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Wir thematisieren die wichtigen Fragestellungen rund um Internet, Gesellschaft und Politik und zeigen Wege auf, wie man sich auch selbst mit Hilfe des Netzes fĂŒr digitale Freiheiten und Offenheit engagieren kann. Mit netzpolitik.org beschreiben wir, wie die Politik das Internet durch Regulierung verĂ€ndert und wie das Netz Politik, Ăffentlichkeiten und alles andere verĂ€ndert.
Zuletzt aktualisiert: Fri, 10 May 2024 11:49:48 +0200
Fri, 10 May 2024 11:48:45 +0000
Anna Biselli
Millionen Gesichtsbilder aus der zentralen INPOL-Datenbank stellte das Bundeskriminalamt zur VerfĂŒgung, um die Performance von mehreren Gesichtserkennungssystemen zu testen. Rechtsfachleute zweifeln an der RechtmĂ€Ăigkeit, ein mutmaĂlich Betroffener ĂŒberlegt zu klagen.
Mit Gesichtserkennungs-Software gleich das Bundeskriminalamt beispielsweise Bilder von Ăberwachungskameras mit polizeilich bekannten Gesichtern ab, vor allem der sogenannten INPOL-Datei. 7.697 SuchlĂ€ufe waren es im Jahr 2022, dabei wurden |2.853 zuvor unbekannte Personen identifziert|.
Um verschiedene Software-Produkte zu vergleichen, lieĂ das BKA bis zum Jahr 2019 vom Fraunhofer-Institut fĂŒr Graphische Datenverarbeitung mehrere Gesichtserkennungssysteme im Projekt EGES vergleichen â kurz fĂŒr: |ErtĂŒchtigung des Gesichtserkennungssystem im BKA|.
|Recherchen des Bayerischen Rundfunks| auf Basis von Informationsfreiheitsanfragen des CCC-Sprechers Matthias Marx haben nun ergeben, dass das BKA dem Institut dafĂŒr mehrere Millionen Gesichtsbilder von drei Millionen Personen zur VerfĂŒgung stellte. Sie stammten vor allem aus der zentralen INPOL-Datenbank.
Im Abschlussbericht des Projekts heiĂt es zum Datenbestand etwa:
Kopien von ca. 5 Millionen digitalen Bildern, die in INPOL-Z als frontale Gesichtsbilder von ca. 3 Millionen Personen markiert sind.
Dazu kamen Bilder von Freiwilligen, jedoch in weit geringerem Umfang, etwa âvon 147 freiwilligen Testpersonen mindestens zwei digitale frontale Gesichtsbilder, die unter idealen Bedingungen ĂŒber einen Zeitraum von etwas mehr als neun Jahren aufgenommen wurdenâ.
Aus einer weiteren Informationsfreiheitsanfrage zur diesbezĂŒglichen Korrespondenz des Bundesdatenschutzbeauftragen mit dem BKA wird klar, dass den Beteiligten bewusst war, dass das Vorgehen rechtlich sensibel war.
In einem Schreiben |fragt ein Mitarbeiter des Bundesdatenschutzbeauftragten| das BKA selbst nach der entsprechenden Rechtsgrundlage. Das wiederum beruft sich darauf, dass es |keine Datenweitergabe gegeben| habe und verweist auf ein kompliziertes System, bei dem etwa ein |Rechner ohne Verbindung zum Internet und ohne externe Schnittstellen| zum Einsatz kam. Nach Projektende seien alle Festplatten physisch zerstört worden.
Das BKA berief sich unter anderem auf einen Paragrafen im BKA-Gesetz, der die Nutzung der Daten fĂŒr Forschungszwecke erlaubt. Ganz ĂŒberzeugt hat das den Bundesdatenschutzbeauftragten offenbar nicht, er sieht in dem Vergleich von kommerziellen Produkten keine Forschung. âEs mangelt an einer Rechtsgrundlageâ, heiĂt es in einem Schreiben. Beanstanden wollte er das Projekt aber nicht, wegen der komplexen rechtlichen Situation. Nach monatelangem Austausch mit dem BKA heiĂt es von Seiten des Datenschutzbeauftragten: âEine Einigung konnte indes nicht erzielt werden.â
Der vom BR befragte Rechtswissenschaftler Mark Zöller ist ebenfalls skeptisch. Die Sicherheitsbehörde mĂŒsse sich an das BKA-Gesetz halten. Und das regele nicht, welche Daten fĂŒr Software-Tests genutzt werden dĂŒrfen.
Janik Besendorf, dessen Bild mutmaĂlich auch fĂŒr die Tests genutzt worden waren, hat nun |Beschwerde beim Bundesdatenschutzbeauftragen eingereicht|. Er war erkennungsdienstlich behandelt worden. Das zugehörige Verfahren wurde zwar eingestellt, er geht aber davon aus, in der Datensammlung gelandet zu sein. Der IT-Sicherheitsexperte ĂŒberlegt auĂerdem, in der Sache gegen das BKA zu klagen.
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|2.853 zuvor unbekannte Personen identifziert|
|ErtĂŒchtigung des Gesichtserkennungssystem im BKA|
|Recherchen des Bayerischen Rundfunks|
|fragt ein Mitarbeiter des Bundesdatenschutzbeauftragten|
|keine Datenweitergabe gegeben|
|Rechner ohne Verbindung zum Internet und ohne externe Schnittstellen|
|Beschwerde beim Bundesdatenschutzbeauftragen eingereicht|
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Fri, 10 May 2024 10:49:16 +0000
Andre Meister
Die EU-Staaten diskutieren, ob sie die Chatkontrolle auf Bilder und Videos beschrÀnken wollen. Das hat die belgische RatsprÀsidentschaft vorgeschlagen. Einige Staaten lehnen das jedoch ab. Die Verhandlungen sind seit Wochen festgefahren.
Die EU-Staaten haben am Mittwoch in der |Arbeitsgruppe Strafverfolgung| wieder ĂŒber die Chatkontrolle verhandelt. Dort waren die Verhandlungen nach fast zwei Jahren |zuletzt festgefahren|.
Im Gegensatz zu bisherigen Sitzungen hat die belgische RatsprĂ€sidentschaft vorher keinen neuen Textvorschlag erarbeitet und verschickt. Stattdessen hat die RatsprĂ€sidentschaft mĂŒndlich ein neues Konzept vorgestellt.
Laut einem Sprecher des Rats schlÀgt Belgien vor, die Chatkontrolle auf visuelle Inhalte zu beschrÀnken, also auf Bilder und Videos. Audio- und Textinhalte sollen demnach nicht mehr gescannt werden.
AuĂerdem schlĂ€gt die PrĂ€sidentschaft âeine Upload-Moderation mit Zustimmung der Nutzerâ vor, so der Sprecher weiter: âWenn die Genehmigung erteilt wird, kann Bildmaterial hochgeladen werden, das dann mit einer speziellen, ĂŒberprĂŒften Software aufgespĂŒrt werden kann.â
Da die EU-Staaten den Vorschlag nicht vorher prĂŒfen konnten und es noch keine schriftliche Version gibt, haben sie unter Vorbehalt diskutiert. Einige Staaten lehnen eine EinschrĂ€nkung der Chatkontrolle auf Bilder und Videos jedoch ab, sie wollen sĂ€mtliche Inhalte scannen.
Andere Staaten lehnen es ab, neben bekannter strafbarer Kinderpornografie auch nach unbekannten Inhalten und Grooming zu suchen. Vor allem die Niederlande kritisieren diesen Punkt in jeder einzelnen Verhandlungsrunde. Einige Staaten fragten, âwie sich die Upload-Moderation mit dem Aspekt VerschlĂŒsselung verhĂ€ltâ.
Zwar fordern die meisten Staaten weiterhin, bald eine Einigung zu finden. Die grundsĂ€tzlichen Probleme der Chatkontrolle sind aber weiterhin ungelöst. Daher gibt es unter den Staaten weiterhin keine ausreichende Mehrheit, das Gesetz zu beschlieĂen.
Die belgische RatsprÀsidentschaft hat nicht gesagt, wie es weitergehen soll. |Laut Kalender| finden die nÀchsten beiden Verhandlungsrunden erst im Juni statt, wÀhrend und kurz nach der EU-Wahl.
Damit ist es mittlerweile ziemlich unwahrscheinlich, dass Belgien noch eine Einigung der EU-Staaten herbeifĂŒhren kann. Anfang Juli ĂŒbernimmt Ungarn die RatsprĂ€sidentschaft.
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|Arbeitsgruppe Strafverfolgung|
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Fri, 10 May 2024 10:27:01 +0000
Constanze
Wer das Informationsfreiheitsgesetz nutzen will, sollte bei der Plattform âFrag den Staatâ vorbeischauen. Wir sprechen mit Arne Semsrott ĂŒber Aktivismus, nachhaltige Erfolge, Olaf Scholzâ Haltung zu Transparenz und wie Ministerien Kampagnen fĂŒr mehr Informationsfreiheit gegen die Wand fahren lieĂen.
Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es nun das Transparenzportal âFrag den Staatâ, und von Anfang an ist Arne Semsrott dabei. Die Website erlaubt es, Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) bequem von der Couch aus loszutreten, sozusagen Klicktivismus fĂŒr mehr Transparenz â aber mit Anspruch, guter BenutzerfĂŒhrung und zumindest Erfolgsaussicht.
Elisa Lindinger, Elina EickstĂ€dt und Constanze Kurz â das Team des |Podcasts âDicke Bretterâ| â sprechen mit Arne Semsrott darĂŒber, was sich in Sachen Transparenz verĂ€ndert hat, seit Wolfgang Schmidt und Olaf Scholz das Bundeskanzleramt besiedelt haben. Seine EinschĂ€tzungen stellen der Ampel-Regierung kein gutes Zeugnis aus. Was ist die Bilanz bei den Verwaltungsgerichten, die in vielen FĂ€llen angerufen werden mĂŒssen? Und wie wird es mit âFrag den Staatâ weitergehen?
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Arne Semsrott ist Politikwissenschaftler und Aktivist fĂŒr mehr Transparenz und arbeitet seit zehn Jahren bei der Informationsfreiheitsplattform |Frag den Staat|. Er engagiert sich auch beim |Freiheitsfonds|, einem Projekt, bei dem Menschen aus dem GefĂ€ngnis freigekauft werden und politisch fĂŒr eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne Ticket geworben wird. Mehrere Jahre hat er auch bei netzpolitik.org ĂŒber Informationsfreiheit und Transparenz geschrieben.
Sein neues Buch heiĂt |MachtĂŒbernahme â Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren. Eine Anleitung zum Widerstand| und wird am 3. Juni erscheinen.
Elina EickstÀdt: Lieber Arne, was ist Informationsfreiheit?
Arne Semsrott: Informationsfreiheit ist das Recht auf Zugang zu Information. Es ist ein Grundrecht, ein Menschenrecht, das wir alle haben. Das ist in Deutschland und in anderen LĂ€ndern ĂŒber Gesetze geregelt, die uns die Möglichkeit bieten, alle möglichen Informationen vom Staat zu holen. Es geht also um alles, was in AktenschrĂ€nken liegt und dort teilweise verkĂŒmmert. Das können wir besorgen oder wir können zumindest versuchen, es zu besorgen. Und das ist hĂ€ufig ein ganz schöner Kampf.
Elina EickstĂ€dt: Wo wĂŒrdest du das Konzept von âFrag den Staatâ als Plattform fĂŒr Personen, die aktivistisch tĂ€tig werden wollen, einordnen? Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz als Aktivismusmittel einzusetzen, ist ja eine neue Idee gewesen.
Arne Semsrott: Ich sehe âFrag den Staatâ als Organisation zwischen allen StĂŒhlen: Sie ist ein mögliches Mittel fĂŒr Aktivistinnen und fĂŒr Organisationen, um Druck zu machen, sich Infos zu holen, sich bemerkbar zu machen und Kampagnen oder Vorhaben, die sie haben, zu verstĂ€rken.
Es gibt ja diese Informationsfreiheitsgesetze. Ăber die haben wir die Möglichkeit, Infos vom Staat zu bekommen. Dann ist aber die Frage: Wie kann man das in politischer Arbeit so einsetzen, dass es tatsĂ€chlich einen Unterschied macht?
Das offensichtlichste Beispiel: Ich hole mir eine Information, da steht irgendwas Krasses drin. Ein Referat im Innenministerium streitet sich zum Beispiel mit einem Referat im Justizministerium. Ich kriege das mit, weil ich alle E-Mails zwischen den beiden HĂ€usern abfrage. Wenn ich das an die Ăffentlichkeit gebe, kann ich vielleicht in einem Gesetzgebungsprozess Druck machen.
Aber es funktioniert auch ein bisschen subtiler. Wenn ich eine spezifische Anfrage stelle, gerade in laufenden Prozessen, dann merken die Behörden das und werden vielleicht achtgeben, was ĂŒberhaupt in eine Akte reingeschrieben wird. Das heiĂt, das kann Prozesse Ă€ndern durch das Wissen, dass da jemand draufschaut.
Es gibt zudem zahlreiche AusnahmetatbestĂ€nde in Informationsfreiheitsgesetzen, sie sind ĂŒberhaupt verbesserungswĂŒrdig. Aber auch wenn ich eine Ablehnung einer Anfrage bekommen, kann ich das fĂŒr Kampagnen gut nutzen, denn ich kann dann sagen: Seht mal, die haben diesen Gesetzgebungsprozess, aber die geben die Infos nicht raus. Offensichtlich haben die was zu verbergen. Und man kann natĂŒrlich auch mit geschwĂ€rzten Akten gutes Campaigning machen. Es ist teilweise so, dass Infos, die sie nicht rausrĂŒcken, interessanter sind als Infos, die sie rausrĂŒcken.
Elisa Lindinger: Ich erinnere mich noch an meine erste IFG-Anfrage ĂŒber âFrag den Staatâ: Das war in der |Kampagne âTopf Secretâ|. Das wĂ€re ein drittes Beispiel, wie die Plattform wirkt: Da geht es weniger darum, eine parteipolitische Agenda zu haben oder quasi hoch aufgehĂ€ngte Themen zu besetzen, sondern stĂ€rker darum, einen Datenbestand freizukriegen, der bisher nicht einsehbar war. Konkret ging es um die Gutachten von GesundheitsĂ€mtern zu Restaurants, in die wir alle gern gehen und essen und vielleicht ganz gern wissen wollen wĂŒrden, wie es in deren KĂŒche aussieht. Solche Kampagnen habt ihr frĂŒher relativ oft gemacht und gefĂŒhlt wird das jetzt weniger. TĂ€usche ich mich da?
Arne Semsrott: Nein, das stimmt. Bei âTopf Secretâ geht es um Lebensmittelkontrollberichte und ich glaube, was wir mit dieser Kampagne geschafft haben, ist das Zusammenfassen egoistischer Motive von einzelnen Leuten zu einer Kampagne mit einem höheren Ziel. Ich gehe beispielsweise in ein Restaurant, dann habe ich einen verdorbenen Magen. Dann will ich erstmal sehen: War das Hygieneamt eigentlich da? Vielleicht haben sie ja Hygieneprobleme gefunden.
Es haben jetzt etwa 60.000 Leute Lebensmittelkontrollberichte ĂŒber die Plattform angefragt â aus ihren eigenen Motiven. Das zusammengenommen ergibt dann eine Kampagne fĂŒr mehr Transparenz in dem Bereich. Denn wir können natĂŒrlich sehr gut sagen: Offensichtlich wollen so viele Leute das wissen, dann wĂ€re es doch viel einfacher, diese Infos von sich aus zu veröffentlichen. Das war immer die Forderung, die wir mitkommuniziert haben.
Constanze Kurz: Die Kontrollberichte hĂ€ngen oft auf Papier in den Ămtern, aber sie veröffentlichen sie nicht online.
Arne Semsrott: Ja, es kommt aber auf die BundeslĂ€nder an, die machen es unterschiedlich. Das Ziel, was man eigentlich haben will, ist ein bundesweites Gesetz, vielleicht ein Smiley-System, das drauĂen am Restaurant angebracht werden muss. Das wĂ€re viel leichter fĂŒr alle.
Man mĂŒsste dafĂŒr einen Prozess etablieren. Das ist natĂŒrlich schwierig, denn Prozesse etablieren ist immer eine groĂe Pein. Letztlich haben die Verwaltungen und das Landwirtschaftsministerium gesagt: Nein, dann ballern sie uns halt mit tausenden AntrĂ€gen zu, das mĂŒssen jetzt die Ămter alle abarbeiten.
Wir können aber nun zu den einzelnen Ămtern hingehen und sagen: Macht doch bitte Druck beim Bundesministerium, damit sie Gesetze einfĂŒhren, dann habt ihr diese Arbeit nicht mehr. Das heiĂt, man kann ĂŒber einen klaren, letztlich ökonomischen Druck bei den Behörden dafĂŒr sorgen, dass die dann wiederum aus Eigeninteresse fĂŒr eine Sache lobbyieren.
Constanze Kurz: Wir beobachten die Projekte von âFrag den Staatâ schon lĂ€nger und sind selber auch Nutzer der Plattform. Es gibt mittlerweile einen klaren âPushbackâ, also Gegendruck fĂŒr das Ansinnen nach mehr Informationsfreiheit. Aktuell gab es etwa ein |Urteil des Bundesverwaltungsgerichts|, das als ein RĂŒckschritt bewertet werden kann. Hast du angesichts dieser Entwicklung noch dieselben aktivistischen Energien, sind sie sogar eher mehr oder strukturierter geworden? Wie siehst du deinen Aktivismus nach einem Jahrzehnt?
Arne Semsrott: Ich glaube, es hat sich ein bisschen verlagert. Ich bin auf jeden Fall deutlich pessimistischer in allem. Das ist gar nicht unbedingt schlimm, das macht die Arbeit vielleicht tatsĂ€chlich eher besser. Manchmal ist natĂŒrlich ein naives Herangehen super, weil man denkt, man kann es schaffen. Wenn einem vorher klar wĂ€re, was fĂŒr eine Arbeit das ist, dann wĂŒrde man vielleicht gar nicht erst anfangen. Insofern ist NaivitĂ€t auch immer ganz schön.
Aber gerade bei diesen Kampagnen, die Elisa ansprach, sind es deswegen weniger geworden, weil wir mit der letzten Kampagne, die wir gemacht hatten, ganz schön auf die Schnauze gefallen sind. Das war âglĂ€serne Gesetzeâ, eine Kampagne, mit der wir die Bundesverwaltung zwingen wollten, all ihre Lobbykontakte offenzulegen. Es war riesig angelegt, letztlich 10.000 Anfragen nach einzelnen Lobbytreffen.
Die Bundesministerien haben uns komplett gegen die Wand fahren lassen. Sie haben sie alle abgelehnt. Wir haben viel geklagt dagegen und sind letztlich nach drei Jahren vor den Verwaltungsgerichten angekommen.
Diese Prozesse sind wahnsinnig lang. Das heiĂt, da war dann die Luft raus aus dieser Kampagne. Nach drei Jahren kannst du nicht so eine Spannung aufrechterhalten. Dann hat die Bundesverwaltung vor dem Verwaltungsgericht einen ziemlich groĂen Sieg fĂŒr sich errungen. Sie konnten nĂ€mlich gut nachweisen, dass die Informationen nach Lobbytreffen, also beispielsweise wann sich eine Bundesministerin mit einem Chemieverband getroffen hat, in der Bundesverwaltung nicht strukturiert vorliegen, weil deren Aktensysteme einfach sehr schlecht sind.
Das heiĂt: Wenn sich die Verwaltung intern misslich organisiert, dann sagen die Verwaltungsgerichte, dass es dann nicht rausgegeben werden kann. Das heiĂt auch: Diese komplett verkorkste Digitalisierung fĂŒhrt dazu, dass man einfach an Infos nicht rankommt. Und dann fĂ€llt so eine Kampagne auch auf die Nase.
Elisa Lindinger: Ihr kĂ€mpft ja bei âFrag den Staatâ fĂŒr die Grundlagen, nĂ€mlich Transparenz. Diese Transparenz ist in sich wenig wert, aber sie ermöglicht einen Kampf fĂŒr Gerechtigkeit, fĂŒr Einflussnahme, fĂŒr mehr Mitwirkung, fĂŒr Verantwortlichkeit. Da haben wir noch einen langen Weg zu gehen, ein wirklich dickes Brett zu bohren.
Arne Semsrott: Ja, und wir haben eine Regierung, die selbst kein Interesse daran hat. Da sind die GrĂŒnen hervorzuheben, weil sie als Opposition immer fĂŒr Transparenz gekĂ€mpft haben, auch aus Eigeninteresse, weil die Opposition kaum an Infos rangekommen ist. Jetzt sind sie an der Regierung, haben Zugriff auf die Infos und bringen keinen groĂen Druck dahinter, diesen ganzen Prozess transparenter zu machen.
Constanze Kurz: Wie bewertest du die Ampel-Regierung, nachdem |ĂŒber die HĂ€lfte der Legislaturperiode| nun vorbei ist?
Arne Semsrott: Die GrĂŒnen haben wirklich tolle kleine Anfragen gemacht, als sie in der Opposition waren. Sie haben viele Infos an die Ăffentlichkeit geholt, gerade auch im NSA-BND-Komplex. Die Leute, die daran im Bundestag gearbeitet haben, arbeiten da immer noch dran. Aber sie stellen keine kleinen Anfragen mehr, sondern sie stellen interne Anfragen an die Bundesregierung. Das lĂ€uft jetzt alles im Koalitionsausschuss. Intern kriegen sie die Antworten genauso wie vorher, aber sie werden alle nicht mehr veröffentlicht.
Das heiĂt: Die Ăffentlichkeit ist einfach auĂen vor, und das stört die GrĂŒnen offensichtlich nicht besonders. Mein Eindruck ist: Die GrĂŒnen sind wahnsinnig loyal zu dieser Ampel, die geben kaum Infos raus. Leute, mit denen man vorher ordentlich reden konnte, die reden einfach nicht mehr mit einem.
Was Transparenz angeht, gibt es einfach ĂŒberhaupt keine VerĂ€nderung zur vorherigen Regierung. Wenn, dann ist es sogar teilweise schlechter geworden. Denn jetzt ist der Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, der fĂŒr Olaf Scholz seit zwanzig Jahren sozusagen die Leichen im Keller begrĂ€bt. Stichwort wĂ€re beispielsweise der Steuerraub, der durch die Cum-Ex-Files öffentlich wurde. Beim Thema Transparenz ist Schmidt ein gebranntes Kind.
