vor ihren Kolleg:innen, ihren Vorgesetzten und damit um ihre Karriere“, sagt die Juristin und Projektkoordinatorin |Franziska Görlitz in einer Pressemitteilung| und fordert dringende Nachbesserung. „Nur so kann Fehlverhalten in der Polizei aufgedeckt und in Zukunft vermieden werden“, sagt Görlitz.
Die Studie ist Teil des von der Alfred Landecker Foundation geförderten |GFF-Projekts „Mach Meldung“|. Dieses will Polizeibedienstete dabei unterstützen, Missstände im Dienst zu melden – ob |rechtsextreme Chats|, |Datenmissbrauch| oder |Sexismus am Arbeitsplatz|. Eine zentrale Rolle spielt dabei das im |vergangenen Jahr beschlossene Hinweisgeberschutzgesetz|. Es soll die vertrauliche Meldung solcher Verstöße sicherstellen, außerdem verbietet es Repressalien jeglicher Art, ob Mobbing seitens Kolleg:innen oder versperrte Karriereleitern.
Doch gerade in eng gestrickten Zirkeln schrecken viele vor diesem Schritt zurück. „Die Angst vor negativen Konsequenzen stellt in einer geschlossenen Polizeikultur ein enormes Hindernis für Hinweisgeber*innen dar“, führt die |Website des Projekts aus|.
Eigentlich soll das Hinweisgeberschutzgesetz hierbei gegensteuern – nicht nur mit der Garantie von Vertraulichkeit oder der Möglichkeit, sich an eine externe Meldestelle zu wenden, wenn man der internen nicht vertraut. Vom Gesetz erfasste Arbeitgeber:innen, wozu die Polizei zählt, müssen dem Gesetz nach ihre Mitarbeiter:innen über ihre neuen Rechte informieren, was aber offenkundig fast flächendeckend unterblieben ist.
So steht denn auch die Angst vor negativen Reaktionen der Kolleg:innen mit 55 Prozent an erster Stelle, wenn es um Hemmungen beim Melden von Verstößen geht. Knapp die Hälfte der Befragten führen die Angst vor Konfrontationen mit den Kolleg:innen, die den Verstoß begangen haben, als Grund für eine Nichtmeldung an. Fast genauso viele (47 Prozent) begründen dies mit „Loyalität gegenüber Kolleginnen und Kollegen beziehungsweise der Institution Polizei“. Und 42 Prozent haben Angst vor negativen Konsequenzen für die weitere Laufbahn.
Zuletzt hatte die Ampelkoalition mit |Uli Grötsch (SPD) erstmals einen Polizeibeauftragten| ernannt, um das angeschlagene Vertrauen in die deutsche Polizei zu stärken. Parallel zum Hinweisgeberschutzgesetz, das auf |eine EU-Richtlinie zurückgeht|, soll er unter anderem als Anlaufstelle für Polizist:innen dienen, die Probleme am Arbeitsplatz beobachten. Allerdings ist er nur für Bundeseinrichtungen zuständig, etwa die Bundespolizei oder das Bundeskriminalamt.
Dabei dürfte einiges an Überzeugungsarbeit auf Grötsch zukommen. So stimmten laut der GFF-Studie zwar 72 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei damit steht und fällt, dass Beamt:innen Verfehlungen ihrer Kolleg:innen melden. Zugleich meinen aber 76 Prozent, dass es im Polizeidienst auf Sekunden ankomme und gelegentliches Fehlverhalten „viel zu oft aufgebauscht“ werde. Und 49 Prozent sagen, dass man im Team zusammenhalten müsse und sich Missstände besser intern regeln ließen.
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|Studie der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF)|
|Franziska Görlitz in einer Pressemitteilung|
|vergangenen Jahr beschlossene Hinweisgeberschutzgesetz|
|Uli Grötsch (SPD) erstmals einen Polizeibeauftragten|
|eine EU-Richtlinie zurückgeht|
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Mon, 18 Mar 2024 16:01:52 +0000
Markus Reuter
In den USA zieht sich die Erotik-Plattform Pornhub wegen Gesetzen, die Ausweiskontrollen fordern, aus immer mehr Bundesstaaten zurück. Die Nutzer:innen weichen technisch einfach aus. Bürgerrechtsorganisationen warnen davor, dass solche Alterskontrollen Grundrechte bedrohen.
In der Auseinandersetzung um ein neues |Gesetz zur Altersverifikation| hat sich die Pornoplattform Pornhub aus dem US-Bundesstaat Texas zurückgezogen. Nutzer:innen mit texanischen IP-Adressen, die die Website besuchen, zeigt die Plattform nun eine Nachricht, in der sie das texanische Gesetz als das am „wenigsten wirksame und gleichzeitig restriktivste Mittel zur Erreichung des erklärten Ziels des Jugendschutzes“ darstellt.
Als Reaktion auf diesen Schritt von Pornhub steigen nun offenbar die Suchanfragen nach VPN-Anbietern bei der Suchmaschine Google. Mit einem Virtual Private Network (VPN) lässt sich nicht nur die Verbindung im Netz verschlüsseln, sondern der Standort verschleiern oder ein anderer Standort angeben. VPNs sind deswegen ein beliebtes Instrument, um Websperren zu umgehen.
Seit sich Pornhub am 14. März aus Texas zurückgezogen hat, hätten sich die Suchanfragen nach VPNs im Bundesstaat vervierfacht, |berichtet Variety|. Texas ist mit knapp 30 Millionen Einwohner:innen einer der bevölkerungsreichsten Staaten der USA.
Das texanische Gesetz ist nicht nur wegen der Altersverifikation umstritten, sondern auch, weil es von Porno-Anbietern verlangt, dass diese |wissenschaftlich unbelegte Warnungen auf ihren Seiten zeigen| müssen, unter anderem dass Porno-Konsum die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen würde.
Die Electronic Frontier Foundation (EFF) |sagt gegenüber CNN|, dass Texas nicht der einzige Staat sei, in dem derartige Suchanfragen als Reaktion auf Gesetze zur Altersüberprüfung zunehmen würden. „Ähnliche Suchspitzen wurden gemeldet, nachdem andere Staaten Gesetze zur Altersüberprüfung verabschiedet hatten, die die EFF ablehnt“, so Hudson Hongo, ein EFF-Sprecher gegenüber CNN. Pornhub hatte sich in der Vergangenheit unter anderem aus den Bundesstaaten |Arkansas|, |Utah|, |Mississippi und Virginia| zurückgezogen. Die EFF lehnt diese Form der Altersverifikation ab: „Niemand sollte seinen Führerschein abgeben müssen, nur um auf kostenlose Websites zuzugreifen.“
Die Porno-Plattform hingegen fordert eine andere Form der Altersverifikation und möchte dafür Gesichtserkennung oder eine |andere Technologie| auf dem Gerät selbst nutzen, |berichtet The Verge|. Altersüberprüfungen |bergen generell große Risiken für Grundrechte| und können dazu führen, dass die Anonymität im Internet immer weiter schwindet.
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|Gesetz zur Altersverifikation|
|wissenschaftlich unbelegte Warnungen auf ihren Seiten zeigen|
|bergen generell große Risiken für Grundrechte|
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Mon, 18 Mar 2024 10:00:54 +0000
Markus Reuter
In seinem neuen Buch beschreibt Friedemann Karig, wie Protest erfolgreich sein kann – und was wir dafür tun müssen. Das liest sich gut und macht Hoffnung. Eine Rezension.
Was wäre eigentlich, wenn sich nicht diejenigen rechtfertigen müssten, die protestieren, sondern diejenigen, die gleichgültig zu Hause sitzen? Diese und viele andere Fragen stellt der |Autor, Journalist und Podcaster Friedemann Karig| in seinem neuem Buch „Was ihr wollt“, in dem er das Thema Protest und dessen Wirkung beschreibt. Und wieder mal zeigt sich: Egal, was man von Karig liest, immer fühlt man sich auf diese unaufgeregt freundliche Weise klug informiert.
Karigs Buch gibt viele Denkanstöße und Quellen, wie die Hinweise auf |Gene Sharp| und seine |198 Taktiken des gewaltfreien Protests|, auf die Bücher |von Robert Helvey| (PDF) oder „This is an Uprising“ von Mark und Paul Engler. Mit theoretischer Untermauerung von Arendt, Thoreau, Foucault und Marcuse rahmt Karig sein Verständnis von Protest und vor allem auch von zivilem Ungehorsam.
Karig zeigt mit diesen unterschiedlichen Quellen und mit zahlreichen Beispielen aus der Protestgeschichte – vor allem |Serbiens „Otpor!“|, |Indiens Unabhängigkeitsbewegung| und der |US-Bürgerrechtsbewegung| – dass Protest wirksam sein kann und wo er ansetzen muss, um an den verschiedenen Säulen der Gesellschaft zu wirken.
Im Zentrum steht dabei das, was Karig „Triggerpunkte“ nennt, also ein Thema, ein Ort und eine passende Protestform, die zusammen wie im Brennglas das Anliegen bündeln, den wunden Punkt des Gegners offenlegen und diesen in ein Dilemma bringen.
Für Protest-Aficionad@s mögen diese Taktiken und Quellen nicht neu sein, denn auch moderne Protestbewegungen wie Extinction Rebellion und die Letzte Generation berufen sich auf diese Theorien und haben gezeigt, dass dieser theoriegestützte Zugang zum Aktivismus, der eher auf bestimmte Taktiken und Methoden setzt als einfach aktivistisch draufloszuprotestieren, mindestens zu Aufmerksamkeit führen kann.
Dabei ist das Buch eine informierte Liebeserklärung an Politisierung und zivilen Ungehorsam, an kreative Proteste und große soziale Bewegungen, die etwas ins Rollen bringen und die Welt verändern wollen.
Im Zentrum von Karigs politischem Kosmos steht die Klimakrise, hier sieht er weder die Bundesregierung noch internationale Organisationen als Akteure, die derzeit etwas verändern würden um die nahende Katastrophe noch stoppen. Die Untätigkeit der Mächtigen wird dabei befeuert durch unsere hoffnungslose Untätigkeit und Gleichgültigkeit, in der wir nicht das Potential und die Möglichkeiten des Protests erkennen, die da auf der Straße liegen.
Es liegt also an uns die Faust zu ballen und zusammen mehr zu protestieren, um die Mächtigen zu Veränderung zu zwingen. Und zwar mit der ganzen Bandbreite des Protests – von Kommunikationsguerilla bis zivilem Ungehorsam. Lediglich gewaltvollem Protest erteilt Karig eine strategische Absage, weil er die Protestakteure selbst zu Antagonist:innen und es dem Adressaten des Protests zu einfach macht aus dem Dilemma zu entkommen.
Auf Seite 162 verdichtet Karig sein Verständnis von effektivem Protest:
Effektive Bewegungen schaffen ein hoffnungsvolles Gruppenbewusstsein, ein Wir, das sich über verletzte Werte und Normen, also einen gemeinsamen Affekt des Unrechts definiert. Dazu bedarf der Protest einer narrativen Verdichtung in Form einer Erzählung der Ungerechtigkeit, die symbolkräftig in die Öffentlichkeit getragen wird. Wenn er dabei eindeutige Antagonisierungen schafft, also die Struktur des Konflikts in Gegensätze wie Wir-Die, richtig-falsch, konstruktiv-destruktiv herunterbricht, erreicht er eine moralische und kommunikative Klarheit, die wie eine heilende Essenz in alle Bereiche der Gesellschaft wirken kann. Das mittels seiner eindrücklichen Erzählung konstituierte Kollektiv muss dann hartnäckig und in allen Säulen der Gesellschaft nach Verbündeten suchen und seine Gegenspieler immer wieder in Dilemma-Situationen bringen, in denen selbst heftige Repressionen und Rückschläge letztlich nur die Standpunkte der Bewegung bestätigen.
Man merkt dem Buch an, dass es in der Zeit der Protest-Resignation des Jahres 2023 entstanden ist als eine Art Weckruf und Hoffnungsgeber – und dann bricht kurz vor Veröffentlichung des Buches plötzlich die Protestwelle gegen Rechts über das Land herein, bei der im Januar und Februar mehrere Millionen Menschen auf die Straße gegangen sind. Die bringt Karig etwas hastig in einem hoffnungsvollen Epilog unter, in dem er die wohlige Wärme beschreibt, die dieser große Protest bei ihm und vielen anderen ausgelöst hat. In allem Pessimismus über die drohende Klimakatastrophe verweist er mit dem ganzen Buch auf die Hoffnung, die Proteste mit sich bringen und dass sie und die Suche nach Antworten eine Aufgabe von überwältigender Schönheit seien. Recht hat er.
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|Autor, Journalist und Podcaster Friedemann Karig|
|198 Taktiken des gewaltfreien Protests|
|Indiens Unabhängigkeitsbewegung|
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Mon, 18 Mar 2024 07:20:09 +0000
Anna Biselli
Was haben Tassen mit Kaninchen, Feminismus und Urheberrecht gemeinsam? Sie kommen in der dritten Hackbibel vor, die frisch erschienen ist. Der Versuch einer Rezension, die keine ist.
Fast 40 Jahre nach der ersten Hackerbibel ist jetzt die |„Hackbibel 3“| erschienen. Fortsetzungen von bekannten Werken sind immer ein Risiko, das war wohl auch der Redaktion bewusst. Dennoch hat sie gemeinsam mit dem Katapult-Verlag einen Neuaufschlag gewagt und auf 224 Seiten eine mal mehr, mal weniger wilde Mischung an neuen und alten Texten, Bastelanleitungen, Rezepten, Grafiken und Rätseln zusammengetragen und liebevoll gestaltet.
Die dritte Hackbibel ist kein Buch, das man von vorn bis hinten durchliest. Es ist eines, das man immer wieder aufschlägt, um etwas Neues zu entdecken und einen kleinen Eindruck vom vielfältigen Chaos im Chaos Computer Club zu bekommen.
Wenn das Chaos eskaliert, entsteht aus einer Auftakt-Aktion mit Waffeleisen irgendwann eine Infrastruktur für das karierte Süßgebäck inklusive Postkarten: das Waffel Operation Center, auf CCC-Verantaltungen wohlbekannt. Aber auch, wie Wolfgang Schäubles Fingerabdrücke auf einem Glas mittlerweile im Museum gelandet sind, wird in kurzweiligem Format erklärt. Oder was das mit den großen Datensammlern oder einem DDR-Computerklub auf sich hat, was man beim Erforschen der Telematik-Infrastruktur entdecken kann und wie man verantwortungsbewusst Schwachstellen meldet.
Das gemischte Hack aus der Hackbibel ist – im besten, nicht im despektierlichen Sinne – die perfekte Lektüre fürs Stille Örtchen. Sie auf dem klassischen Weg zu rezensieren, fällt mir schwer. Das hat vor allem zwei Gründe.
Zum einen: Die verschiedenen Inhalte passen nicht so richtig zusammen und wahrscheinlich wollen und müssen sie das auch gar nicht. Hier bleibt die dritte Bibelgeneration den beiden ersten treu. Denn auch da fanden sich nebeneinander Kennlinienfelder von Transistoren, Berichte vom BTX-Hack, BASIC-Code, Gesellschaftsutopien und Dinge, die man schwer beschreiben kann.
Zum anderen: Es lässt sich schwer sagen, an wen sich die Hackbibel richtet. Eine Ahnung, an wen sie sich richten soll, bekommen die Lesenden in der abgedruckten kritischen Reflexion zwischen den Hacker:innen erdgeist, vollkorn und indeks zur Frage, ob man überhaupt eine neue Hackbibel machen sollte.
Eine Hackbibel könne „eine gemeinsame Basis für eine ganze Gruppe schaffen“, sagt vollkorn da. „Sie ist etwas für uns, über uns und von uns.“ Indeks meint, man könne damit auf Themen aufmerksam machen, „die nicht nur für Hacker*innen wichtig sind, sondern auch für Leute, die sich vielleicht das erste Mal wirklich tiefere Gedanken über IT machen.“
In dem lesenswerten Trilog geht es um Werte, Spaß am Gerät, mündliche Wissensweitergabe, die eigene Musealisierung, die Wahrnehmung der Community von außen und den inhärenten Konflikt zwischen einer „Bibel“ und dem Leitsatz aus der Hacker*innenethik, man solle Autoritäten misstrauen. Ist der Konflikt gut gelöst? Ich finde, ein bisschen mehr Subversion hätte die Hackbibel an manchen Stellen noch vertragen.
Als ich in der ersten Hackerbibel gelesen habe, die älter ist als ich es bin, war ich gerade im Teenager-Alter. Die Hackerbibeln tauschten wir auf CD auf dem Schulhof aus. In diesen wilden Sammlungen befanden sich auch Werke wie das Anarchist Cookbook, seltsame UFO-Bücher und das Kamasutra. Eine illustre Zusammenstellung frühjugendlicher Interessen, könnte man sagen.
