đŸ’Ÿ Archived View for data.konfusator.de â€ș 2024-03-08_alte_texte.gmi captured on 2024-07-08 at 23:26:28. Gemini links have been rewritten to link to archived content

View Raw

More Information

âŹ…ïž Previous capture (2024-03-21)

-=-=-=-=-=-=-

Alte Texte, aktuelle Muster

Wir leben in merkwĂŒrdigen Zeiten, aber offenbar nicht in außergewöhnlichen. Ich habe in letzter Zeit zwei Mal beim Lesen von Ă€lteren Texten eine Art Aha-Erlebnis gehabt: Einmal beim Lesen der Texte im Heft der Geburtsurkunde meiner Mutter (»Das Buch der Kindheit. Urkunden. Amtliche Eintragungen. Abstammungsnachweis«), auf das ich eher zufĂ€llig gestoßen bin. Der zweite Text war Â»Ăœber den physiologischen Schwachsinn des Weibes« von Paul Julius Möbius, von dem ich immer wieder mal gehört hatte, den ich aber nie gelesen hatte. Beide Texte erscheinen mir in einer bedrĂŒckenden Art aktuell: Die Grundmuster der Argumentation und der AusfĂŒhrung erinnern mich an moderne Rechtspopulisten.

Fangen wir mit dem ersten Text an – »Kind – Familie – Volk« von Friedrich Burgdörfer. Da meine Mutter kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde und Friedrich Burgdörfer Verfasser von Schriften wie »Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörper« (1932), »Völker am Abgrund« (1936), »Kinder des Vertrauens. Bevölkerungspolitische Erfolge und Aufgaben im Großdeutschen Reich« (1940) oder »Bevölkerungsdynamik und Bevölkerungsbilanz; Entwicklung der Erdbevölkerung in Vergangenheit und Zukunft« (1951) ist, ist die Grundrichtung des Textes nicht unerwartet.

Auf knapp zwei Seiten skizziert Burgdörfer (nicht ohne auf Zitate des FĂŒhrers und des ReichsfĂŒhrers SS zu verzichten) die Aufgabe der Familie, »die entscheidende Frage der nationalsozialistischen Revolution an das deutsche Volk, an jeden erbgesunden deutschen Mann und jede erbgesunde deutsche Frau im neuen Reich, vor der es kein Ausweichen geben darf«: Kinder zu bekommen. Da es sich um die Geburtsurkunde handelt war das offenbar schon passiert, und es mussten dringend mehr werden, denn »sonst wĂŒrdet Ihr Euch an dem Schicksal Eures Volkes, Eurer Familie und Eures Kindes zugleich versĂŒndigen«. Das ist die Sprache eines MitlĂ€ufersÂč, der in der 1945 von den Amerikanern aus allen Ämtern entfernt wurde, aber spĂ€ter in der Bundesrepublik wieder auf seinem Gebiet arbeiten konnte, wenn auch nicht mehr an der Behördenspitze. DafĂŒr war er wohl auch zu alt (»22.09.1948 Wiedereinsetzung als PrĂ€sident des Statistischen Landesamtes [Bayern] und gleichzeitige Versetzung in den Ruhestand«), aber zur Honorarprofessur und zu Ehrenmitgliedschaften hat es noch gereicht.

Die Biografie nach 1945 wĂ€re ein interessantes Thema, aber das war nicht der Punkt, der mich an dem Text fasziniert hat. Was ich spannend fand, war der RĂŒckblick auf die »hinter uns liegenden Jahren des Verfalls«. Mit Verfall scheinen die Änderungen der Moderne gemeint zu sein: Aufbruch der Frau aus den traditionellen Werten und kleinere Familien. Die schlimmen Jahre des Verfalls scheinen aus seiner Sicht mit der »nationalsozialistischen Revolution« beendet worden zu sein, die offenbar die Moderne zurĂŒckgedrĂ€ngt hat. VerĂ€nderungen als Verfall auffassen – das scheint mir auch heute ein wichtiger Punkt bei der AfD zu sein – von Putins Zerrbild des dekadenten Westens ganz abgesehen. Hoffnung auf die Revolution, die alles macht, wie es frĂŒher (auch nicht) war – das fĂŒhlt sich unangenehm aktuell an.

Der zweite Text, den ich eigentlich seit meinem Studium mal im Original lesen wollte, ist Â»Ăœber den physiologischen Schwachsinn des Weibes« von Möbius. Seit dem Studium weil er im Zusammenhang mit dem Streit um die Habilitation von Emmy Noether (Disclaimer: Ich kann und mag keine Algebra) erwĂ€hnt wurde, quasi als Gegenposition zu Hilbert (»Aber meine Herren, eine FakultĂ€t ist doch keine Badeanstalt!«). Gestern hatte ich tatsĂ€chlich mal die Muße und die NervenstĂ€rke, mir den Text anzuschauen. Und schon beim Lesen des Vorworts war mir klar: Paul Julius Möbius ist ein Troll, wenn auch einer vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Herz thut mir weh darum, dass ich nicht alle gedruckten und schriftlichen Aeusserungen meiner Gegner und Freunde, meiner lieben Gegnerinnen und Freundinnen besprechen kann, die mir seit dem Erscheinen der 4. Auflage zugekommen sind.