Wir haben beispielsweise eine Klage am Laufen zum Sondervermögen Bundeswehr. Das sind diese 100 Milliarden Euro, die kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine beschlossen wurden. Dazu gibt es offiziell drei Dokumente im Kanzleramt, fĂŒr so eine Entscheidung, in ein paar Tagen 100 Milliarden Euro freizumachen. Drei Dokumente!
NatĂŒrlich haben sie viel ausfĂŒhrlicher darĂŒber gesprochen, aber alles wurde nicht mehr veraktet. Auch in diesem Fall sagt dann das Verwaltungsgericht: Wenn sie Infos nicht gibt, dann können wir auch nichts machen. Und damit kommt dann ein Wolfgang Schmidt und ein Olaf Scholz durch. Das hat Merkel vorher sicher auch gemacht. Aber ich habe den Eindruck, dass es jetzt einfach noch krasser geworden ist.
Constanze Kurz: Es ist ja bekanntes PhĂ€nomen, auch in der Merkel-Regierungszeit wurde das kritisiert. Die Frage ist, ob es ein strategisches Prinzip ist. Es betrifft ja nicht nur das Kanzleramt, sondern auch die Ministerien. Was wird ĂŒberhaupt veraktet? Ihr hattet auch juristische KĂ€mpfe um die Fragen nach SMS- und Messenger-Nachrichten. Es ist ja auch eine RealitĂ€t, dass die Menschen in der jetzigen Regierung zehn Jahre jĂŒnger sind als in der Regierung von Merkel davor. Sie benutzen Smartphones anders. Ganz offenkundig verakten sie weniger. Es ist richtig, dass ihr juristisch hier wenig erreicht habt?
Arne Semsrott: Total. Im Gegenteil wĂŒrde ich sogar sagen, wir haben ein paar wichtige juristische Sachen verloren, die eine schlechte Praxis dann auch noch legalisiert haben.
SMS-Nachrichten sind ein Beispiel. Konkret hatten wir eine Klage gegen das AuswĂ€rtige Amt. Es ging um SMS, jetzt aktuell zur Ukraine und davor vom ehemaligen Minister Heiko Maas zu Afghanistan. Da saĂen dann die Beamten im Verwaltungsgericht und haben gesagt: Schauen Sie, technisch ist das gar nicht möglich, mit diesen GerĂ€ten SMS zu senden, offensichtlich ist das also nicht passiert. Dann fragt das Verwaltungsgericht: Was ist denn mit eurer internen Anweisung? Dann holen die Beamten die interne Anweisung raus, da steht drin: Man darf keine SMS verschicken. Dann sagen alle: Eine deutsche Verwaltung arbeitet nach Recht und Gesetz.
Und das warâs. Jetzt kommt man an die SMS nicht ran, weil es sie offiziell nicht gibt. Dass alles per SMS gemacht wird oder per Threema oder mit anderen Messengern, das ist klar, auch in einem kleinen Gerichtssaal. Das heiĂt: Das einzige, was da noch bleibt, sind Leaks.
Elina EickstĂ€dt: Wie verĂ€ndert sich die Strategie von âFrag den Staatâ angesichts solcher Urteile und Praktiken?
Arne Semsrott: Wir sind nicht mehr nur die Informationsfreiheitsgesetz-Organisation. Die IFG-Anfragen sind inzwischen ein Baustein innerhalb eines Ăkosystems von verschiedenen Methoden.
Ich selbst widme mich auch Sachen, die ein bisschen weiter entfernt sind vom Informationsfreiheitsgesetz. Es lĂ€uft jetzt gerade ein Strafverfahren gegen mich wegen der Veröffentlichung von Dokumenten in Bezug auf die âLetzte Generationâ. Die Dokumente stammen aus laufenden Strafverfahren. Das eine Straftat und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden.
Das hat natĂŒrlich mit dem Informationsfreiheitsgesetz nichts mehr zu tun, aber immer mit dem breiten Komplex des Zugangs zu Informationen. Es ist in dem Fall ein strategisches Mittel, sich verklagen lassen und zu schauen, was ein Strafverfahren an KlĂ€rung bringen kann. Im Idealfall fĂŒhrt dieses Verfahren dazu, dass die zugrundeliegende Norm im Strafgesetzbuch fĂŒr verfassungswidrig erklĂ€rt wird. Was aber auf jeden Fall schon passiert ist: Wir haben eine Fachdiskussion. Die Strafnorm im Strafgesetzbuch ist GrĂŒtze, da sind sich schon mal alle einig.
|Arne Semsrott von FragDenStaat angeklagt wegen Veröffentlichung von Gerichtsdokumenten|
Constanze Kurz: Ein anderer Baustein von dem, was du gerade als Ăkosystem beschrieben hast, ist das öffentliche Berichten. Ihr schreibt im Blog anders, nĂ€mlich deutlich journalistischer. Ihr schreibt trotzdem immer noch wertend. Ihr bemĂŒht euch nicht, aufgesetzt sachlich zu klingen, sondern man merkt, wenn ihr eine Entscheidung falsch oder eine politische Richtung nicht korrekt findet. Ihr drĂŒckt das deutlich aus. Ihr wirkt dabei dennoch auf eine starke Weise professionalisiert. HĂ€ngt das an den Menschen, die neu dazukamen, oder ist das absichtlicher Teil der Weiterentwicklung der Plattform?
Arne Semsrott: Wir haben viel gelernt von netzpolitik.org.
Constanze Kurz: Ihr macht auch viele Medien-Kooperationen, richtig?
Arne Semsrott: Wir versuchen tatsĂ€chlich alles, was wir machen, immer als Kooperation mit anderen Medien zu machen. Das hat zwei Wirkungen. Das eine ist, dass wir versuchen, die anderen Medien damit zu infiltrieren, also mit unserer Art zu arbeiten. Das funktioniert auch ziemlich gut. Nach einer Recherche, wenn sie denn gut war, stellen sie vielleicht selbst IFG-Anfragen und wollen selbst Ă€hnlich transparent arbeiten, wie sie es vorher mit uns gemacht haben. Das andere ist, dass wir natĂŒrlich eine Reichweite in Zielgruppen bekommen, die wir sonst nicht bekommen. In der netzpolitischen Bubble sind wir stark, das kommt aus der Geschichte von âFrag den Staatâ. Aber in andere Communitys zu kommen, wo man vielleicht vom Informationsfreiheitsgesetz und von âFrag den Staatâ noch nichts gehört hat, das versuchen wir ĂŒber solche Kooperationen.
Das gleiche gilt auch fĂŒr unsere Kampagnen. Das versuchen wir immer mit anderen NGOs zusammen zu machen oder mit anderen sozialen Bewegungen, um einfach andere Gruppen zu erreichen und nicht nur in unserem eigenen Saft zu schmoren.
Ich meine, dass so eine Professionalisierung auch einfach mit einer gewissen GröĂe kommt. Wir sind jetzt zwanzig Leute, das ist schon eine ganze Menge. Dadurch können wir auch eine gröĂere Breite an Themen bespielen.
Constanze Kurz: Sag mal ein paar Zahlen. Wieviele Leute engagieren sich auf der Plattform? Wieviele IFG-Anfragen und wieviele Antworten gibt es? Wieviele positive Antworten sind darunter?
Arne Semsrott: Ăber âFrag den Staatâ sind in den letzten zwölf, dreizehn Jahren 260.000 Anfragen von knapp 120.000 Usern gestellt worden. Wir haben natĂŒrlich ein paar Power-User, aber in der Regel stellen die Leute zwei, drei Anfragen. Vieles hat einen persönlichen Bezug: Die Leute haben Interesse an einer Verkehrskreuzung oder einer Kita, die neu gebaut wird. Viele Anfragen sind erfolgreich, tatsĂ€chlich die meisten. Denn die meisten sind gar nicht brisant, sondern verlaufen im Kommunalen und bringen den Leuten auch wirklich, was sie wissen wollen.
Was man öffentlich mitbekommt, sind natĂŒrlich die brisanten FĂ€lle. Da ist ohnehin klar, dass die Verwaltung etwas nicht rausgeben will. Ein Beispiel ist die Anfrage zur Bundeswehr und den 100 Milliarden Euro. Wenn ich so eine Anfrage stelle, weiĂ vorher schon: Das geht vor Gericht, das geben die nicht freiwillig raus. Bei diesen brisanten FĂ€llen muss man in der Regel klagen.
Wir gewinnen auch die meisten FÀlle vor Gericht. Eine hÀufige Konstellation ist auch, dass wir klagen und die Behörde dann merkt: Okay, er meint es ernst, dann geben sie die Akten raus. Es braucht dann gar nicht erst eine Verhandlung. Die meisten Sachen in erster Instanz, also beim Verwaltungsgericht, gewinnen wir.
Die ganz groĂen FĂ€lle, die du vorher angesprochen hattest, also etwa um die SMS-Nachrichten und solche groĂen strategischen FĂ€lle, wo wir durch alle Instanzen gehen und die dann in Leipzig beim Bundesverwaltungsgericht landen, die verlieren wir fast alle. Da sitzen aber auch die konservativsten Richter.
Constanze Kurz: Hast du nicht im Blog sogar ultrakonservativ geschrieben?
Arne Semsrott: Man kann ja mal den PrĂ€sidenten vom Bundesverwaltungsgericht in eine Suchmaschine eingeben und sich anschauen, in was fĂŒr einer Burschenschaft er ist. Und das kann man mit anderen Richtern dort auch machen. Es ist tatsĂ€chlich gerade dieser zehnte Senat des Bundesverwaltungsgerichts, der PrĂ€sidenten-Senat, der zustĂ€ndig fĂŒr Informationsfreiheit ist. Der hat sich vor kurzem noch ein paar ZustĂ€ndigkeiten dazugeholt.
Es gab in diesem Informationsfreiheitsbereich lange die Konstellation, dass der zehnte Senat, der zustĂ€ndig war, immer sehr konservativ geurteilt hat: immer alles gegen die Informationsfreiheit. Aber der sechste Senat hat in Informationsfreiheitsachen sehr progressiv geurteilt hatte. Der sechste Senat war fĂŒr den BND zustĂ€ndig, er war damit auch zustĂ€ndig fĂŒr Presse- und Informationsfreiheit im BND-Kontext. Findige Journalistinnen haben, wenn sie eine Sache geklĂ€rt haben wollten, gegen den BND geklagt. Hier bist du in erster Instanz beim Bundesverwaltungsgericht, denn die niederen Verwaltungsgerichte dĂŒrfen nicht an den BND ran.
Wenn man also gegen den BND klagt, ist man direkt in Leipzig. Wenn man irgendeine Konstellation geklĂ€rt haben wollte, hat man also gegen den BND geklagt und ist dann beim progressiven sechsten Senat nicht beim konservativen zehnten Senat gelandet. Im Vergleich zum zehnten urteilte der sechste Senat oft so, dass mehr rausgegeben werden musste. Das hat den zweiten Senat so gestört, dass sie sich jetzt die Presse- und Informationsfreiheit in BND-Sachen rĂŒbergeholt hat. Das heiĂt auch: Die BND-Klage, die wir am 7. November verhandelt wird, kommt dann vor den zehnten Senat, also vor den PrĂ€sidenten-Senat. Wir gehen davon aus, dass die alles zurĂŒckdrehen, was vorher geurteilt wurde.
Elina EickstĂ€dt: Mich sprechen oft Menschen an, weil ich viel politische Arbeit machen. Sie fragen: Was können wir eigentlich machen? Was ist die Einstiegsdroge fĂŒr politische Arbeit aus deiner Sicht?
Arne Semsrott: TatsĂ€chlich glaube ich, IFG-Anfragen zu stellen, das mal auszuprobieren und so Kontakt zur Staatsmacht aufzubauen, ist eine gute Ăbung, um ein bisschen die Angst davor zu verlieren. Das habe ich an mir gemerkt: Am Anfang war ich unsicher im Umgang mit Behörden. Es kommen als Antwort Briefe in gelben UmschlĂ€gen, die man sonst nur kennt, wenn man was zahlen muss oder was falsch gemacht hat. Aber zu merken, ich hab ein Recht denen gegenĂŒber und das kann ich versuchen durchzusetzen, das ist eine ganz gute Ăbung. Ich glaube, dass IFG-Anfragen tatsĂ€chlich eine gute Einstiegsdroge sein können in ein politisches Engagement.
Constanze Kurz: Ich muss dir noch eine Frage stellen: RĂŒckblickend auf die letzten zehn Jahre, worauf bist du im Nachhinein wirklich stolz, was war ein besonders nachhaltiger Erfolg?
Arne Semsrott: Es gibt ein paar Praktiken, die jetzt ganz normal geworden sind: Inzwischen ist es total normal, dass die Bundesministerien die ReferentenentwĂŒrfe, also die ursprĂŒnglichen EntwĂŒrfe von Gesetzen, veröffentlichen. Das war 150 Jahre lang nicht so.
Das ist ja ein deutsches Spezifikum: In Deutschland macht ein Ministerium diesen Referentenentwurf. Er war lange nicht online zu finden, bis wir dazu eine Kampagne gemacht hatten. Das ist tatsÀchlich wichtig, um den Gesetzgebungsprozess besser nachvollziehen zu können. Der demokratische Prozess ist jetzt transparenter.
Aber ich wĂŒrde als zweites Beispiel auch sagen: Vor drei Jahren ist Franziska Giffey als Bundesministerin zurĂŒckgetreten. Ehemals nannte sie sich Dr. Franziska Giffey, jetzt nur noch Franziska Giffey. Sie ist zurĂŒckgetreten als Bundesministerin, weil herausgekommen ist, dass sie plagiiert hat. Und dass es rausgekommen ist, liegt an einer IFG-Anfrage.
Elina EickstĂ€dt: Vielleicht enden wir auf dieser positiven Note: Man kann unliebsame Politikerinnen auch mit IFG-Anfragen loswerden. Vielen Dank fĂŒr das GesprĂ€ch, Arne!
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Das GesprĂ€ch ist eine gekĂŒrzte Version des Podcasts âDicke Bretterâ. Er erscheint beim |Chaosradio|.
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Fri, 10 May 2024 08:19:56 +0000
Sebastian Meineck
Aktuell muss sich ein Journalist in Karlsruhe vor Gericht verantworten. Ihm drohen bis zu drei Jahre GefĂ€ngnis. Der Grund: Er hat eine Website verlinkt. Episode #1 unseres Doku-Podcasts âSystemeinstellungenâ erzĂ€hlt die erstaunliche Geschichte hinter dem Strafprozess.
|https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2024/05/SE_EP01_LinkExtremismus.mp3|
Alles beginnt mit einer unscheinbaren Nachrichtenmeldung im Internet. Sechs SĂ€tze ĂŒber ein eingestelltes Ermittlungsverfahren, hat man schnell ĂŒberflogen. Monate spĂ€ter klingelt die Polizei beim Journalisten Fabian Kienert: Hausdurchsuchung!
Es ist frĂŒh am Morgen, Fabian völlig verschlafen. Der Journalist glaubt, da will bloĂ irgendjemand Stress machen. Er ruft: âHaut ab!â. Aber die Leute gehen nicht weg, sie hĂ€mmern sogar an seine TĂŒr. Plötzlich begreift Fabian: Da drauĂen im Treppenhaus, da steht gerade die Polizei.
âLink-Extremismusâ ist die erste Episode unseres neuen Doku-Podcasts |Systemeinstellungen â wenn der Staat bei dir einbricht|.
Sie erzĂ€hlt die Geschichte eines Journalisten von Radio Dreyeckland, der sich aktuell vor Gericht verantworten muss. Der Grund: In seinem Online-Artikel hat er einen Link auf das Archiv von |linksunten.indymedia.org| gesetzt. Das ist ein frĂŒheres Portal der linken und linksradikalen Szene. Im Jahr 2017 wurde es verboten.
Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hat Fabian mit dem Link eine verbotene Vereinigung unterstĂŒtzt. DafĂŒr drohen laut Strafgesetzbuch eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.
Kann es sein, dass ein Journalist wegen eines Links in den Knast muss?
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Hier findest Du |alle Folgen von âSystemeinstellungenâ|. Die nĂ€chste Episode âRazzia im Pfarrhausâ erscheint am 17. Mai.
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Host und Produktion: Serafin Dinges.
Redaktion: Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz, Sebastian Meineck.
Cover-Design: Lea Binsfeld.
Titelmusik: Daniel Laufer.
Weitere Musik von Blue Dot Sessions.
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18. April 2024: Bericht zum |Prozessauftakt am Landgericht Karslruhe|
Ăbersicht: |Hausdurchsuchungen gegen Radio Dreyeckland|
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Serafin Dinges: Wir sind nach SĂŒddeutschland gereist, genauer gesagt nach Freiburg im Breisgau, in die UniversitĂ€tsstadt mit Aussicht auf den Schwarzwald. Was ihr da rattern hört, das ist mein treuer pinker Rollkoffer. Der kommt in fast jeder Folge vor, wenn ich ihn durch eine neue Stadt ziehe. Jetzt gerade ziehe ich ihn also durch Freiburg, durch einen Innenhof, ein paar Minuten vom Hauptbahnhof entfernt. An den WĂ€nden wĂ€chst Blauregen, eine wunderschöne, ĂŒppige Kletterpflanze. HĂ€tte ich nicht erkannt. Aber das hat Sebastian fĂŒr mich rausgefunden. Der interessiert sich nicht nur fĂŒr die Namen von Pflanzen, sondern ist auch Redakteur bei netzpolitik.org und heute dabei. Hier im Innenhof, da gibt es selbstverwaltete Wohnprojekte, ein CafĂ© mit dem Motto âchaotisch, sonnig, linksâ â und die Redaktion von Radio Dreyeckland. In den Regalen, da stapeln sich Kassetten und CDs aus Jahrzehnten. Die SchrĂ€nke, Tische und TĂŒren, die sind beklebt mit Plakaten und Stickern.
Stimme: Gegen Macker und Sexisten // Fight the power, fight the cis-tem // Nazis aufmischen
Serafin Dinges: Radio Dreyeckland, ich glaube, das kann man schon sagen, das ist ein bisschen ein linker Laden. Das freie Radio sendet seit 1977, und die meisten, die hier arbeiten, machen das ehrenamtlich. Freie Radios, das sind kleine, nicht-kommerzielle Radiosender. Die verwalten sich meistens basisdemokratisch, und es gibt eine ganze Szene davon. Radio Dreyeckland hier in Freiburg berichtet ĂŒber Klimapolitik, ĂŒber Rassismus, ĂŒber Musik, ĂŒber Filme. Es gibt auch Sendungen, die sind auf Englisch, TĂŒrkisch oder Persisch. Wir sind hier, um eine der wenigen Personen zu treffen, die bei Radio Dreyeckland auch ein bisschen Geld verdienen. Wir treffen Fabian.
Fabian Kienert: Ich bin Fabian Kienert, freier Journalist und auch schon sehr, sehr lange Redakteur bei Radio Dreyeckland.
Serafin Dinges: Ein schmaler Typ mit leicht zerzausten Haaren. Man könnte ihn so auf Mitte 30 schĂ€tzen. Und man kann ihn sich ganz gut in einer WG-KĂŒche bei einer politischen Diskussion vorstellen. Fabian kommt super nachdenklich rĂŒber. Man hat das GefĂŒhl, beim Sprechen prĂŒft er noch mal jedes Wort, ob es wirklich genau so stimmt.
Fabian Kienert: Und bin auch seit mehreren Jahren hier bei Radio Dreyeckland fĂŒr die Ăffentlichkeitsarbeit zustĂ€ndig. Sehr lange Jahre viel in der aktuellen Redaktion von Radio Dreyeckland.
Serafin Dinges: Fabian, der schreibt also schon lĂ€nger recht unbeschwert Texte fĂŒr die Website von Radio Dreyeckland. Auch noch bei Radio Dreyeckland ist Andreas.
Andreas Reimann: Mein Name ist Andreas Reimann und seit 2018 bin ich GeschĂ€ftsfĂŒhrer von Radio Dreyeckland und auch Verantwortlicher im Sinne des Presserechts der Website von Radio Dreyeckland.
Serafin Dinges: Verantwortlich im Sinne des Presserechts. Das heiĂt, Andreas ist der Typ im Impressum. Der Mensch, bei dem man sich zuerst beschweren kann, wenn irgendwas auf der Website komisch aussieht. Andreas ist Mitte 50 und schon seit 1991 bei Radio Dreyeckland, also quasi schon immer. In unserem GesprĂ€ch bezeichnet er sich mal als BĂŒroklammer.
Andreas Reimann: ⊠wie so eine ganz langweilige BĂŒroklammer an Schreibtisch setzen kann.
Serafin Dinges: Andreas, so bekommen wir schnell das GefĂŒhl, das ist ein Typ mit Erfahrung. Jemand, auf den man sich verlassen kann.
Andreas Reimann: Ja, ich bin wahrscheinlich so ein relativ geduldiger Mensch, der auch dann eben in so was wie eine Finanzverwaltung reinpasst.
Serafin Dinges: Aber zurĂŒck in die RedaktionsrĂ€ume. Bei unserem Besuch im August, da ist es im Radio Dreyeckland recht vertrĂ€umt. Durchs Fenster sieht man den sonnigen Hof. Im Radio lĂ€uft eine aufgezeichnete Sendung. Es ist Siesta-Stimmung. Im Winter dagegen, ein paar Monate davor, war es hier recht â na ja â unentspannt.
Stimme im Radio: Ich weià nicht, wie eure Berichterstattung gerade ist oder ob ihr schon die Hörerinnen davon informiert haben, die Zuhörenden, was da gerade in zwei Wohnungen in Freiburg stattfindet.
Serafin Dinges: Denn was sich hier in dieser vertrÀumten Redaktion und bei Fabian und Andreas zu Hause abspielt, das ist nicht weniger als ein Kampf um die Pressefreiheit.
Die Meike: Die Polizei ist im Haus und in zwei PrivatrĂ€umen. Ich wusste aberâŠ
Fabian Kienert: ⊠doch gemeint ist, ja es scheint wirklich irgendwie die Polizei zu seinâŠ
Andreas Reimann: ⊠da hab ich natĂŒrlich schon so vor Augen, dass die Wohnung danach aussieht wie nach einem Erdbeben. Aufgerissene Schubladen, zerwĂŒhlte SchrĂ€nkeâŠ
Stimme im Radio: ⊠das ist ein unsÀglicher Vorgang, den sich diese Staatsanwaltschaft und der Staatsanwalt Graulich leistet.