Ich war von der Hackerbibel fasziniert, obwohl oder eher weil ich fast nichts verstand. Während ich versuchte, |mit dem Marienkäfer Kara| programmieren zu lernen, begeisterten mich die Geschichten derjenigen, die mit ihren Fähigkeiten nicht nur ein 2D-Insekt auf dem Bildschirm herumschubsten, sondern so richtig Rabatz machten. Ich war weit weg von dieser Welt, aber sie hat mich nie wieder losgelassen.
In der neuen Hackbibel kommt netzpolitik.org schon im Vorwort vor – als „Teil des Orbits“. An viele der beschriebenen Ereignisse und Diskussionen kann ich mich gut erinnern, auf vielen der beschriebenen „Demonstrationen rund um Netzpolitik und Chaosthemen“ war ich selbst. Klar, dass ich die Hackbibel 3 anders wahrnehme als ihre Vorgängerinnen. Aber dass sie vielleicht auch mal auf einem analogen oder digitalen Schulhof herumgereicht wird und Nachwuchshacker:innen in den Bann zieht: Das wäre doch schön.
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Sat, 16 Mar 2024 08:05:54 +0000
netzpolitik.org
Der November hat uns in ein neues Büro geführt. Wir saßen also inmitten vieler Kisten und in weißen Räumen. Doch die sind schnell vertraut geworden.
Mittlerweile ist es März und beim morgendlichen Aufschließen der Bürotür fühlt es sich fast so an, als wären wir nie woanders gewesen. Im vergangenen November war das noch neu: Wir waren gerade |frisch umgezogen|! Frisch umgezogen heißt auch: Man sitzt erstmal vor einem weißen Blatt Papier. Oder in dem Fall eher in vielen weißen Räumen. Ein kleiner Neuanfang.
Natürlich haben wir uns vorher überlegt, wo was hinkommt, wer wo sitzen mag und wessen Telefonierfrequenzen und Wohlfühltemperaturvorlieben am besten zusammenpassen. Aber wie dann ganz praktisch der Inhalt der Umzugskisten seinen Weg in die dreidimensionale Fläche findet, lässt sich nicht vollständig planen.
Da ist der Wasseranschluss, der irgendwie anders liegt als vorher und die Inbetriebnahme der Kaffeemaschine zur Herausforderung werden lässt. Ein großer Dank an die Kolleg:innen, die sich beherzt um diese kritische Infrastruktur gekümmert haben. Oder der störrische Aktenschrank, dessen Aufbau erst frustriert verschoben und dann mit Hilfe von Video-Tutorials doch gemeistert wurde.
Eingeweiht haben wir die Räume mit einem gemeinsamen Frühstück, noch zwischen ziemlich vielen Kisten. Mittlerweile sind die Kisten viel weniger geworden, die Räume haben eine Weihnachtsfeier überstanden, es sind Pflanzen eingezogen und auf dem Klo entsteht eine kleine Bildergalerie, die regelmäßig Besucher:innen amüsiert. Wir sind angekommen und freuen uns zu bleiben.
Wir haben im November 87.329 Euro eingenommen. An Spenden kamen Dank der Mitte November angelaufenen Jahresendkampagne |Bullshit-Busters| 86.600 Euro zusammen. Aus dem Merch-Store erhielten wir in diesem Monat knapp 240 Euro.
Die Personalkosten liegen mit 69.200 Euro im Rahmen des Stellenplans. Im Vergleich zum Vormonat sind die Personalkosten wie erwartet gestiegen. Gründe dafür sind die Nachbesetzung der Finanzbuchhaltung, eine Stundenaufstockung im Fundraising (Jahresendkampagne) und die Einstellung einer Reinigungskraft.
Die Raumkosten bilden mit 10.700 Euro eine doppelte Miete ab, da wir im November letztmalig den alten Mietvertrag in der Schönhauser Allee bedienen mussten. Für das neue Büro in der Boyenstraße zahlen wir zum Monatsende die Miete für den Folgemonat – entsprechend Ende November die Dezembermiete.
Die Fremdleistungen belaufen sich auf knapp 7.500 Euro und liegen aufgrund der externen Einarbeitung der neuen Kollegin in der Finanzbuchhaltung (3.300 Euro) noch über dem Jahresdurchschnitt. In den Ausgaben für Betriebsbedarf mit knapp unter 2.000 Euro sind die Rechnungen des Pädagogischen Begleitprogramms für die ersten drei Monate unserer Bundesfreiwilligen (ca. 900 Euro) enthalten, ansonsten ist die Höhe unauffällig. Im Zuge unseres Büroumzugs haben wir alle Versicherungen aktualisiert, deren Jahresrechnungen im November mit knapp unter 1.050 Euro fällig wurden. Die Kosten der technischen Infrastruktur des Büros liegen mit etwas über 2.250 Euro trotz letzter Umzugskosten fast noch im üblichen Bereich.
Zahlungsverkehrskosten haben wir in Höhe von knapp 80 Euro verbucht. Hier gibt es Verschiebungen in den Dezember. Unterm Strich beendeten wir diesen Monat mit einem Defizit von rund 5.600 Euro. Unterjährig schließen wir in der Regel die Monate Februar bis November mit einem Minus ab, da wir unseren Haushalt vor allem mit den Spendeneinnahmen aus der Jahresendkampagne finanzieren. Aufgrund des deutlichen Anstiegs der Spendeneinnahmen im November durch die beginnende Jahresendkampagne erlauben wir uns eine verhaltene Vorfreude auf die Dezemberzahlen.
Wenn ihr uns unterstützen wollt, findet ihr |hier| alle Möglichkeiten. Am besten ist ein Dauerauftrag. Er ermöglicht uns, langfristig zu planen:
Inhaber: netzpolitik.org e.V.
IBAN: DE62430609671149278400
BIC: GENODEM1GLS
Zweck: Spende netzpolitik.org
Wir freuen uns auch über Spenden |via Paypal|.
Wir sind glücklich, die besten Unterstützerinnen und Unterstützer zu haben.
Unseren Transparenzbericht aus dem Oktober |findet ihr hier|.
Vielen Dank an euch alle!
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|„Einnahmen & Ausgaben “ direkt öffnen|
|„Spendenentwicklung November 2023“ direkt öffnen|
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Fri, 15 Mar 2024 17:09:59 +0000
Markus Reuter
Die 11. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 16 neue Texte mit insgesamt 126.631 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.
Liebe Leser:innen,
diese Woche wurden wir vom Berliner Bezirksamt Mitte gefragt, ob wir unsere Redaktionsräume in der 3. Etage als Wahllokal für die Europawahl zur Verfügung stellen würden. Wir hielten die E-Mail für einen verfrühten Aprilscherz, doch ein Anruf unter der angegebenen Nummer machte klar: Die meinen das ernst. Wegen eines Neuzuschnitts des Wahlkreises werden derzeit Wahllokale gesucht.
Dabei schreiben die Mitarbeitenden offenbar ganz viele verschiedene Organisationen an, die in der Gegend sitzen und bei denen man denken könnte, dass dort ab und an „Publikumsverkehr“ ist. Auch wenn wir die Idee eines Wahllokals bei uns ja irgendwie charmant finden, haben wir dann doch mal lieber abgesagt.
Ganz unabhängig von den Europawahlen geht diese Woche eine Ära bei uns zu Ende: der Gründer Markus Beckedahl geht bei netzpolitik.org von Bord. Markus hat netzpolitik.org ins Leben gerufen, das Themenfeld jahrelang geprägt und das einstige Ein-Mann-Blog zu einer veritablen Redaktion ausgebaut. Dabei hat er auch viele Impulse im Journalismus gesetzt – einerseits in Form und Inhalt, andererseits auch, was Finanzierungsmodelle angeht. Ab jetzt widmet sich Markus anderen Projekten. „Ich bin nicht weg. Ich bin nur woanders“, |schreibt er selbst in seinem Abschiedstext|.
Als Redaktion erinnern wir uns an |aufregende gemeinsame Jahre und so manche Anekdote|. Lieber Markus, an dieser Stelle ein riesiges Dankeschön für alles und viel Spaß und Erfolg bei zukünftigen Projekten!
Mit einer Träne im Knopfloch grüßt
Markus Reuter
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Was wäre, wenn wir statt Lokführer*innen einfach KIs die Züge fahren lassen? Die würden niemals streiken und aufmucken, oder? Toll? Eine Idee, bei der das Problem schon an der überalteten Infrastruktur losgeht. Von Bianca Kastl –
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Die Verhandlungen bei der UN-Konvention zur Bekämpfung von Cyberkriminalität sind ins Stocken geraten. Tanja Fachathaler war dabei. Wir fragen sie im Interview, was die wichtigsten Streitpunkte sind, welche Gefahren bei den Menschenrechten durch den geplanten Vertrag drohen und wie es nach dem Abbruch der Verhandlungen nun weitergeht. Von Constanze –
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Teams, Word, Outlook – Microsofts Office-Suite ist weitverbreitet. Auch die EU-Kommission nutzt sie und hat dafür heute Probleme bekommen: Die Benutzung verstößt gegen Datenschutzrecht, verkündete der Europäische Datenschutzbeauftragte. Er hat die Kommission zu Änderungen verdonnert. Von Maximilian Henning –
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Das Zentrum für Digitale Souveränität soll die öffentliche Verwaltung unabhängiger von Big Tech und einzelnen Herstellern machen, will die Ampel-Koalition. Die stellt der Gesellschaft des Bundes jedoch nur knappe Mittel zur Verfügung und verpasst damit die Chance, IT-Sicherheit zu stärken. Von Esther Menhard –
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Die EU-Mitgliedstaaten haben gestern eine abgeschwächte Richtlinie zu Plattformarbeit durchgewunken. Eine erste, ambitioniertere Fassung hatten sie im Dezember blockiert. Die Verhandlungen finden so ein getrübtes Ende, das Gesetz wird trotzdem viele neue Arbeiter:innenrechte bringen. Von Maximilian Henning –
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Die neuen europaweiten Regeln für Künstliche Intelligenz lassen biometrische Überwachungstechniken wie Gesichtserkennung teilweise zu. Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern nun, dass dem zumindest in Deutschland ein Riegel vorgeschoben wird. Von Markus Reuter –
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Die KI-Verordnung macht den Weg frei für biometrische Gesichtserkennung in der EU. Auch an vielen anderen Stellen bietet sie große Schlupflöcher für Behörden und Unternehmen. Das EU-Parlament wollte Grundrechte besser schützen – und hat dem Kompromiss nun doch zugestimmt. Von Chris Köver –
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Viktor Orbán betont gern, sich nicht in Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, und wirbt doch unverhohlen für die Wahl politischer Verbündeter. Jetzt kommt raus, wie massiv er kurz vor der Wahl in Polen und der Slowakei mit Online-Anzeigen Stimmung gemacht hat. Auch in Deutschland lief die Kampagne. Von Chris Köver –
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Kenianische Arbeitnehmer säubern für weniger als zwei US-Dollar pro Stunde Trainingsdaten für Unternehmen wie OpenAI. Das hat sich nicht verbessert, seit es vor einem Jahr publik wurde. Mophat Okinyi, Menschenrechtsaktivist und Gewerkschafter, beklagt im Interview katastrophale Arbeitsbedingungen trotz Milliardenumsätzen der westlichen Unternehmen. Von Constanze –
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Markus Beckedahl verlässt netzpolitik.org, zwei Jahre nach der Übergabe an das neue Chefredaktionsteam. Er wird sich in Zukunft anderen Aufgaben widmen. Zeit für einen Rückblick auf bewegte Jahre. Von netzpolitik.org –
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Was ich in den letzten 20 Jahren lernen durfte und nun auf neue Wege mitnehme. Der vorerst letzte Text von Markus Beckedahl auf netzpolitik.org. Von Markus Beckedahl –
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Zuerst flog er unter dem Radar, dann sorgte er für Aufregung: ein Vorschlag der EU-Kommission für ein Gesetz, das digitale Produkte sicher machen soll. Die Open Source-Community fürchtete übermäßige Bürokratie. Die EU besserte nach, die finale Fassung enthält umfangreiche Ausnahmen. Von Maximilian Henning –
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EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton will die europäischen Märkte für Telekommunikation dramatisch umbauen. Die Richtung gibt ein neues Weißbuch vor. Es schlägt unter anderem eine weitflächige Deregulierung und einmal mehr die Datenmaut vor. Wir haben uns die brisantesten Vorschläge im Detail angesehen. Von Tomas Rudl –
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Falsche Hinweise, irreführendes Design, untergejubelte Kredite: Wie können Konsument:innen beim Online-Einkauf vor unsicheren Praktiken geschützt werden? Anlässlich des Weltverbrauchertags klären Verbraucherzentralen über Risiken auf und fordern mehr Bewegung von der Regierung. Von Lea Binsfeld –
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Gerade Menschen auf der Flucht brauchen Smartphones. So können sie kommunizieren und navigieren. Zwei Organisationen helfen dabei, indem sie alte Handys sammeln, aufbereiten und an die EU-Außengrenzen senden. Von Lennart Mühlenmeier –
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EU-Parlament und Rat haben sich gestern Nacht auf einen Verordnungsentwurf für einen „Europäischen Gesundheitsdatenraum“ geeinigt. Versicherte sollen demnach der Weitergabe ihrer Daten widersprechen können. Die Einschränkungen sind mitunter aber so groß, dass die Patient:innenrechte zur Makulatur zu geraten drohen. Von Daniel Leisegang –
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|schreibt er selbst in seinem Abschiedstext|
|aufregende gemeinsame Jahre und so manche Anekdote|
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Fri, 15 Mar 2024 13:46:00 +0000
Daniel Leisegang
EU-Parlament und Rat haben sich gestern Nacht auf einen Verordnungsentwurf für einen „Europäischen Gesundheitsdatenraum“ geeinigt. Versicherte sollen demnach der Weitergabe ihrer Daten widersprechen können. Die Einschränkungen sind mitunter aber so groß, dass die Patient:innenrechte zur Makulatur zu geraten drohen.
Die Erleichterung unter den Vertreter:innen des EU-Parlaments und des Rats |ist offenkundig groß|. Gestern Nacht haben sie sich auf eine gemeinsame Position zum sogenannten |Europäischen Gesundheitsdatenraum| geeinigt. Die Zeit drängte, denn die |entsprechende Verordnung| soll noch vor den Europawahlen im Juni verabschiedet werden.
Im „|Datenraum|“ sollen ab dem Jahr 2025 die Gesundheitsdaten aller rund 450 Millionen EU-Bürger:innen gespeichert werden. Er soll den grenzüberschreitenden Austausch von Gesundheitsdaten erleichtern: zum einen bei der Primärnutzung, wo es um die Behandlung und Versorgung von Patient:innen geht; zum anderen bei der Sekundärnutzung, bei der die Gesundheitsdaten der Forschung zugutekommen sollen.
|Bis zur buchstäblich letzten Minute| wurde in den Trilog-Verhandlungen um die Frage gerungen, ob und inwieweit Bürger:innen der Weitergabe und Verwendung ihrer persönlichen Gesundheitsdaten widersprechen dürfen. Aus Gesundheitsdaten lassen sich überaus sensible Informationen zu jeder einzelnen Person ableiten. Deshalb sind sie |besonders schützenswert|.
|Die nun erzielte Einigung| sieht vor, dass die Patient:innen der Datennutzung in allen EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich widersprechen können. Gerade aber bei der Sekundärnutzung fasst die erzielte Einigung die Ausnahmen jedoch so weit, dass die Widerspruchsmöglichkeiten zur Makulatur zu geraten drohen.
Dessen ungeachtet begrüßt der führende Berichterstatter Tomislav Sokol von der christdemokratischen EVP-Fraktion die Einigung: „Der Europäische Gesundheitsdatenraum wird den Bürgerinnen und Bürgern die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten geben“, |so Sokol|, „indem er einen sicheren Rahmen für die Speicherung und den Zugriff auf ihre persönlichen Gesundheitsdaten bietet, der überall in der EU zugänglich sein wird“.
Auch Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit, |zeigt sich nach der Trilog-Einigung zufrieden|. Der Europäische Gesundheitsdatenraum werde die Entwicklung lebensrettender Behandlungen sowie bessere gesundheitspolitische Entscheidungen ermöglichen, so die Kommissarin, „und das alles bei strengen Datenschutz- und Sicherheitsvorkehrungen“.
Im Detail |sieht die Trilog-Einigung vor|, dass Patient:innen hinsichtlich der Primärnutzung widersprechen können, dass Behandelnde auf ihre Daten zugreifen können – „es sei denn, dies ist zum Schutz der lebenswichtigen Interessen der betroffenen Person oder einer anderen Person erforderlich“. Unter keinen Umständen dürfen die Daten zu Werbezwecken und zur Beurteilung von Versicherungsanträgen genutzt werden. Darüber hinaus müssen Patient:innen darüber informiert werden, wenn Dritte auf ihre Daten zugreifen.
