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Mensch, Mario!

Die spärlich beleuchtete Straße war von gesichtslosen Mietshäusern gesäumt, wie man sie in jeder deutschen Stadt findet. Am Ende der Straße stand eine Kirche, daneben ein Betonklotz. Unter dessen Vordach hatte ein etwa fünfzigjähriger Mann vorübergehend Schutz gesucht vor dem Nieselregen. Durch die breite Glastür blickte er in eine hell erleuchtete Halle. Er faltete seinen Stadtplan auseinander und versuchte im nach draußen dringenden Lichtschein herauszufinden, wo er war.

Wie jedes Jahr zu Heiligabend war er ohne Ziel durch die dunklen Straßen gelaufen, hatte die geschmückten Tannenbäume hinter fremden Wohnzimmerfenstern betrachtet und sich ein bißchen dem zweifelhaften Trost des Selbstmitleids überlassen. Jetzt – und das war der Sinn seines Exerzitiums – war er müde geworden und sehnte sich zurück nach der Wärme und dem Licht seines Zimmers. Er wollte noch ein wenig in dem neuen Roman lesen, den er sich selbst zu Weihnachten geschenkt hatte, und dann früh zu Bett gehen.

Nur hatte er sich diesmal verlaufen. Er schaute sich um auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, nur ungern wollte er einen Passanten nach dem Weg fragen. Die Glocken der Kirche läuteten, der Gottesdienst war zu Ende, und plötzlich war der Bürgersteig belebt mit Kirchgängern. Sie begrüßten und verabschiedeten sich und wünschten einander ein frohes Fest. Doch schon wegen des Regens verweilte niemand länger als unbedingt nötig. Autotüren schlugen. Einige Menschen allerdings strebten auf den Betonklotz zu, und der Mann trat zur Seite, um niemandem im Weg zu stehen. Gemeindehaus Sankt Martin stand an der Glastür, die jetzt fortwährend auf- und zuschwang. Er beugte sich wieder über den Stadtplan in der Hoffnung, die Martinskirche zu entdecken.

„Mario!“ Hatte da jemand seinen Namen gerufen? „Mario!“ Er drehte sich um und sah die schmächtige Frau, die verfroren aussah in ihrer dünnen Jeansjacke.

„Josephine ... was machst du hier? Ich dachte, du wolltest nie wieder etwas mit dieser Stadt zu tun haben.“

„Mensch, Mario“, sagte sie, und ihre Miene hellte sich auf, „was bin ich froh, dich zu treffen. Du bist anscheinend der einzige aus der alten Clique, der noch hier lebt.“

Das mit der Clique war maßlos übertrieben. Ein paar Mal, vor fast zehn Jahren, hatten Josephine und er sich zum Wandern oder ins Kino verabredet, und fast immer hatte sie zu seiner Enttäuschung irgendwelche zwielichtig wirkenden und meist übelgelaunten Männer mitgebracht. Dann war sie eines Tages überstürzt in ihre schwäbische Heimat zurückgekehrt, angeblich um eine Beziehung mit einem Mann einzugehen, den sie kaum kannte. Diese Frau gehörte zu einer anderen, längst abgelegten Periode seines Lebens. Was wollte sie jetzt von ihm? Daß sie sich so über das Wiedersehn freute, erschien ihm unpassend.

„Jessica!“ Plötzlich schaute sich Josephine besorgt um. „Jessica!“, rief sie noch einmal. Mario entdeckte zuerst das kleine Mädchen hinter der Glastür. Es musste mit anderen Besuchern unbemerkt hineingeschlüpft sein. Es war, schätzte Mario, vielleicht zwei Jahre alt, hatte sein Näschen gegen die Scheibe gedrückt und schaute mit großen Augen nach draußen. Als Josephine und Mario die Halle betraten, lief die Kleine glucksend lachend nach hinten, wo eine Gruppe von Menschen stand, einige hielten Musikinstrumente.

Dann ging alles ganz schnell. „Lassen Sie doch bitte die Familie durch!“ Eine freundliche, aber resolute ältere Dame schob Josephine und Mario sanft in einen Saal, in dem viele Menschen an langen Tischen saßen. Jessica war bereits vorausgelaufen. „Hier vorne sind noch Plätze frei!“

Mario hatte das ohnmächtige Gefühl, in eine Falle gelockt worden zu sein. Josephine zog der Kleinen auf ihrem Schoß umständlich die Jacke aus, als richte sie sich wirklich darauf ein, den Abend hier in dem schäbigen Gemeindesaal zu verbringen. Zwischendurch strahlte sie ihn immer wieder an, als sei ihnen beiden soeben ein verwegener Coup gelungen. Sie mußte jetzt schon Mitte Vierzig sein, hatte vielleicht in einer Art Torschlußpanik noch ein Kind bekommen. Mario bemerkte die schräg geschnitten Augen des kleinen Mädchens. War es mongoloid? Er wußte, daß man diesen Ausdruck heute nicht mehr benutzen durfte, aber die korrekte wissenschaftliche Bezeichnung wollte ihm nicht einfallen. Na, möglich auch, daß der Vater tatsächlich ein Mongole war oder sonst ein Asiate; Josephine hatte schon früher immer wieder Ausländer tageweise in ihrer kleinen Wohnung beherbergt. Weniger aus Nächstenliebe, als um ihre eigene Einsamkeit zu vertreiben.