Stimme auf einer Demo: Es ist Blamage fĂŒr die Demokratie! Pressefreiheit! Pressefreiheit! Pressefreiheit in Deutschland. Ich fordere PressefreiheitâŠ
Serafin Dinges: Ich bin Serafin Dinges, und ihr hört die erste Folge von Systemeinstellungen. Ein neuer Podcast von netzpolitik.org. In diesem Podcast treffen wir Menschen, bei denen plötzlich die Polizei auf der Matte steht. Ohne Einladung. Und dann dringen die Polizistinnen ein, in die Wohnung, in die Handys, in die PrivatsphÀre. Die Polizei darf das, aber sie darf es nicht immer. Und manchmal darf sie, aber sollte vielleicht nicht. Wir fragen uns: Wann ist die Gewalt vom Staat selbst ein Vertrauensbruch oder ein Rechtsbruch? Heute Folge 1: Link-Extremismus.
Serafin Dinges: Unsere Geschichte beginnt im Juli 2022. Da schreibt der Redakteur Fabian eine Meldung fĂŒr die Website von Radio Dreyeckland. Die Meldung ist super kurz. Ein Titel, sechs SĂ€tze. Die Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren eingestellt. Paragraf 170 Absatz zweiâŠwĂŒrde ich wahrscheinlich einfach rĂŒberscrollen. FĂŒr Fabian Routine.
Fabian Kienert: Ja, das war auf jeden Fall stinknormaler Tag jetzt. Nichts. Nichts Besonderes.
Serafin Dinges: Immerhin schreibt er seit rund 15 Jahren fĂŒr das Radio. Und am Ende packt er noch sein KĂŒrzel drunter: FK, Fabian Kienert. Was Fabian nicht ahnt: Bald werden Menschen in ganz Deutschland ĂŒber seinen Artikel sprechen. Menschen in Freiburg werden auf die StraĂe gehen und protestieren. Aber erstmal⊠Passiert nichts. Der Sommer vergeht, und irgendwann im Herbst findet Fabian in seinem Briefkasten einen Brief, der ihn verwirrt.
Fabian Kienert: Der Absender: Polizeidirektion Freiburg. Da denkt man sich natĂŒrlich schon: HĂ€, um was gehtâs jetzt?
Serafin Dinges: Die Polizei Freiburg schreibt: Gegen Fabian wird ermittelt. Er soll doch mal vorbeikommen. Und nicht nur Fabian. Auch der GeschĂ€ftsfĂŒhrer Andreas hat Post von der Polizei im Briefkasten. Und auch er soll vorbeikommen.
Andreas Reimann: Ich war wirklich verwundert, weil ich nicht nachvollziehen konnte, um was es geht. Es war in diesem Schreiben ĂŒberhaupt nicht erklĂ€rt begrĂŒndet, was der Vorwurf ist. Es war nur der Hinweis, es lĂ€uft ein Ermittlungsverfahren, weil ich gegen einen Paragraphen verstoĂen habe.
Serafin Dinges: Es ist der Herbst 2022 und Andreas und Fabian wissen nicht, was ihnen blĂŒht. Na ja, sie haben zumindest einen Verdacht. In dem Brief schreibt die Polizei vom Vereinsgesetz. Und darum ging es auch in der Meldung, die Fabian im Juli geschrieben hat. Darin steht: die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen einen angeblichen Verein eingestellt. Genauer gesagt gegen Linksunten Indymedia. Linksunten Indymedia, das war mal ein sehr wichtiges Portal fĂŒr die linke und linksradikale Szene. Alle die wollten, dĂŒrften dort posten. Teilweise gab es dort auch linksradikale Bekennerschreiben.
Stimme: Letzte Nacht ist eine dreckige Bullenkarre in Connewitz in Flammen aufgegangen⊠daher haben wir in der letzten Nacht bei der Bullenwache fĂŒr Glasbruch bei drei Fenstern gesorgt⊠Ganz Wien hasst die Polizei, scheiĂ Bullenschweine!
Serafin Dinges: Auf Linksunten gab es aber auch jede Menge harmlose Berichte, Recherchen, Lesetipps ĂŒber Antifa Treffen, Aktionen, Demos, sowas halt.
Stimme: Hilfe fĂŒr Hamburger, Obdachlose, Stellplatz gesucht⊠Linksradikale Demo in DĂŒsseldorf verlĂ€uft friedlich⊠StraĂenmusik gegen AfD-Wahlkampf in Augsburg.
Serafin Dinges: Den Ermittlungsbehörden aber war Linksunten Indymedia lange ein Dorn im Auge. 2017 kam es dann zum Knall. Statt gegen einzelne Posts vorzugehen, die vielleicht Gesetze verletzen, hat das Bundesinnenministerium mal eben das gesamte Portal verboten.
Tagesschau-Sprecher: ⊠eine einflussreiche Internetplattform der linksextremen Szene verboten, die linksunten.indymedia.org.
Serafin Dinges: Ein ganzes Messageboard, eine Website also einfach verboten.
Tagesschau-Sprecher: ⊠den drei Betreibern der Seite wurde heute in Freiburg die VerbotsverfĂŒgung zugestellt.
Serafin Dinges: Das ist fĂŒr deutsche VerhĂ€ltnisse schon krass. Und ob das rechtlich auch wirklich okay war, daran zweifeln BĂŒrgerrechtler:innen bis heute. Nach dem Verbot gab es noch jahrelange Ermittlungen zu den Menschen hinter Linksunten Indymedia. Im Visier: VerdĂ€chtige aus Freiburg. Radio Dreyeckland hat dazu immer wieder kritisch berichtet. Klar, ist ja auch das linke Radio in Freiburg. Als die Ermittlungen dann 2022 endlich eingestellt wurden, schreibt Fabian eine Meldung zum Ende dieser nicht enden wollenden Geschichte. Er schreibt â genau â die eine Meldung, von der wir vorhin gesprochen haben. Der Titel, den Fabian wĂ€hlt: Linke Medienarbeit ist nicht kriminell. Und jetzt, im Herbst â22, hat Fabian also diesen Brief von der Polizei in der Hand. Den Brief, den auch Andreas bekommen hat und in dem steht: Gegen sie wird ermittelt. Und beide vermuten, das war wohl diese eine Meldung ĂŒber Linksunten, die der Polizei nicht geschmeckt hat.
Andreas Reimann: Das war eine reine MutmaĂung. Und wir haben dann ĂŒberlegt⊠oder ehrlich gesagt haben wir nicht lange ĂŒberlegt. Die Entscheidung war eigentlich relativ schnell klar, dass wir zu diesem Termin nicht gehen werden, weil das ist der Staatsschutz in Freiburg, und wir haben eigentlich keine Veranlassung gesehen, jetzt mit dem Staatsschutz ĂŒber das, was wir auf unseren KanĂ€len, im Programm oder auf der Webseite veröffentlichen, zu sprechen.
Serafin Dinges: Andreas und Fabian ignorieren den Brief von der Polizei ,und erst mal passiert auch nichts. Scheinbar. Der Herbst geht. Die Tage werden kĂŒrzer, der Winter kommt. Fabian erinnert sich.
Fabian Kienert: Da bin ich vielleicht nachtrÀglich naiv davon ausgegangen, dass sich das schon im Sande verlÀuft. Es gibt ja auch immer mal wieder Ermittlungsverfahren, wo man entweder gar nichts hört oder irgendwann hört, dass es eingestellt wurde. Das fand ich so absurd, da konnte ich mir nicht vorstellen, dass da irgendwie jetzt irgendwas weiter da vonstattengeht.
Serafin Dinges: Was Fabian wÀhrenddessen nicht ahnt: Die Polizei ermittelt weiter, und sie wird sich ein zweites Mal melden. Dieses Mal aber nicht mehr per Post.
Serafin Dinges: Es ist der 17. Januar 2023. Freiburg. 6:30 Uhr morgens. Es ist noch dunkel. Die Temperatur knapp ĂŒber Null. Ein Mehrfamilienhaus mitten in Freiburg. Fabian Kienert schlĂ€ft.
Fabian Kienert: Ich wurde, ich glaube gegen 6:45 Uhr geweckt. Vielleicht war es auch 6:40 Uhr. Von einem Sturmklingeln. Da habe ich fest geschlafen und habe erst mal eigentlich so das irgendwie als nerviges GerĂ€usch wahrgenommen. Hab ein bisschen gebraucht, bis ich dann auch wirklich aufgestanden bin und nachgeguckt habe. Und dann habe ich halt gemerkt, dass da welche an der TĂŒr sich zu schaffen machen. Und das löst dann natĂŒrlich schon eine gewisse Panik aus. Hab dann erst mal einfach irgendwie Ă€ngstlich, so ein bisschen: âHaut ab!â gerufen. Erstmal wusste ich nicht, was es ist. Habe erstmal wirklich einfach gedacht: Boa, irgendjemand versucht sich da irgendwie Zutritt zur Wohnung zu verschaffen. Aber hab einfach erst mal einen Einbruch gedacht. Aber was natĂŒrlich, wenn man da irgendwie völlig völlig verschlafen ist, schon einfach eine totale Ăberforderung istâŠ
Serafin Dinges: Fabian ist völlig perplex und glaubt, da ist jemand im Treppenhaus und will bei ihm einbrechen.
Fabian Kienert: Dann irgendwann total starkes Klopfen, wurde ich dann halt mit Namen angesprochen. Kriminalpolizei und so. Auch da hab ich erst mal noch gedacht, dass⊠hÀ?⊠das kann nicht sein. Es ist irgendwie ein Trick. Und dann wurde aber auch noch mal gesagt: Hier, Durchsuchungsbeschluss. Und irgendwann hab ich dann doch gemerkt, es scheint wirklich irgendwie die Polizei zu sein, die jetzt hier Durchsuchungsbeschluss hat.
Serafin Dinges: Fabian macht die TĂŒr auf und bekommt irgendwas vor die Nase gehalten. Einen Durchsuchungsbeschluss. Da steht, warum die Polizei jetzt seine Wohnung durchsuchen will. Und plötzlich ergibt alles Sinn. Der komische Brief im Herbst. Der Artikel im Sommer. Linksunten Indymedia. Hat alles dazu gefĂŒhrt, dass die Polizei jetzt hier vor seiner TĂŒr steht.
Fabian Kienert: Dann habe ich den gleich so ĂŒberflogen und gesagt: Was, ihr seid wegen dieser Meldung hier? Ist das euer Ernst?
Serafin Dinges: Die Polizei meint es ernst und Fabian erinnert sich, wie die Beamt:innen anfangen, sich langsam in der Wohnung zu verteilen. Ungefragt.
Fabian Kienert: Ja, ich habe schon praktisch zum Ausdruck gebracht, dass ich will, dass sie nur in dem Zimmer, wo ich auch bin, ihre DurchsuchungsmaĂnahmen machen. Aber da muss man schon sagen das.. da haben sich dann einzelne von denen jetzt auch nicht immer dran gehalten. Also da sind dann schon Schubladen aufgegangen, wo ich nicht direkt dabei war, wo ich das dann irgendwie rascheln gehört habe.
Serafin Dinges: Acht Beamtinnen will Fabian gezÀhlt haben, teilweise in Zivil, teilweise mit Polizeiwesten. Und die fangen jetzt an seine Wohnung zu filzen.
Fabian Kienert: Sie haben jetzt bei mir nicht jeden Kleiderschrank ausgerĂ€umt, sondern sich schon so auf die Umgebung des Schreibtischs praktisch hauptsĂ€chlich beschrĂ€nkt. Mit Ausnahme, also es wurden auch andere Schubladen geöffnet. Aber jetzt natĂŒrlich trotzdem sind da viele Unterlagen, die sie da irgendwie kreuz und quer⊠Und einfach viel Papier, viel BĂŒcher, die sie dann halt aus dem Regal holen, die dann alle irgendwie durcheinander liegenâŠ
Serafin Dinges: Aber Moment, wir können uns jetzt mal einen Luxus, den Fabian damals nicht hat und halten einen Moment inne. Wir mĂŒssen uns nĂ€mlich fragen, was hier eigentlich gerade passiert. Fabian steht da im Schlafanzug in seiner Wohnung und Beamt:innen durchblĂ€ttern seine BĂŒcher. Aber was wollen die denn genau mit Fabians BĂŒchern? Und was genau haben diese BĂŒcher mit seinem Artikel ĂŒber Linksunten Indymedia zu tun? Die Beamt:innen sind nĂ€mlich da, um rauszufinden, wer genau die Nachrichtenmeldung ĂŒber Linksunten Indymedia verfasst hat. So erklĂ€ren sie es Fabian. Wenn ihr auch nur mit einem halben Ohr zugehört habt, dann wisst ihr schon, wer die Meldung geschrieben hat: Fabian hat die Meldung geschriebe. Und ja, das wusste die Polizei zu diesem Zeitpunkt auch. Hinter der Meldung steht ja das KĂŒrzel âFKâ. Und das steht fĂŒr Fabian Kienert. Und in den polizeilichen Akten stand auch schon Wochen vor dieser Razzia: Bei dem Redakteur mit dem KĂŒrzel FK handele es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Fabian Kienert. Sogar wĂ€hrend der Razzia sagt Fabian immer wieder deutlich: Ich war das. Ich, ich hab den geschrieben.
Fabian Kienert: ⊠ist jetzt nicht genau der anwÀltliche Rat, immer sowas gleich das einzurÀumen. Aber ich habe gerade gleich auch einem Polizisten dort gesagt: Ja, den habe ich geschrieben. Klar, da sehe ich auch kein Problem in diesem Artikel. Das habe ich schon gleich eingerÀumt, dass ich diesen Artikel verfasst habe. Aber die Durchsuchung ging trotzdem dort erst mal bei mir weiter.
Serafin Dinges: Trotzdem bestehen die Beamt:innen darauf, seine Wohnung zu durchsuchen fĂŒr irgendeinen Beweis, dass er diesen Artikel geschrieben hat. Und Fabian erlebt in diesem Moment: Wenn so eine Razzia mal in Gang gesetzt wurde, dann lĂ€sst sich die nicht mehr stoppen. Die Beamt:innen haben den Durchsuchungsbeschluss fĂŒr Fabians Wohnung. Also durchsuchen sie die Wohnung. Fabians Laptop stecken sie in eine TĂŒte. Immerhin könnte mit dem Laptop ja die Meldung ĂŒber Linksunten Indymedia verfasst worden sein. Und weil Passwörter fĂŒr Laptops gerne auf Zetteln stehen, filzen die Beamt:innen auch Fabians Papiere. Und dann gibt es natĂŒrlich noch die Frage, die sich eine besonders eifrige Behörde stellen könnte. NĂ€mlich: Hat Fabian diese Meldung auch wirklich ganz alleine verfasst?
Serafin Dinges: Freiburg. Gleicher Tag. Gleiche Uhrzeit. 17. Januar â23. Halb sieben Uhr morgens. Es ist noch dunkel. Die Temperatur knapp ĂŒber null. Ein freundliches Wohngebiet mit ReihenhausgĂ€rten und gestutzten Hecken. Andreas Reimann schlĂ€ft.
Andreas Reimann: Ich habe irgendwann lÀuten gehört. Offenbar erst das dritte oder vierte LÀuten. Wie ich dann spÀter der Akte entnommen habe, hat die Polizei mit so einem leicht sÀuerlichen Unterton in die Akte reingeschrieben, sie mussten mehrfach lÀuten.
Serafin Dinges: Irgendwas ist da los. Unterm Vordach, am Eingang zum Reihenhaus. Aufgeregt nimmt Andreas die Treppen runter ins Erdgeschoss.
Andreas Reimann: Und dann habe ich die TĂŒr aufgemacht. Und dann sehe ich, dass da relativ viele Leute stehen. Zum Teil in Uniform, zum Teil in Zivil. Und mir wurde dann sofort ein gröĂerer DIN-A4-Kram entgegengehalten. Also ein Papier mit dem Hinweis, dass jetzt hier eine Hausdurchsuchung stattzufinden hat.
Serafin Dinges: Die Polizei fragt Andreas, wer noch in der Wohnung ist. Und Andreas sagt: Oben im Schlafzimmer, da ist seine Frau.
Andreas Reimann: Dann wurde ich gebeten, dass ich da zu meiner Frau hoch gehe, ins ins Schlafzimmer. Die dann ziemlich erschrocken ist. Die hat viel erschrockener reagiert, war dann auch aus dem Schlaf gerissen und hat mir auch danach erzĂ€hlt. Sie hat das GefĂŒhl, plötzlich war das Schlafzimmer voll mit Polizei. Obwohl es, glaube ich, nur so zwei drei Leute waren.
Serafin Dinges: Wenig spĂ€ter findet sich Andreas unten in der KĂŒche wieder. Die Beamt:innen haben ihm einen Haufen Papiere vorgelegt. Im Haus werden Schubladen geöffnet und irgendwo im Haus hört er seine Frau. Ihm gegenĂŒber ist der Staatsanwalt Manuel Graulich.
Andreas Reimann: Und der Herr Graulich hat dann versucht, erst mal mir zu sagen, um was es geht, und hat zum einen den Durchsuchungsbefehl fĂŒr die Privatwohnung ĂŒberreicht. Das war dann gleich so ein BĂŒndel von ich glaube, ich habe es noch mal kurz ĂŒberschlagen, von 30 Seiten oder so was. Also das war jetzt nicht einfach nur so ein Formular. Also es war ein richtig dickes Papier, und er bat mich auch das durchzulesen. Und ich saĂ zu dem Zeitpunkt noch barfuĂ in unserer KĂŒche. Also das war schwierig, mich da zu konzentrieren und ĂŒberhaupt irgendwie fĂŒr mich ein GefĂŒhl dafĂŒr zu kriegen: Was ist jetzt das Richtige? Was ist jetzt zu tun? So. Soll ich, sollte ich jetzt nicht besser gucken, dass die da keinen ScheiĂ machen in der Wohnung? Oder soll ich mich jetzt besser auf dieses Ding hier konzentrieren, mir durchlesen, um was es eigentlich geht?
Serafin Dinges: Andreas bleibt sitzen. Erst mal mit dem Staatsanwalt Graulich reden. Andreas erfĂ€hrt: Die Polizei will wissen, ob auch er involviert war bei dem Artikel, dem Artikel ĂŒber Linksunten Indymedia. Immerhin ist Andreas, ihr erinnert euch, verantwortlich im Sinne des Presserechts. Aber Andreas, der war nicht involviert, und das sagt er auch. Die Hausdurchsuchung geht trotzdem weiter.
Andreas Reimann: Aber ich habe Ihnen ja gleich gesagt ich habe diesen Artikel eigentlich gar nicht zur Notiz genommen. Mir war gar nicht klar, dass der an dem 30. veröffentlicht wurde. Ich nehme keine Artikel ab. Also damit war fĂŒr mich sachlich das eigentliche erst mal erklĂ€rt und erledigt. Und was die da wirklich wollten, war mir nicht klar.
Serafin Dinges: Und bald stehen die Beamtinnen in der KĂŒche mit allem, was sie in Andreasâ Wohnung gefunden haben.
Andreas Reimann: Irgendwann kamen sie mit meinem Handy. Und noch mit dem Handy meiner Frau. Und dann, irgendwann wurde, glaube ich, auch schon der PC aus dem meinem Arbeitszimmer im ersten Obergeschoss im Flur abgestellt. Da habe ich schon gemerkt, die haben es auf diese digitalen Devices abgesehen.
Serafin Dinges: Sein Handy, das Handy seiner Frau und der PC aus seinem Arbeitszimmer steht schon am Gang.
Andreas Reimann: Die wollen halt einfach mal Daten haben. Also das ging mir da in dem Moment auch durch den Kopf. Also die wollen offensichtlich ausforschen. Und dann geht mir natĂŒrlich im gleichen Moment durch den Kopf: da sind private Dateien drauf, die jetzt wirklich niemanden angehen. Das haben die jetzt auch.
Serafin Dinges: Und wÀhrend das alles vor sich geht, bekommt Andreas mit: Die Polizei plant noch eine Razzia. Eine dritte, und zwar in der Redaktion von Radio Dreyeckland.
Andreas Reimann: Da habe ich dann dem Herrn Graulich auch gesag, das habe ich dann zu ihm gesagt: Ja, wissen Sie, was Sie da eigentlich machen? Ihnen ist doch schon bewusst, dass Sie da grundrechtssensiblen Bereich betreten? Und trotzdem hatte ich die ganze Zeit ĂŒber das GefĂŒhl: Das, was die da machen, das werden die Gerichte kassieren. Das ist völlig haltlos. Das geht an Artikel fĂŒnf, am Grundrecht und an den ganzen Sachen einfach vorbei. Ăhm, das ist völliger Wahnsinn.
Serafin Dinges: Artikel fĂŒnf Grundgesetz. Was Andreas da anspricht, das ist die Meinungs- und Pressefreiheit. Die soll dafĂŒr sorgen, dass der Rundfunk frei berichten darf. Und Andreas findet dieses Grundrecht, das sollte ihn eigentlich vor so einer Razzia schĂŒtzen. Geklappt hat es offensichtlich nicht. Und jetzt wollen die Polizist:innen auch noch in die Redaktion von Radio Dreyeckland rein. Andreas ist klar: Wenn das passiert, dann will er dabei sein. HeiĂt also: Ortswechsel. Der Trupp verlĂ€sst die Wohnung. Auf zur nĂ€chsten Razzia. Und Andreas? Den nehmen sie einfach mit.
Andreas Reimann: Da waren glaube ich drei, vier Autos bei uns auf der Wendeplatte. Ich bin dann mit dem Graulich und einem irgendwie immer sehr leutselig wirkenden Beamten, der auch so ein bisschen humorig war⊠Der meinte dann so im Auto: Ach, Herr Reimann, wir mĂŒssen Ihnen jetzt, glaube ich, hinten keine Handschellen anlegen oder so was, nicht wahr? Sie verhalten sich ja kooperativ. Und das war jetzt gar nicht mal so⊠manchmal, wenn Polizisten so etwas zu einem sagen, dann dann merkt man: Oh, die meinen das ernst. Aber da hatte ich schon das GefĂŒhl, der meint das ironisch. Das war fast schon so ein bisschen⊠âFreut mich, dass Sie so nett sind, Herr Reimann. So kooperativ.â Aber ich fand das schon auch ein bisschen gespenstisch, muss ich zugeben.