Bei der Sekundärnutzung gehen die Ausnahmen erheblich weiter und sie sind obendrein unscharf formuliert. Demnach dürfen sich Patient:innen gegen die Weitergabe und Nutzung ihrer Daten zu Forschungszwecken aussprechen. Allerdings gilt dies nicht „für Zwecke des öffentlichen Interesses, der Politikgestaltung oder der Statistik sowie zum Schutz von geistigem Eigentum und Geschäftsgeheimnissen“.
|Bianca Kastl| vom |Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit| kritisiert die Einigung. „Die Ausnahmen des Opt-Outs von der Sekundärdatenutzung bieten leider den Interpretationsspielraum von der Größe eines Scheunentors“, sagte Kastl gegenüber netzpolitik.org. „Öffentliches Interesse? Politische Entscheidungen? Es gibt nun sehr viele Ausnahmen, die am Ende alles sein können.“
Noch bemerkenswerter aber sei es, dass explizit der Schutz von geistigem Eigentum und Geschäftsgeheimnissen aufgenommen wurde, so Kastl. „Hier zeigt sich der eigentliche Kern: Der Europäische Gesundheitsdatenraum ist für die Wirtschaft gemacht, nicht für Patient:innen.“
Auch Ralf Bendrath, der als Fraktionsreferent der Grünen an den Trilog-Verhandlungen teilgenommen hat, wertet die Einigung dahingehend |als unzureichend|. Die Patientendaten würden für sekundäre Zwecke verkauft, ohne dass es ein echtes Opt-out gebe, sagt Bendrath.
Damit untergrabe die Europäische Union dringend benötigtes Vertrauen, |kritisiert Patrick Breyer|, EU-Abgeordneter der Piratenpartei. „Die EU lässt sensibelste Patientenakten anhäufen, vernetzen und weitergeben, ohne aber die Kontrolle und Selbstbestimmung der Patienten über ihre Daten sicherzustellen“, |so Breyer|. „‚Alles geht, nichts muss‘ ist kein Ansatz, dem Patienten vertrauen können. Ohne Vertrauen kann ein Europäischer Gesundheitsdatenraum nicht funktionieren.“
Vor einem Monat hatten 13 europäische Organisationen und Gewerkschaften in |einem offenen Brief ebenfalls angemahnt|, dass ein unzureichendes Widerspruchsrecht die Vertraulichkeit zwischen Behandelnden und Patient:innen sowie zentrale Grundsätze des Datenschutzes beschädigen würde. Erst wenn Patient:innen eine umfassende Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten erhalten, so das Fazit des Briefes, verdiene der Europäische Gesundheitsdatenraum auch deren Vertrauen.
Die Hoffnung der Kritiker:innen ruht nun auf der finalen Abstimmung im EU-Parlament. Ende April wird das Plenum final über den Kompromissentwurf abstimmen. „Mit viel Lärm“ könne der Entwurf dort noch scheitern, |so Ralf Bendrath|. „Aber das erfordert koordinierte Kampagnenarbeit bis dahin.“
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|Europäischen Gesundheitsdatenraum|
|Bis zur buchstäblich letzten Minute|
|zeigt sich nach der Trilog-Einigung zufrieden|
|sieht die Trilog-Einigung vor|
|Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit|
|einem offenen Brief ebenfalls angemahnt|
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Fri, 15 Mar 2024 07:48:04 +0000
Lennart Mühlenmeier
Gerade Menschen auf der Flucht brauchen Smartphones. So können sie kommunizieren und navigieren. Zwei Organisationen helfen dabei, indem sie alte Handys sammeln, aufbereiten und an die EU-Außengrenzen senden.
„Mit immer mehr repressiven Maßnahmen versucht die EU, Migration nach Europa so unattraktiv wie möglich zu machen“, sagt Maxi. Er trifft sich regelmäßig sonntags mit Alex und Connor von |resist.berlin| in einem Kreuzberger Kiezladen. Zusammen mit Sabine von der Partnerorganisation |Wir packens an| und weiteren Ehrenamtlichen sammeln sie gespendete Smartphones und bereiten diese mit Kartenmaterial und notwendigen Apps auf. Das Ziel: Menschen auf der Flucht diese Handys zu geben, um ihnen Kommunikation und Navigation zu ermöglichen.
Sabine beschreibt aus ihrer ehrenamtlichen Vereinsarbeit die Situation von Geflüchteten, die noch nicht an ihrem Ziel angekommen sind. Sie würden beispielsweise mit Autos von den Fluchthelfern irgendwo im Nichts ausgesetzt und können sich erst einmal nicht orientieren. „Diese Menschen wissen gar nicht, wo sie sind“, sagt sie. Und: „In einer solchen Situation sind Handys existenziell.“ Sie können so nachschauen, wie es weitergeht.
Doch viele Menschen auf der Flucht verlieren ihre Smartphones bereits auf der Fluchtroute. Berichte über Grenzbeamte, die diese mutwillig zerstören, häufen sich. Bei illegalen |Pushbacks wie im Balkan| treiben Polizisten und Soldaten die Menschen auf der Flucht durch Gewalt und über Landgrenzen zurück in andere Regionen. Handys werden beschlagnahmt und teils zerstört. Das EU-Antifolterkomitee |prangert diese menschenunwürdige Praxis an|.
Dabei kommen die beiden Gruppen ins Spiel. Sie haben sich vor einem Jahr bei einer Filmvorführung von The Game kennengelernt. In dem Dokumentarfilm geht es um genau diese Mechanismen der Flucht und Migration. |Im Ankündigungstext| heißt es: Der Film „zeigt schonungslos, was es heißt, wenn ein Menschenleben nichts wert ist. Und was es bewirkt, wenn einzelne das nicht hinnehmen. Sondern helfen.“
Die drei Freiwilligen von resist.berlin bekommen für Ihre Arbeit kein Geld. „Es liegt in unserer Verantwortung. Wir haben die technischen Fähigkeiten. Und es fällt uns leicht, weil wir dabei Spaß haben“, sagt Connor von resist.berlin gegenüber netzpolitik.org. „Das ist ein Beitrag, den ich gut leisten kann. Ich mache das aus politischer Überzeugung“, so Maxi.
Alex berichtet davon, was sie bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit gelernt haben. „Die Grundannahme ist immer, dass alle Handys zuvor dem Untergang geweiht waren.“ So spenden Menschen eher alte Handys, die sie nicht mehr benötigen. „Beim Upcycling geht es darum, die Lebenszeit der Hardware zu verlängern.“ Als Hauptanforderung haben sie erkannt, dass die Apps von Facebook, Whatsapp und Organic Maps funktionieren.
Leider verhindert häufig ein besonderer Diebstahlschutz von Apple-Geräten das Zurücksetzen von iPhones. Wichtig ist daher, dass die Spender:innen die Geräte vollständig und korrekt freischalten und zurücksetzen, so Alex. Sonst müsse man vorher genutzte Account-Daten eingeben, was in der Regel nicht mehr möglich ist.
Mit modernen Handys können Menschen auf der Flucht aber noch mehr als navigieren und kommunizieren. Sie können automatisch abfotografierte Dokumente übersetzen. So können Menschen auf der Flucht Kontakt zu Behörden oder Hilfsorganisationen aufnehmen, sagt Sabine.
Spender:innen können an vielen Orten in Berlin und im Umland ihre Geräte in extra präparierte Boxen werfen oder direkt an Wir packens an einsenden. Bei der aktuellen Runde kamen über hundert Geräte in zwei bis drei Monaten zusammen, schätzen die Ehrenamtlichen. Alex hat langjährige Erfahrung in der Mitentwicklung von einem freien Android-Betriebssystem. Schnell und für eine Vielzahl an unterschiedlichen Menschen an diesen Handys zu arbeiten, ist für ihn dennoch neu. In der Sprechstunde von resist.berlin ist die Beratung viel individueller.
Derzeit ist vor allem die nächste Tour von Wir packens an nach Calais in Nordfrankreich im Fokus. Ortsspezifische Karten werden heruntergeladen, um die sofortige Inbetriebnahme durch Menschen auf der Flucht zu ermöglichen. Wir packens an fährt regelmäßig mit Lkws auch an andere Orte wie die polnische Grenze nach Belarus oder auch Griechenland, um Kleidung, Hygiene- und Medizinprodukte sowie nun auch Smartphones zu Menschen in Not zu bringen.
Sabine beschreibt aus ihrer Erfahrung in der Geflüchtetenhilfe, dass das wahrgenommene Klima immer ungemütlicher wird: „Die Haltung hat sich grundsätzlich geändert.“ Was früher noch möglich war, wird schwieriger. Deswegen müsse man sich nun umso mehr einbringen: „Die Geflüchteten sollen sich hier bewusst nicht wohlfühlen.“
Maxi vergleicht dies mit der |Einführung von Bezahlkarten| für Menschen, die in Deutschland Schutz suchen. Bezahlkarten seien zwar immer noch attraktiver als das Leid, das die Geflüchteten in ihrer Heimat erleben. Aber sie sollen eine abschreckende Wirkung haben.
resist.berlin bietet auch eine regelmäßige Sprechstunde für Menschen an, die sich in Berlin aufhalten. Gerade aktivistische Gruppen kommen auf ihr Angebot zurück, um mehr über Datenschutz und IT-Sicherheit zu erfahren. Wir packens an hat seinen Sitz im Brandenburgischen Biesenthal. Beide Gruppen wünschen sich, dass mehr Menschen helfen, das Leid von Menschen zu lindern, denen es schlecht geht.
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|prangert diese menschenunwürdige Praxis an|
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Thu, 14 Mar 2024 17:36:54 +0000
Lea Binsfeld
Falsche Hinweise, irreführendes Design, untergejubelte Kredite: Wie können Konsument:innen beim Online-Einkauf vor unsicheren Praktiken geschützt werden? Anlässlich des Weltverbrauchertags klären Verbraucherzentralen über Risiken auf und fordern mehr Bewegung von der Regierung.
Seit fast einem Monat gilt EU-weit der |Digital Services Act| (DSA) für Anbieter digitaler Dienste. Verbraucherschützer:innen sowie die Bundesregierung heben anlässlich des Weltverbrauchertags am 15. März die weitere Sicherung hoher Standards hervor und möchten |Verbraucher:innen über ihre Rechte und bestehende Risiken aufklären|. Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) fordert von der Politik vor allem, Einkäufe im Netz sicherer und übersichtlicher zu gestalten – und geltende Gesetze durchzusetzen.
Ramona Pop, Vorständin des vzbv, erklärt: „Beim Online-Shopping setzen Händler auf verschiedene Maschen, um Verbraucher:innen dazu zu bringen, mehr und schneller zu kaufen – etwa durch ein bestimmtes Design oder vermeintlich günstige Preise. Auch Abzocke droht durch Fakeshops“.
Vor allem unerfahrene Nutzer:innen von Online-Plattformen wie Kinder oder Senior:innen sind gefährdet, von sogenannten |„Dark Patterns“| beeinflusst zu werden. Das erläutert ein beim Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag erschienener |Bericht|. Dark Patterns sind Tricks, die Entscheidungen der Nutzer:innen manipulieren. Darunter fallen irreführende Designelemente, Voreinstellungen oder Hinweise – beispielsweise ein falscher Countdown, der zu einem schnellen Kaufabschluss drängen soll.
Neben Dark Patterns und Fakeshops – gemeint sind damit betrügerische Händler:innen im Netz – warnt der vzbv vor dem Konzept „Buy Now, Pay Later“. Manche Shops ermöglichen es Verbraucher:innen, ihren Einkauf später zu bezahlen. Dahinter stecken meist kostenpflichtige Kreditverträge von Drittanbietern. Für die Kund:innen fallen hohe Gebühren an oder die Aufnahme vieler Kredite führt dazu, dass sie den Überblick verlieren. So können sie schnell in eine Kostenfalle geraten und sich überschulden.
Viele solcher Risiken werden durch den DSA nun reguliert. Dark Patterns sind zum Beispiel auf Plattformen wie Amazon oder Zalando nicht mehr erlaubt. Allerdings fallen unter die vom DSA erfassten Digitalanbieter nur sogenannte „Vermittlungsdienste“. Dazu zählen die zuvor genannten Online-Shops, nicht aber die Online-Angebote klassischer Händler:innen wie beispielsweise H&M oder Lidl. Für diese gelten die Vorgaben nicht.
Das sieht der vzbv kritisch, der jegliche Dark Patterns als drängende Verbraucherärgernisse betrachtet. Ein Referent des Verbands erklärt außerdem gegenüber netzpolitik.org, dass die manipulativen Taktiken nicht grundsätzlich verboten seien. Vielmehr werde der EU-Kommission aufgetragen, Leitlinien zu der Frage zu erstellen, ab wann manipulative Praktiken als Dark Patterns im Sinne des DSA zu verstehen seien.
Der Digital Services Act gibt weiterhin vor, dass Dienste Beschwerdeverfahren bereitstellen müssen, um Verstöße auf ihren Plattformen zu melden. Über eine zentrale Kontaktstelle müssen die Anbieter direkt, schnell und benutzerfreundlich erreichbar sein. Auch ist es verpflichtend, dass ein nicht-automatisiertes Kommunikationsmittel angeboten wird: Ein Chatbot reicht nicht aus. Hat ein Unternehmen keinen Sitz in der EU, muss es Vertreter:innen innerhalb der EU benennen, die mit zuständigen Behörden zusammenarbeiten.
|Personalisierte Werbung| darf nicht mehr auf sensiblen personenbezogenen Daten basieren, zu denen unter anderem Informationen über die politische Einstellung, religiöse Überzeugung oder die sexuelle Orientierung gehören. Persönliche Daten von Minderjährigen dürfen gar nicht genutzt werden, um Werbung auszuspielen. Allerdings, das hebt der vzbv hervor, dürfen all diese Daten nach wie vor verarbeitet werden, bloß die Nutzung zur Ausspielung der Werbung ist untersagt.
Grundsätzlich soll der DSA |für mehr Transparenz| sorgen. Allgemeine Geschäftsbedingungen dürfen nicht unnötig kompliziert geschrieben sein: jeder und jede sollte sie verstehen können. Entscheidungen, Inhalte zu löschen oder online zu lassen, müssen offen und einfach erklärt werden. Die Anbieter der digitalen Dienste müssen außerdem offenlegen, woher geschaltete Werbung stammt und wer sie finanziert hat. Die Systeme, auf denen Empfehlungen und Vorschläge für weitere Posts und Produkte basieren, müssen ebenfalls für die Nutzer:innen nachvollziehbar sein.
Wichtig für alle, die im Netz einkaufen möchten, sind vor allem die besonderen Pflichten für Online-Marktplätze. Anbieter solcher Plattformen müssen dank DSA sicherstellen, dass grundlegende Informationen über Händler:innen, die über den Dienst verkaufen, vorliegen und für potenzielle Kund:innen leicht zugänglich sind. Außerdem stehen die Online-Marktplätze in der Verantwortung, zum Verkauf stehende Produkte auf Rechtsverletzungen zu überprüfen.
Obwohl der DSA als Verordnung unmittelbar in der gesamten EU gilt, hatten die EU-Mitgliedsstaaten bis Mitte Februar noch einige Hausaufgaben zu erledigen, insbesondere die Klärung der Aufsichtsfrage. Die Frist hat die Bundesregierung jedoch verpasst, derzeit liegt das Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) noch im Bundestag und dürfte erst im April endgültig verabschiedet werden.
Klar ist aber inzwischen, dass hauptsächlich der |Bundesnetzagentur die Rolle der Aufsicht| zufallen wird. Diese soll sicherstellen, dass die Vorgaben des DSA eingehalten werden. Auch für die Bußgeldverfahren bei Regelverstößen ist sie zuständig. Das Bundeskriminalamt ist als zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte vorgesehen. Den Schutz von Minderjährigen im digitalen Raum werden die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz und Landesmedienanstalten überwachen.
Grundsätzlich begrüßt der vzbv die EU-Verordnung, um digitale Dienste zu regulieren. |In einer Stellungnahme|, die auf den ersten Geltungstag des europäischen DSA folgte, lobte Lina Ehrig, Leiterin des Teams Digitales und Medien beim vzbv: „Verbraucher:innen bekommen mit dem Digital Services Act nun konkret festgeschriebene Rechte, um sich gegen Hasskriminalität, Fakeshops oder den Verlust der Privatsphäre auf Plattformen zu wehren.“
Ehrig fordert jedoch, dass die Plattformen konkrete Beschwerdeverfahren bereitstellen müssten. Zudem müssten Online-Marktplätze viel genauer prüfen, was auf ihren Plattformen verkauft wird, so die Verbraucherschützerin. Zwar regelt der DSA unter anderem diese Dinge. Doch so gut viele der Vorschriften seien, stünden und fielen die Regeln mit einer funktionierenden Aufsicht und Durchsetzung, mahnt Ehrig.