DerDas ist der erste Satz des Vorworts – es geht mit offenkundiger Befriedigung ĂŒber das Echo auf sein Pamphlet los. Dabei zieht er sowohl aus der Zustimmung als auch in Kritik Nahrung: Direkte Zustimmung freut ihn, Kritik ist Beachtung und weibliche Kritik »könnte ein BeweisstĂŒck fĂŒr mich abgeben«. Es scheint mir allerdings unwahrscheinlich, dass die Kritik immer sachlich war.

Letztlich geht es ihm – wie auch Burgdörfer – aber auch nur um die Rolle der Frau als GebĂ€r- und Bertreuungs-Maschine:

Ebenso wie ein verstÀndiger Mann sich zur Pflege seiner kleinen Kinder nicht ein gelehrtes Frauenzimmer aussuchen wird, so stellte die ewige Weisheit nicht neben den Mann noch einen Mann mit einem Uterus, sondern das Weib, dem sie alles zu seinem edlen Berufe Nöthige gab, dem sie aber die mÀnnliche Geisteskraft versagte.
Nach alledem ist der weibliche Schwachsinn nicht nur vorhanden, sondern auch nothwendig, er ist nicht nur ein physiologisches Factum, sondern auch ein physiologisches Postulat. Wollen wir ein Weib, das ganz seinen Mutterberuf erfĂŒllt, so kann es nicht ein mĂ€nnliches Gehirn haben.

Es kommt noch viel Pseudowissenschaft von SchĂ€delgrĂ¶ĂŸen und Schwachsinn (das gilt auch fĂŒr MĂ€nner mit kleinen Köpfen), viel Behauptung, aber er kommt noch auf seine Motivation zu sprechen:

Woher kommt Dir, fragt man mich, der Zorn gegen „das neue Weib“? Sicher nicht aus persönlichen ErwĂ€gungen, denn ich stehe ganz allein und habe keine persönlichen WĂŒnsche mehr, auch hat mir niemals ein neues Weib etwas zu leide gethan. Dass ein wirklicher Zorn mich erfasste, das war bei Gelegenheit von Ibsen’s Nora. In diesem StĂŒcke handelt es sich darum, dass die Nora, die als kleines dummes Frauenzimmer geschildert wird, schliesslich auf- und davongeht, weil ihr Mann sie ihrer Meinung nach als Puppe behandelt hat. Was Ibsen sich eigentlich dabei gedacht hat, weiss ich nicht; man bekommt ja in der Regel nicht heraus, was der Apotheker-Dichter will. Zu seiner Ehre möchte ich annehmen, dass er die Gesinnung, der Nora huldigt, mit grimmigem Hohne verspotte. Nun aber musste ich sehen, dass die Leute in der entarteten, halb verrĂŒckten Person, die ihre Kinder im Stiche lĂ€sst, weil sie sich einbildet, sie mĂŒsste ihr erbĂ€rmliches Ich ausbilden, eine Heldin erblickten. Das empörte mich und je mehr ich darĂŒber nachdachte, um so abscheulicher und widerwĂ€rtiger kam mir die Sache vor. In der That kann die tiefe Unsittlichkeit des Individualismus gar nicht treffender gezeichnet werden, als es durch Nora’s Fortgang geschieht. Einem Weibe, das der Mutterpflicht durch wilde Leidenschaft untreu wird, mag man verzeihen, eine Mutter aber, die ihre Kinder verlĂ€sst, weil sie sich nicht gebildet genug vorkommt, ist ein Scheusal oder, wenn man den Gesichtspunkt wechselt, eine Geisteskranke.

Da soll noch jemand behaupten Literatur bewirke nichts. Man sieht Verlustangst. Angst vor Änderungen. Spekulativ (weil ich die Biografie von Möbius nicht kenne): Erinnerung an alte KrĂ€nkungen. Dazu eine krĂ€ftige Meinung von sich selbst und eine Befriedigung am Herabsetzen Anderer. Das kommt mir als Motiv in der heutigen Zeit sehr bekannt vor: Es ist ein Troll.

Links

ÂčBiografie auf bavirikon / Bayerische Staatsbibliothek

Pyramide, Glocke, Urne: Friedrich Burgdörfers "Die drei Grundformen der Bevölkerungsstruktur", 1932

Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (wikisource)

════════════════════════

2024-03-08T12:45+01:00

🏡