Serafin Dinges: Freiburg, gleicher Tag. 17. Januar 2023. Es ist jetzt kurz vor 8:00 Uhr morgens. Langsam geht die Sonne auf, und durch den Hof mit der ĂŒppigen Kletterpflanze an den WĂ€nden, im Studio von Radio Dreyeckland, da steht gerade Meike Bischoff am Mikrofon.
Die Meike: In der freien Radioszene bin ich halt einfach die Meike.
Serafin Dinges: Meike ist so die perfekte Radio-Persönlichkeit. Jemand, der einfach sofort drauflos reden kann und gute Laune verbreitet. Am 17. Januar, da macht sie gerade die Sendung am Morgen fertig.
Die Meike: Na ja, ich bin dann halt die Erste, wenn ich hier kurz vor acht ins Radio schneie. Wahrscheinlich noch ein bisschen verschlafen, fahre die Technik hoch, mach halt mein DingâŠ
Stimme im Radio: Morgenradio auf Radio Dreyeckland.
Die Meike: ⊠hatte ein Liveinterview abgemacht mit einem Kollegen, der in LĂŒtzerath gerade war. Also easy going. Ich meine Routine. Ich schmeiĂe Nana Mouskouri rein, um acht, âGuten Morgen, Sonnenscheinâ, so, und den Jingle, und dann ja, dann mache ich halt hier meine Routine.
Nana Mouskouri: Guten Morgen. Guten Morgen. Guten Morgen, Sonnenschein. Diese Nacht bleibt dir verborgen. Doch du darfst nicht traurig sein. Guten Morgen, Sonnenschein. Nein, du darfst nicht traurig sein.
Serafin Dinges: Aber Meike ist noch nicht ganz klar, welche Geister sie da gerade weckt mit âGuten Morgen, Sonnenscheinâ. Sie steht im Studio von Radio Dreyeckland, einem selbstgebauten Kabuff mit einem groĂen Radio Mischpult. Es riecht nach Sperrholzplatten, und wenn die TĂŒr zu ist, dann wird es schnell stickig.
Die Meike: Schönen guten Morgen, alle da drauĂen. Ihr seid bei Radio Dreyeckland auf der 102,3 Megahertz oder im Livestream auf www.rdl.de
Serafin Dinges: Die steht da und kann durch eine Fensterscheibe von ihrem Studio in ein zweites Interviewstudio mit Mikrofonen schauen. Heute Morgen stehen da nur leere StĂŒhle. Und durch diese Kabine wiederum schaut Maike durch ein weiteres Fenster in den Eingangsbereich. WĂ€hrend Meike also wie so vielen Morgen davor die Sendung plant, braut sich drauĂen was zusammen. Und Andreas? Der bekommt alles mit.
Andreas Reimann: Es gibt hier eben um es ums Eck in der NachbarstraĂe gibt es einen Parkplatz, einen öffentlichen Parkplatz, so eine ParkflĂ€che. Die war zu der Uhrzeit um acht noch ziemlich leer. Da sind wir draufgefahren. Da waren dann noch weitere Autos. Als wir da angekommen sind, waren da schon Beamten auf dem Parkplatz zugange oder standen da rum. Dann ist da der Staatsanwalt ausgestiegen, ich dann auch. Und der ist dann gleich zu denen hin. Das war dann klar: Das ist quasi jetzt die Truppe, die das Radio durchsuchen soll. Der Graulich ist dann zu denen hin und hat die ein StĂŒck weit gleich mal so eingenordet, nach dem Motto: Jetzt durchsuchen wir keine Privatwohnung. Also das habe ich wirklich gehört. Was wir jetzt betreten, ist der Raum eines Radiosenders. Da war schon mal die Ansage: Ihr dĂŒrft euch jetzt nicht einfach so verhalten, wie ihr das vielleicht gewohnt seid, wie man das bei Privatwohnungen je nachdem macht. Das fand ich auch spannend. Genau. Aha. Also, da ist Ihnen jetzt schon klar: Jetzt die TĂŒrschwelle ist noch mal eine besonders sensible TĂŒrschwelle, wenn es dann in die StudiorĂ€ume reingeht.
Serafin Dinges: Staatsanwalt Graulich, Andreas und die Beamt:innen schreiten zum Innenhof. Der mit der schönen Kletterpflanze. Nur dass die im Winter karg und braun ist. Die schreiten durch den Innenhof zur TĂŒr von Radio Dreyeckland. Und Andreas soll diese TĂŒr jetzt öffnen.
Andreas Reimann: Also ich wurde ja nicht gefragt, also: âDĂŒrfen wir rein?â oder so was. Sondern mir wurde ja ein Durchsuchungsbefehl vor die Nase gehalten. Also ich habe auch gar keine⊠also ich habe aufgemacht, weil ich den Eindruck hatte: Wenn ich das jetzt nicht tue, dann werden die zu drastischeren MaĂnahmen greifen.
Serafin Dinges: Meike hĂ€tte von ihrem Studio aus einen direkten Blick auf die TĂŒr gehabt. Aber ausgerechnet in diesem Moment schaut sie nicht hin.
Die Meike: Ja, ich sitz hier, das ist völlig skurril. Weil normalerweise siehst du ja, wenn da jemand reinkommt, durch die TĂŒr. Du hsat die EingangstĂŒr von hier ja im Blick durch diese drei Fenster, durch zwei Studios durch. Und ich habâs nicht mitgekriegt, dass sie da reinkamen.
Serafin Dinges: WĂ€hrend sich Meike auf die Sendung konzentriert, kommt die Polizei in die Redaktion. Und wer weiĂ, wie lange das noch so gegangen wĂ€re, wenn Meike nicht Durst gehabt hĂ€tte.
Die Meike: Jedenfalls hatte ich halt meine Teetasse drauĂen, und hier im Studio ist GetrĂ€nkeverbot inzwischen â aus guten GrĂŒnden. Ich bin da raus, und hier ist ja unsere Minibar, weiĂtâŠ
Serafin Dinges: Ok, und da hast du deine Tasse.
Die Meike: Jaja, das hatte ich dann meine Teetasse. Ich nehme so einen Schluck, und dann plötzlich hier so gefĂŒhlt zwölf Polizisten. Und ich glaube es waren auch nur Typen. Und ich so: HĂ€? Was machen die hier?
Serafin Dinges: Nach Fabian und Andreas ist Meike an diesem Morgen die dritte Person, die vollkommen ĂŒberrascht auf einen Haufen Polizist:innen schaut.
Die Meike: Und ich war dann so: Ihr dĂŒrft hier nicht rein, das ist PrivatgelĂ€nde. Und dann habe ich aber auch schon unseren GeschĂ€ftsfĂŒhrer da stehen sehen und der hat mich wahrscheinlich auch gesehen, wie ich da so guck wie so ein Auto.
Serafin Dinges: Der GeschĂ€ftsfĂŒhrer, von dem Meike spricht, das ist Andreas.
Andreas Reimann: Und dann habe ich eben zu Meike gesagt, weil sie.. sie guckte dann irgendwie etwas verdutzt, weil um die Uhrzeit sind normalerweise nicht so viele Leute im Radio. Dann meinte ich ja, hier ist die Polizei, Hausdurchsuchung. Irgendwie so was. Und dann kam schon so von den Leuten, die um mich herum standen, so Gemurmel wie: Na ja, dann ist es ja jetzt öffentlich. Dann geht es ja jetzt ĂŒber Sender.
Serafin Dinges: WĂ€hrenddessen spricht sich die Razzia rum. Die Autos der Polizei bleiben nicht unbemerkt. Bei Meike klingelt das Telefon.
Die Meike: Und dann ruft noch meine Kollegin an, relativ aufgelöst an, sagt: Ăh, Meike, die Polizei steht vor der TĂŒr. Nicht reinlassen! Und ich so: Ja, ist leider schon zu spĂ€t. Die sind schon da. Aber Andreas ist auch dabei. Ah ja, okay, Andreas ist dabei, dann ist ja gut.
Serafin Dinges: Und Andreas fragt sich: Nehmen die Beamt:innen denn jetzt gleich den ganzen Laden auseinander?
Andreas Reimann: In dem Moment war mir auch gar nicht so klar: Werden die jetzt den Server einfach mitnehmen? So, so physisch mitnehmen, die GerÀte einpacken oder so? Da liegen ja auch Skripte, Rohmaterial der letzten vermutlich 20 Jahre liegen digitalisiert da rum. Also das ist schon ganz viel heftiges Material, was niemanden was angeht und die staatlichen Behörden in einer Demokratie schon gar nicht.
Serafin Dinges: An der Stelle zĂ€hlen wir mal durch. Andreas ist in der Redaktion. Meike ist in der Redaktion. Aber wo ist Fabian? Der ist noch auf dem Weg â und war dabei nicht untĂ€tig. Er hat inzwischen mit seiner AnwĂ€ltin telefoniert. Angela Furmaniak. Die AnwĂ€ltin ist schon bestens in dem Thema drin, denn Furmaniak hatte auch Betroffene bei den Ermittlungen zu Linksunten Indymedia vertreten. Die AnwĂ€ltin ruft direkt den Staatsanwalt an: Manuel Graulich. Das Ergebnis ist so eine Art Deal. Wenn sich Fabian noch mal ganz offiziell als Verfasser des Artikels bekennt, dann wird die Razzia in der Redaktion gestoppt. Dann rĂŒhren die Beamt:innen nichts an. Mit diesem Plan radelt Fabian also in die Redaktion. Die Polizist:innen hatten zwar angeboten, ihn im Auto mitzunehmen, aber darauf hatte Fabian nach der Razzia weniger Lust, sagt er. Also ab aufs Fahrrad. Einmal durchgelĂŒftet und immer noch ohne FrĂŒhstĂŒck, schlĂ€gt Fabian in der Redaktion auf.
Fabian Kienert: Und das saà eben dann jetzt so der Staatsanwalt⊠saà an diesem Tisch in den RÀumlichkeiten von Radio Dreyeckland und hat praktisch auf mich gewartet, weil es die Kommunikation gegeben hat zwischen ihm und meine AnwÀltin, dass ich eine ErklÀrung abgeben werde. Und der Durchsuchungsbeschluss, der hÀtte es hergegeben, dass praktisch Sie die komplette Infrastruktur von Radio Dreyeckland beschlagnahmt hÀtten, wenn ich diese ErklÀrung nicht abgegeben hÀtte.
Serafin Dinges: Um zu beweisen, dass wirklich nur er der Autor ist, bekommt Fabian seinen Laptop wieder. Zumindest ganz kurz. Er loggt sich bei Radio Dreyeckland ein und prÀsentiert den Bearbeitungsverlauf des sagenumwobenen Artikels. Und dort, so beschreibt es Fabian, war ganz klar zu sehen: Ja, nur er hat das geschrieben. Andreas und Meike schauen zu, wie Fabian gerade ihren Radiosender vor dem Zugriff der Polizei rettet.
Andreas Reimann: Ich wollte auch dabei sein, wie dann dieser PC Laptop geöffnet und gestartet wird. Ich wollte sehen, was die da machen, auch um das im Nachhinein auch bezeugen zu können.
Serafin Dinges: Eine gefĂŒhlte Ewigkeit starrt die Polizei auf dem Bildschirm. So beschreibt Meike das. Und dann geben sie sich zufrieden. Fabian ist der einzige Autor. Das wurde jetzt noch mal fĂŒr alle Anwesenden demonstriert. Die Polizei verlĂ€sst die Redaktion und bei Radio Dreyeckland klingelt wieder das Telefon. Am Apparat: die Deutsche Presseagentur, kurz die dpa.
Andreas Reimann: Da war ich schon auch noch ein bisschen aufgeregt. Aber da habe ich schon gemerkt: Aha, da meldet sich jetzt die dpa. Also da meldet sich jetzt die Ăffentlichkeit, da ist ein Interesse.
Serafin Dinges: Noch am selben Tag berichten auch der SPIEGEL ĂŒber die Razzien, der SWR, die taz und der Deutschlandfunk. Und am nĂ€chsten Tag sammeln sich rund 250 Freiburger:innen auf dem Platz der alten Synagoge zu einer spontanen Kundgebung. Und die Protestierenden sind sauer.
Stimme auf einer Demo: Die Durchsuchungen sind ein Frontalangriff auf die Pressefreiheit als Ganzes. Getroffen hat es RDL, gemeint sind wir alleâŠ
Stimme auf einer Demo: âŠZeichen gegen diese repressive KackscheiĂe zu setzen und zu zeigen, dass wir uns nicht einschĂŒchtern lassen. Finger weg von linken Medien!âŠ
Stimme auf einer Demo: Welch ein Riesen-Polizeiaufgebot, mit welcher UnverschĂ€mtheit, die in die RĂ€ume von den Leuten eingedrungen sindâŠ
Stimme auf einer Demo: Finger weg von unseren Strukturen. Wir sind alle Radio DreyecklandâŠ
Stimme auf einer Demo: âŠ ĂŒberfallen haben. Und das Ganze zahlt der Staat. Ich kannâs nicht fassen. Wo sind wir? Diese Aktion ist eine Blamage fĂŒr die Demokratie. Ich wiederhole: Es ist eine Blamage fĂŒr die Demokratie! Pressefreiheit! Pressefreiheit!
Mengenmenge: Pre-sse-frei-heit! Pre-sse-frei-heit! (âŠ)
Stimme auf einer Demo: Pressefreiheit in Deutschland! Ich fordere Pressefreiheit! (âŠ)
Andreas Reimann: Der Stress viel von mir ab, glaube ich, als irgendjemand kam und, ja ,erst mal so Betroffenheit gezeigt hat, Empathie gezeigt hat, und gefragt hat: Können wir irgendwas fĂŒr dich tun? Und dann meinte ich: Ja, du könntest mir jetzt einfach ne Laugenbrezel kaufen in der BĂ€ckerei.
Sebastian Meineck: Hallo, Serafin.
Serafin Dinges: Hallo. Sebastian Meineck, Autor dieser Folge. Willkommen zur Werbepause.
Sebastian Meineck: Hallo.
Serafin Dinges: Woran arbeitest du gerade? Wobei erwische ich dich?
Sebastian Meineck: Ich bin tatsĂ€chlich in dieser Sekunde dabei zu schauen, ob es unser Podcas- Cover auch noch lesbar ist, wenn man es sehr, sehr klein vor sich sieht. So wie das dann aussieht, wenn man das auf der App vor sich hĂ€tte. Es ist eine wirklich seltsame Aufgabe, denn wir haben natĂŒrlich dieses Cover in einer riesigen Auflösung ausspielen lassen. Und jetzt sitze ich da vor Gimp und zieh das so auf 100 mal 100 Pixel. Und gucke, ob man noch âSystemeinstellungenâ lesen kann.
Serafin Dinges: Wenn du gerade nicht Cover ganz klein siehst, dann schreibst du ganz schön viel fĂŒr netzpolitik.org. Netzpolitik ist vor allem durch Spenden finanziert. Wie Ă€ndert das deine Arbeit?
Sebastian Meineck: Das Ă€ndert die Arbeit radikal. Das war wir gar nicht klar, als ich da angefangen hatte. Unser Ziel ist es wirklich, Entwicklungen zu begleiten, die relevant sind. Es ist fĂŒr uns erst mal egal, ob das durch die groĂen Medien geht, ob das viele Klicks bringt, ob das zu einer bestimmten Zielgruppe passt. Wir sind allein dem Thema verpflichtet, also in diesem Fall dem Kampf fĂŒr digitale Freiheitsrechte.
Serafin Dinges: HeiĂt das fĂŒr dich, dass du mehr Freiheit hast oder mehr Angst, dass die Leute nicht mehr spenden, wenn du nicht die richtigen Sachen schreibst?
Sebastian Meineck: Auf jeden Fall mehr Freiheit. Nee, Angst habe ich da ĂŒberhaupt nicht. NatĂŒrlich, unsere Finanzierung ist immer jedes Jahr â Stabhochsprung. So vergleiche ich das gerne. Immer im Dezember, wo typischerweise die meisten Spenden reinkommen, fragen wir uns: Erreichen wir das Budgetziel? Können wir so weitermachen? Nee, aber thematisch bedeutet das eine unheimliche Freiheit.
Serafin Dinges: OK, wer dabei mithelfen will, dass Sebastian im Dezember nicht Angst haben muss, dass das Spendenziel nicht erreicht wird, findet alle Infos unter netzpolitik.org/spenden. Aber erst mal weiter mit der Folge und du machst die Grafik fertig.
Sebastian Meineck: Ich gucke mir das jetzt noch mal genau an!
Serafin Dinges: Vielen Dank.
Sebastian Meineck: Machâs gut.
Serafin Dinges: Ciao!
Serafin Dinges: Heute ermittelt die Staatsanwaltschaft nicht mehr gegen Andreas. Die VorwĂŒrfe hat sie schnell fallen gelassen, nicht aber die VorwĂŒrfe gegen Fabian. Als Autor des Artikels soll Fabian die TĂ€tigkeit einer verbotenen Vereinigung unterstĂŒtzt haben. So lautet der Vorwurf. Und zwar indem Fabian die verbotene Vereinigung, also Linksunten Indymedia in seiner Meldung nicht nur genannt hat, sondern auch verlinkt. Richtig gehört. In Fabians Meldung steht der Link zur Website. Ich sage das jetzt ganz vorsichtig: linksunten PUNKT indymedia PUNKT org. Um das noch mal klar zu machen Fabien hat jetzt nicht geschrieben: Hey, schaut euch mal diese krass verbotene Website an! Er hat ĂŒber die Einstellung eines Gerichtsverfahrens geschrieben und dabei erwĂ€hnt, Zitat: âIm Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseiteâ.
Serafin Dinges: Und so ist es auch: Die Webseite von Linksunten, wie sie frĂŒher war, die gibt es nicht mehr. Neue BeitrĂ€ge kann man dort nicht mehr posten. Seit 2020 gibt es unter der gleichen Adresse nur noch ein Archiv mit den alten BeitrĂ€gen. Trotzdem findet die Staatsanwaltschaft: fabian hat mit diesem Link eine verbotene Organisation unterstĂŒtzt. Deshalb drohen Fabian eine Geldstrafe und bis zu drei Jahre GefĂ€ngnis. Um noch deutlicher zu machen, wie absurd das Ganze ist: Das Bundesinnenministerium hat diesen Link zu Linksunten schon selbst vor ein paar Jahren veröffentlicht. 2018 twitterte das Innenministerium, Zitat: âVerboten wurde die unter der URL linksunten.indymedia.org abrufbare Internetseite.â Und fĂŒr genau diesen Link soll Fabian also vor Gericht. Und weil das Ganze so sonderbar ist, nutzt Radio Dreyeckland in seinen Berichten ĂŒber den Fall ein Wortspiel: Link-Extremismus, also Extremismus durch einen Link statt Links⊠Vielleicht muss ich den Witz auch gar nicht erklĂ€ren. Jetzt also die Frage: Geht das? Kann ein Journalist wegen eines Links ins GefĂ€ngnis? Fabian glaubt nicht dran.
Fabian Kienert: Es gibt zwar Leute, die sage: Man sollte nicht naiv davon ausgehen, dass man auf jeden Fall nicht verurteilt wird. Aber ich gehe davon aus, dass ich nicht verurteilt werde.
Serafin Dinges: Fabian spekuliert, der gesamte Fall Radio Dreyeckland könnte ein EinschĂŒchterungsversuch sein, und zwar gegen die linke Szene, lanciert von Beamt.innen, die frustriert sind von dem erfolglosen Ermittlungen rund um Linksunten Indymedia.
Fabian Kienert: Ich glaube, da ist einfach irgendwie auch der Wille auch zu diesem ganzen Linksunten⊠Endlich mal irgendwie noch mal was zu finden, wo man Leute irgendwie greifen kann. Und scheinbar gibt es da im Freiburger Staatsschutz Leute, die halt auch auch Radio Dreyeckland regelmĂ€Ăig besuchen, um endlich irgendwann mal was zu finden. Und dass da vielleicht auch ein gewisser Ărger ĂŒber Polizei-kritische Berichterstattung auch von mir da ist, wĂŒrde ich schon annehmen.
Serafin Dinges: Er selbst sagt, er wĂŒrde seinen Artikel wieder so schreiben. Er steht dazu. Die Hausdurchsuchung hat ihn aber trotzdem mitgenommen.
Fabian Kienert: So, die ersten Wochen nach der Hausdurchsuchung habe ich schon nicht so gut geschlafen. Und so Klingeln zu ungewöhnlichen Uhrzeiten, das ist schon, finde ich, immer noch irgendwie belastend. Da geht schon plötzlich irgendwie immer noch so ein Film an.. ich mach den Computer schnell aus, wenn es nur irgendwie klingelt.
Serafin Dinges: Wir haben versucht, fĂŒr diesen Podcast auch mit dem Freiburger Staatsschutz und der Staatsanwaltschaft Karlsruhe zu sprechen und so Interview-Anfragen wurden aber schriftlich abgelehnt. Das es den Behörden mit ihren Razzien auch um EinschĂŒchterung ging, daran glaubt auch Meike.
Die Meike: Ja definitiv. Und hat auch geholfen, also: hat gewirkt sozusagen. Also hat genau den Zweck erfĂŒllt, den es sollte. Wir hatten den Fall⊠wir hatten so junge Praktikantis danach in der Aktuellen, und der war total verunsichert. Also der hat dann irgendwie gefragt: Kannst du uns da irgendwie noch mal eine Liste machen mit Leuten, die wir nicht anfragen sollten? Oder irgendwie so in in der Hinsicht. Und wir so: OK, Stopp, Stopp, Stopp. Du hast es nicht verstanden. Also kalr, der war ganz neu in dem Gebiet, so, ne? Aber wir machen hier Journalismus. Du darfst meinetwegen Charles Manson im GefĂ€ngnis anfragen zu einem Interview. Das ist das, was unser Job hier so ist. Wir sollen die Ăffentlichkeit darĂŒber informieren, was passiert. Und ihr Bild machen können die Leute sich dann selber, so..
Serafin Dinges: Andreas kontextualisiert das alles noch mal etwas. Er sagt: Der Sender ist eben nicht die Badische Zeitung oder die Tagesschau.