Dabei macht Ehrig konkreten Verbesserungsbedarf aus: Es müsse etwa klargestellt werden, dass die Koordinierungsstelle die alleinige Vertretung Deutschlands im europäischen Gremium übernehme. Dort treffen sich regelmäßig die Aufseher:innen aus den EU-Ländern, um ihre Arbeit besser abzustimmen. Ehrig plädiert ferner dafür, die zentrale Beschwerdestelle möglichst nutzerfreundlich zu gestalten.
Bis alle Gesetze den Schutz der Verbraucher:innen garantieren, setzt der Verbraucherzentrale Bundesverband zusätzlich auf Aufklärung und Information. Die Zentralen bieten einen |Fakeshop-Finder| an und veröffentlichen regelmäßig |Artikel, die Kundenrechte einfach verständlich aufbereiten|. In einer |Folge des Podcasts „genau genommen“| teilen sie Tipps, um die Risiken beim Online-Shopping zu minimieren. Nun – pünktlich zum Weltverbrauchertag – veranstaltet der Verband |eine Reihe von Online-Vorträgen|, denen man beiwohnen kann, wenn man sich zu den Themen “Fakeshops“ und “Buy Now, Pay Later“ informieren möchte.
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Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus |jetzt mit einer Spende|.
|Verbraucher:innen über ihre Rechte und bestehende Risiken aufklären|
|Bundesnetzagentur die Rolle der Aufsicht|
|Artikel, die Kundenrechte einfach verständlich aufbereiten|
|Folge des Podcasts „genau genommen“|
|eine Reihe von Online-Vorträgen|
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Thu, 14 Mar 2024 16:02:15 +0000
Tomas Rudl
EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton will die europäischen Märkte für Telekommunikation dramatisch umbauen. Die Richtung gibt ein neues Weißbuch vor. Es schlägt unter anderem eine weitflächige Deregulierung und einmal mehr die Datenmaut vor. Wir haben uns die brisantesten Vorschläge im Detail angesehen.
Es ist eine lange und brisante Wunschliste, die EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton der nächsten Kommission überhilft. Seit Jahren drängt der französische Politiker darauf, die Regeln für Netzbetreiber radikal umzubauen, damit sich große europäische Anbieter besser auf dem Markt behaupten können. Nun hat |Breton sein Programm in ein Weißbuch| gegossen, mit einem klaren Auftrag: Nicht nur die Branche müsse sich grundlegend wandeln, um mit dem technischen Fortschritt mithalten zu können. Gleichermaßen gelte dies für die politischen Rahmenbedingungen, die den Sektor regulieren.
Hierbei kleckern die Vorschläge nicht: So sei die Zeit gekommen, heißt es in dem Papier, künftig in den meisten Fällen von der Vorabregulierung von Netzbetreibern abzurücken. Schließlich hätten sich die Probleme mit marktmächtigen Unternehmen wie der Telekom Deutschland weitgehend erledigt. Trotzdem sollen Fusionen selbst großer Anbieter einfacher möglich sein, und die ersehnten Großunternehmen sollen über Landesgrenzen hinweg bequemer Geschäfte machen können. Fehlen darf auch nicht ein Verweis auf die Datenmaut, die im Vorjahr heiß debattiert und |letztlich (vorerst) beerdigt wurde|.
Das Weißbuch, eine Folge ebenjener Debatte samt |durchwachsener öffentlicher Konsultation|, soll die langfristige Strategie für die digitale Infrastruktur in Europa abstecken. Münden sollten die Vorschläge in ein neues Gesetz, den Digital Networks Act (DNA), wie das Papier in Aussicht stellt. Darüber entscheiden wird allerdings erst die nächste EU-Kommission, die nach der anstehenden Europawahl im Sommer neu bestellt wird. Zudem läuft bis |Ende Juni eine öffentliche Konsultation zu dem Weißbuch|. Neben Folgeabschätzungen ist dies eine der Pflichten, bevor die Kommission neue Gesetzentwürfe vorstellen kann.
Allein dies wirft einige Fragen auf. Denn das Papier arbeitet sich insbesondere an den |EU-weiten Ausbauzielen der Kommission bis 2030| ab. Bis dahin soll allen EU-Bürger:innen ein Gigabit-fähiger Anschluss zur Verfügung stehen, bei einer lückenlosen Versorgung mit zumindest dem 5G-Mobilfunkstandard.
Diese Ziele seien gefährdet, warnt das Weißbuch. Auch deshalb sei nun die Überarbeitung der Regeln nötig – die freilich mit dem sogenannten |TK-Kodex erst vor Kurzem umfassend erneuert| wurden und die sich erst so langsam zu entfalten beginnen. Dennoch konstatiert die Kommission jetzt schon, dass Bestimmungen wie Ko-Invest-Modelle, die im Tausch gegen Regulierungserleichterungen für marktbeherrschende Betreiber den Glasfaserausbau ankurbeln sollen, in der Praxis nur wenig gebracht hätten.
Auch wenn sich die nächste Kommission tatsächlich für eine Überarbeitung entscheiden sollte: Ein derart umfangreiches Gesetz ließe sich nicht schnell durchpeitschen. Selbst Verhandlungen in Rekordtempo würden sich jahrelang hinziehen, hinzu kämen Übergangsfristen und sonstige Verzögerungen in der Umsetzung. Zudem sagen Branchenkenner:innen, dass viele Netzbetreiber ihre Finanzierungspläne für den Ausbau schon Jahre voraus weitgehend festgezurrt hätten. Etwaige neue Regeln würden sich deshalb bis zum Ende des Jahrzehnts vermutlich nur marginal auswirken und hätten kaum Einfluss auf das |„Digitale Dekade“-Programm der EU|.
Ein völliger Umbau des bisherigen Regulierungsregimes, inklusive der Abkehr von asymmetrischer Regulierung der Ex-Monopolisten, hätte jedoch bleibende Folgen: Ist der Markt samt Wettbewerb erst einmal beschädigt oder gar ausgeschaltet, drohen Preiserhöhungen, schlechterer Service und langfristig ein schleppender Ausbau.
Schon |nach dem letzten Vorstoß Bretons| hatte der Dachverband europäischer Verbraucherschutzorganisationen, BEUC, in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Netzbetreiberverband ECTA vor dem „Paradigmenwechsel“ gewarnt, den der großindustriefreundliche Binnenmarktkommissar in die Wege leiten will. Denn insgesamt sei die Marktliberalisierung seit den 1990er-Jahren ein Erfolgsmodell und hätte zu fairen und konkurrenzfähigen Märkten geführt.
Zusammen mit einer effektiven Vorabregulierung ehemaliger Staats-Monopolisten sei dies die treibende Kraft hinter Investitionen und positiven Innovationen gewesen. Davon profitiert hätten nicht zuletzt Kund:innen, die aus mehr Angeboten zu niedrigeren Preisen wählen könnten. Das Ziel Bretons, „ein paar glückliche europäische Champions“ zu schaffen, stehe im Widerspruch zu den Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte, |heißt es in dem Schreiben|.
Dass sich diese Sicht auch im Weißbuch wiederfindet, deutet darauf hin, wie umstritten die Pläne Bretons innerhalb der Kommission sind – das wurde schon letztes Jahr bei einem Pressegespräch mit |Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager deutlich|. Ausdrücklich verweist das Papier sogar darauf, dass im Vergleich zu den USA Festnetz- und Mobilfunkanschlüsse in der EU im Schnitt billiger wären, während sich europäische Kund:innen zugleich über eine bessere oder im Falle von 5G-Mobilfunk vergleichbare Versorgung freuen könnten.
Trotzdem wird dies der EU nachteilig ausgelegt. So beeinträchtige die Fragmentierung des EU-Marktes für Telekommunikation „die Fähigkeit der Betreiber, den Umfang zu erreichen, der für Investitionen in die Netze der Zukunft erforderlich ist, insbesondere im Hinblick auf grenzüberschreitende Dienste“, heißt es im Weißbuch.
Allerdings: Die Skaleneffekte allein, auf die das Papier wohlwollend verweist, haben in den Vereinigten Staaten offenkundig nicht den gewünschten Erfolg gebracht. In Ballungsgebieten |ist man oft einem einzigen Betreiber ausgeliefert|, während in ländlichen Regionen die Lage dermaßen desolat ist, dass die Biden-Regierung inzwischen |Milliardenbeträge ausschüttet|, um ansatzweise eine Grundversorgung herzustellen. Aus gutem Grund ergeben Umfragen immer wieder, dass der |Telekommunikationssektor in den USA zu den unbeliebtesten Märkten| zählt.
Schwer nachvollziehbar ist auch das Beispiel Südkorea an anderer Stelle. So würden koreanische Netzbetreiber mehr Umsatz pro Kund:in erzielen und hätten entsprechend mehr Investitionsausgaben als europäische Betreiber getätigt, führt das Weißbuch aus. Doch die zweifellos bessere und mittlerweile fast flächendeckende Versorgung mit Glasfaseranschlüssen bringt vielen Nutzer:innen reichlich wenig: Denn vor einigen Jahren hat das Land ein Modell für eine Datenmaut eingeführt, um Inhalteanbieter dazu zu zwingen, Zugangsgebühren an einige wenige große koreanische Netzbetreiber abzuführen.
Eingetreten ist, was |viele erwartet hatten|: Die Investitionen in den Netzausbau sind gesunken, während sich das Angebot von Online-Diensten zunehmend verschlechtert. Zuletzt hatte sich der zu Amazon gehörende Streaming-Anbieter |Twitch vollständig aus dem Markt zurückgezogen|, weil er |laut eigenen Angaben| die horrenden Kosten wirtschaftlich nicht mehr vertreten konnte – und offenbar ein undurchsichtiger Exklusiv-Deal mit einem Betreiber, den beispielsweise |Netflix nach einer jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzung| eingegangen ist, nicht infrage kam.
Doch auch dazu findet sich in Bretons Weißbuch nichts. Stattdessen betont es mit Verweisen auf |Untersuchungen europäischer Regulierungsbehörden|, wie gut die – praktisch unregulierten – Märkte für die Zusammenschaltung von Netzen (IP Interconnection) funktionieren würden: „Es sind nur sehr wenige Fälle von Eingriffen – durch eine Regulierungsbehörde oder ein Gericht – in die vertraglichen Beziehungen zwischen Marktteilnehmern bekannt, die im Allgemeinen gut funktionieren, ebenso wie die Märkte für Transit und Peering“, schreiben die Autor:innen, um unmittelbar daran anzufügen: „Dennoch gab es eine lebhafte Debatte zu diesem Thema“.
Die Debatte gab es, angestoßen hatten sie |große europäische Netzbetreiber|. Wie ihren südkoreanischen Pendants ist ihnen ein Dorn im Auge, dass vor allem Bandbreiten-intensive OTT-Anbieter (Over-The-Top-Dienste wie Netflix oder Amazon) ihre Leitungen und vor allem die letzte Meile dazu nutzen, um Inhalte zu den Nutzer:innen auszuliefern – aber aus ihrer Sicht zu wenig dafür bezahlten. Zwar hatte die erwähnte |Konsultation breiten Widerspruch gegen diesen Ansatz offenbart|, angekommen ist die Botschaft aber augenscheinlich nicht.
Hierzulande ist die Deutsche Telekom |dafür bekannt|, sich der branchenüblichen Zusammenschaltung mittels Peering oder ausreichendem Transit zu verweigern und stattdessen auf eigenen Verträgen zu bestehen. In der Regel läuft es auf ein „Friss oder stirb“ hinaus: Mal müssen Nutzer:innen mit |ruckelnden Videos| leben, mal |spezielle Aufpreise zahlen| oder mal zerrt der Betreiber Online-Dienste wie Facebook vor Gericht, um |Zahlungen für den Datentransport einzuklagen|. Oft genug ist diese Strategie erfolgreich: Allein aufgrund ihrer Marktmacht kann die Telekom die jeweilige Gegenseite effektiv dazu zwingen, sich |ihren Bedingungen zu unterwerfen|.
Als Ausweg bietet das Weißbuch eine Lösung an, die auf die Bedürfnisse der Großbetreiber zugeschnitten ist. Sollten diese europaweit raren Konflikte zunehmen, käme ein neuer Streitbeilegungsmechanismus infrage – exakt das, was die |Lobbyorganisation ETNO in einem Positionspapier gefordert| hatte.
Beobachter:innen zufolge wäre allein die Einrichtung eines solchen Mechanismus ein Riesenerfolg für die großen Netzbetreiber: Damit hätten sie einen Fuß in der Türe und könnten etwaige Vertragsverhandlungen mit Online-Diensten oder auch Interconnect-Anbietern aus beliebigen Gründen scheitern lassen, um den Mechanismus zu aktivieren. Sollte zugleich das restliche Regulierungsregime des Sektors zugunsten großer Anbieter überarbeitet werden, wie es Breton fordert, dann könne man sich ausrechnen, wie diese Auseinandersetzungen ausgehen würden, so die Sorge.
Ob und in welchem Umfang die kommende EU-Kommission die Ansätze des Weißbuchs berücksichtigen wird, bleibt vorerst offen – es ist noch nicht einmal gesichert, ob Thierry |Breton auch der künftigen Kommission angehört|. Dass sich aber etwas bewegen wird, dürfte wahrscheinlich sein, enthält das Papier doch zahlreiche weitere brisante Vorschläge, darunter eine Harmonisierung und womöglich europaweite Vergabe der Frequenznutzungsrechte für Mobilfunkbetreiber oder das heiße Eisen der Migration von Kupfer- auf Glasfasernetze.
Die Richtung, die Bretons Aufschlag nun vorgibt, bereitet jedenfalls vielen Sorgen. „Mit dem vorliegenden Weißbuch hält die Kommission unbeirrt an der Idee von Netzgebühren fest und verschreibt sich damit den Forderungen der Telekomindustrie“, sagt der Netzneutralitätsexperte Thomas Lohninger von der |Digital-NGO epicenter.works|. Eigentlich sollte die Debatte schon längst beendet sein, so der Netzaktivist, nachdem „die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten dem ehemaligen France Télécom CEO und derzeitigem Digitalkommissar Thierry Breton die Unterstützung für seinen Vorschlag verwehrt haben.“
|Abgelehnt hatten den Vorschlag| indes nicht nur Regierungen, betont Lohninger: „In einer seltenen Koalition haben sich öffentlich-rechtliche Medien, Privatmedien, Internet-Exchanges, Big Tech, Disney und Netzaktivist:innen zusammengeschlossen in ihrer Ablehnung von Netzgebühren. Die neue Strategie des Weißbuchs ist es, die nächste Kommission an die Idee dieser Internetmaut zu binden.“
Gleichermaßen kritisch sieht der Experte die Vorschläge zur Deregulierung des Telekommarktes. Eigentlich hätte die Kommission über zwei Jahrzehnte für mehr Wettbewerb gekämpft und habe damit die Preise für Internet in Europa gesenkt. „Breton schlägt eine drastische Abkehr von dieser Politik vor und wünscht sich nur noch wenige, viel größere Telekomkonzerne in Europa“.
Weniger Wettbewerb und Internetmaut hätten jedoch einen gemeinsamen Nenner, so Lohninger: höhere Preise. „In den USA sehen wir, wie teuer Internet sein kann, wenn es keinen Wettbewerb zwischen Telekomkonzernen gibt.“ Und ohnehin sei klar, wer letztlich auf den Kosten sitzen bleibt, sagt Lohninger: „Die Datenmaut wird von Netflix und Co. ebenso an die Kunden:innen weiter gegeben.“
Die Konsultation läuft bis zum 30. Juni. Teilnehmen |lässt sich online| auf der Website der Kommission, |konstruktives Feedback| ist erwünscht.
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|Breton sein Programm in ein Weißbuch|
|letztlich (vorerst) beerdigt wurde|
|durchwachsener öffentlicher Konsultation|
|Ende Juni eine öffentliche Konsultation zu dem Weißbuch|
|EU-weiten Ausbauzielen der Kommission bis 2030|
|TK-Kodex erst vor Kurzem umfassend erneuert|
|„Digitale Dekade“-Programm der EU|
|nach dem letzten Vorstoß Bretons|
|Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager deutlich|
|ist man oft einem einzigen Betreiber ausgeliefert|
|Milliardenbeträge ausschüttet|
|Telekommunikationssektor in den USA zu den unbeliebtesten Märkten|
|Twitch vollständig aus dem Markt zurückgezogen|
|Netflix nach einer jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzung|
|Untersuchungen europäischer Regulierungsbehörden|
|große europäische Netzbetreiber|
|Konsultation breiten Widerspruch gegen diesen Ansatz offenbart|
|Zahlungen für den Datentransport einzuklagen|
|ihren Bedingungen zu unterwerfen|
|Lobbyorganisation ETNO in einem Positionspapier gefordert|
|Breton auch der künftigen Kommission angehört|
|Abgelehnt hatten den Vorschlag|
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Thu, 14 Mar 2024 10:03:26 +0000
Maximilian Henning
Zuerst flog er unter dem Radar, dann sorgte er für Aufregung: ein Vorschlag der EU-Kommission für ein Gesetz, das digitale Produkte sicher machen soll. Die Open Source-Community fürchtete übermäßige Bürokratie. Die EU besserte nach, die finale Fassung enthält umfangreiche Ausnahmen.
