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Rede Heinz Irsens im Juni 1957

"Zwischen Musik, Dichtung und bildender Kunst gibt es mancherlei Querverbindungen, m�gen diese z.T. auch nur in der �bernahme einiger Begriffe bestehen. So sprechen wir u. a. von Werkbetrachtung und �bertragen dabei eine T�tigkeit des Sehens auf das Gebiet des H�rens. Die Formen der Werkbetrachtung reichen von einfachem Anh�ren musikalischer Kunstwerke bis zur tief eindringenden, genauen Analyse. Was liegt aber n�her, als da� wir uns bei Beginn dieser Veranstaltungsreihe mit der Frage des richtigen H�rens befassen.

Man kann von aktivem und passivem H�ren sprechen. Das passive H�ren wird von vielen Musikfreunden ge�bt und besteht darin, die Musik nur auf das Gef�hl hin wirken zu lassen. Man erwartet von ihr eine seelische Erbauung oder Anregung pers�nlicher Empfindungen, um sich subjektiven Tr�umereien und Phantasien hinzugeben.

Kurz gesagt, man will Musik 'genie�en'. Mag diese Art zu h�ren bei leichterer, unterhaltender Musik angebracht und auch bei einzelnen Kompositionen romantischer Haltung noch denkbar sein, so versagt sie jedoch bei allen anspruchsvolleren musikalischen Kunstwerken. Nat�rlich kann man jede Musik 'genie�end' aufnehmen, soll sie aber zu einem k�nstlerischen Erlebnis werden, verlangt sie eine aktive Mitarbeit des H�rers.

Seelische und geistige Kr�fte m�ssen sich vereinen, um die geh�rte Musik als Ganzheit zu erfassen. Dabei gibt es naturgem�� zahlreiche Abstufungen, je nach dem musikalischen Verm�gen des H�rers, d.h. nach seiner Musikalit�t und seinem Vertrautsein mit dem Stoff. Aber Schulung und Erziehung k�nnen viel dazu beitragen das Aufnahmeverm�gen zu steigern. Man mi�verstehe das nicht: die seelische Beteiligung am H�ren ist keineswegs unwichtig oder gar �berfl�ssig, aber sie kann auf die geistige Mitarbeit nicht verzichten.

Das bewu�te Musikh�ren erscheint somit als ein recht komplizierter Vorgang und ist es tats�chlich auch. Bedeutende Musiker haben erkannt, was wichtig f�r ein richtiges H�ren ist, sie fordern vom H�rer, da� er die Musik in ihrer Sprache zu verstehen lernt. Hans von B�low spricht von Grammatik, Synthese und Logik der Musik, die geh�rt sein wollen, um verstanden zu werden. F. Busoni sagt: 'Um ein Kunstwerk zu empfangen, mu� die halbe Arbeit an demselben vom Empf�nger selbst verrichtet werden'. Igor Strawinsky schreibt in seinen Erinnerungen:'In der Musik gelangen nur diejenigen zum wahren Verst�ndnis, die sich t�tig anstrengen. Eine rein passive Aufnahme gen�gt dazu nicht'. Und Robert Schumann, der Romantiker, sagt:'Wer den K�nstler erforschen will, besuche ihn in seiner Werkstatt'. Er spricht von Werkstatt und nicht etwa von poetischen, seelischen und au�ermusikalischen Dingen. Wird das H�ren so zu einem wirklich musikalischen Vorgang, mu� man fragen: Wie soll sich nun diese geistige Aufnahme eines Werkes vollziehen?

Erfa�t werden mu� die Bedeutung der einzelnen Themen, ihre melodisch-rhythmische Substanz, ihr motivischer Aufbau und ihre charakteristische Klangfarbe. Die einzelnen kleinen Bestandteile, die Motive, m�ssen zu Themen und Phrasen zusammenwachsen, diese zu Formgruppen und diese wiederum zu Satzteilen und ganzen S�tzen gef�gt werden, also die Einzelheiten in die Ordnung des Ganzen eingebaut werden. Das Endergebnis ist dann die vom Komponisten erdachte Ganzheit des Kunstwerkes, die somit erst bewu�t in Erscheinung tritt. Um dieses Idealziel zu erreichen, ist die analytische Besch�ftigung mit dem Kunstwerk notwendig und nicht zuletzt das mehrfache H�ren desselben.

Aus alledem ergibt sich die Forderung nach einer intensiven musikalischen Laienbildung, sowohl in allgemeiner Hinsicht - denn eigenes Musizieren geh�rt immer noch zu den besten Mitteln der H�rerziehung - als auch in spezieller Hinsicht, d.h. in der Vorbereitung auf k�nstlerische H�r-Erlebnisse.

Eine wichtige Voraussetzung f�r positives H�ren ist die richtige Einstellung zum Werk. Man mu� wissen, was die betreffende Komposition aussagt, ob es sich bei ihr um die Darstellung eines rein musikalischen Vorgangs handelt (absolute Musik) oder ob au�ermusikalische Einfl�sse und Vorstellungen bei der Gestaltung des Werkes eine Rolle gespielt haben (Programmusik und absolute Musik mit programmatischem Charakter). Im zweiten Falle gibt der Komponist meist durch eine �berschrift bekannt, in welche Richtung die Phantasie des H�rers gelenkt werden soll. Weiterhin mu� man das klangliche Gewand und die stilistische Haltung des Werkes kennen, die Entstehungszeit desselben und deren geistige und musikalische Haltung, evtl. auch die Ursache, die zur Komposition gef�hrt hat.