Andreas Reimann: Und das ist meine Vermutung letztlich auch, dass es uns getroffen hat und nicht andere Medien, die ja ĂŒber den Sachverhalt damals zu dem Linksunten-Indymedia-Verfahren auch berichtet hatten⊠dass wir eben wahrscheinlich im Blick der Staatsanwaltschaft kein seriöses Medium sind. Sondern eben ein Medium, was in ihrer Denke in irgendeiner links-aktivistischen Schublade liegt. Wahrscheinlich in der gleichen Schublade, wo auch ein Portal wie Linksunten Indymedia liegt, das noch mal, glaube ich, ein anderes GrundverstĂ€ndnis hat von Journalismus als wir. Vielleicht ist auch so eine Denke dahinter: Die, naja, die arbeiten ja nicht fĂŒr Geld. Also dann haben sie ja wohl andere Interessen. NĂ€mlich irgendwie links-aktivistische Interessen oder sowas. Also das man aus Engagement heraus, aus Verantwortung heraus Journalismus macht⊠Leben können die meisten Journalistinnen ja ohnehin nicht wirklich gut davon⊠das scheint bei denen nicht angekommen zu sein.
Serafin Dinges: Neun Monate nach der Razzia gibt es einen ersten Erfolg fĂŒr Meike und den Sender, fĂŒr Andreas und Fabian. Sie hatten Beschwerde gegen die Razzien eingereicht und das Landgericht Karlsruhe hat entschieden: Jawohl, die Hausdurchsuchungen waren rechtswidrig. Das bedeutet, die Polizei hĂ€tte an diesem einem Januarmorgen nicht bei Andreas und Fabian in die Wohnung gehen dĂŒrfen, nicht ihre Papiere durchwĂŒhlen, nicht in die Redaktion eindringen. In seinem Beschluss teilt das Landgericht Karlsruhe heftig gegen die Razzien aus. Es schreibt vom EinschĂŒchterungseffekt, den so eine Hausdurchsuchung hat. EinschĂŒchterung nicht nur fĂŒr Fabian und Andreas. Auch fĂŒr andere Redaktionsmitglieder, die kritisch ĂŒber staatliche Angelegenheiten berichten. EinschĂŒchterung fĂŒr Informant:innen, die sich mit vertraulichen Infos an die Redaktion wenden. Das Gericht kommt zum Schluss: Die Presse und Rundfunkfreiheit, die wurde bei den Razzien nicht ausreichend berĂŒcksichtigt. Wenige Monate spĂ€ter dann auch wieder der DĂ€mpfer: das Oberlandesgericht Stuttgart hat die Entscheidung vom Landgericht teilweise wieder einkassiert. Das Oberlandesgericht sagt: Diese eine Razzia bei Fabian, die war doch okay. Man hĂ€tte eben rausfinden mĂŒssen, wer den Artikel verfasst hat. Ein Hin und Her also. Aber das ist noch immer nicht das letzte Wort. Fabian hat mit seinen AnwĂ€ltinnen Verfassungsbeschwerde gegen die Razzia eingereicht. Bisher noch ohne Ergebnis. Und Fabian muss sich jetzt in Karlsruhe vor dem Landgericht verantworten. Der Vorwurf: UnterstĂŒtzung einer verbotenen Vereinigung. Neun Prozesstage sind angesetzt, verteilt ĂŒber mehrere Wochen. Der erste Prozesstag war kurz vor Erscheinen dieser Podcastfolge â am 18. April. Weitere Berichterstattung findet ihr auf netzpolitik.org. Und Andreas? Der ist zwar nicht mehr im Visier der Justiz. Seine GerĂ€te hatten die Beamt:innen trotzdem eingesackt. Ăberlegt euch mal: Was habt ihr alles auf dem Handy? Was steht in euren Chatverlauf? Was fĂŒr Fotos habt ihr in der Cloud? Und wie fĂŒhlt sich das an, wenn ihr denkt: Vielleicht können all das jetzt fremde Augen sehen, irgendwo bei der Staatsanwaltschaft? Beim Handy von Andreas zum Beispiel, da gab es keine Sperre, keine VerschlĂŒsselung. Da lag alles offen.
Andreas Reimann: Ich musste dann wirklich auch dem Moderator meiner von meinem von unserem WhatsApp-Sportgruppe sagen: Nimm mich mal raus. Mein Handy liegt bei der Staatsanwaltschaft. Die können gerade alles sehen, was wir⊠auch wenn das im Grunde ganz harmlos ist, so⊠Wer geht wann, wer hat Lust, am nÀchsten Freitag mal morgens um acht joggen zu gehen⊠das liegt jetzt alles bei der Staatsanwaltschaft. Das ist mir peinlich, bitte versuch ganz schnell, mich noch rauszunehmen. Vielleicht haben Sie dann zumindest auf das, was seit der Hausdurchsuchung im Chat war, keinen Zugriff mehr.
Serafin Dinges: Andreas erinnert sich auch heute noch genau an den Abend vom 17. Januar 2023. Der Abend nach den Razzien. Der Ărger war vorbei ,und Andreas war wieder im Schlafzimmer, da, wo fĂŒr ihn am Morgen alles angefangen hat.
Andreas Reimann: Das weiĂ ich noch genau. Wir waren auch nicht so schrecklich spĂ€t zu Hause und ich habe mich ins Bett gelegt. Und dann liege ich da im Bett. Und der erste Gedanke war: Die lĂ€uten wieder morgens um sechs. Also da kam sofort dieses ScheiĂgefĂŒhl hoch. Und meine Frau, die dann nach mir ins Bett kam, die hat mir spĂ€ter gesagt: Es ging ihr genauso. Das hat sie in dem Moment gar nicht so erwĂ€hnt, aber sie ist mit dem gleichen GefĂŒhl ins Bett gegangen: die kommen wieder. Also da ist erst mal was kaputt. Da ist man erst mal irgendwie auf eine Art angegriffen, und das wirkt nach. Das hat sich nach ein paar Tagen dann gelegt. Aber das hat nachgewirkt.
Serafin Dinges: Systemeinstellungen ist eine Produktion von netzpolitik.org, dem Medium fĂŒr digitale Freiheitsrechte. Host und Producer bin ich, Serafin Dinges. Unsere wunderbare Redaktion sind: Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz und Sebastian Meineck. Titelmusik von Daniel Laufer und zusĂ€tzliche Musik von Blue Dot Sessions und mir. Coverdesign: Lea Binsfeld. Besonderen Dank an Lara Seemann und Lena SchĂ€fer. Wenn euch der Podcast gefallen hat, dann freuen wir uns sehr ĂŒber eine gute Bewertung und wenn ihr ihn weiterempfiehlt. Bis zum nĂ€chsten Mal.
Serafin Dinges: NĂ€chstes Mal bei Systemeinstellungen:
Sandra Menzel: Ich denke so schnell kann das gehen das man irgendwie von so einer hoch gelobten FlĂŒchtlingsaktivistin und wunderbare Arbeit dann da niederfĂ€llt in eine angezeigte StraftĂ€terinnen, gegen die mit einer Hausdurchsuchung ermittelt werden muss.
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Fri, 10 May 2024 03:13:55 +0000
Matthias Monroy
2017 hat die EU-Kommission eine HintertĂŒr fĂŒr Pushbacks nach Libyen geschaffen. Im gleichen Jahr begann Sea-Watch die Beobachtung dieser Menschenrechtsverletzungen aus der Luft. Damit soll nun Schluss sein.
Schiffe von EU-Staaten dĂŒrfen Asylsuchende nicht in Folterstaaten wie Libyen zurĂŒckbringen. Um dieses Verbot fĂŒr sogenannte Pushbacks zu umgehen, hat die EU-Kommission |eine HintertĂŒr im Völkerrecht geschaffen| und seit 2017 eine libysche KĂŒstenwache mitaufgebaut. Die Truppe entfĂŒhrt GeflĂŒchtete in internationalen GewĂ€ssern, inhaftiert sie in Folterlagern, regelmĂ€Ăig setzt sie bei diesen Pullbacks Waffen ein und lĂ€sst Menschen ertrinken.
Ebenfalls seit 2017 beobachtet die Organisation Sea-Watch diese Menschenrechtsverletzungen aus der Luft und informiert die zustĂ€ndigen maritimen Leitstellen ĂŒber Boote in Seenot. Damit soll nun Schluss sein: Die italienische Luftfahrtbehörde ENAC hat am Montag |eine Anordnung veröffentlicht|, die den Einsatz von Flugzeugen ziviler Rettungsorganisationen ĂŒber dem Mittelmeer verbietet. Zur BegrĂŒndung heiĂt es, die FlĂŒge gefĂ€hrdeten âdie Sicherheit von Migrantenâ.
âDas Flugverbot ist politisch motiviert und rechtlich nicht haltbar. Mitten im Europawahlkampf versucht Italien, die letzten Zeug:innen der europĂ€ischen Verbrechen im Mittelmeer loszuwerdenâ, kommentiert Oliver Kulikowski von der Airborne-Abteilung von Sea Watch.
Laut der Anordnung betrifft das Verbot FlĂŒge im Osten und Westen Siziliens. Davon umfasst ist auch Lampedusa, wo Sea-Watch das zweimotorige Flugzeug âSeabird 2â stationiert. Es wird von der Schweizer humanitĂ€ren Piloteninitiative (HPI) betrieben und trĂ€gt deshalb das Hoheitszeichen der Schweiz. Auch die âColibriâ von Pilotes Volontaires aus Frankreich unternimmt AufklĂ€rungsflĂŒge fĂŒr Sea-Watch im Mittelmeer und ist deshalb ebenso von dem Verbot betroffen.
Allein zwischen Januar und MÀrz dieses Jahres haben die Sea-Watch-Flieger 40 EinsÀtze mit insgesamt 205 Flugstunden absolviert. Dabei haben die Besatzungen 2.755 Menschen in Seenot in 47 Booten gesichtet. Alle VorfÀlle wurden wie vorgeschrieben an die Leitstellen der benachbarten Seenotrettungszonen in Malta, Italien und Libyen gemeldet.
Mehr als 700 Menschen wurden anschlieĂend von der libyschen âKĂŒstenwacheâ abgefangen und nach Tripolis zurĂŒckgebracht. In mindestens acht FĂ€llen konnte Sea-Watch dabei die Beteiligung der europĂ€ischen Grenzagentur Frontex nachweisen.
In der Anordnung behauptet die ENAC, der Einsatz von Flugzeugen sei eine âunangemessene InterventionsmaĂnahmeâ und fĂŒhre dazu, âdass Migranten von den nordafrikanischen Routen in Rettungsbooten abgeholt werdenâ. Weiter heiĂt es, die Seenotrettung obliege allein den dafĂŒr zustĂ€ndigen Behörden. Dazu verweist die Luftfahrtbehörde auf internationale VertrĂ€ge wie das SOLAS-Ăbereinkommen zur Rettung von Menschen auf See.
|Keiner der genannten VertrĂ€ge verbietet es jedoch|, dass zivile Organisationen Rettungsschiffe oder Flugzeuge auĂerhalb von HoheitsgewĂ€ssern betreiben und ĂŒber entdeckte SeenotfĂ€lle die nationalen Leitstellen informieren.
Die Luftfahrtbehörde ENAC untersteht dem italienischen Verkehrsministerium, das von Matteo Salvini geleitet wird. Der rechtsradikale Lega-Politiker war von 2018 bis 2019 Innenminister und hatte zu dieser Zeit bereits erfolglos versucht, die zivilen Seenotretter mit von ihm erlassenen Dekreten an die Kette zu legen.
Erst Anfang 2023 war die Regierung unter der Postfaschistin Giorgia Meloni damit erfolgreich: |Per Gesetz werden KapitÀn:innen gezwungen|, nach einer Rettungsaktion sofort einen zugewiesenen Hafen anzusteuern, der tausende Kilometer entfernt sein kann. Werden weitere Menschen aus Seenot an Bord genommen, drohen eine Geldstrafe von 20.000 Euro und die wochenlange Festsetzung des Schiffes.
Dieses Gesetz zur Repression gegen Rettungsschiffe hat die ENAC nun auf auf den Luftraum erweitert. Wer RettungsmaĂnahmen âauĂerhalb des geltenden Rechtsrahmensâ durchfĂŒhrt, wird demnach mit SanktionsmaĂnahmen sowie âVerwaltungshaftâ fĂŒr die Flugzeuge bestraft.
Die AnwĂ€lte von Sea-Watch arbeiten bereits daran, gegen die Anordnung vorzugehen. Das Flugverbot kann wie die Repressalien gegen die zivilen Rettungsschiffe vor italienischen Verwaltungsgerichten angefochten werden. In den vergangenen Wochen waren die Organisationen SOS MediterranĂ©e aus Frankreich und SOS Humanity aus Deutschland dazu |erstmals erfolgreich|. Unter anderem argumentierten die Richter:innen, Italien habe nicht das Recht, Schiffe fĂŒr angebliche Taten auf hoher See zu sanktionieren, wenn diese nicht unter italienischer Flagge fahren. Auch der Vorwurf, Anordnungen der libyschen KĂŒstenwache nicht zu befolgen, laufe ins Leere, da deren EinsĂ€tze nicht als Rettungsaktionen angesehen werden könnten.
Ungeachtet der drohenden Repressalien will Sea-Watch die GegenĂŒberwachung aus der Luft nicht beenden. Am Mittwochmittag startete die âSeabird 2â von Lampedusa zu einem AufklĂ€rungsflug. MaĂnahmen der italienischen Regierung erfolgten bislang nicht.
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Wed, 08 May 2024 16:19:25 +0000
Markus Reuter
Erstmals muss das EuropĂ€ische Parlament Abrechnungsdaten eines Abgeordneten herausgeben. Weil Ioannis Lagos wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurde, ĂŒberwiegt das öffentliche Interesse, urteilte das Gericht der EuropĂ€ischen Union.
Der griechische Neonazi |Ioannis Lagos| sitzt in Griechenland wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung im GefÀngnis. Gleichzeitig ist er seit 2019 gewÀhlter Abgeordneter im Europaparlament. Trotz seiner Haftstrafe hat Lagos weiterhin Zugriff auf Gelder des EuropÀischen Parlaments. Wie er diese verwendet, ist unbekannt.
Die Transparenz-NGO FragDenStaat hatte beim EuropĂ€ischen Parlament eine |Informationsfreiheitsanfrage zu den Geldern des rechtsradikalen Abgeordneten gestellt|. Das Parlament lehnte die Anfrage im April 2022 ab. Es gebe generell keine Details ĂŒber die Abrechnungen von Abgeordneten heraus. Dagegen klagte FragDenStaat vor dem |EuropĂ€ischen Gericht in Luxemburg| â und |hat nun Recht bekommen|.
In der |Pressemitteilung (PDF)| des Gerichts heiĂt es:
Mit seinem heutigen Urteil erklĂ€rt das Gericht die Entscheidung des EuropĂ€ischen Parlaments vom 8. April 2022 fĂŒr nichtig, soweit den Antragstellern damit der Zugang zu Dokumenten ĂŒber Herrn Lagos vom Parlament gezahlte Reisekostenerstattungen und Tagesgelder sowie zu Dokumenten ĂŒber seinen parlamentarischen Assistenten gezahlte Reisekostenerstattungen verweigert wird.
Das Gericht befindet, dass im vorliegenden Fall die PrivatsphĂ€re des Abgeordneten hinter dem Recht der Ăffentlichkeit auf Zugang zu den Dokumenten zurĂŒckstehen muss. Der Antrag ziele darauf ab, eine verstĂ€rkte öffentliche Kontrolle und Rechenschaftspflicht zu erleichtern, etwa im Hinblick auf den Zugang von Lagos zu öffentlichen Geldern. Dies aber sei angesichts der auĂergewöhnlichen UmstĂ€nde â nĂ€mlich der langjĂ€hrigen Haft des Politikers â gerechtfertigt, so das Gericht. Entsprechende Unterlagen ĂŒber Tagegelder und Reisekosten von Lagosâ Mitarbeitern mĂŒssten daher herausgegeben werden.
FragDenStaat |hĂ€lt den Fall auch fĂŒr einen anderen Abgeordneten fĂŒr relevant|. Der AfD-Europaabgeordnete Maximilian Krah steht derzeit ebenfalls im Fokus der Medien. Sein Mitarbeiter soll ein chinesischer Spion sein und |sitzt aktuell in Untersuchungshaft|.
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|Informationsfreiheitsanfrage zu den Geldern des rechtsradikalen Abgeordneten gestellt|
|EuropÀischen Gericht in Luxemburg|
|hĂ€lt den Fall auch fĂŒr einen anderen Abgeordneten fĂŒr relevant|
|sitzt aktuell in Untersuchungshaft|
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Wed, 08 May 2024 15:01:35 +0000
Chris Köver
Ein neues Tool von OpenAI soll erkennen können, ob ein Bild echt ist oder mit dem Bildgenerator DALL-E erstellt wurde. Etwas Ă€hnliches hat das gehypte Unternehmen bereits fĂŒr seine KI-generierten Texte versprochen â und ist daran gescheitert.
Das KI-Unternehmen OpenAI arbeitet an Technologien, um Bilder zu erkennen, die mit seinem populĂ€ren Generator DALL-E 3 erstellt werden. Das Werkzeug ist Teil eines gröĂeren Pakets von MaĂnahmen, mit dem das Unternehmen kurz vor der US-Wahl dafĂŒr sorgen will, dass sich seine KI-generierten Inhalte auch als solche erkennen lassen. Werkzeuge wie DALL-E haben es sehr einfach gemacht, tĂ€uschend echte Bilder zu erstellen. |Fachleute fĂŒrchten|, dass solche Bilder, Videos oder Tonaufnahmen in anstehenden WahlkĂ€mpfen zur Gefahr werden.
|In einem Blogpost| schreibt OpenAI, es werde den neuen Detektor zunĂ€chst mit Forscher:innen teilen. Diese sollen das Werkzeug testen und RĂŒckmeldungen geben, wie es verbessert werden kann. In internen Tests soll der Detektor bereits mehr 98 Prozent der Bilder von DALL-E 3 richtig erkannt haben. Gleichzeitig schneidet das System laut OpenAI schlechter ab, wenn es darum geht zwischen Bildern von DALL-E und Produkten der Konkurrenz zu unterscheiden, etwa von Stable Diffusion oder Midjourney.
In der gleichen Mitteilung sagt OpenAI, es sei dem Lenkungsausschuss der |âCoalition for Content Provenance and Authenticity|â beigetreten. Das Gremium, in dem andere Tech-Konzerne wie Adobe, Microsoft, Meta und Google sitzen, arbeitet an einem gemeinsamen Standard zur Beglaubigung von Medieninhalten. Er soll fĂŒr Bilder, Videos und Ton-Dateien Informationen dazu liefern, wann und mit welchen Werkzeugen sie erstellt wurden. Im Falle eines mit DALL-E 3 generierten Bildes steht dann etwa in den Metadaten der Datei: âVerwendetes KI-Werkzeug: DALL-Eâ.
OpenAI fĂŒgt diese Daten bereits |seit Anfang des Jahres| automatisch in Inhalte ein, die mit seinen Systemen ChatGPT und DALL-E erstellt werden. Auch in Videos aus dem bislang nicht veröffentlichten System Sora sollen die Metadaten enthalten sein. Nachrichtenorganisationen und Forscher:innen sollen dadurch schneller erkennen können, woher ein Bild stammt.
Allerdings lassen sich solche Metadaten aus Dateien auch leicht wieder entfernen. Wer mit einem Bild, Video oder einer vermeintlichen Tonaufzeichnung bewusst tĂ€uschen wollte, wĂŒrde sie wohl kaum in der Datei belassen. Sie eignen sich nicht, um zu belegen, ob ein Inhalt echt oder KI-generiert ist.
Das weiĂ auch OpenAI und schreibt: âMenschen können immer noch betrĂŒgerische Inhalte ohne diese Informationen erstellen (oder sie entfernen).â Das Unternehmen plĂ€diert dennoch dafĂŒr, solche Standards zu etablieren. Wenn sich die Metadaten erst mal etabliert hĂ€tten, wĂŒrden Menschen misstrauischer gegenĂŒber Medien, bei denen sie fehlten.
OpenAI reagiert mit seiner AnkĂŒndigung auch auf den wachsenden Druck. In den USA stehen dieses Jahr PrĂ€sidentschaftswahlen an. Forscher:innen weisen darauf hin, wie gefĂ€lschte Inhalte im Wahlkampf eingesetzt werden, um den Ausgang der Wahlen zu beeinflussen. Im Kongress |wurden mehrere GesetzentwĂŒrfe eingebracht|, die auf KI abzielen, bislang steht aber kein Gesetz kurz vor der Verabschiedung.
Anderswo hat die Politik den Druck schon erhöht: In der EU verpflichtet etwa die neue KI-Verordnung alle Anbieter von KI-Systemen zur Transparenz: Wer Werkzeuge anbietet, mit denen man Bild-, Audio- oder Videoinhalte erzeugen kann, âdie Personen, GegenstĂ€nden, Orten, Einrichtungen oder Ereignissen deutlich Ă€hneln und fĂ€lschlicherweise den Anschein erwecken, authentisch oder wahrheitsgetreu zu seinâ, muss diese Inhalte klar kennzeichnen. Das gleiche gilt auch fĂŒr Plattformen, die solche Inhalte verbreiten.
CEO Sam Altman reiste im vergangenen Jahr um die gesamte Welt, um mit Politiker:innen ĂŒber OpenAIs Technologien zu sprechen. In der EU konnten die Lobbyist:innen des Unternehmens immerhin erfolgreich verhindern, dass die neuen Regeln fĂŒr den Einsatz von KĂŒnstlicher Intelligenz allzu strikt mit Basismodellen umgehen, die auch die Grundlage von OpenAIs Text- und Bildgeneratoren sind.
Mit den AnkĂŒndigungen dieser Woche signalisiert OpenAI so seine Bereitschaft, der Gefahr selbst entgegenzutreten, die von seinen Werkzeugen ausgeht. Ob das auch gelingt, ist eine andere Frage: In der Vergangenheit ist OpenAI bereits einmal damit gescheitert, die Inhalte aus einen eigenen Generatoren verlĂ€sslich zu erkennen. Einen Detektor, der Texte aus ChatGPT von menschlichen Texten unterscheiden sollte, |hat das Unternehmen vergangenen Sommer beerdigt|: Die Erkennungsquote war zu schlecht.
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|âCoalition for Content Provenance and Authenticity|
|wurden mehrere GesetzentwĂŒrfe eingebracht|
|hat das Unternehmen vergangenen Sommer beerdigt|
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Wed, 08 May 2024 12:51:21 +0000
Esther Menhard
Der Bundesrat hat das Onlinezugangsgesetz 2.0 im MÀrz abgelehnt. Eine Einigung soll nun der Vermittlungsausschuss bringen. Vor der ersten Sitzung Mitte Mai bekrÀftigen die LÀnder ihre Forderungen nach mehr Einfluss sowie nach einer stÀrkeren finanziellen Beteiligung des Bundes.