Die Welt hat ein Problem mit der IT-Sicherheit: Es gibt immer mehr Schadsoftware und immer mehr Angriffe auf Behörden oder Unternehmen. Die Verantwortung liegt aber nicht nur bei den Angreifer:innen. Viele Anbieter von digitalen Produkten kümmern sich nicht genug um die Sicherheit, lassen ihre Produkte verwundbar oder stellen gleich gar keine Updates mehr zur Verfügung.
Im vergangenen Jahr wurden pro Monat mehr als 2.000 Schwachstellen in Software bekannt – ein Anstieg von einem Viertel im Vergleich zu Jahr davor. Das schreibt das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik in seinem |Jahresbericht| – auch wenn mehr gefundene Schwachstellen noch nichts über ihre tatsächliche Anzahl aussagen.
Gegen diese Verwundbarkeiten wollte die EU-Kommission mit ihrem Vorschlag für einen Cyber Resilience Act (CRA) vorgehen, mit einem Gesetz für die Cyber-Widerstandsfähigkeit also. Verschiedene neue Regeln sollen sicherstellen, dass Hersteller und Anbieter sich genug um ihre Hard- und Software kümmern. Wenn sie das tun, dürfen sie ihr Produkt mit dem europäischen „CE“-Label kennzeichnen und frei im europäischen Binnenmarkt verkaufen.
So weit, so gut. Gegen dieses Ziel des CRA gab es auch wenige Beschwerden – das Problem war die Umsetzung. Bald nachdem die Kommission ihren Entwurf für das Gesetz veröffentlicht hatte, machte eine Gruppe an Organisationen ihrem Unmut darüber in |einem offenen Brief| Luft. Zu den Unterzeichnern gehörten etwa die Linux Foundation Europe, die Open Source Business Alliance und andere Verbände und Initiativen aus dem Open-Source-Bereich.
Man teile das Ziel des CRA, schrieben die Organisationen darin. Aber wenn das Gesetz in seiner damaligen Form verabschiedet würde, dann könnte es eine abschreckende Wirkung auf die globale Open Source-Entwicklung haben. Parlament und Rat, die die endgültige Version von EU-Gesetzen untereinander verhandeln, sollten deshalb die Open-Source-Community besser in den Prozess miteinbeziehen.
Die Eclipse Foundation beschrieb |in einem Blogpost| genauer, welche Gefahren sie in dem Entwurf sah. Der CRA könnte „das soziale Abkommen, auf dem das gesamte Open Source-Ökosystem beruht, grundlegend verändern“, heißt es darin. Die Befürchtung: Auf die Organisation und ihre Community könnte ein gewaltiger bürokratischer Aufwand zukommen.
Diese Befürchtungen teilten Open-Source-Entwickler:innen und -Organisationen auch mit den EU-Institutionen, etwa bei der |FOSDEM-Konferenz| in Brüssel. Und die hörten zu. Der fertige Text des CRA enthält Ausnahmen, mit denen nur noch sehr wenige Open-Source-Projekte überhaupt unter seine Regeln fallen dürften. Der Entwickler Bert Hubert hat |auf seinem Blog| eine Übersicht dazu veröffentlicht.
Diese Ausnahmen stehen in den Erwägungsgründen, die in EU-Gesetzen vor dem eigentlichen Gesetzestext stehen. Die vielleicht wichtigste Klarstellung: Wer zu einem Open-Source-Projekt beiträgt, aber nicht dafür verantwortlich ist, fällt nicht unter den CRA. Eine einzelne Entwicklerin, die in ihrer Freizeit an einer freien und quelloffenen Software mitarbeitet, hat also nichts zu befürchten.
Auch Organisationen, die für Projekte verantwortlich sind, sind nur betroffen, wenn die Software „im Rahmen einer Geschäftstätigkeit verfügbar gemacht wird“. Wer also ein Open-Source-Projekt entwickelt und dafür kein Geld bekommt, wird ebenfalls keine Probleme bekommen. Auch eingenommene Spenden gelten explizit nicht als Geschäftstätigkeit, solange mit ihnen kein Profit gemacht werden soll. Gemeinnützige Organisationen können auch auf andere Weise Geld mit ihren Projekten machen, solange sie sicherstellen, dass alle Einnahmen für gemeinnützige Zwecke verwendet werden.
Neben diesen Ausnahmen gibt es einen Punkt, in dem der CRA definitiv eine Veränderung für Open-Source-Projekte bedeuten wird. Das sind die sogenannten „Verwalter“, auf Englisch „Stewards“, von Open-Source-Projekten. Das sind Organisationen, die in einem geschäftlichen Rahmen Open-Source-Software entwickeln. Für sie sieht das Gesetz wesentlich sanftere Verpflichtungen vor als für Entwickler:innen von Nicht-Open-Source-Software, so sind sie etwa vollständig von Geldstrafen ausgenommen. Dafür dürfen sie allerdings auch nicht die „CE“-Markierung verwenden.
Die Verwalter müssen für ihre Produkte eine Cybersicherheitsstrategie entwickeln. Die sollte die Dokumentation und die Beseitigung von Schwachstellen behandeln und den Austausch von Informationen über Schwachstellen fördern. Außerdem müssen sie mit den für den CRA zuständigen Behörden zusammenarbeiten, um Sicherheitsrisiken zu mindern. Wenn sie erfahren, dass eine Sicherheitslücke in ihrer Software ausgenutzt wird, müssen sie das an Aufsichtsbehörden und Nutzer:innen melden.
Um die Sicherheit von Open-Source-Software zu verbessern, bevor es einen Zwischenfall gibt, sieht der CRA optionale Sicherheitsbescheinigungen vor. Wie genau diese aussehen sollen, muss die Kommission noch festlegen. Der Grundgedanke ist aber, dass diese Bescheinigungen übersichtlicher machen sollen, ob eine Software allen Sorgfaltspflichten entspricht. Nicht nur Entwickler:innen sollen diese Bescheinigungen zu organisieren – und zu bezahlen – sondern auch nutzende Unternehmen oder Behörden. Die könnten so auch zur Sicherheit des Open-Source-Ökosystems beitragen.
Die Gruppe an Organisationen, die am Anfang noch so skeptisch war, zeigte sich mit den Änderungen zufrieden. „Wir freuen uns, zu berichten, dass man auf die Open-Source-Community gehört hat“, schrieb die Eclipse Foundation im Dezember |in einem weiteren Blogpost|. Die Ausnahmen seien merklich verbessert worden, die Rolle des Verwalters würde die Arbeit von Open-Source-Organisationen anerkennen.
Aber dennoch: Wird der CRA negative Auswirkungen auf den Open-Source-Standort Europa haben? Der Frage stellte sich auch Benjamin Bögel |bei der diesjährigen FOSDEM-Konferenz|. Bögel ist bei der EU-Kommission für Produktsicherheit und den CRA zuständig. „Ich glaube nicht, dass es durch den CRA einen abschreckenden Effekt auf Open Source geben wird“, sagte er in Brüssel zu Open-Source-Entwickler:innen. Wer sichergehen wolle, dass der Übergang zu den neuen Regeln sanft verlaufe, solle bitte Kontakt aufnehmen.
Das Europäische Parlament hat dem CRA am Dienstag zugestimmt. Nun müssen die Mitgliedstaaten das Gesetz noch einmal abnicken, was normalerweise eine Formalität ist.
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|bei der diesjährigen FOSDEM-Konferenz|
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Thu, 14 Mar 2024 06:39:21 +0000
Markus Beckedahl
Was ich in den letzten 20 Jahren lernen durfte und nun auf neue Wege mitnehme. Der vorerst letzte Text von Markus Beckedahl auf netzpolitik.org.
Vor etwa 20 Jahren habe ich netzpolitik.org gegründet, weil ich leidenschaftlich daran glaube, dass eine bessere digitale Welt möglich ist und wir dafür kämpfen müssen.
Als ich 2003 startete, befanden wir uns in den ersten Anfängen der Blogosphäre. Wir vernetzten uns über Verlinkungen. Die großen Plattformen wie heute gab es noch nicht. Ich kam aus dem Aktivismus und sah meine Rolle darin, Knotenpunkte in einer neuen vernetzten Öffentlichkeit zu schaffen, über diese Informationen zu teilen, und so mehr Menschen für den Erhalt und Ausbau von digitalen Grundrechten zu mobilisieren und zu demokratischem Engagement zu bewegen.
Diese Zeit bot große Möglichkeiten für alle, die wie ich mit einer Faszination für Medien aufgewachsen waren: Wir konnten auf einmal publizieren, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Wir konnten uns das Wissen dazu selbst erarbeiten – mit der richtigen Motivation und einem Verständnis für Technik.
Die Werte der Open-Source-Welt verschafften mir eine andere journalistische Perspektive darauf, was in unserem gesellschaftlichen Umgang (und Diskurs) mit Technik möglich ist: eine offene, vernetzte und kollaborative Netzpolitik – sowohl inhaltlich als auch in der praktischen Anwendung. Diese Werte haben auch unsere Arbeit hier konsequent geprägt: So war es mir zum Beispiel später wichtig, dass wir so transparent wie möglich bei der Finanzierung sind.
Ich hatte das Privileg und das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und dabei die Entwicklung eines neuen Politikfeldes und die Entwicklungen unzähliger Debatten hautnah beobachten und mitprägen zu können.
Bereits Ende der 90er gab es diverse Überwachungsdebatten, die digitale Verwaltung wurde schon versprochen und bald sollte es Breitbandinternet für alle geben. Seitdem komme ich mir häufig wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“ vor. Von Glasfaser träume ich immer noch und die digitale Verwaltung kenne ich eigentlich nur aus der Terminvergabe in Berlin.
Ich muss manchmal schmunzeln, wenn ich daran denke, dass zu den Anfängen von Netzpolitik für das Internet mitverantwortliche Spitzenpolitiker:innen |nicht wussten, was ein Browser ist|; dachten, das Internet| funktioniere so wie eine Telefonanlage| und sich auch gerne |vor laufenden Kameras darüber freuten|, dass ihre Assistent:innen das Internet für sie bedienen (und ausdrucken) konnten.
Wir Netzbewohner:innen waren die „Internet-Freaks“, die man belächelte und mit denen man lange nichts zu tun haben wollte. Viele hofften viel zu lange, das Netz werde als „Trend“ schnell wieder verschwinden. Die meisten haben dann doch noch den Aufbruch dorthin geschafft.
Viele Debatten haben sich seitdem verändert oder sind verschwunden. Wer erinnert sich noch an „Raubkopierer sind Verbrecher“ und bizarre Forderungen, wie die danach, Menschen das Internet wegen Filesharing wegzunehmen? Legale funktionierende Alternativen, wie wir sie heute mit Spotify, Netflix und Co. haben, gab es damals noch nicht. Computerspiele waren früher „die Killerspiele“ – sie gelten mittlerweile als Kulturgut. Die Netzneutralität haben wir in andauernden Kämpfen schützen können, müssen aber immer noch wachsam sein.
Andere Debatten wie die Vorratsdatenspeicherung sind immer geblieben oder tauchen wie Zombies regelmäßig wieder auf. Digitale Vernetzung und die Möglichkeit von Datensammlungen haben schon immer die Phantasie aller Innenpolitiker:innen angeregt. Was technisch möglich ist, weckt Begehrlichkeiten der Überwachung. Vor allem, wenn es kaum Debatten darum gibt und große Teile der Gesellschaft die Auswirkungen technisch und rechtlich nicht verstehen. Ich werde mich immer dafür einsetzen, einen Ausbau von Überwachung konsequent zu bekämpfen – dort, wo sie rote Linien überschreitet und unsere Grundrechte und damit unsere Freiheit gefährdet.
Geändert hat sich vor allem die Infrastruktur. Die Träume von Dezentralität, Offenheit, Demokratie und Freiheit sind der Realität der Plattformökonomie mit ihren Lock-In-Effekten und Skaleneffekten zum Opfer gefallen. Was mir häufig den Schlaf raubt, sind Fragestellungen, wie wir trotz der Dominanz weniger Unternehmen, die unsere Kommunikationsinfrastrukturen kontrollieren, gemeinwohlorientierte Alternativen schaffen und ausbauen können. Welche Rahmenbedingungen sind dafür notwendig und wie kommen wir dahin?
Letztendlich geht es immer um Machtfragen und darum, wie wir unter veränderten Rahmenbedingungen Demokratie erhalten und ausbauen können.
In den letzten 20 Jahren meines Lebens war netzpolitik.org eng mit meiner Identität verbunden. Nach derzeitigem Stand habe ich nun mindestens weitere 20 Jahre bis zur Rente. Ich finde, dies ist ein guter Zeitpunkt für mich, etwas Neues zu erleben und zu gestalten – und die nächste Netzpolitik-Generation ihre eigenen Impulse setzen zu lassen.
Ich möchte zunächst Raum für Experimente und neue Kollaborationen schaffen, denn ich bin überzeugt, dass wir im Kampf für eine bessere digitale Welt jetzt ganz neue Ansätze und Partnerschaften brauchen. Welche Allianzen sollten wir als digitale Zivilgesellschaft jetzt schmieden, welche Brücken in die Gesellschaft jetzt bauen oder erweitern, damit wir gesellschaftliche Mehrheiten und die richtigen rechtlichen und medialen Rahmenbedingungen für eine lebenswerte digitale Welt schaffen können? Wie können wir unsere Anliegen noch besser kommunizieren, um mehr Menschen zu erreichen? Das werden meine Leitfragen sein.
Einen Teil meiner Zeit werde ich weiterhin |für die re:publica| einsetzen und sie als einen zentralen Ort für die Debatte über die digitale Gesellschaft ausbauen. Für die nächste Ausgabe Ende Mai kuratieren wir unter dem Motto „Who Cares“ wieder ein riesiges Programm mit vielfältigen Fragestellungen und Perspektiven auf den Bühnen der Station Berlin.
Weil mich umtreibt, wie sich unser Journalismus weiterentwickeln und verlorenes Vertrauen in Zeiten zunehmender Polarisierung zurückgewinnen kann, entwickle und kuratiere ich zusammen mit dem Bonn Institut für konstruktiven Journalismus seit dem vergangenen Jahr das „|b future festival für Journalismus und konstruktiven Dialog |“ in meiner alten Heimatstadt. Anfang Oktober findet die zweite Ausgabe statt und bringt eine große Community an Menschen zusammen, die Journalismus neu denken und praktizieren wollen.
Um an die Leichtigkeit und Freiheit des Bloggens und Kommentierens von früher kreativ anschließen zu können, werde ich einen Newsletter starten, |für den Ihr Euch hier eintragen könnt|. Und ich habe Ideen für verschiedene Podcast-Formate, zu denen ich bisher nicht kam und die ich endlich umsetzen will.
Meine Erfahrungen und mein Wissen werde ich weiterhin in Form von Vorträgen, Beratung und Workshops weitergeben. Aber vor allem möchte ich Neues wagen und freue mich auf spannende Angebote und Ideen.
Beim Einloggen in unser Redaktionssystem sehe ich noch meine 11.000 Texte, ich kann sie aber nicht mehr editieren. Nach 20 Jahren ist mein Herausgeberstatus mit den Redakteursrechten weg. So ist das, wenn man geht. Das hier ist erstmal mein letzter Text auf netzpolitik.org.
Wenn ich jetzt auf meinen Screen sehe, fühle ich einen Hauch Wehmut, denn netzpolitik.org war ein Traum, eine Gemeinschaft und ein Riesenspaß. All das wird mir fehlen. Ich fühle auch: Stolz – auf all das, was wir gemeinsam errungen und geschaffen haben. Und Aufbruchsstimmung: netzpolitik.org hat mich mutiger und stärker gemacht. Diesen Mut trage ich dankbar in meine neuen Projekte.
Deshalb möchte ich vor allem DANKE sagen: Ich konnte all dies auch nur machen, weil ich von vielen Menschen lernen konnte, ihr mich unterstützt habt und wir in Zusammenarbeit Berge versetzt haben. Manche von euch haben mitgebloggt und wurden später fester Teil der Redaktion. Andere haben uns als Praktikant:innen unendlich viel Arbeit abgenommen und sind in der Auseinandersetzung mit komplexen Themen als Journalist:innen beeindruckend gewachsen.
Meine Teammitglieder im Hintergrund mit den wichtigen Jobs der IT-Administrierung und Buchhaltung/Bürokratie haben mir so häufig den Rücken freigehalten. So viele von euch haben uns mit Reichweite, Ideen oder Geld unterstützt. Ohne viele Hinweisgeber:innen hätten wir nicht so viel berichten können und Jurist:innen haben uns bei vielen kleinen und größeren Konflikten beraten. Und unter anderem dafür gesorgt, dass Andre und ich nicht wegen Landesverrat im Gefängnis sitzen. Ohne euch wäre netzpolitik.org nicht das, was es heute ist. Ich danke euch von Herzen.