Wie oft gibt es Mi�verst�ndnisse beim H�ren, weil diese Einstellung nicht vorhanden ist, indem die Grundidee des Werkes nicht erschlossen ist, die Neuartigkeit eines Werkes verwirrt oder aber der Komponist befindet sich in einer anderen Epoche seines Schaffens, wodurch das Bild seiner k�nstlerischen Pers�nlichkeit anders als gewohnt erscheint. Das Wissen um diese Dinge ist also notwendig f�r das verst�ndnisvolle Aufnehmen einer Komposition. Bei der Analyse mu�, von der zyklischen Einheit eines Werkes ausgehend, zu der Detailarbeit der einzelnen Teile und S�tze vorgedrungen werden. Es mu� bei der Einf�hrung klar werden, wie aus Keimen ganze Formen wachsen und umgekehrt, wie die Ganzheit eines Themas in Einzelheiten aufgel�st werden kann, in denen wiederum neue Kunstwerke stecken. Je nach Art und Umfang der Werkbetrachtung handelt es sich um eine kurze Einf�hrung in den Geist und die Besonderheiten eines Werkes - oft gen�gen schon ein paar treffende und charakterisierende S�tze, um die geforderte Einstellung beim H�rer zu schaffen - oder um eine mehr oder weniger gro�e, genaue Analyse.

Ein wichtiger Punkt der richtigen Einstellung zum Werk bedarf noch besonderer Erw�hnung: das H�ren der sog. 'alten' und 'neuen' Musik. Da die Mehrzahl der Musikfreunde in erster Linie noch immer dem klassisch-romantischen Musikideal zugetan ist, st��t sowohl das H�ren der vorklassischen als auch der zeitgen�ssischen Musik oft auf Schwierigkeiten. Denn die stilistische und kompositionstechnische Verschiedenheit dieser Musikzeitr�ume gestattet keine Werkaufnahme unter den gleichen H�rbedingungen. Man mu� sich also vor dem H�ren dar�ber klar sein, da� man nicht die von der klassisch-romantischen Musik her gewohnten Klangbilder zu h�ren bekommt, sondern wesentlich davon abweichende.

W�hrend nun zwischen der Barockmusik und der aus Klassik und Romantik nur ein Unterschied in der geistigen Haltung und der Ausdrucksweise besteht, die Grundlagen der Tonsprache aber die gleichen sind - nur graduell, d.h. entwicklungsm��ig verschieden -, haben sich diese bei der neuen Musik vollkommen ver�ndert. Auch die nicht kadenzbezogene alte Musik der vorbarocken Zeit gibt dem Durchschnittsh�rer mancherlei N�sse zu knacken. Man kann sich gut vorstellen, da� die Gew�hnung des Ohres f�r das Verst�ndnis der geh�rten Musik eine gro�e Rolle spielt, wenn man bedenkt, da� ein gewaltiger Schatz klanglicher Erscheinungen in unserem Erinnerungsverm�gen aufbewahrt wird. Je mehr Bekanntes oder diesem �hnliches geh�rt wird, umso leichter geht uns ein Werk ein und je mehr neuartiges, unbekanntes und ungewohntes auftritt, umso schwieriger gestaltet sich die Aufnahme des Geh�rten. H�ren und immer wieder h�ren und sich damit besch�ftigen macht aber auch schlie�lich die scheinbar spr�deste Klangmaterie unseren Ohren gef�gig. Vorausgesetzt, da� man den guten Willen dazu mitbringt und nicht von vornherein alles, was man nicht gleich versteht, einfach ablehnt.

Paul Hindemith nannte k�rzlich bei einem Diskussionsgespr�ch das Mi�verh�ltnis zwischen der Neuen Musik und dem von der Klassik her gebildeten H�rer 'die entt�uschte Erwartung', denn es kommt ja schlie�lich viel darauf an, was man von einer Musik erwartet, sowohl geistig als auch klanglich. Entspricht diese den Vorstellungen nicht, so bleibt eben eine Entt�uschung zur�ck. Das beste Mittel dagegen ist, universell zu sein, �ber den Stilen und Richtungen zu stehen, zu versuchen, jeder Musik gerecht zu werden und sich nicht einseitig festzulegen. Genauso einseitig sind auch die H�rer, die nur eine bestimmte Musikgattung anerkennen und sich f�r keine andere interessieren. Das ist nicht nur engstirnig, sondern ungeistig und unk�nstlerisch.

Musik - das mu� immer wieder betont werden - ist eine Ganzheit, sowohl in ihrem geschichtlichen Ablauf als auch in der Vielgliedigkeit unseres Musiklebens und im einzelnen Werk".


1994, Dietmar H�gen, Jan-Wellem-Stra�e 16, D-51789 Lindlar
1999-04-29, HTML-Fassung durch Werner Icking (1943-2001),GMD
2001-05-08, Christian Mondrup, Werner Icking Music Archive

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