Ein Schrank voller Akten, stapelweise Mappen auf dem Schreibtisch, daneben hĂ€ndisch ausgefĂŒllte Formulare, die als eingescannte PDFs ins Postfach wandern â so sieht der Alltag in vielen Behörden aus. Mitarbeiter:innen in der öffentlichen Verwaltung mĂŒssen sich nach wie vor in Geduld ĂŒben, bevor sie vollumfĂ€nglich auf digitale Systeme setzen und BĂŒrger:innen, Unternehmen und Organisationen deren Leistungen online beantragen können.
Die lahmende Verwaltungsdigitalisierung soll ein Gesetz seit nunmehr sieben Jahren beschleunigen. Das Onlinezugangsgesetz (OZG) trat 2017 in Kraft und verpflichtet Bund, LĂ€nder und Kommunen dazu, knapp 600 Verwaltungsleistungen fĂŒr BĂŒrger:innen, Unternehmen und Organisationen online anzubieten. Laut Gesetz sollte dies bis Ende 2022 erfolgen. Die Frist ist lĂ€ngst verstrichen und eine neue Version des Gesetzes liegt nun seit einigen Monaten auf dem Tisch.
Doch das OZG 2.0 hat einen schweren Stand. Zuerst zogen sich die Verhandlungen der Regierungsparteien ĂŒber Jahre hin, bevor der Bundestag im Februar |das Gesetz endlich verabschiedete|. Im MĂ€rz folgte dann aber bereits der nĂ€chste DĂ€mpfer: |Der Bundesrat lehnte das OZG 2.0 ab| und stoppte das Gesetzgebungsverfahren damit kurz vor der Ziellinie.
Vor allem die unionsgefĂŒhrten LĂ€nder stimmten gegen das Vorhaben â obwohl die Ampel nicht nur die VerbesserungsvorschlĂ€ge von SachverstĂ€ndigen in die neue Fassung, sondern auch zahlreiche Forderungen der LĂ€nder aufnahm. So können die LĂ€nder laut Gesetz weiterhin |Elster| fĂŒr die Identifizierung und Authentifizierung verwenden. Die Plattform haben Bund und LĂ€nder unter FederfĂŒhrung Bayerns entwickelt, um die SteuererklĂ€rungen der BĂŒrger:innen und Unternehmen online einzuholen. UrsprĂŒnglich wollte der Bund, dass das Nutzerkonto Bund â kurz |BundID| â Elster vollstĂ€ndig ablöst.
Vor allem aber adressiert das Gesetz eines der Hauptprobleme der Verwaltungsdigitalisierung: den Flickenteppich digitaler Verwaltungsleistungen von Bund, LĂ€nder und Kommunen. Das OZG 2.0 sieht fortan einheitliche Standards und offene Schnittstellen vor. Eben das ist aber der Stein des AnstoĂes. Denn die Standards sollen zwar zunĂ€chst nur fĂŒr Bundesleistungen gelten. Die ZustĂ€ndigkeit, diese festzulegen, liegt aber |allein beim Bundesinnenministerium| (BMI). Das muss das LĂ€ndergremium des IT-Planungsrates lediglich ĂŒber seine BeschlĂŒsse informieren.
Die passive Rolle des IT-Planungsrates im neuen Gesetz zeige, dass der Bund keine umfassende Standardisierungsstrategie anstrebe, âdie alle relevanten Beteiligten aus Verwaltung und Privatwirtschaft angemessen einbeziehtâ, sagt Reinhard Sager vom Deutschen Landkreistag (DLT) |in einer Pressemitteilung|. Laut Kay Ruge (DLT) sei der Bund nicht zu ZugestĂ€ndnissen bereit gewesen.
Nach der Ablehnung im Bundesrat rief der Bund auf DrĂ€ngen der Innenministerin Nancy Faeser (SPD) |am 10. April| den Vermittlungsausschuss an. Die erste Sitzung ist fĂŒr Mitte Mai vorgesehen, der genaue Termin |steht noch nicht fest|. Ob Bund und LĂ€nder das OZG 2.0 noch gemeinsam in dieser Legislaturperiode verabschieden werden und wie das Gesetz konkret aussehen wird, ist derzeit offen. Das hĂ€ngt unter anderem davon ab, wie weit die Forderung der LĂ€nder geht, die Standards mitzugestalten.
So hĂ€lt Ruge gegenĂŒber netzpolitik.org eine Einigung im Vermittlungsausschuss nur dann fĂŒr möglich, âwenn bei der Setzung von Standards fĂŒr die Digitalisierung auch die Rechte der LĂ€nder gewahrt werden.â Doch die Einigung hĂ€ngt auch an einem weiteren Punkt: Der Bund mĂŒsse die Folgekosten des OZG 2.0 auch mit eigenen finanziellen BeitrĂ€gen begrenzen, so Ruge.
Wie sehr die Kosten mit der Umsetzung des OZG 2.0 ansteigen werden, sei |laut Schleswig-Holsteins Digitalisierungsminister Dirk Schrödter| (CDU) kaum einzuschĂ€tzen. Fest stehe aber, dass sie vor allem LĂ€nder und Kommunen belasten werde. Die trĂŒgen die Hauptumsetzungslast, begrĂŒndet Florian Herrmann (CSU) aus Bayern die Ablehnung seines Landes im Bundesrat.
Die LĂ€nder hĂ€tten zum Teil schon viel in die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung investiert. Das OZG 2.0 mache vieles davon zur Makulatur, kritisiert Schrödter. Schleswig-Holstein etwa habe seine Hausaufgaben erledigt. âDafĂŒr dĂŒrfen wir nicht bestraft werdenâ, so der Landesminister.
Der Forderung nach finanzieller UnterstĂŒtzung erteilt jedoch nicht zuletzt die FDP eine klare Absage. Die Liberalen verweisen ebenso wie die Union auf die Schuldenbremse. FĂŒr die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung sieht der Bundeshaushalt fĂŒr 2024 nur noch |3,3 Millionen Euro| vor. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr veranschlagte die Bundesregierung dafĂŒr 377 Millionen Euro.
WĂ€hrend die LĂ€nder ihre Forderungen öffentlich Ă€uĂern, hĂ€lt sich der Bund im Vorfeld der ersten Ausschusssitzung zurĂŒck. Eine Presseanfrage an das BMI dazu, wie eine Einigung zwischen Bund und LĂ€ndern aussehen könnte, bleibt unbeantwortet. Aus dem BĂŒro des Bundestagsabgeordneten Lars Zimmermann (SPD) heiĂt es, man wolle sich nicht zum laufenden Verfahren Ă€uĂern.
Die grĂŒne Innenpolitikerin Misbah Khan findet derweil klare Worte: âIch gehe davon aus, dass allen beteiligten Akteuren, aus der Opposition und den LĂ€ndern, die Bedeutung der Reform ebenfalls bewusst ist und sich dieses Verfahren nicht fĂŒr parteitaktische Spielereien eignetâ, sagt sie gegenĂŒber netzpolitik.org. Das OZG sei enorm wichtig, damit die digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung gelingt.
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|Der Bundesrat lehnte das OZG 2.0 ab|
|allein beim Bundesinnenministerium|
|laut Schleswig-Holsteins Digitalisierungsminister Dirk Schrödter|
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Wed, 08 May 2024 10:40:58 +0000
Markus Reuter
Reisen ĂŒber LĂ€nder und Verkehrsmittel hinweg zu planen, ist heute immer noch sehr kompliziert. Das neue MobilitĂ€tsdatengesetz soll Abhilfe schaffen und dazu fĂŒhren, dass vom Fahrplan des lokalen Busunternehmens ĂŒber den E-Roller bis zur Ladestation die Daten ausgetauscht und vernetzt werden können.
Das Verkehrs- und Digitalministerium von Volker Wissing (FDP) hat |laut einem Bericht von Tagesspiegel Background (âŹ)| mit leichter VerspĂ€tung den Gesetzentwurf fĂŒr ein MobilitĂ€tsdatengesetz vorgelegt. Idee des Gesetzes ist eine bessere Vernetzung von MobilitĂ€tsdaten. So soll mit dem Gesetz unter anderem die âKleinstaatereiâ beendet werden, bei der Nutzer:innen bei einer Reise von A nach B fĂŒr verschiedene Transportmittel vom E-Roller ĂŒber Zug bis zum Taxi verschiedene Dienste, Apps und Tickets nutzen mĂŒssen.
âIndem wir mehr und bessere MobilitĂ€tsdaten zur VerfĂŒgung stellen, werden multimodale Reise und Echtzeit-Verkehrsinformationsdienste nicht nur ermöglicht, sondern auch deren Buchung und Bezahlungâ, sagt Ben Brake, Leiter der Abteilung Digital- und Datenpolitik im BMDV zu Tagesspiegel Background.
In welcher Form die MobilitĂ€tsdaten dann geteilt werden sollen, legt der Gesetzentwurf laut Background allerdings nicht fest. Auf Vorgaben wolle das Verkehrs- und Digitalministerium (BMDV) verzichten, weil sich aufgrund des technischen hin Fortschritts schnell Ănderungen ergeben könnten. Stattdessen soll in Zukunft ein âBundeskoordinatorâ diese Frage regeln. Laut dem Bericht soll dieser Bundeskoordinator Leitlinien erlassen, welche die Spezifikationen, Standards, Anforderungen und Formate der Daten festlegen sowie die Zusammenarbeit zwischen den Dateninhabern und den Datennutzern regeln.
Diese Koordination der MobilitĂ€tsdaten soll in Zukunft die Bundesanstalt fĂŒr StraĂenwesen (BASt) ĂŒbernehmen und bekommt dafĂŒr laut Entwurf offenbar 22 Stellen zugesprochen. Bei der BASt liegt auch der von der EU vorgeschriebene Nationale Zugangspunkt fĂŒr MobilitĂ€tsdaten. Aufgabe der Bundesanstalt wird laut dem Bericht zudem sein, ânational und international tĂ€tige Dateninhaber von MobilitĂ€tsdaten zur Datenbereitstellungâ anzuregen und zu erklĂ€ren, wie die Bereitstellung funktioniert. Zudem soll die BASt auch Beschwerden ĂŒber QualitĂ€t und RechtskonformitĂ€t der Daten entgegennehmen. Eine Aufgabe, die man eher bei einer kontrollierenden Stelle erwartet hĂ€tte. Personenbezogene Daten sind laut dem Gesetzentwurf vom Teilen ausgeschlossen.
Damit die Unternehmen wirklich Daten zur VerfĂŒgung stellen, soll es in Zukunft auch Strafen geben. Diese fallen allerdings laut dem Entwurf mit âbis zu 10.000 Euroâ eher gering aus. Die Kontrolle und Aufsicht ĂŒber die Daten soll beim Bundesamt fĂŒr Logistik und MobilitĂ€t (BALM) angesiedelt sein, das allerdings nur vier Stellen fĂŒr diese Aufgabe erhĂ€lt. Dem BALM kommt die Aufgabe zu, BuĂgelder âals Ă€uĂerstes Mittelâ zu verhĂ€ngen.
Laut dem Medienbericht wird das Gesetz frĂŒhestens Ende 2024 oder Anfang 2025 in Kraft treten. Bis alles eingerichtet ist und die Vorgaben fĂŒr BuĂgelder stehen, dĂŒrfte es allerdings 2026 werden.
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|laut einem Bericht von Tagesspiegel Background (âŹ)|
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Tue, 07 May 2024 14:28:38 +0000
Chris Köver
Auch in London darf die Polizei die umstrittene Gesichter-Suchmaschine PimEyes nicht nutzen. Dennoch sollen Beamt:innen die Seite mehr als 2.000 Mal aufgerufen haben. Jetzt hat die Behörde den Zugriff ĂŒber DienstgerĂ€te gesperrt.
Die Londoner Polizei soll mehr als 2.000 Mal die Seite der Suchmaschine PimEyes aufgerufen haben. |Das berichtet| das britische Nachrichtenmedium i-News und verweist auf Dokumente, die es mit Hilfe einer Informationsfreiheitsanfrage erhalten hat. Demnach hÀtten Dienstcomputer der Behörde in den ersten drei Monaten des Jahres 2.337 Mal die Seite von PimEyes besucht.
Mit der Suchmaschine kann man anhand eines Fotos im offenen Internet |nach weiteren Bildern dieser Person suchen|. Sie ist hoch umstritten, weil die Suche auf biometrischen Daten basiert. DafĂŒr werden offen im Internet verfĂŒgbare Fotos automatisch ausgewertet â ohne eine Zustimmung der Betroffenen einzuholen. Zugleich ist PimEyes öffentlich zugĂ€nglich, sodass damit jede beliebige Person andere |anhand eines Schnappschusses identifizieren kann|. Denn die Suchergebnisse von PimEyes sind Links zu den Fundorten im Netz, die hĂ€ufig entscheidende Hinweise auf eine Person liefern.
Die EuropĂ€ische Union hat deswegen in ihrer KI-Verordnung |vor kurzem genau das verboten|, was PimEyes ĂŒberhaupt erst möglich macht: massenhaft Gesichtsbilder aus dem offenen Internet zu sammeln und zum Aufbau einer Datenbank biometrisch auszuwerten. PimEyes könnten in der EU damit hohe Strafen drohen, sobald die Regeln umgesetzt werden.
Die Londoner Polizei |setzt bereits mehrere Formen von Gesichtserkennung| ein, etwa um Aufnahmen aus öffentlichen Kameras in Echtzeit auszuwerten oder rĂŒckwirkend mit ihren Datenbanken abzugleichen.
Allerdings mĂŒssen Beamt:innen dafĂŒr den offiziellen Weg beschreiten: Gesucht werden darf nur nach Personen auf Fahndungslisten und auch nur in der nationalen Polizeidatenbank (Police National Database, PND). Dabei handelt es sich um eine zentrale Datenbank mit Bildern von StraftĂ€ter:innen, die von Behörden im ganzen Land hochgeladen und vom Innenministerium verwaltet werden.
|In welcher Welt wollen wir leben?|
Mit PimEyes könnten die Beamt:innen hingegen im offenen Internet nach Zielpersonen suchen. Und das, ohne dass diese Suchen von Vorgesetzten abgesegnet werden mĂŒssten.
Ein Sprecher der Londoner Polizei sagte gegenĂŒber i-News, die Aufrufe der Website wĂŒrden noch nicht heiĂen, dass Beamt:innen die Gesichtersuche auch tatsĂ€chlich eingesetzt hĂ€tten. âEs gibt eine Reihe von GrĂŒnden, warum ein Beamter nachforschen könnte, was PimEyes ist, insbesondere im Lichte der jĂŒngsten Presseberichte.â Nachdem die Zugriffe bekannt geworden seien, habe man âdie bestehenden Sicherheitsvorkehrungen verschĂ€rft und den Zugang zu dieser Website auf Met-GerĂ€ten gesperrtâ. Offiziell soll die Suche mit PimEyes ohnehin nicht erlaubt gewesen sein.
PimEyes wurde ursprĂŒnglich von zwei polnischen Studierenden gegrĂŒndet. Nach |kritischen Berichten unter anderem von netzpolitik.org| verlagerte die Firma ihren Sitz zunĂ€chst auf die Seychellen und antwortete nicht mehr auf Fragen. |Auch Datenschutzbehörden| wurden aktiv.
Seit 2022 gehört PimEyes nun |einem Sicherheitsforscher aus Georgien: Georgi Gobronidze|. Er bemĂŒht sich, das Image des Unternehmens zu wandeln, und vermarktet PimEyes als Hilfe zur digitalen Selbstverteidigung statt als Stalking-Werkzeug. Frauen sollen damit Bilder aus dem Netz entfernen lassen können, die ohne ihr EinverstĂ€ndnis hochgeladen wurden. FĂŒr diesen âPremium-Serviceâ nimmt PimEyes eine monatliche GebĂŒhr.
|âDer Mensch ist der Stalker, nicht die Suchmaschineâ|
In Deutschland war die Suchmaschine zuletzt in den Schlagzeilen, weil Journalist:innen mit ihrer Hilfe eine Spur zur seit Jahrzehnten gesuchten ehemaligen RAF-Terroristin Daniela Klette entdeckt hatten. |Polizeigewerkschaften| forderten daraufhin, auch die Polizei solle âsolch hilfreiche Softwareâ einsetzen dĂŒrfen und monierten, âPolizeibehörden in anderen EU-Nachbarstaatenâ seien bereits weiter.
Allerdings nutzen auch deutsche Polizeibehörden bereits seit langem Gesichtserkennung, etwa das âGesichterkennungssystemâ des BKA, das Bilder mit Aufnahmen bekannter StraftĂ€ter:innen in der eigenen Datenbank INPOL abgleicht. Dass die Polizei hingegen mit Suchmaschinen wie PimEyes wahllos nach Gesichtern im Internet sucht, ist laut der EinschĂ€tzung von Fachleuten nicht mit Grundrechten vereinbar. Dabei wĂŒrden |massenhaft UnverdĂ€chtige ins Visier geraten|.
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|nach weiteren Bildern dieser Person suchen|
|anhand eines Schnappschusses identifizieren kann|
|vor kurzem genau das verboten|
|setzt bereits mehrere Formen von Gesichtserkennung|
|In welcher Welt wollen wir leben?|
|kritischen Berichten unter anderem von netzpolitik.org|
|einem Sicherheitsforscher aus Georgien: Georgi Gobronidze|
|âDer Mensch ist der Stalker, nicht die Suchmaschineâ|
|massenhaft UnverdÀchtige ins Visier geraten|
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Tue, 07 May 2024 13:00:22 +0000
Constanze
Die Regierung hat sich im Koalitionsvertrag von Hackbacks klar distanziert, doch aus der CDU und von Ex-Geheimdienstlern kommt aktuell die Forderung nach digitaler Eskalation. Dabei verdreht Ex-BND-Chef Schindler die Tatsachen und stellt das ZurĂŒckhacken als Abwehr dar. Doch ein Hackback ist ein Gegenangriff und damit eine offensive AngriffsmaĂnahme. Ein Kommentar.
Seit die Bundesregierung nach einem IT-Angriff auf SPD-E-Mails dafĂŒr |Russland verantwortlich gemacht hat|, fordern sowohl AuĂenministerin Annalena Baerbock als auch Unionspolitiker Konsequenzen nach dem Hack. WĂ€hrend Baerbock nicht benennt, welche weiteren Konsequenzen neben dem Abzug des Botschafters aus Moskau noch folgen sollen, wird in der Union die alte Debatte um offensive IT-Gegenangriffe aufgewĂ€rmt.
Der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter, Oberst a.D. und Ex-PrĂ€sident des Reservistenverbandes, und der Ex-Geheimdienstchef und heutige Berater Gerhard Schindler gehören zu den prominentesten Vertretern, die nun wieder mehr MassenĂŒberwachungsmaĂnahmen und offensive IT-Angriffe aus Deutschland heraus fordern. Schindler möchte fĂŒr die Geheimdienste die Erlaubnis zur âstrategischen KommunikationsaufklĂ€rung im Inlandâ, ein Euphemismus fĂŒr das automatisierte Durchleuchten sĂ€mtlicher Telekommunikationsdaten innerhalb Deutschlands.
Statt einer âĂberwachungsgesamtrechnungâ, die von der Bundesregierung geplant ist, solle besser eine âBedrohungsgesamtrechnungâ erstellt werden, sekundiert ihm Kiesewetter. Er erklĂ€rte, die aktuellen IT-Angriffe wĂŒrden zeigen, dass Deutschland ein âKriegszielâ Russlands sei, wie er dem |ZDF sagte|. Deswegen wĂŒnscht er sich auch, dass deutsche Geheimdienste die Erlaubnis zu sogenannten Hackbacks erhalten sollen. Er sagte: âWir mĂŒssen auch IT-technisch gegeneskalieren.â
Doch diese Eskalation |verstöĂt gegen geltendes Recht| und soll es gerade nicht geben: Die Ampelregierung hatte im Koalitionsvertrag diesen Hackbacks eine Absage erteilt, auch in der nationalen Sicherheitsstrategie positioniert sich die Regierung dagegen. Der |Koalitionsvertrag sagt klar|: âHackbacks lehnen wir als Mittel der Cyberabwehr grundsĂ€tzlich ab.â DafĂŒr gibt es gute GrĂŒnde, die vor allem in der Natur digitaler Angriffe liegen.
Denn was ist ein âHackbackâ? Wörtlich meint es ZurĂŒckhacken, im ĂŒbertragenen Sinne also einen Gegenschlag ausfĂŒhren. Und fĂŒr einen Gegenschlag braucht man vor allem einen sichtbaren und greifbaren Gegner. Die hinreichend sichere Feststellung, wer hinter einem ausgefeilten IT-Angriff steckt, ist aber keine leichte, sie ist manchmal auch gar nicht möglich, und sie dauert aufgrund des Nachvollziehens des Angriffsweges auch oft lĂ€ngere Zeit. Und die Gefahr, beim Hackback den Falschen zu erwischen, ist auch nicht wegzudiskutieren. Die Vorstellung von Nicht-Technikern, die Hacken nur aus Vorabendserien kennen, dass man mal eben einem Angreifer durch ZurĂŒckhacken das Handwerk legen könnte, ist schlicht ausgemachter Unsinn. Das zeigt auch gerade der aktuelle SPD-E-Mail-Vorfall, dessen Untersuchung viele Monate in Anspruch nahm.
Denkt man an kriegerische Auseinandersetzungen im physischen Raum, mag ein solches Vorgehen nachvollziehbar sein: Du beschieĂt mich, ich schieĂe zurĂŒck. Wenn ich allerdings nicht gesichert herausfinden kann, wer auf mich schieĂt, dann wird es kompliziert. Im Digitalen ist das der Normalfall: So gut wie kein Angreifer ist sofort sicher auszumachen. Zudem sind keine abgrenzbaren zivilen und militĂ€rischen RĂ€ume vorhanden, denn das Schlachtfeld wĂ€ren unsere zivilen Netze.
Ex-BND-Chef Schindler |geht also kategorisch fehl| und verdreht die Tatsachen, wenn er in einem aktuellen Interview fĂŒr Hackbacks trommelt und dabei behauptet, Hackbacks seien âein Mittel, um Cyberangriffe abzuwehrenâ.