Ich bin nicht weg. |Ich bin nur woanders.|
Eine bessere digitale Welt ist immer noch möglich. Wir müssen dafür kämpfen.
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Thu, 14 Mar 2024 06:39:03 +0000
netzpolitik.org
Markus Beckedahl verlässt netzpolitik.org, zwei Jahre nach der Übergabe an das neue Chefredaktionsteam. Er wird sich in Zukunft anderen Aufgaben widmen. Zeit für einen Rückblick auf bewegte Jahre.
Wenn wir an Markus Beckedahl bei netzpolitik.org denken, fällt uns eines sofort ein: Das schallende Lachen, das durch die Redaktionsräume dringt. Diese diebische Freude, wenn irgendjemand mal wieder netzpolitischen Quatsch erzählt hatte oder sich die Chance für einen guten Artikel, für Agenda-Setting und Kampagne ergab.
Jetzt verlässt Markus das journalistische Kanonenboot netzpolitik.org, gut zwei Jahre nach der Staffelübergabe an das neue Chefredaktionsteam. Markus wird sich in Zukunft anderen Aufgaben widmen.
Wir wollen deshalb Danke sagen für zwei Jahrzehnte unermüdlichen Einsatz für digitale Grund- und Freiheitsrechte. Danke fürs Aufmischen der Netzpolitik- und Bürgerrechtsszene. Danke für das Vordenken von aktivistischem Journalismus an der Schnittstelle zur Zivilgesellschaft. Danke für scharfe Kritik an netzpolitischem Bullshit. Danke fürs Gründen von netzpolitik.org. Danke für gute Gespräche und Inspirationen. Danke für lange Nächte und jede Menge Spaß am Gerät.
Ein Rückblick auf Markus‘ Schaffen ist immer auch ein Rückblick auf die Geschichte des Politikfelds Netzpolitik, die mit niemandem in Deutschland so verwoben ist wie mit ihm. Markus hat Netzpolitik gemacht, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Und er hat netzpolitik.org von einem Hobbyprojekt und Ein-Mann-Blog mit Gespür und zusammen mit einem immer größer werdenden Team zu einer professionellen und vielfach preisgekrönten Redaktion entwickelt.
Seine Anfänge nahm netzpolitik.org in einer Zeit, als soziale Medien und Online-Journalismus noch in den Kinderschuhen steckten. Die noch junge Blogosphäre blühte auf. Markus startete das Blog netzpolitik.org als Ersatz für eine Mailingliste und teilte Links zum Thema Internet und Politik. netzpolitik.org wurde schnell zu einem wichtigen Knotenpunkt der Blogosphäre in der zivilgesellschaftlichen Debatte um die Gestaltung des Internets.
Aus den Blogger:innen und ihrer Community wurde die „Netzgemeinde“. Das ganze atmete die Luft von demokratischem Aufbruch, vom Ende der medialen Einbahnstraße und machte unglaublich Spaß. Diese Blogosphäre wurde plötzlich ein politisch sichtbares Element in der Medienlandschaft. Eine agile und schnelle digitale Szene nahm Einfluss auf Debatten.
Und mittendrin Markus mit netzpolitik.org, einem der Leitmedien dieser Blogosphäre. Mit der re:publica, die Markus mit anderen als Blogger-Konferenz gründete, gab er der jungen Szene ein jährliches Klassentreffen.
In der ersten Zeit prägten neben der Überwachung durch die Vorratsdatenspeicherung vor allem auch Debatten um freie Software, Software-Patente und Urheberrechte die Inhalte im Blog. Bei netzpolitik.org war von Anfang an klar: Es geht um digitale Freiheitsrechte. Um den Kampf für die Rechte der Menschen im Internet und darüber hinaus.
Ein geflügeltes Wort von Markus ist bis heute das „Knöpfe drücken“. Dieses Knöpfe drücken war erst ein Ausprobieren, wie mediale Mechanismen funktionieren – vom Blog über Twitter bis zur Tagesschau. Mit der großen Expertise zu allen netzpolitischen Themen und einer fetten Community im Hintergrund war einiges möglich.
netzpolitik.org prägte den Diskurs mit und war immer schnell mit einer fachkundigen Position im Netz. Diese Form des Agenda-Settings hat Markus optimiert.
Knöpfe drücken, das hieß auch zu schauen, wie sich netzpolitik.org gegen die Großen wehren konnte: Gegen die Deutsche Bahn zum Beispiel, die das Blog abmahnte – und dann verdutzt den Kürzeren zog.
Knöpfe drücken, das war auch: Wir tun hier etwas und woanders passiert etwas. Woanders haben sie Respekt und Furcht vor der Berichterstattung, die immer auch gleich eine ganze Meute von gut informierten Leser:innen hinter sich herzog, die ihre digitalen Rechte lautstark einforderten.
Knöpfe drücken, das hieß: Viel ausprobieren. Sind wir als Blogger:innen eigentlich Journalist:innen und können uns als solche akkreditieren? Was heute ganz selbstverständlich erscheint, war ein Kampf um neue Formen des Journalismus, für die Markus immer mit großer Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein eingetreten ist.
Überhaupt sah Markus den Journalismus immer auch als Experimentierfeld für neue Formate. Nicht nur gab es bei netzpolitik.org schon Podcasts, als diese noch kaum jemand kannte.
Durch das Bloggen entwickelte sich ein ganz anderes Verständnis von Journalismus: Natürlich werden alle Quellen referenziert und alles verlinkt, was zum tieferen Verständnis beiträgt. Natürlich können Menschen auf andere Webseiten geleitet werden, natürlich werden Dokumente veröffentlicht. Leser:innen sind ebenbürtig und gleichberechtigt im Informationsinteresse – kein Klickvieh, das man leiten muss und dem man die Informationen, die einem vorliegen, scheibchenweise verkauft.
Natürlich werden die Inhalte kostenlos und unter einer freien Lizenz veröffentlicht. Es geht immer auch um die Freiheit der Information und eine Orientierung am Gemeinwohl.
Dieses Verständnis eines offenlegenden Journalismus prägt die Redaktion bis heute sehr stark. Wir wundern uns noch immer, dass er sich nicht breit durchsetzt und die Mechanismen, die schon in der Blogosphäre an den „Qualitätsmedien“ kritisiert wurden, immer noch bestehen.
Auch ein anderes Selbstverständnis von Journalismus beflügelte Markus in seinem Wirken: Wie die Blogosphäre stellte er vermeintliche Objektivität und Neutralität in Frage, die andere Medien wie eine Monstranz vor sich hertragen. Natürlich darf man sich mit einer guten Sache gemein machen, wenn die Fakten stimmen. Die Leser:innen sollen wissen, wo ein Medium und Journalist:innen stehen, weil es einfach ehrlicher ist. Diese neue Spielart des Journalismus, über die bis heute gestritten wird, hat Markus publizistisch vorangetrieben.
Gleichzeitig war Markus immer auch auf der Suche nach Geschäftsmodellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für diesen neuen, gemeinwohlorientierten Journalismus. So entstand nicht nur das Modell netzpolitik.org, bei dem freiwillige Spenden die freien Inhalte für alle sichern, sondern auch ein Verband, der sich dafür einsetzt, dass gemeinwohlorientierter Journalismus endlich gemeinnützig wird.
Markus hat eine einmalige Expertise zu netzpolitischen Themen. Er kann jede spontane Medienanfrage zu irgendeinem Internet-Thema einfach aus dem Stegreif auch nach drei Stunden Schlaf sprechfähig und erklärbärig genug im Fernsehen beantworten. Ob in seinem Hinterhof oder im Urlaub sonstwo auf der Welt.
Markus‘ Gespür für Themen und Stimmungen der vernetzten Öffentlichkeit ist legendär. Das war immer seine große Stärke als Chefredakteur. Als „political animal“ hat er das Wissen und den richtigen Riecher, welche Themen groß werden, welche Wege Debatten gehen und an welcher Stelle man reingrätschen muss, damit Freiheits- und Grundrechte verteidigt werden können.
Sein Gespür für Themen war einerseits langfristig. Markus war immer klar, welches netzpolitische Thema aus Brüssel wichtig werden würde. Auf der anderen Seite wusste er vorher Bescheid, welches Thema der Aufreger der Woche wird. So konnte er mit einer schnellen und bissigen Intervention im Blog oder auf Twitter Einfluss nehmen.
Überhaupt: Twitter. Über viele Jahre war Markus mit diesem quasi verwachsen, auf mehreren Monitoren lief der Nachrichtenstream. Hier ging keine netzpolitisch relevante Information vorbei, keine Debatte blieb liegen. Vom Smartphone und dem beständigen Draufschauen, das er nicht lassen konnte, kann die Redaktion ein Lied singen.
Markus hat zusammen mit der wachsenden Redaktion und mit vielen anderen Mitstreiter:innen die wichtigsten netzpolitischen Kämpfe geprägt. Zentral sicherlich die Vorratsdatenspeicherung, die in den 2000er Jahren mit den „Freiheit statt Angst“-Demos Zehntausende auf die Straßen brachte. Bis heute berichtet netzpolitik.org eng an diesem Thema, das einfach nicht mehr weggeht.
Aber nicht nur diese anlasslose Überwachung, sondern auch Zensurbestrebungen jeder Art wehrte netzpolitik.org ab. Bedeutend hier auch der Kampf gegen „Zensursula“ 2009 und ihre Netzsperren, den das dann schon gewachsene netzpolitik.org leidenschaftlich führte.
Auch sperrige Themen wie das ACTA-Abkommen 2012 machte netzpolitik.org groß und trug zur Mobilisierung tausender Menschen auf den Straßen bei. Bei Kämpfen um das Urheberrecht war Markus immer auf der Seite der Nutzer:innen und des freien Internets. Auch 2019, als die EU erneut das Urheberrecht verschärften wollte und plötzlich wieder Zehntausende auf die Straße gingen.
Und dann waren da natürlich die Snowden-Enthüllungen, die ab 2013 belegten, was viele lange gefürchtet hatten: Massenüberwachung unserer Kommunikation durch westliche Geheimdienste. Allen voran natürlich von USA und Großbritannien, doch auch die deutschen Geheimdienste mischten mit. Die Nachwirkungen des Skandals begleitete netzpolitik.org so eng wie kaum ein anderes Medium: Welche andere Redaktion wäre so verrückt, jede Sitzung des NSA-Untersuchungsausschusses in einem Live-Blog zu dokumentieren? Welcher Chefredakteur hätte das jemals erlaubt?
Wie ein Ritterschlag sind im Nachhinein die Ermittlungen gegen Markus Beckedahl und Andre Meister wegen Landesverrats im Jahr 2015 zu sehen. Sie machten netzpolitik.org auch über die deutsche Netzgemeinde hinaus bekannt. Die solidarischen Spenden erlaubten den Ausbau der Redaktion. Wo der mittlerweile rechtsradikal abgebogene frühere Verfassungsschutzchef ein missliebiges Medium attackieren wollte, wurde dieses einfach nur größer und personalstärker durch diesen Angriff auf die Pressefreiheit.
Tatsächlich ist die Landesverratsaffäre gleich in doppelter Hinsicht ein Wendepunkt in der Geschichte von netzpolitik.org, der unser Medium bis heute prägt: Die öffentliche Debatte stellte ein für alle mal klar, dass Blogger:innen Journalist:innen sein können, mit den gleichen Rechten und Pflichten. Und die unglaubliche Unterstützung auf dem Spendenkonto stellte die Weichen dafür, dass wir die Redaktion ausbauen konnten.
Und so wurde das Projekt über die Jahre von Markus‘ Blog, von seinem „Baby“ zum gemeinsamen „Kind“ einer ganzen selbstverwalteten Redaktion, die gemeinsam die Geschicke in die Hand nahm und das Medium zusammen mit Markus prägte. Ein Prozess, der nicht immer einfach war, bei dem aber alle immer das große Ganze im Auge behielten: den Kampf für die Grund- und Freiheitsrechte.
Die große Stärke an gründerbasierten Organisationen ist die Kraft, die eine mobilisierende und vernetzte Person einbringt. Zugleich ist das oftmals auch das große Problem solcher Organisationen, weil sie nur schwer Übergang finden zu einer Kontinuität, die auch ohne den großen Gründer auskommt.
Netzpolitik.org hat diesen Übergang erfolgreich geschafft. Es wäre unehrlich, wenn wir sagen würden, es habe dabei keine Schmerzen und Konflikte gegeben. Die gab es, sie gehören dazu.
Nun also der Abschied. Markus wird seine Energie, seine Kompetenz und Tatkraft, seinen Ideenreichtum und seinen politischen Spürsinn jetzt an anderer Stelle einsetzen. Wir wünschen ihm auf diesem Weg alles erdenklich Gute und sind schon sehr gespannt, wo und wie er das „Knöpfe drücken“ weiterentwickelt.
Für die Zukunft von netzpolitik.org heißt das, dass wir das, was Markus hier mit seinem kleinen Blog angefangen hat, nun weiterführen in der Tradition und mit den Werten, die dieses Projekt schon seit jeher hatte. In der Redaktion ist allen bewusst, dass es netzpolitik.org ohne Markus nie gegeben hätte und was für ein einzigartiges journalistisches Projekt er für den Themenbereich Netzpolitik sowie Grund- und Freiheitsrechte ins Leben gerufen hat. Das wird weiterleben, auch wenn sein Lachen nicht mehr durch die Redaktionsräume schallt.
Danke, Markus! Wir sehen uns.
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Wed, 13 Mar 2024 18:45:04 +0000
Constanze
Kenianische Arbeitnehmer säubern für weniger als zwei US-Dollar pro Stunde Trainingsdaten für Unternehmen wie OpenAI. Das hat sich nicht verbessert, seit es vor einem Jahr publik wurde. Mophat Okinyi, Menschenrechtsaktivist und Gewerkschafter, beklagt im Interview katastrophale Arbeitsbedingungen trotz Milliardenumsätzen der westlichen Unternehmen.
Etwa ein Jahr ist es her, als |Time Magazine aufdeckte|, dass OpenAI kenianische Arbeiter für weniger als zwei Dollar pro Stunde anmietete, um das eigene Glamourprodukt ChatGPT etwas weniger toxisch erscheinen zu lassen. Bevor die populären Chatbots im letzten Jahr auf das hocherregte Publikum losgelassen wurden, mussten sich also Menschen in Kenia jeden Tag stundenlang damit beschäftigen, widerwärtigste Inhalte händisch aus dem Trainingsmaterial zu entfernen.
Die Aufgabe der Beschäftigten hatte seit November 2021 darin bestanden, Textfragmente auf gefährliche oder schädliche Inhalte hin durchzusehen und je nach Ergebnis zu markieren, |um ChatGPT dadurch zu optimieren|. Die Vergütung dafür war so gering, dass von einer Kompensation kaum gesprochen werden kann. Hinzu kamen schlimmste Arbeitsbedingungen.
Wir wollten wissen, wie die Arbeitsbedingungen heute in Kenia sind. Die Technologiezentren in der Nähe von Kenias Hauptstadt Nairobi werden Silicon Savannah genannt, ein Wortspiel, das an das Silicon Valley in den Vereinigten Staaten erinnert, aber die afrikanische Savanne mit aufnimmt. Hat sich für die Beschäftigten dort etwas zum Positiven verändert?
Mophat Okinyi aus Nairobi war einer der Content-Moderatoren, welche ChatGPT trainiert haben. Er ist Menschenrechtsaktivist, Gewerkschafter und setzt sich für die faire Behandlung und die Rechte von Tech-Mitarbeitern und Datentrainern ein. Zugleich ist er Gründer und Geschäftsführer der Techworker Community Africa, die Tech-Worker befähigt, informiert und unterstützt und dafür sorgt, dass ihre Rechte geschützt werden. Er berichtet morgen auf den |Cyberfestspielen| am Bodensee über digitalen Kolonialismus, die Arbeitsbedingungen in Kenia und die Geschäftspraktiken der Tech-Konzerne. Wir haben ihn zu den aktuellen Bedingungen der Datenarbeiter in Kenia gefragt.
netzpolitik.org: Wie viele kenianische Arbeitnehmer sind aktuell für westliche Unternehmen wie OpenAI tätig, um Dienste wie ChatGPT zu säubern?
Mophat Okinyi: Mir liegen zwar keine Echtzeitdaten über die Zahl der kenianischen Arbeitnehmer vor, die derzeit von westlichen Unternehmen wie OpenAI für Aufgaben der Inhaltsmoderation beschäftigt werden. Ich weiß jedoch, dass es eine signifikante Anzahl von solchen Arbeitskräften gibt, da große Tech-Unternehmen wie Meta und ByteDance und andere ihre Inhaltemoderations- und/oder Datenetikettierungsaufgaben hier in Kenia von Unternehmen wie Teleperformance und Samasource und anderen Outsourcing-Unternehmen erledigen lassen.
netzpolitik.org: Was denken Sie, wenn Sie das verbreitete Mantra lesen, dass durch KI alles automatisiert werde?