„Sag mal, ist die Kleine ... behindert?“

„Mario“, lachte Josephine, „ist das nicht absurd: Ausgerechnet wir beiden unverbesserlichen Atheisten sitzen in einem katholischen Gemeindehaus, um Weihnachten zu feiern!“

Josephine war noch ganz die Alte. Schon immer hatte sie Fragen, die ihr nicht paßten, entweder ignoriert oder, wenn, dann indirekt und mit Verzug beantwortet. Verstohlen ließ Mario seinen Blick schweifen. Die meisten Menschen waren ärmlich gekleidet. Viele schwiegen und hatten den Blick gesenkt, als sei es auch ihnen nicht ganz geheuer, hier zu sitzen. Andere schienen sich zu kennen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Kinder sah er nur ganz wenige. In einer Ecke stand ein Weihnachtsbaum. Junge Frauen arrangierten Schüsseln mit Speisen auf einem Büffet. Auf den Tischen standen brennende Kerzen und sternförmige Pappteller mit Weihnachtsgebäck. Mario nahm ein Anisplätzchen. Er brach eine Ecke ab, die er der kleinen Jessica hinhielt.

„Magst du ein Stück?“

Sie öffnete nur den Mund, ohne etwas zu sagen.

„Ein paar Wörter spricht sie schon“, sagte Josephine schnell. „Jetzt, wo ich zurück bin in der Stadt, muß ich erst wieder einen neuen Logopäden für sie finden.“

„Ich gehe jetzt“, sagte Mario entschlossen und stand auf. Aber Josephine hielt ihn am Ärmel fest.

„Bitte bleib wenigstens noch kurz. Jessica gefällt es hier. Warum soll sie nicht ein bißchen was von Weihnachten haben? Und sie mag dich, ich hab das im Gefühl. Und ich, ich muß erstmal ganz dringend aufs Klo, und außerdem steht der Kinderwagen noch draußen im Regen.“

Sie drückte ihm ohne Umschweife das kleine Mädchen in die Arme und ging eilig hinaus. Mario setzte sich wieder und schloß kurz die Augen. Das Kind auf seinem Schoß kuschelte sich an seine Brust, aber er bemühte sich erst gar nicht mit ihm zu sprechen. Vorne im Saal stellten sich jetzt die Musiker mit ihren Posaunen, Hörnern und Trompeten in Positur. Dann betrat der Pfarrer den Saal und hielt eine kurze Rede. Alle sollten sich heute abend als eine große Familie fühlen. Mario hörte nicht weiter zu. Dann hoben die Musiker ihre Instrumente und begannen zu spielen. Kommet ihr Hirten. Das war das Lieblingsweihnachtslied seiner Mutter gewesen. Als die letzte Note verklungen war, setzte zögerlicher Applaus ein.

Erstaunt bemerkte Mario, daß auch die kleine Jessica auf seinem Schoß in die Hände klatschte. Dann wandte sie sich mit leuchtenden Augen nach ihm um, als wollte sie sich vergewissern, daß er ihre Begeisterung teilte. Aber Marios eigenes Gesicht war wie versteinert. Er setzte Jessica auf den Stuhl neben sich, sprang auf und strebte wie blind zum rettenden Ausgang. Er drehte sich nur noch kurz um und sah Jessica auf dem Stuhl sitzen, die Tischkante versperrte ihr jetzt die Sicht auf die Musiker, die ihr doch so gefielen.

In der Tür wäre er fast mit Josephine zusammengestoßen. „Eben habe ich den Weihnachtsmann in der Halle gesehen, wie er sich den Wattebart festgeklebt hat“, lachte sie. „Und jetzt rate mal, wer er ist. Peter! Mensch, Mario, ist das nicht unglaublich komisch: Ich muß mich nur in eine Kirchengemeinde verirren, und schon treffe ich zwei Kumpels von früher.“

Mario konnte sich an keinen Peter erinnern. Zum ersten Mal an diesem Abend musterte er Josephine eingehender. Die Falten um ihren Mund hatten sich in den letzten zehn Jahren noch tiefer eingegraben und gaben ihrem Gesicht bei allem Willen zur Fröhlichkeit einen Zug ins Verbitterte. Aber die großen, grauen Augen waren genauso schön wie damals, nur glomm ein unerklärliches Flackern in ihnen, an das er sich nicht erinnerte. Dann begriff er, daß die Flamme einer Kerze sich in ihren Pupillen spiegelte. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, nahm Josephine ihn bei der Hand und führte ihn zurück in den Saal. Eben stimmte die Kapelle Stille Nacht, heilige Nacht an. Diesmal sangen einige Menschen mit, erst vereinzelt und zaghaft, dann mutiger und in immer größerer Zahl. Jessica saß noch immer auf dem für sie zu großen Stuhl. Sie zog die Schultern hoch und lächelte.

© 2004/2023 Martin O'Connor 🕯