Denn ein solcher Gegenangriff ist eine klar offensive MaĂnahme. Eine Abwehr eines Angriffs bestĂŒnde darin, den Angreifer daran zu hindern, seinen Angriff fortzusetzen und Schaden von sich selbst fernzuhalten. Diesen Unterschied kennt natĂŒrlich auch der Ex-Geheimdienstler. Die Falschdarstellung dient dem Zweck, das offensive ZurĂŒckhacken zu verniedlichen und eben als bloĂe AbwehrmaĂnahme hinzustellen.
Jeder IT-Angriff muss zuallererst gut untersucht und die Eintrittswege der Angreifer nachvollzogen werden, um weitere Angriffe zu verhindern und die oft sabotierten und dysfunktionalen Computersysteme wieder so an den Start zu bringen, dass nicht gleich der nÀchste Angriff ins Haus steht. An jedem einzelnen Tag im Jahr finden derart viele IT-Angriffe statt, dass man |von einer IT-Sicherheitskrise sprechen muss| und es nicht mal mehr gemeldet wird, wenn der Schaden nicht enorm groà ist.
Eigentlich mĂŒssten angesichts dieses fĂŒr Wirtschaft, Behörden und Private ausgesprochen bedrohlichen Zustandes SofortmaĂnahmenplĂ€ne umgesetzt werden, die der Bedeutung von sicheren IT-Systemen fĂŒr uns alle angemessen wĂ€ren. Die BSI-Chefin Claudia Plattner brachte es nach dem Bekanntwerden der jĂŒngsten Angriffe auf den Slogan: |Wir mĂŒssen alle unsere IT in Ordnung bringen|.
Das ist zweifellos richtig, aber man möchte den Nachsatz hinzufĂŒgen, dass dies eine wahre Mammutaufgabe ist, die politisch flankiert werden mĂŒsste. Aber wirklich das letzte, was die ohnehin desolate Gesamtsituation in der IT-Sicherheit jetzt braucht, sind auch noch deutsche Geheimdienste und MilitĂ€rs, die ihre Cyberwaffen laden und sich im ZurĂŒckhacken versuchen.
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Tue, 07 May 2024 12:07:35 +0000
netzpolitik.org
Hausdurchsuchung! Handy her! Was passiert mit Menschen, die unerwartet ins Visier des Staates geraten? In âSystemeinstellungenâ erzĂ€hlen Betroffene, wie sich ihr Leben schlagartig verĂ€ndert. Ein Podcast ĂŒber Ohnmacht und erschĂŒttertes Vertrauen.
|https://netzpolitik.org/wp-upload/2024/05/Systemeinstellungen_Trailer_final_v1_240506.mp3|
Wenn die Polizei plötzlich an deine TĂŒr hĂ€mmert und ruft: Hausdurchsuchung! Was tun? In unserem neuen Podcast âSystemeinstellungenâ erzĂ€hlen wir die Geschichten von Menschen, die unerwartet ins Visier des Staates geraten. Wir treffen unter anderem eine 15-jĂ€hrige Klima-Aktivistin, die sich vor der Polizei bis auf die UnterwĂ€sche ausziehen muss. Einen Soziologen, dessen Familie monatelang ĂŒberwacht wird. Eine engagierte Pfarrerin auf dem Land, die ihre Kirche fĂŒr GeflĂŒchtete in Not öffnet und plötzlich die Polizei im Pfarrhaus hat.
Sie alle haben unterschiedliche HintergrĂŒnde, aber eines gemeinsam: den Schock, als plötzlich Beamt*innen ihre Schlafzimmer, ihre Handys, ihr privates und dienstliches Leben durchsuchen. Die erste von sieben Episoden, âLink-Extremismusâ, erscheint am Freitag, 10. Mai. Ab dann folgt jede Woche eine weitere Episode â ĂŒberall, wo es Podcasts gibt.
Den Trailer gibt es schon jetzt, hier im eingebetteten Player auf der Seite oder zum Download |als MP3|. FĂŒr diesen Podcast gibt es auch ein vollstĂ€ndiges Transkript mit Zeitmarken |im WebVTT-Format|.
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alle Episoden findest Du auch auf unserer Ăbersichtsseite |netzpolitik.org/systemeinstellungen|
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Host und Produktion: Serafin Dinges
Redaktion: Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz, Sebastian Meineck
Cover-Design: Lea Binsfeld
Titelmusik: Daniel Laufer
Kontakt: |podcast@netzpolitik.org|
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Mon, 06 May 2024 09:26:05 +0000
Leonhard Dobusch
Die ZusammenfĂŒhrung der Entwicklung ihrer Mediathek-Software unter dem Titel âStreaming OSâ nutzen ARD und ZDF auch dazu, diese Open Source zu machen. Neben den ĂŒblichen Vorteilen von Freier und Open-Source-Software sind damit auch spezifische Vorteile fĂŒr öffentlich-rechtliche Medien verbunden.
Hier bei netzpolitik.org gibt es eine eigene |Kolumne zum Thema âĂffentliches Geld â Ăffentliches Gut!â|. Wechselnde Autor:innen gehen dabei der Frage nach, wo mit öffentlichen Mitteln finanzierte, digitale GĂŒter mithilfe von freien Lizenzen zu digitalen GemeingĂŒtern gemacht werden. Ganz besonders einleuchtend ist das bei öffentlich finanzierter Software-Entwicklung: Hier sollten freie Open-Source-Lizenzen lĂ€ngst der Normalfall sein, auch weil es HerstellerabhĂ€ngigkeiten und Parallelentwicklungen reduziert sowie regionale Software-Wirtschaft fördert.
In der RealitĂ€t passiert der Umstieg auf Freie und Open-Source-Software selten im groĂen Stil, auch wenn immer mehr Open-Source-Komponenten zur Anwendung kommen. Das gilt auch fĂŒr den Bereich öffentlich-rechtlicher Medien, wo im Zuge der Digitalisierung immer gröĂere BetrĂ€ge in Softwareentwicklung und -beschaffung flieĂen. Auch dort kommt natĂŒrlich lĂ€ngst an verschiedenen Stellen Open-Source-Software zum Einsatz. Allein die BBC |listet auf einer eigenen Seite ĂŒber 40 Open-Source-Projekte|.
Trotzdem ist die heutige gemeinsame AnkĂŒndigung von ARD und ZDF, ihre Mediathekentwicklung auf Open-Source-Basis zusammenzufĂŒhren, ein bemerkens- und begrĂŒĂenswerter Schritt. In der |Pressemeldung zum Projekt mit dem Namen âStreaming OSâ| ist von einer âder gröĂten Open Source-Initiativen in Deutschlandâ die Rede. Die AbkĂŒrzung OS steht dabei zwar fĂŒr âOperating Systemâ, die Doppeldeutigkeit der AbkĂŒrzung wird aber sicher gern in Kauf genommen.
Interessant an der AnkĂŒndigung ist auch die organisatorische Umsetzung. So soll das Projekt âvon einem gemeinsamen, schlank besetzten âOS-Office'â gesteuert werden, zusĂ€tzlich aber fĂŒr den Mediathek-Betrieb eine gemeinsamen Tochterfirma gegrĂŒndet werden. Dieser Schritt entspricht ziemlich genau einer |Empfehlung des von den LĂ€ndern eingerichteten âZukunftsratsâ|. In dessen Gutachten hieĂ es:
ARD, ZDF und Deutschlandradio grĂŒnden eine gemeinsame, rechtlich verselbststĂ€ndigte Gesellschaft fĂŒr die Entwicklung und den Betrieb einer technologischen Plattform, die alle Technologien fĂŒr digitale Plattformen und Streaming vereinheitlicht und betreibt.
Auch ich habe mich seit Jahren dafĂŒr ausgesprochen, die Mediathekentwicklung auf ein solides Open-Source-Fundament zu stellen (beispielsweise auf der |re:publica 2019|, gemeinsam |mit Jan-Hendrik-Passoth im Tagesspiegel| oder in meiner |Rede zum Otto-Brenner-Preis 2023|). Neben den bereits angesprochenen, allgemeinen Vorteilen von Open-Source-Software und der besonderen Sinnhaftigkeit bei öffentlicher Finanzierung gibt es aber auch noch weitere GrĂŒnde, warum es gerade fĂŒr öffentlich-rechtliche Medien so sinnvoll ist, Open Source zu forcieren:
Open Source als Public Value jenseits des Programms: Zentrale Aufgabe öffentlich-rechtlicher Medien ist es, âPublic Valueâ, also gesellschaftlichen Nutzen zu stiften. Die Open-Source-Initiative von ARD und ZDF belegt, dass das nicht nur in Form von Public-Value-Programmen möglich ist, sondern auch durch Investitionen in digitale GemeingĂŒter wie eben Open-Source-Software.
Open Source als UnterstĂŒtzungs- und Kooperationsangebot an private Medien: Verbunden damit sind auch Potenziale zur StĂ€rkung des Medienstandorts Deutschland. Viele Komponenten digitaler Medienangebote sind ĂŒber verschiedene Anbieter hinweg gleich, werden aber trotzdem parallel entwickelt. FĂŒr private MedienhĂ€user bietet der Einsatz von (Teilen von) Streaming OS die Möglichkeit fĂŒr Kosteneinsparungen in Bereichen, die nicht wettbewerbsdifferenzierend sind.
Open Source als unilaterale EuropÀisierung: Vor allem aber ist Streaming OS auch eine Einladung an andere öffentlich-rechtliche Medien in Europa, mit einzusteigen. Allerdings ohne, dass vorab in langen Meetings ein (ohnehin unrealistisches) gemeinsames Softwareprojekt definiert wird. Stattdessen ist Streaming OS ein Angebot zur Kooperation, ohne sich völlig in wechselseitige AbhÀngigkeiten zu begeben. Im Zweifel erlauben es Open-Source-Lizenzen immer, auf Basis des bislang gemeinsam entwickelten Codes |getrennte Wege zu gehen|.
Zusammengefasst ist es also ĂŒberaus erfreulich, dass es ARD und ZDF nicht dabei belassen, die Entwicklung ihrer Mediathek-Software unter einem Dach zusammenzulegen, sondern diesen Schritt dazu nutzen, auf Open Source zu setzen. Die ohnehin notwendigen Ănderungen und Neuentwicklungen bieten dafĂŒr das perfekte Gelegenheitsfenster. Bleibt zu hoffen, dass viele andere öffentlich-rechtliche Medien in Europa, allen voran die Schweizer SRG und der Ăsterreichische ORF, auf den Open-Source-Zug aufspringen.
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|Kolumne zum Thema âĂffentliches Geld â Ăffentliches Gut!â|
|listet auf einer eigenen Seite ĂŒber 40 Open-Source-Projekte|
|Pressemeldung zum Projekt mit dem Namen âStreaming OSâ|
|Empfehlung des von den LĂ€ndern eingerichteten âZukunftsratsâ|
|mit Jan-Hendrik-Passoth im Tagesspiegel|
|Rede zum Otto-Brenner-Preis 2023|
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Sun, 05 May 2024 06:04:16 +0000
Lukas Mezger
Nach dem italienischen KulturgĂŒterschutzgesetz ist eine spezielle Verwaltungsabgabe zu zahlen, wenn historische GebĂ€ude und Kunstwerke abgebildet werden. Ein Urteil des Stuttgarter Landgerichts hat den kuriosen GebĂŒhrenforderungen nun endlich Grenzen gesetzt. Und das Kulturministerium in Rom ergĂ€nzte die Vorschrift immerhin um Ausnahmen fĂŒr die Wissenschaft.
Seit dem Jahr 2004 enthĂ€lt das italienische KulturgĂŒterschutzgesetz eine weltweit wohl einzigartige Vorschrift: Wer die Abbildung eines historischen GebĂ€udes oder Kunstwerks nutzen möchte, das zum Kulturerbe Italiens gezĂ€hlt wird, muss dafĂŒr eine Abgabe zahlen. Das kann das Foto des römischen Kolosseums in einem Buch oder die Abbildung von Botticellis âGeburt der Venusâ auf einer Webseite sein. Die Regelung entspricht einer LizenzgebĂŒhr â ungeachtet der Tatsache, dass der urheberrechtliche Schutz der verwendeten Werke freilich lĂ€ngst abgelaufen ist.
Die seltsame Norm fristet in der Praxis bislang ein Schattendasein. Vielen Nutzer:innen ist die Zahlungspflicht völlig unbekannt. Und die zustĂ€ndigen staatlichen Kulturinstitutionen treiben die GebĂŒhr nur Ă€uĂerst selten ein. Einige prominente FĂ€lle sind jedoch jedoch öffentlich geworden und zeigen, wie absurd die Regelung ist.
Deshalb gibt es an der Regelung auch vielstimmige Kritik. Insbesondere seitdem die EuropÀische Union 2019 das Recht zur freien Nutzung von Abbildungen gemeinfreier Kunstwerke anerkannt hat (in Art. 14 der DSM-Richtlinie), fordert unter anderem |die Organisation Communia, die Vorschrift aufzuheben|.
Zu den prominentesten Kritikern der Regelung gehört ĂŒberraschenderweise der italienische Rechnungshof. Im vergangenen Jahr plante das italienische Kulturministerium, neue GebĂŒhren-MindestsĂ€tze einzufĂŒhren. Der Rechnungshof kritisierte daraufhin, dass die âPostkarten-Steuerâ den erklĂ€rten BemĂŒhungen des italienischen Staates entgegenlaufe, Open Access zu fördern. Auch liege der freie Zugang zu digitalen KulturgĂŒtern im wirtschaftlichen Interesse Italiens. DarĂŒber hinaus verkenne die GebĂŒhrenpflicht âoperative Besonderheiten des Internetsâ, also den kulturellen Wert, den das Teilen von Inhalten im Netz hat.
Eine Vielzahl von VerbĂ€nden und Organisationen schloss sich der Kritik an, |darunter auch Wikimedia Italia|. In der Wikipedia finden sich abertausende Fotos des reichen italienischen Kulturerbes â auch dank des groĂen Erfolgs des alljĂ€hrlichen Fotowettbewerbs âWiki Loves Monumentsâ. Wegen der bestehenden Rechtsunsicherheit kann dieser Wettbewerb in Italien nur mit erheblichem bĂŒrokratischem Aufwand durchgefĂŒhrt werden.
Die Diskussion um die Vorschrift nimmt mitunter auch absurde AuswĂŒchse an. So |untersagte ein italienisches Gericht der MĂ€nnerzeitschrift GQ| im MĂ€rz 2023, ein Model in der Pose von Michelangelos âDavidâ auf dem Titelblatt abzubilden. Auch groĂe italienischen Tageszeitungen griffen das Thema auf.
Im vergangenen Jahr schwappte die Debatte dann nach Deutschland. Ein staatliches Museum in Venedig hatte zunĂ€chst in Italien Klage gegen den Spieleverlag Ravensburger erhoben. Das schwĂ€bische Unternehmen hatte die weltberĂŒhmte Zeichnung des â|Vitruvianischen Menschen|â von Leonardo da Vinci aus dem 15. Jahrhundert auf einem Puzzle abgebildet.
Die venezianischen Gerichte gaben dem Museum Recht und verhĂ€ngten gegen das Puzzle sogar einen weltweiten Verkaufsstopp. Dagegen erhob Ravensburger Klage vor dem Landgericht Stuttgart. Der Verlag wollte feststellen zu lassen, dass die VergĂŒtungspflicht nur innerhalb Italiens besteht.
Das Verfahren erfuhr hierzulande nur wenig Aufmerksamkeit, hat aber groĂe wirtschaftliche und praktische Bedeutung. Potenziell könnte eine groĂe Zahl an Produkten in den Anwendungsbereich der italienischen Vorschrift fallen â von kunsthistorischen Nachschlagewerken bis zu alltĂ€glichen Designs, die von italienischer Kunst inspiriert sind. Ravensburger allein vertreibt zahlreiche Produkte mit Motiven aus dem italienischen Kulturerbe. Bislang hat der Verlag jedoch nur den Vertrieb des von der Klage erfassten Puzzles eingestellt.
Im MĂ€rz dieses Jahres verkĂŒndete das Landgericht Stuttgart seine Entscheidung. Demnach kann die âPostkarten-Steuerâ im Ausland nicht geltend gemacht werden, da das italienische KulturgĂŒterschutzgesetz aufgrund des sogenannten TerritorialitĂ€tsprinzips nur innerhalb Italiens Anwendung findet. Die GebĂŒhrenforderungen mĂŒssen sich deshalb auf den Vertrieb innerhalb Italiens beschrĂ€nken, so das Gericht (|Az. 17 O 247/22|).
Wie |der SWR berichtete|, ist der Rechtsstreit damit aber nicht beendet. Das italienische Museum hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Daher bietet Ravensburger das Puzzle bislang auch noch nicht wieder an. Fest steht aber schon jetzt: Auf dem italienischen Markt wird der Verlag das Produkt auch nach der Gerichtsentscheidung nur verkaufen können, wenn er auch die geforderte GebĂŒhr bezahlt.
Immerhin veranlasste die breite Kritik das italienische Kulturministerium im MĂ€rz dazu, die GebĂŒhrenvorschrift um Ausnahmen zu ergĂ€nzen. Demnach soll es fortan wenigstens zu wissenschaftlichen Zwecken erlaubt sein, italienische KulturgĂŒter kostenfrei abzubilden. Unternehmen wie Ravensburger wird das jedoch nur wenig helfen.
Anfang April kommentierte die Tageszeitung âCorriere della Seraâ das Stuttgarter Urteil und zitierte dabei den italienischen Kulturpolitiker Giuliano Volpe. Auf die Frage, ob das Gesetz nicht erforderlich sei, um das italienische Kulturerbe vor âunwĂŒrdigenâ Nutzungen zu schĂŒtzen, entgegnete Volpe: âSchlechter Geschmack oder gar VulgaritĂ€t können nicht gesetzlich geregelt werden, dagegen muss man eher mit den Waffen der Kultur, der Bildung, aber auch der Ironie und Satire kĂ€mpfen.â Mitunter mĂŒnden solche Versuche des Gesetzgebers nĂ€mlich in Realsatire.
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|die Organisation Communia, die Vorschrift aufzuheben|
|darunter auch Wikimedia Italia|
|untersagte ein italienisches Gericht der MĂ€nnerzeitschrift GQ|
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Fri, 03 May 2024 15:54:05 +0000
Daniel Leisegang
Die 18. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 13 neue Texte mit insgesamt 121.606 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen WochenrĂŒckblick.
Liebe Leser:innen,
heute ist Tag der Pressefreiheit und |es steht nicht gut um sie|. Laut Reporter ohne Grenzen haben sich die Bedingungen fĂŒr journalistische Arbeit im vergangenen Jahr weltweit deutlich verschlechtert. Es gibt mehr Repression, mehr Zensur, mehr Ăberwachung. Alles andere als rosige Aussichten im Superwahljahr 2024, in dem rund die HĂ€lfte der Weltbevölkerung dazu aufgerufen ist, wĂ€hlen zu gehen.
Deutschland ist |im Ranking| ein paar PlĂ€tze nach oben gerĂŒckt. Das ist jedoch kein Grund zu gröĂerer Freude. Zwar werden Journalist:innen hierzulande auf Demos seltener physisch angegriffen als im Vorjahr. Reporter ohne Grenzen geht jedoch weiterhin von einer hohen Dunkelziffer an Ăbergriffen aus. Vor allem aber verdankt sich das bessere Abschneiden dem Negativtrend in anderen LĂ€ndern.
Diesem Negativtrend will sich Europa offenkundig nicht verschlieĂen. |Am Dienstag weichte der EuropĂ€ische Gerichtshof| seine einst grundrechtsfreundliche Haltung zur Vorratsdatenspeicherung weiter auf. Die anlasslose MassenĂŒberwachung ist demnach auch zulĂ€ssig, um jegliche Art von Straftaten zu verfolgen â und sogar Urheberrechtsverletzungen.
ChloĂ© BerthĂ©lĂ©my vom Dachverband europĂ€ischer Digital-Rights-Organisationen (EDRi) sieht in dem EuGH-Urteil eine âtraurige Wendeâ. Im politischen Kontext der zunehmenden UnterdrĂŒckung von Journalist:innen, Menschenrechtsverteidigern und der Zivilgesellschaft untergrabe das Gericht auf gefĂ€hrliche Weise das Recht, online anonym zu bleiben, |so die Expertin|.
Bundesinnenministerin Faeser hingegen witterte umgehend Morgenluft. Der EuGH habe entschieden, so Faeser in einer Pressemitteilung, dass âeine Pflicht zur Speicherung von IP-Adressen zur VerbrechensbekĂ€mpfung nicht nur ausdrĂŒcklich zulĂ€ssig ist, sondern auch zwingend erforderlich istâ. Der Zombie der anlasslosen MassenĂŒberwachung ist damit in dieser Woche vollends auf die politische BĂŒhne zurĂŒckgekehrt.
Wer angesichts solcher untoten Debatten etwas Positives sucht, sollte |unseren Longread der Woche| lesen. Die Gastautor:innen Maria Farrell und Robin Berjon plĂ€dieren darin fĂŒr eine Verwilderung des Internets und damit fĂŒr ein vielfĂ€ltiges und selbstverwaltetes Netz jenseits der ummauerten GĂ€rten der Tech-Giganten.
Habt ein wildes Wochenende!