Mophat Okinyi: Die Vorstellung, dass KI alles automatisiert, vereinfacht die Situation zu sehr. KI kann bei vielen Aufgaben unglaublich intelligent und effizient sein, es fehlt ihr aber an menschlichem Urteilsvermögen und kontextbezogenem Verständnis. Diese Einschränkung bedeutet, dass die Automatisierung allein noch nicht mit der Komplexität und den Nuancen der menschlichen Intelligenz mithalten kann.
Meine größte Sorge ist, dass der momentan notwendige menschliche Input oft auf ausbeuterische und unmenschliche Weise gewonnen wird, besonders in Regionen wie Silicon Savannah hier in Kenia. Der Rückgriff auf menschliche Arbeitskraft zum Training und zur Verfeinerung von KI-Systemen sollte nicht auf Kosten einer fairen Behandlung und grundlegender Menschenrechte gehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese ethischen Überlegungen anzusprechen, um sicherzustellen, dass der Fortschritt der KI der Menschheit zugute kommt, ohne die Würde und das Wohlergehen der an ihrer Entwicklung Beteiligten zu opfern.
netzpolitik.org: Wie werden die kenianischen Arbeitnehmer heute bezahlt? Wie sind jetzt die Arbeitsbedingungen?
Mophat Okinyi: Die Arbeitsbedingungen sind sehr erbärmlich, und die Arbeitnehmer haben nicht die Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Sie erhalten oft Kurzzeitverträge von drei Monaten oder weniger, was dazu dient, ihre freie Meinungsäußerung zu unterdrücken und ihre Möglichkeiten einzuschränken, sich für bessere Bedingungen einzusetzen.
Viele dieser Beschäftigten werden weiter als Wegwerfarbeiter eingesetzt. Die Löhne sind außerordentlich niedrig. Bevor meine Kollegen und ich auf die Ausbeutung der Beschäftigten aufmerksam machten, bekamen diese Arbeiter 21.000 Kenia-Shilling (KES) pro Monat, was etwa 0,94 US-Dollar pro Stunde entspricht. Nach der Sensibilisierung der Öffentlichkeit erhöhte das Unternehmen Samasource den Grundlohn auf KES 27.000, was einem Stundenlohn von 1,21 US-Dollar entspricht. Trotz dieser Erhöhung reichen die Löhne nach wie vor nicht aus, um einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten, was die dringende Notwendigkeit weiterer Verbesserungen bei der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen verdeutlicht.
netzpolitik.org: Manche Menschen im Westen sagen, dass zwei US-Dollar pro Stunde in einem Land wie Kenia viel Geld sind. Was sagen Sie solchen Leuten?
Mophat Okinyi: Diese Beschäftigten bekommen umgerechnet weniger als zwei US-Dollar. Auch wenn zwei US-Dollar pro Stunde in bestimmten Kontexten als beträchtlicher Betrag erscheinen mag, ist es wichtig, die Lebenshaltungskosten und die vorherrschenden wirtschaftlichen Bedingungen in Kenia zu berücksichtigen. Solche Löhne bieten möglicherweise keinen ausreichenden Lebensstandard und entschädigen die Arbeiter nicht angemessen für die Aufgaben und Herausforderungen, denen sie ausgesetzt sind.
Wäre die Entlohnung ausreichend, könnten sich die meisten dieser Beschäftigten das Nötigste leisten, etwa Essen am Arbeitsplatz und Fahrkosten, denn viele haben schon mit diesen grundlegenden Dingen zu kämpfen. Die Wirklichkeit ist: Viele von ihnen sind mit Schulden belastet und trotz ihrer unermüdlichen Arbeit in einem Teufelskreis der Armut gefangen.
Es ist alarmierend, dass die Unternehmen, die diese Menschen beschäftigen, oft Milliardenumsätze machen, aber dennoch ist die Situation dieser Arbeitnehmer nach wie vor katastrophal, wenn sie sich im Laufe der Zeit nicht sogar noch verschlechtert hat. Es besteht ein krasses Missverhältnis zwischen dem Reichtum, den diese Unternehmen erwirtschaften, und den prekären Bedingungen, unter denen ihre Beschäftigten leben. Dies macht deutlich, wie dringend notwendig eine gerechte Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen sind.
netzpolitik.org: Welche Art von hasserfüllten oder negativen Inhalten werden von den Arbeitnehmern beseitigt?
Mophat Okinyi: Wir haben uns mit einer Reihe von schädlichen Inhalten befasst, einschließlich, aber nicht nur sexuelle Inhalte, Hass, Gewalt und Selbstverletzungen. Beispiele für sexuelle Inhalte waren Nekrophilie, Pädophilie und Vergewaltigung. Hassreden umfassten diskriminierende Äußerungen, die sich gegen Menschen oder Gruppen aufgrund von Faktoren wie Ethnie oder Religion richteten. Gewalttätige Inhalte umfassten Darstellungen von körperlicher Gewalt oder Aggressionshandlungen. Zu den selbstverletzenden Inhalten gehörte Material, das Selbstverletzungen oder Selbstmord propagierte oder darstellte.
Wir haben eine entscheidende Rolle bei der Identifizierung und Entfernung solcher Inhalte gespielt, um die Integrität und Sicherheit von ChatGPT zu wahren, und wir mussten einen psychischen und emotionalen Preis dafür zahlen.
netzpolitik.org: Woher kommen die Inhalte, die von den Arbeitern aussortiert wurden?
Mophat Okinyi: Die Inhalte stammen von verschiedenen Online-Plattformen und -Diensten. Sie sind aus den dunkelsten Ecken des Internets zusammengeklaubt, die meisten von Dating-Seiten, Pornoseiten, privaten Chatseiten, einige von Online-Unterhaltungen mit KI-Chatbots, einige von Kinderhandelsseiten und anderen Webseiten mit illegalen Inhalten.
netzpolitik.org: Zusammen mit drei Kollegen haben Sie beim kenianischen Parlament eine Petition eingereicht, um die Arbeitsbedingungen von Tech-Arbeitern in Kenia zu untersuchen. Gibt es eine ernsthafte Untersuchung? Gibt es schon ein Ergebnis?
Mophat Okinyi: Wir haben die Petition am 11. Juli 2023 an das kenianische Parlament gerichtet, um besonders die Arbeitsbedingungen kenianischer Jugendlicher untersuchen zu lassen, die unter ausbeuterischen und unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Trotz unserer Bemühungen bestätigte das kenianische Parlament den Eingang unserer Petition erst am 9. November.
Seitdem haben wir mit politischem Störfeuer zu kämpfen. Erst letzten Monat besuchten hohe Regierungsbeamte, darunter auch der Präsident Kenias, genau das Unternehmen, das unsere Leute ausbeutet. Sie haben das Unternehmen nicht nur besucht, sondern auch gelobt, was zeigt, dass ihnen das Wohlergehen unserer Arbeitnehmer nicht wirklich am Herzen liegt.
Diese Situation spiegelt das wider, was ich als digitale Kolonisierung bezeichne. Die Regierung lobt unethische Praktiken, nur weil sie von westlichen Unternehmen vorangetrieben werden, und missachtet dabei die Würde ihrer eigenen Bevölkerung. Angesichts dieser Entwicklungen gehen wir leider davon aus, dass unsere Petition im Parlament nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhält, was die Notlage der betroffenen Arbeitnehmer weiter verschlimmert.
netzpolitik.org: Glauben Sie, dass viele westliche Nutzer inzwischen wissen, dass KI-Systeme, ihre Fähigkeiten und ihre Benutzerfreundlichkeit auch den Arbeitern in Kenia zu verdanken sind?
Mophat Okinyi: Viele westliche Nutzer sind sich der Beiträge von Beschäftigten in Ländern wie Kenia zur Entwicklung und Wartung von KI-Systemen vielleicht nicht ganz bewusst. Es ist wichtig, das Bewusstsein für die menschliche Arbeit hinter den KI-Fortschritten zu schärfen und sich für die Anerkennung und faire Behandlung aller beteiligten Personen einzusetzen.
Oft werden die Endprodukte gefeiert, ohne sich mit ihrer Herkunft zu befassen, und die entscheidende Rolle von Datentrainern und Arbeitern beim maschinellen Lernen wird übersehen. Ohne ihren Beitrag gäbe es aber keine KI-Systeme wie ChatGPT.
Es ist wichtig zu betonen, dass die Entwicklung von KI in hohem Maße von der Arbeit und dem Fachwissen von Menschen abhängt, die zur Datenverarbeitung, -kommentierung und -verfeinerung beitragen. Ohne sie hätte die Technologie nicht ihre heutige Leistungsfähigkeit erreicht. Wie ich schon immer gesagt habe: Es gibt keine KI ohne Daten, und die Datenarbeiter sollten genauso respektiert werden wie die KI-Ingenieure.
netzpolitik.org: Die Zusammenarbeit mit Samasource, dem von OpenAI beauftragten Unternehmen, wurde vorzeitig abgebrochen. Wer sind nun die Kooperationspartner in Kenia? Hat sich etwas zum Positiven verändert?
Mophat Okinyi: Derzeit ist mir nicht bekannt, welche Partner die Arbeit übernommen haben, die zuvor von Samasource erledigt wurde, da solche Informationen oft vertraulich behandelt werden. Diese Geheimhaltung kann als Strategie dienen, um potentiell unethische Praktiken zu verbergen und sich einer Rechenschaftspflicht für die Behandlung der Beschäftigten zu entziehen. Trotz dieser mangelnden Transparenz bin ich der Überzeugung, dass diese Unternehmen ihren Ansatz nicht grundlegend geändert haben und Menschen weiterhin als Wegwerfarbeiter in der KI-Entwicklung behandeln.
netzpolitik.org: Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen!
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|um ChatGPT dadurch zu optimieren|
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Wed, 13 Mar 2024 15:51:09 +0000
Chris Köver
Viktor Orbán betont gern, sich nicht in Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, und wirbt doch unverhohlen für die Wahl politischer Verbündeter. Jetzt kommt raus, wie massiv er kurz vor der Wahl in Polen und der Slowakei mit Online-Anzeigen Stimmung gemacht hat. Auch in Deutschland lief die Kampagne.
Das Kabinettsbüro des ungarischen Premiers Viktor Orbán hat auf YouTube großangelegte Online-Kampagnen zu den vermeintlichen Gefahren der illegalen Migration geschaltet und in sieben EU-Ländern ausgespielt. In Polen und der Slowakei lief die Kampagne in der Zeit unmittelbar vor den dortigen Wahlen im vergangenen Herbst. |Journalistinnen des Rechercheverbunds VSquare| hatten die Videos |in der Werbungstransparenzdatenbank von Google entdeckt| und ausgewertet.
In beiden Ländern befanden sich zu diesem Zeitpunkt gerade Verbündete von Orbáns Regierung im Wahlkampf und traten auch mit migrationsfeindlichen Botschaften an. In Polen war das die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die kurz darauf die Wahlen verlor. In der Slowakei konnte sich Orbáns Verbündeter, der Linkspopulist Robert Fico, hingegen durchsetzen und gewann.
Die beiden Clips zeigen Szenen von der ungarischen-serbischen Grenze. Im ersten Video ist zu sehen, wie Menschen den Zaun mit Heckenscheren und Leitern zerstören und Fahrzeuge der Grenzbehörden angreifen. Unterlegt ist das mit dramatischer Musik und Untertiteln auf Englisch. Im anderen 14-sekündigen Clip heißt es auf Englisch: “Ungarn schützt die EU vor illegaler Migration. Doch statt Ungarn zu helfen, laden Bürokraten in Brüssel noch mehr Migranten ein.“
Verantwortlich für die Kampagne ist das Kabinettsbüro von Viktor Orbán und damit sein Propagandaminister Antal Rogán, das geht aus den Daten im Anzeigenregister hervor. Doch wie viel Steuergeld der Minister dafür investiert hat und wer genau in den einzelnen Ländern mit den Videos ins Visier genommen wurde – all diese Details gibt Google nicht bekannt. Das liegt daran, dass die Anzeigen nicht als politische Werbung geschaltet wurden – und laut den Regeln von Google, dem Mutterkonzern von YouTube, auch gar keine politische Werbung sind.
Damit unterliegen sie wesentlich laxeren Transparenzregeln. Für politische Werbung legt Google etwa Informationen dazu offen, welche Kategorien von Nutzer:innen die Werbetreibenden mit ihren Anzeigen erreichen wollten und wie viel Geld sie dafür ausgegeben haben. Zu nicht-politischer Werbung erfährt man hingegen nur wenig: den Zeitraum, zu dem die Kampagne lief, sowie die ungefähre Anzahl der Ausspielungen in diesem Zeitraum. Zum Zielpublikum der Anzeigen oder investierten Betrag hingegen: nichts.
Medien in Tschechien |und Polen| waren die Anzeigen bereits vergangenes Jahr aufgefallen. Auf ihre Nachfrage bestätigte Google, dass die Anzeigen der ungarischen Regierung nicht gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen. Es handele sich dabei nicht um politische Anzeigen, da sie keine politischen Parteien oder Politiker:innen bewerben.
Dass die Kampagne auch in Deutschland, Österreich, Belgien und Italien zu sehen war, wurde hingegen erst jetzt bekannt. Das liegt daran, dass Google Anzeigen erst mit einem Zeitverzug von drei Monaten in seiner Datenbank veröffentlicht.
In der Slowakei ist der ungarischen Regierung damit etwas gelungen, was dortige Parteien gar nicht mehr durften. Aus der Google-Datenbank geht hervor, dass die ungarische Regierung den ersten Clip am 28. September ausspielte, also zwei Tage vor der slowakischen Wahl. Zu diesem Zeitpunkt galt für die slowakischen Parteien nach dortigem Recht schon eine Sperrfrist. Ungarn durfte aber auf YouTube weiter mit migrationsfeindlichen Botschaften werben – und so indirekt für Ficos Partei. Die Anzeige war laut Datenbank 900.000 bis eine Million Mal zu sehen.
In Deutschland wurde in dem Zeitraum ebenfalls gewählt: Bei den |Landtagswahlen in Bayern| und Hessen konnten die AfD und auch die Freien Wähler zulegen, beide mit einer migrationsfeindlichen Agenda. Bis zu 400.000 Views hatte einer der beiden Clips |laut Google-Datenbank|, bis zu 500.000 |der andere|. Wo genau die Anzeigen in Deutschland zu sehen waren oder wer sie zu sehen bekam, geht aus der Datenbank aber nicht hervor. Auch sagen die Zahlen nichts darüber aus, wie viele Menschen die Anzeigen gesehen haben, sie könnten auch einer Person mehrfach angezeigt worden sein.
Um politische Einflussnahme auf Wahlen zu verhindern, arbeitet die EU derzeit an einem Gesetzesvorhaben, das erstmals politische Werbung regulieren würde. Nach drei Jahren befindet es sich auf der Zielgeraden, |Rat und Parlament haben bereits zugestimmt.|
|Das Gesetz| soll an drei Stellen ansetzen: bei der Transparenz, der Finanzierung und beim Targeting von politischer Online-Werbung. So muss künftig jede politische Anzeige klar als solche gekennzeichnet werden. Außerdem muss für jede Anzeige in einer Datenbank der EU offengelegt werden, nach welchen Kriterien die Zielgruppen ausgewählt wurden und wer sie finanziert hat.
Um ausländische Einflussnahmen zu verhindern, sollen Anzeigen nur noch von innerhalb der EU geschaltet werden dürfen. Dass ein EU-Mitgliedsstaat eine Kampagne in einem anderem Staat kurz vor der Wahl schaltet, wie das hier geschehen ist – das wäre demnach nicht ausgeschlossen.
Trotzdem wäre die Kampagne aus Ungarn laut dem geplanten Gesetzestext unter die Definition von politischer Werbung gefallen – und hätte damit striktere Auflagen erfüllen müssen. |So heißt es im Text|, die Definition sollte Werbung umfassen, „die direkt oder indirekt durch einen politischen Akteur oder auf irgendeine Weise für einen politischen Akteur oder in seinem Namen ausgearbeitet, platziert, gefördert, veröffentlicht, angezeigt oder verbreitet wird“. Darüber hinaus sollte die Definition auch „Mitteilungen umfassen, die ausgearbeitet, platziert, gefördert, veröffentlicht, angezeigt oder verbreitet werden und die das Ergebnis einer Wahl […] oder ein Abstimmungsverhalten beeinflussen können“.
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|Journalistinnen des Rechercheverbunds VSquare|
|in der Werbungstransparenzdatenbank von Google entdeckt|
|Rat und Parlament haben bereits zugestimmt.|
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Wed, 13 Mar 2024 11:19:23 +0000
Chris Köver
Die KI-Verordnung macht den Weg frei für biometrische Gesichtserkennung in der EU. Auch an vielen anderen Stellen bietet sie große Schlupflöcher für Behörden und Unternehmen. Das EU-Parlament wollte Grundrechte besser schützen – und hat dem Kompromiss nun doch zugestimmt.
Mit ihrer KI-Verordnung will die Europäische Union in Zukunft den Maßstab für Anwendungen sogenannter Künstlicher Intelligenz setzen. Das EU-Parlament hat heute mit großer Mehrheit den Text für das Gesetz gebilligt. Bei der Abstimmung stimmten 523 Abgeordneten für das Gesetz, 46 dagegen. Den Kompromiss hatten sie bereits vergangenen Dezember nach langen und teils dramatischen Gesprächen mit den EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt. Damit ist der Weg frei, damit das Gesetz noch im Laufe des Jahres in Kraft treten kann.
Mit dem Ja des Parlaments endet das Gezerre um ein Gesetz, das als eines der wichtigsten der Legislaturperiode galt. Drei Jahre lang hat es Kommission, Parlament und Rat beschäftigt. Das Ringen um die finalen Regeln wurde dabei zu einer der |größten Lobbyschlachten|, die in Brüssel je ausgetragen wurden. Tech-Riesen wie Google und Microsoft |investierten Millionen|, um ihre Interessen zu schützen.
Das Gesetz soll Regeln festschreiben für diejenigen, die KI-Technologien entwickeln und einsetzen, egal ob Unternehmen oder Behörden. Je riskanter eine Anwendung, so die Logik, desto strikter die Vorgaben, etwa für die Qualität der Daten, die Dokumentation oder für Risikobewertungen, wie vor einem Einsatz gemacht werden müssen. Bestimmte Anwendungen sollen ganz verboten werden, etwa Social Scoring.
Der |erste Entwurf der Kommission im April 2021| erregte noch eher wenig Aufmerksamkeit. Anfang 2023 brach dann der Hype um generative KI los – und plötzlich standen zusammen mit den |verblüffenden Fähigkeiten von ChatGPT und Bildgeneratoren wie Midjourney| auch die Details der KI-Verordnung im globalen Rampenlicht.
Parlamentarier:innen versuchten, der neuen Entwicklung noch hinterher zu hechten, obwohl die Arbeit am Gesetz zu weit fortgeschritten war. Dafür wollten sie das Gesetz um strenge Regeln auch für sogenannte Basis-Modelle ergänzen. Das sind KI-Systeme wie etwa das Sprachmodell GPT-4, die für verschiedenste Zwecke eingesetzt werden können.
Im November kam es deswegen in den Trilog-Gesprächen zu offenem Streit. Vor allem die Schwergewichte im Rat Deutschland und Frankreich wollten verhindern, |dass die Verordnung auch Basismodelle regelt|. Start-ups wie Mistral in Frankreich oder Aleph Alpha in Deutschland arbeiten ebenfalls an solchen Modellen, sie |hatten darauf gedrängt|, das Basismodelle ausgenommen werden.
Aber nicht nur wegen der Basismodelle wurden die finalen Trilog-Gespräche im Dezember |zu einer Hängepartie|. Die Verordnung berührt |zentrale Fragen zu Grund- und Freiheitsrechten in der EU|: Etwa die, ob und wann biometrische Überwachung zugelassen wird, in welchen Lebensbereichen überhaupt automatisiert entschieden werden darf, oder wie viele Ausnahmen Staaten mit dem Pauschalargument „nationale Sicherheit“ für sich in Anspruch nehmen dürfen.
Nach mehr als drei Tagen Marathon-Verhandlung, teils mehr als 22 Stunden am Stück, stand dann vor Weihnachten doch noch ein Kompromiss. Bürgerrechtsorganisationen wie etwa EDRi warnten schon damals, dass die Freude darüber verfrüht sei. Die Einigung war mündlich passiert, den finalen Text musste die spanische Ratspräsidentschaft, die die Einigung forciert hatte, noch erstellen.
Als die hunderten Seiten Kompromisstext dann im Februar vorlagen, wurde klar, wie viele Lücken offen bleiben werden. Parlamentarier:innen, die selbst an den Verhandlungen beteiligt waren, sagten danach, sie hätten die |angeblich getroffene Trilog-Einigung| kaum wiedererkannt, als sie später vor ihnen lag. „Wir wurden über den Tisch gezogen“, hieß es aus dem |Umfeld der Verhandlungsdelegation|.
|Die sieben quälendsten Fragen zur KI-Verordnung|
Vor allem in den Regeln zu biometrischer Überwachung ist von den |einst starken Forderungen des Parlaments |kaum etwas übrig geblieben. Die KI-Verordnung bringt kein Verbot, nicht einmal besonders strenge Einschränkungen für den Einsatz biometrischer Überwachung.
EU-Staaten werden also künftig aus vielen Gründen Menschen überwachen und anhand ihrer körperlichen Merkmale identifizieren dürfen, zum Beispiel mit Hilfe öffentlicher Kameras. Das ist selbst in Echtzeit erlaubt und auch dann, wenn nur die Annahme besteht, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Die Mitgliedsstaaten konnten sich in diesem Punkt |mit ihrer Wunschliste| offenbar fast vollständig durchsetzen.
|Auch Menschen auf der Flucht| können von der KI-Verordnung kaum Schutz erwarten. Die wenigen Einschränkungen für Gesichtserkennung im öffentlichen Raum gelten etwa ausdrücklich nicht für Grenzkontrollen. Der Einsatz von umstrittenen Technologien wie Emotionserkennung ist ebenfalls weiterhin erlaubt, Betroffene könnten in Zukunft mit Lügendetektoren an den Grenzübergängen überprüft werden, wie die EU |sie bereits in einem Pilotprojekt getestet hat|. Und auch die Transparenzverpflichtungen im Gesetz gelten nicht für die Bereiche „Strafverfolgung, Migration, Grenzkontrolle oder Asyl“.
Selbst mit diesen Zugeständnissen war noch lange unklar, ob das Gesetz nicht womöglich noch am Widerstand von Frankreich und Deutschland scheitern könnte. Aus beiden Ländern war weiterhin Unmut zu hören. |Mit der Zustimmung des Rates| Anfang Februar war diese Hürde genommen.
Kurz darauf stimmten auch die beiden Parlamentsausschpsse für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) und Binnenmarkt (IMCO) mit großer Mehrheit für den Kompromiss. Sie| hatten bei der Arbeit am Gesetz die Führungsrolle|. Ihre Zustimmung war ein starker Signal dafür, dass auch die absolute Mehrheit der Abgeordneten im Plenum heute für den Kompromiss stimmen würden.
Dass die Abstimmung schon heute angesetzt war und nicht, wie zunächst geplant, erst im April, hatte im Vorfeld für Verwirrung gesorgt. Der Grund dafür liegt wohl in den Details der EU-Arbeitsprozesse: Gesetzestexte müssen juristisch überarbeitet und in die 24 Amtsprachen der Union übersetzt werden. Dafür scheint hier die Zeit nicht gereicht zu haben, die Abgeordneten stimmten also nach wie vor über einen vorläufigen Text ab. Die endgültige Version soll dann im April nur noch bekannt gegeben werden – voraussichtlich ohne erneute Abstimmung.
Die KI-Verordnung kann damit noch vor den EU-Wahlen im Sommer in Kraft treten. Die meisten Regeln werden nach zwei Jahre greifen, lediglich die Verbote gelten bereits nach sechs Monaten – und damit womöglich bereits dieses Jahr.
Die Hoffnungen für bessere Gesetzgebung verlagern sich derweil auf die Mitgliedstaaten. Sie haben die Möglichkeit, auf nationaler Ebene strengere Regeln zu erlassen als die Verordnung vorsieht, etwa für die biometrische Überwachung. In Deutschland haben die Ampel-Parteien| bereits angekündigt|, zumindest eine Überwachung in Echtzeit nicht zu wollen.
Nachbesserungen fordert jetzt auch AlgorithmWatch und verweist auf die Versprechen, die die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag gemacht hat. Die Organisation kritisiert auch, dass gerade für Strafverfolgungs- und Migrationsbehörden keine öffentliche Transparenz gelten soll, wenn sie riskante KI-Systeme einsetzen. Gerade in diesen Bereichen herrsche ein starkes Machtgefälle, Öffentlichkeit sei hier eine wesentliche Voraussetzung demokratischer Kontrolle.
|Gegen den Entwurf gestimmt| hatten die vier Abgeordneten der Piratenpartei, einige parteilose Abgeordnete und große Teile der Linken-Fraktion. Deren Abgeordnete Cornelia Ernst bedauert, dass das Parlament in den Verhandlungen essentiell wichtige Elemente nicht durchsetzen konnte. Das Verbot von Echtzeit-Gesichtserkennung im öffentlichem Raum sei durch eine lange Liste von Ausnahmen „praktisch gekippt“, Emotionserkennung und vorhersagende Polizeiarbeit blieben erlaubt und es gebe keine Verbote für den Einsatz von KI-Systemen im Migrations- und Grenzkontext – eine verpasste Chance.
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|erste Entwurf der Kommission im April 2021|
|verblüffenden Fähigkeiten von ChatGPT und Bildgeneratoren wie Midjourney|
|dass die Verordnung auch Basismodelle regelt|
|zentrale Fragen zu Grund- und Freiheitsrechten in der EU|
|angeblich getroffene Trilog-Einigung|
|Umfeld der Verhandlungsdelegation|
|Die sieben quälendsten Fragen zur KI-Verordnung|
|einst starken Forderungen des Parlaments |
|Auch Menschen auf der Flucht|
|sie bereits in einem Pilotprojekt getestet hat|
|Mit der Zustimmung des Rates|
| hatten bei der Arbeit am Gesetz die Führungsrolle|
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Wed, 13 Mar 2024 09:56:24 +0000
Markus Reuter
Die neuen europaweiten Regeln für Künstliche Intelligenz lassen biometrische Überwachungstechniken wie Gesichtserkennung teilweise zu. Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern nun, dass dem zumindest in Deutschland ein Riegel vorgeschoben wird.
Mehr als ein Dutzend Digital- und Bürgerrechtsorganisationen fordern die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf, jede Form der biometrischen Fernidentifizierung zu verbieten. Anlass für den offenen Brief ist die Verabschiedung des Artificial Intelligence Acts auf EU-Ebene, ein Gesetz zur Regulierung Künstlicher Intelligenz. Das Gesetzeswerk |enthält viele Schlupflöcher|, die eine biometrische Überwachung ermöglichen.
Die Unterzeichnenden des offenen Briefes, unter ihnen der Chaos Computer Club, Wikimedia und Amnesty International, kritisieren diese Schlupflöcher. „Diese weitreichenden Ausnahmen für Strafverfolgung und Sicherheitsbehörden laden europaweit zum Ausbau öffentlicher Überwachung ein.“ Eine solche Überwachungsinfrastruktur führe dazu, dass Menschen unter dem ständigen Gefühl der Kontrolle ihre Freiheitsrechte nicht mehr ungehindert ausüben könnten. Deswegen verweisen sie auf die Möglichkeit, dass die Bundesregierung die im AI Act vorgesehene Möglichkeit der nationalen Verschärfung europäischer Regeln sowohl für Echtzeit- als auch für nachträgliche biometrische Fernidentifizierung nutzen sollen. Im offenen Brief heißt es: „Wir fordern Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages daher auf, jede Form der biometrischen Fernidentifizierung in Deutschland zu verbieten!“
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen verweisen dabei auf den |Koalitionsvertrag der Ampel|. Dort wird gleich an zwei Stellen biometrische Überwachung abgelehnt, wenn es etwa heißt:
Biometrische Erkennung im öffentlichen Raum sowie automatisierte staatliche Scoring Systeme (sic) durch KI sind europarechtlich auszuschließen.
Und in einem anderen Absatz:
Flächendeckende Videoüberwachung und den Einsatz von biometrischer Erfassung zu Überwachungszwecken lehnen wir ab.
Die Ampel müsse nun, nachdem ein europarechtliches Verbot der biometrischen Überwachung „nicht vollständig umzusetzen“ war, mit einem nationalen Verbot gegenhalten. Andernfalls drohten dystopische Verhältnisse, in denen jeder Mensch bei jeder Bewegung im öffentlichen Raum permanent identifizierbar und überwachbar würde. „Anonymität im öffentlichen Raum ist eine der Grundvoraussetzungen für freie Meinungsäußerung und demokratischen Protest“, so die Unterzeichner:innen.
Erik Tuchtfeld, Co-Vorsitzender von D64 und Mitunterzeichner, sagt zudem: „Unser Ziel ist es, Digitalpolitik faschimussicher zu machen. Dafür müssen alle demokratischen Kräfte zusammenarbeiten, um Möglichkeiten des institutionellen Machtmissbrauchs zu verhindern.“ Die ständige Erkennbarkeit im öffentlichen Raum treffe marginalisierte Gruppen besonders hart.
Parteien der Ampel |hatten zuletzt gesagt|, dass sie bei der KI-Verordnung nachbessern wollen. So hat die SPD im Bundestag angekündigt, biometrische Echtzeit-Identifizierung und |Emotionserkennung| verbieten zu wollen.
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Offener Brief vom 13. März 2024
Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
heute, am 13. März 2024, beschließt das Europäische Parlament den Artificial Intelligence (AI) Act. Als erstes umfassendes Gesetz zur Regulierung Künstlicher Intelligenz (KI) weltweit schafft der AI Act in der gesamten Europäischen Union einheitliche Regeln für die Entwicklung und den Einsatz von KI.
Die finale Fassung des AI Acts verbietet biometrische Überwachung im öffentlichen Raum zwar grundsätzlich, lässt jedoch eine Vielzahl an Ausnahmen zu. Diese weitreichenden Ausnahmen für Strafverfolgung und Sicherheitsbehörden laden europaweit zum Ausbau öffentlicher Überwachung ein. Eine solche Überwachungsinfrastruktur führt dazu, dass Menschen unter dem ständigen Gefühl der Kontrolle ihre Freiheitsrechte nicht mehr ungehindert ausüben. Der Schutz von Menschenrechten darf jedoch nicht unter Vorbehalt stehen. Insbesondere im aktuellen politischen Klima müssen die demokratischen Kräfte gemeinsam die Möglichkeit des institutionellen Machtmissbrauchs minimieren. Deshalb gilt es nun, die im AI Act explizit vorgesehene Möglichkeit der nationalen Verschärfung europäischer Regeln sowohl für Echtzeit- als auch für nachträgliche biometrische Fernidentifizierung zu nutzen.
Wir fordern Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages daher auf, jede Form der biometrischen Fernidentifizierung in Deutschland zu verbieten!
Im Koalitionsvertrag verpflichten sich die Regierungsparteien gleich an zwei Stellen, biometrische Überwachung in Deutschland zu verhindern. So heißt es, dass „[b]iometrische Erkennung im öffentlichen Raum“ europarechtlich auszuschließen sei, auch der „Einsatz von biometrischer Erfassung zu Überwachungszwecken“ wird explizit abgelehnt. Nachdem das europarechtliche Verbot biometrischer Überwachung nun nicht vollständig umzusetzen war, muss ein nationales Verbot das Mittel der Wahl sein.
Die Durchführung biometrischer Echtzeit-Fernidentifikation im öffentlichen Raum öffnet die Tür in dystopische Verhältnisse, in denen jeder Mensch bei jeder Bewegung im öffentlichen Raum permanent identifizierbar und überwachbar wird. Ähnliches gilt auch für nachträgliche biometrische Fernidentifikation, die ebenfalls die Bildung umfassender Personenprofile ermöglicht. Anonymität im öffentlichen Raum ist eine der Grundvoraussetzungen für freie Meinungsäußerung und demokratischen Protest. Insbesondere Angehörige marginalisierter Gruppen werden von der Ausübung ihrer Meinungs- und Demonstrationsfreiheit abgehalten, wenn sie Repressalien befürchten müssen. Auch der Ampel-Koalitionsvertrag betont: „Das Recht auf Anonymität sowohl im öffentlichen Raum als auch im Internet ist zu gewährleisten.“
Wir fordern Sie deshalb auf, sich für den Schutz der Menschen in Deutschland und das Recht auf ein Leben frei von Massenüberwachung und Kontrolle einzusetzen.
Mit freundlichen Grüßen
AlgorithmWatch
Amnesty International
Antidiskriminierungsverband Deutschland e.V.
Chaos Computer Club
D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt
Dachverband der Fanhilfen e.V.
Digitale Freiheit e.V.
Digitale Gesellschaft e.V.
Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) e. V.
Humanistische Union e.V.
LOAD e.V. – Verein für liberale Netzpolitik
netzforma* e.V. – Verein für feministische Netzpolitik
Open Knowledge Foundation Deutschland e.V.
SUPERRR Lab
Topio e.V.
Wikimedia Deutschland e. V.
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|IMAGO / Michael Gstettenbauer|
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Skriptlauf: 2024-03-21T20:02:02