Daniel
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Das Justizministerium will in seinem Eckpunkten zu einem Digitale-Gewalt-Gesetz auch Unternehmen schĂŒtzen. Gerichtsentscheidungen machen deutlich, dass dieser Plan nicht mit dem Europarecht vereinbar ist. Ob und wann es zu einem Gesetz kommt, das Betroffene von digitaler Gewalt schĂŒtzt, ist offen. Von Anne Roth â
|Artikel lesen|
Bibelverse und Babywindeln statt Doppelbelastung und Dauerstress: Der Content der âTradwivesâ weckt die Sehnsucht nach einem entspannteren Leben. Soziale Medien werden so zum Sprachrohr einer reaktionĂ€ren Bewegung. Von Carla Siepmann â
|Artikel lesen|
Das Finanzamt hat den Hauptentwicklern von Mastodon die GemeinnĂŒtzigkeit aberkannt. Wer Digitalisierung und digitale SouverĂ€nitĂ€t vorantreiben will, sollte die Entwicklung von freier und offener Software als gemeinnĂŒtzig anerkennen. Ein Kommentar. Von Markus Reuter â
|Artikel lesen|
Immer wieder geraten Menschen oder Organisationen, die ethisch verantwortungsvoll SicherheitslĂŒcken aufdecken, in den Fokus von strafrechtlichen Ermittlungen. Dieses Mal hat es Ăsterreichs bekannteste Datenschutz-NGO epicenter.works erwischt. Die Ermittlungen wurden erst nach zwei Jahren eingestellt. Von Markus Reuter â
|Artikel lesen|
Die EU brauche strengere Regeln beim Einsatz von Staatstrojanern, fordert die NGO Civil Liberties Union for Europe in einem Bericht zur europĂ€ischen Medienlandschaft. AuĂerdem nehme das Vertrauen in Medien insgesamt ab â auch in Deutschland, wo die Presse verhĂ€ltnismĂ€Ăig viel GlaubwĂŒrdigkeit genieĂt. Von Tomas Rudl â
|Artikel lesen|
Kurz vor der Europawahl wird Meta verdĂ€chtigt, nicht genug gegen Desinformation zu tun. Die EU-Kommission befĂŒrchtet weitere VerstöĂe gegen den Digital Services Act, etwa erschwerten Datenzugang fĂŒr Forscher:innen. Auch die Drosselung politischer Inhalte könnte regelwidrig sein. Von Maximilian Henning â
|Artikel lesen|
Der EuropĂ€ische Gerichtshof Ă€ndert seine bisher grundrechtsfreundliche Haltung zur Vorratsdatenspeicherung und erlaubt in einem Urteil die anlasslose Ăberwachung sogar bei Urheberrechtsverletzungen. Grundrechte-Organisationen sind entsetzt und sprechen von einer âWendeâ. Von Markus Reuter â
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Der EuGH hat gerade den massenhaften und automatisierten Zugriff auf IP-Adressen genehmigt. Mit dem heutigen Urteil rĂ€umt das Gericht ein, dass es seine Rechtsprechung Ă€ndern wird, wenn seine Urteile nicht umgesetzt werden. Ein Gastkommentar. Von Gastbeitrag â
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Das Internet ist zu einer ausbeuterischen und fragilen Monokultur geworden. Aber wir können es renaturieren, indem wir die Lehren von Ăkologen nutzen. Von Gastbeitrag, Maria Farrell, Robin Berjon â
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Im Juni wĂ€hlt Europa ein neues Parlament und bekommt auch eine neue EU-Kommission. Deren alte PrĂ€sidentin wird wahrscheinlich auch die neue sein: Ursula von der Leyen. Was hat die mĂ€chtigste Frau der Welt in den vergangenen fĂŒnf Jahren netzpolitisch erreicht? Wir prĂŒfen ihre Versprechen. Von Maximilian Henning â
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Die Pressefreiheit steht weiterhin unter Druck. In vielen Regionen haben sich die Arbeitsbedingungen fĂŒr Journalist:innen verschlechtert. Reporter ohne Grenzen warnt im weltweiten Superwahljahr vor weiteren Repressionen. Von Markus Reuter â
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Die Suche im Internet gestaltet sich immer schwieriger. Ein Grund dafĂŒr sind sogenannte Affiliate-Links, mit denen Website-Anbieter auf einfache Weise Geld verdienen. Gegen deren Suchmaschinenoptimierung sind Dienste wie Google Search oder Microsoft Bing offenbar machtlos. Von Nora Nemitz â
|Artikel lesen|
Laut eigener Aussage nutzt die sĂ€chsische Polizei ein Gesichtserkennungssystem mit Echtzeit-Funktion. EinsĂ€tze erfolgen auch in Berlin. Dort macht der Senat erstmals technische Details bekannt. Von Matthias Monroy â
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|Am Dienstag weichte der EuropÀische Gerichtshof|
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Fri, 03 May 2024 15:50:12 +0000
Matthias Monroy
Laut eigener Aussage nutzt die sÀchsische Polizei ein Gesichtserkennungssystem mit Echtzeit-Funktion. EinsÀtze erfolgen auch in Berlin. Dort macht der Senat erstmals technische Details bekannt.
Bei der VideoĂŒberwachung gehörte die Polizei in Sachsen schon immer zu den Pionieren. Leipzig war |die erste ||deutsche ||Stadt|, in der seit dem Jahr 1996 ein öffentlicher Platz am Bahnhof rund um die Uhr mit Kameras beobachtet wird. Ein Jahrzehnt spĂ€ter war das Bundesland |VorlĂ€ufer| bei der Ăberwachung mit fliegenden Kameras. Weitere zehn Jahre spĂ€ter beschaffte die Polizei in Görlitz und Zwickau in der Oberlausitz |stationĂ€re und mobile Systeme zur VideoĂŒberwachung|, die Kennzeichen und Gesichter aufnehmen und abgleichen können â letzteres allerdings retrograd, also im hĂ€ndischen Verfahren.
Vor wenigen Wochen |wurde bekannt|, dass die sÀchsische Polizei auch ein heimliches Observationssystem mit hochauflösenden Kameras und Gesichtserkennung einsetzt. Diese können entweder in parkenden Fahrzeugen verbaut oder stationÀr montiert werden. So kann die Polizei ermitteln, ob sich eine verdÀchtige Person an einem bestimmten Ort aufgehalten hat.
Details zur Funktionsweise unterliegen in Sachsen gemÀà einer Polizeidienstvorschrift der Geheimhaltung, sagte ein Polizeisprecher auf Anfrage des ândâ. Ob es sich bei dieser âObservationstechnik fĂŒr verdeckte MaĂnahmenâ um Elemente des âPersonen-Identifikations-Systemsâ (PerIS) aus der Oberlausitz handelt, ist unklar. Jedoch gibt es Hinweise darauf: Der erste bekanntgewordene Einsatz der verdeckten Observationstechnik aus Sachsen erfolgte in Berlin im Bereich der âgrenzĂŒberschreitenden BandenkriminalitĂ€tâ. Diese Ermittlungen fĂŒhrt die Polizeidirektion Görlitz, die das PerIS |als erste sĂ€chsische Behörde 2020 angeschafft hat|.
FĂŒr die Ermittlungen in Berlin hat das Landeskriminalamt aus Görlitz ein Amtshilfeersuchen an die Staatsanwaltschaft in der Hauptstadt gestellt. Das bestĂ€tigt die Berliner Senatsverwaltung fĂŒr Inneres in der Antwort auf eine Kleine Anfrage des Linken-Abgeordneten Niklas Schrader, der auch innenpolitischer Sprecher der Fraktion ist. Darin finden sich auch technische Details zu der Anlage. Das mobile Ăberwachungssystem nimmt demnach Kennzeichen von durchfahrenden Kraftfahrzeugen sowie Gesichtsbilder der Fahrer:innen und Beifahrer:innen auf.
Die Aufnahmen werden mit bereits im System vorhandenen Lichtbildern abgeglichen. Diese Datenbank speist sich aus Bildern, die von Polizisten âhĂ€ndisch ausgewĂ€hlt und manuell in das System eingepflegtâ werden. Ein automatischer Abgleich mit anderen polizeilichen oder europĂ€ischen Informationssystemen erfolgt angeblich nicht.
Das System kann Gesichtsbilder âmit der zeitlichen Verzögerung von wenigen Sekundenâ verarbeiten, wie die Berliner Staatsanwaltschaft bereits dem ândâ mitgeteilt hatte. Alle im Umkreis erfassten Personen wĂŒrden mit Bildern von TatverdĂ€chtigen aus einem konkreten Ermittlungsverfahren abgeglichen, erklĂ€rte der Sprecher. Entdeckt die Software eine verdĂ€chtige Person, wird der Fund durch einen Polizeibeamten ĂŒberprĂŒft.
âBei den wesentlichen technischen Komponenten beziehungsweise Details handelt es sich um ein System hochauflösender Kameras, die qualitativ sehr gute Bilder auch bei Dunkelheit und unter schlechten Witterungsbedingungen erstellen könnenâ, erlĂ€utert nun der Berliner Innensenat. EinsĂ€tze der Technik erfolgten âzur Identifizierung von TatverdĂ€chtigen und zur Aufhellung von Fluchtrouten und bei der Tat genutzten Wegen bekannter TatverdĂ€chtigerâ.
Um welche konkreten Verfahren es sich handelt, beantwortet der Senat nicht. In einem Fall werde wegen einer âinternationalen Kraftfahrzeugverschiebungâ ermittelt, in dem anderen wegen eines schweren Raubes an einer Tankstelle. Diese Tat werde einer Gruppierung zur Last gelegt, die âregelmĂ€Ăig bandenmĂ€Ăig schwere TresordiebstĂ€hleâ an Tankstellen begehen soll. Einer der VorfĂ€lle sei âzu einem schweren Raub eskaliertâ.
Als rechtliche Grundlage fĂŒr den Einsatz der biometrischen Ăberwachung nennt die Berliner Staatsanwaltschaft den |Paragraf 98a der Strafprozessordnung|. Er erlaubt eine Rasterfahndung bei einer Straftat von erheblicher Bedeutung, wenn andere Methoden âerheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwertâ wĂ€ren. Nach diesem Gesetz dĂŒrfen alle von der Technik erfassten Personen âmit anderen Daten maschinell abgeglichen werdenâ.
Wie oft die Polizei Sachsen die âObservationstechnik fĂŒr verdeckte MaĂnahmenâ bereits eingesetzt hat und ob diese EinsĂ€tze erfolgreich waren, ist dort angeblich mangels Statistiken nicht bekannt. In Berlin habe es âbislang eine bestĂ€tigte Personenidentifizierungâ gegeben, heiĂt es in der Antwort.
Bei den Observationen mit Videokameras geraten sĂ€mtliche Personen im Umkreis ins polizeiliche Raster. Die Staatsanwaltschaft Berlin sieht darin âkeine flĂ€chendeckende Ăberwachungâ. Tobias Singelnstein, Professor fĂŒr Strafrecht an der Johann-Wolfgang-Goethe-UniversitĂ€t Frankfurt am Main, widerspricht: âEine solche MaĂnahme greift in erheblichem MaĂe in die Rechte von völlig Unbeteiligten ein, weil je nach UmstĂ€nden eine Vielzahl von Personen erfasst wirdâ. Die Strafprozessordnung erlaube eine solche MaĂnahme nicht.
Auch der Fragesteller Niklas Schrader steht der heimlichen Technik Ă€uĂerst kritisch gegenĂŒber: âDer Einsatz von biometrischer Gesichtserkennung von Polizeifahrzeugen aus ist ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte auch von Unbetroffenen. Indem sich Berlin entsprechende Technik aus Sachsen ausleiht, werden Schritt fĂŒr Schritt die Voraussetzungen geschaffen, diese flĂ€chendeckend durchzusetzenâ, warnt der innenpolitische Sprecher der Berliner Linken und fordert vom Senat âein deutliches Bekenntnis, vom Einsatz biometrischer Ăberwachung und auch der Ausweitung von polizeilicher VideoĂŒberwachung im öffentlichen Raum Abstand zu nehmenâ.
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|stationĂ€re und mobile Systeme zur VideoĂŒberwachung|
|als erste sÀchsische Behörde 2020 angeschafft hat|
|Paragraf 98a der Strafprozessordnung|
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Fri, 03 May 2024 13:28:16 +0000
Nora Nemitz
Die Suche im Internet gestaltet sich immer schwieriger. Ein Grund dafĂŒr sind sogenannte Affiliate-Links, mit denen Website-Anbieter auf einfache Weise Geld verdienen. Gegen deren Suchmaschinenoptimierung sind Dienste wie Google Search oder Microsoft Bing offenbar machtlos.
Die Google-Suche, so inzwischen |ein| |weitverbreiteter| |Eindruck|, spuckt lÀngst nicht mehr so gute Ergebnisse aus wie noch vor wenigen Jahren. Wer beispielsweise nach hochwertigen Kopfhörern oder schönen Reisezielen sucht, erhÀlt als Suchergebnis vor allem Links auf kommerzielle Blogs oder Vergleichsportale.
Die dortigen Texte sind in den meisten FĂ€llen nicht sonderlich aussagekrĂ€ftig â und zunehmend ist fraglich, ob sie von einem Menschen geschrieben wurden. Die Produktempfehlungen sind oft mit einem Link versehen, der einen zu Amazon oder einem anderen kommerziellen Anbieter weiterleitet.
Insofern sind die Seiten kaum mehr als ein Zwischenstopp auf dem Weg zum HĂ€ndler.
Den Eindruck, dass Internetsuchen in den vergangenen Jahren qualitativ schlechter geworden sind, bestÀtigt auch |eine Studie von Forscher*innen der UniversitÀt Leipzig und der Bauhaus-UniversitÀt Weimar|.
FĂŒr die Dauer eines Jahres haben die Wissenschaftler:innen knapp 7.400 Abfragen zu Produktbewertungen beobachtet. Dabei konzentrierten sie sich nach eigenen Angaben âauf die Suche nach Produktbewertungen, die wir aufgrund des inhĂ€renten Interessenkonflikts zwischen Nutzern, Such- und Inhaltsanbietern als besonders anfĂ€llig fĂŒr Affiliate-Marketing betrachten.â
Die Studienergebnisse veröffentlichten die Forschenden zu Beginn dieses Jahres. Demnach sind Webseiten, die Produkte vergleichen und zu kommerziellen Anbietern verlinken, maĂgeblich dafĂŒr verantwortlich, dass die Internetsuche schlechter wird. Und nicht nur Google ist davon betroffen, sondern laut den Wissenschaftler:innen auch Microsoft Bing und DuckDuckGo.
Die entsprechenden Webseiten bieten Inhalte an, die mit sogenannten Affiliate-Links versehen sind. Klicken Seitenbesucher:innen auf diese Links und kaufen dann ein entsprechendes Produkt, verdienen die Betreiber der Affiliate-Seiten zwischen 5 und 15 Euro pro Kauf.
Kleineren Bloggern kann dies durchaus dabei helfen, mit ihrer Website Einnahmen zu erzielen. Daneben gibt es jedoch inzwischen weitaus mehr Seiten, die nichts anderes als Affiliate-Link-Farmen sind.
Diese Seiten prĂ€sentieren meist eine FĂŒlle an Produkten und versehen dieses mit Affiliate-Links zu verschiedenen HĂ€ndlern, die dieses Produkt anbieten. Abgesehen von den Werbeinhalten und den Links sind diese Seiten relativ inhaltsleer.
DarĂŒber hinaus sind Affiliate-Links oft auch auf Kochseiten wie Chefkoch.de zu finden. Seiten ohne Affiliate-Links, die etwa auf Angebote von SupermĂ€rkten verweisen, sind meistens sehr viel weiter unten auf der Suchseite zu finden.
Damit Internetnutzer:innen auf die Webseiten kommen, betreiben deren Betreiber gezielt Suchmaschinenoptimierung (SEO). Sie halten ihre Website fortwĂ€hrend auf dem neuesten Stand, passen sie aktuellen Suchtrends an und aktualisieren dafĂŒr TextĂŒberschriften sowie Metadaten.
Bei alledem achten die Betreiber insbesondere darauf, eine möglichst breite Palette potenzieller Suchbegriffe abzudecken. Auf diese Weise gelingt es ihnen, dass ihre Webseiten in den Ergebnissen der Google-Suche relativ weit oben angezeigt werden, ohne dass die Seitenbetreiber dafĂŒr viel Geld investieren mĂŒssen.
Google und andere Suchmaschinenbetreiber bemĂŒhen sich offenbar darum, gegen diese Art der gezielten SEO vorzugehen. So zeigt die Studie, dass die Flut an Affiliate-Link-Webseiten in den oberen Suchergebnissen nach jedem internen Update der Google-Suche vorĂŒbergehend zurĂŒckging. Das Ganze gleicht jedoch einem Katz- und Maus-Spiel. Denn schon nach relativ kurzer Zeit fĂŒllte sich die erste Ergebnisseite wieder mit den Seiten der Affiliate-Link-Farmen.
Solange Google dieses Problem nicht nachhaltig in den Griff bekommt, solange die Nutzer:innen der Suche auch qualitativ schlechtere Suchergebnisse erhalten â gespickt mit Webseiten, die kaum relevanten Inhalt enthalten, und die nur einem Zweck dienen: dem Seitenbetreiber Einnahmen zu bescheren.
Immerhin kennzeichnen viele Anbieter ihre Inhalte als kommerzielles Angebot, etwa indem sie Affiliate-Links mit dem Symbol eines Einkaufswagens versehen. So erhalten die Besucher:innen dieser Seiten eine Ahnung davon, dass der Anbieter mit ihren Klicks Geld verdient. Und zugleich bestÀtigt sich damit einmal mehr auch bei ihnen der Eindruck, dass die Google-Suche immer schlechter wird.
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Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
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|eine Studie von Forscher*innen der UniversitÀt Leipzig und der Bauhaus-UniversitÀt Weimar|
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Fri, 03 May 2024 10:18:59 +0000
Markus Reuter
Die Pressefreiheit steht weiterhin unter Druck. In vielen Regionen haben sich die Arbeitsbedingungen fĂŒr Journalist:innen verschlechtert. Reporter ohne Grenzen warnt im weltweiten Superwahljahr vor weiteren Repressionen.
Die Lage der Pressefreiheit hat sich im weltweiten Vergleich noch einmal deutlich verschlechtert. Dies geht aus der |Rangliste der Pressefreiheit 2024 von Reporter ohne Grenzen (RSF)| hervor. Der jĂ€hrlich erscheinenden Analyse zufolge befanden sich im vergangenen Jahr 36 LĂ€nder in der schlechtesten Wertungskategorie â so viele wie seit mehr als zehn Jahren nicht. UnabhĂ€ngige journalistische Arbeit ist in solchen LĂ€ndern praktisch unmöglich.
Auf den hintersten PlĂ€tzen der Rangliste befinden sich das nun von den Taliban regierte Afghanistan, sowie Syrien und die |âInformationswĂŒsteâ Eritrea|, welche den 180. und damit letzten Platz belegt. Auch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion verschlechterte sich die Lage weiter. Russland, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Aserbaidschan befinden sich unter den letzten 35 PlĂ€tzen auf der Rangliste. Einer der gröĂten Absteiger ist Georgien, das auf Platz 103 abrutschte. Die Regierungspartei âGeorgischer Traumâ verfolgt |eine pressefeindliche Politik| und will gerade |ein Gesetz zu âAuslĂ€ndischen Agentenâ nach russischem Vorbild| einfĂŒhren. Einzig in der Ukraine hat sich die Lage â trotz Krieg â verbessert.
Schlecht sieht es fĂŒr die Pressefreiheit auch im asiatisch-pazifischen Raum aus, wo mit Afghanistan, China, Vietnam, Myanmar und Nordkorea gleich fĂŒnf LĂ€nder unter den letzten zehn PlĂ€tzen rangieren. Aber auch auf den Philippinen, in Kambodscha und Malaysia sind Medien zunehmend unter Druck. Indien steht unter dem |immer autoritĂ€rer regierenden Narendra Modi| nur noch auf Platz 159 weltweit.
Doch es gibt auch Lichtblicke: So konnten laut RSF LĂ€nder wie Timor-Leste (20), Samoa (22) und Taiwan (27) ihren Status als regionale Vorbilder in Sachen Pressefreiheit behaupten.
Auch in Nahost und Nordafrika sieht es eher dĂŒster aus. Lediglich Katar ist mit Platz 84 unter den Top 100, Israel ist mittlerweile auf Platz 101 abgerutscht. LĂ€nder wie Syrien (179), Iran (176), Saudi-Arabien (166) und Ăgypten (170) sind unter den 20 LĂ€ndern, in denen die Pressefreiheit weltweit am stĂ€rksten eingeschrĂ€nkt ist.
Besonders schwierig ist die Lage derzeit im Sudan (149) wegen des BĂŒrgerkriegs. Spitzenreiter der Region Subsahara ist Mauretanien auf dem 33. Platz.
In vielen LĂ€ndern Lateinamerikas leben Journalist:innen gefĂ€hrlich, so etwa in Mexiko (121). In keinem anderen Land, das sich nicht im Krieg befindet, werden so viele Journalisten ermordet. AbgestĂŒrzt in der Wertung ist auch Argentinien (66), wo mit dem neuen PrĂ€sidenten Javier Milei ein ausgemachter Gegner der Presse die BĂŒhne betreten hat.
In Europa ist die Lage hingegen im Gesamtbild gut, aber durchwachsen. So konstatiert RSF pressefeindliche Tendenzen in der Slowakei (29) und Ungarn (67), sowie eine schwierige Lage der Presse in Griechenland (88), wo es zu einem |Abhörskandal gegen Journalisten| kam. Unter politischem Druck steht laut RSF unabhĂ€ngiger Journalismus in Bosnien und Herzegowina (81), Serbien (98) und Albanien (99). Schlusslicht der Region ist die TĂŒrkei auf dem 158. Platz.
Deutschland steht hingegen auf Platz 10 und hat sich vom 21. Platz verbessert. Die Situation in Deutschland habe sich aber nur geringfĂŒgig verbessert und auch nur in der Kategorie Sicherheit, schreibt RSF. Der Sprung auf Ranglistenplatz 10 sei zudem auch der Tatsache geschuldet, dass sich andere LĂ€nder auf der Rangliste verschlechtert hĂ€tten.
Besorgniserregend in Deutschland sei weiterhin die Gewalt gegen Medienschaffende: RSF verifizierte fĂŒr das Jahr 2023 insgesamt 41 Ăbergriffe auf Journalistinnen und Reporter. Im Vorjahr lag die Zahl noch bei 103 â ein Negativrekord â, im Jahr 2021 bei 80. |Laut RSF| fanden 18 dieser 41 Ăbergriffe wĂ€hrend Kundgebungen von Verschwörungstheoretikern oder extremen Rechten statt.
Besonderes Augenmerk legt RSF in diesem Jahr auf die Lage der Pressefreiheit im Umfeld von Wahlen. Diese fĂŒhren regelmĂ€Ăig dazu, dass Journalist:innen festgenommen, beschimpft und bedroht werden. Mehr als die HĂ€lfte der Weltbevölkerung sei 2024 an die Wahlurnen gerufen â und in solchen Zeiten leben Journalist:innen besonders gefĂ€hrlich.
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Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
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|Rangliste der Pressefreiheit 2024 von Reporter ohne Grenzen (RSF)|
|âInformationswĂŒsteâ Eritrea|
|eine pressefeindliche Politik|
|ein Gesetz zu âAuslĂ€ndischen Agentenâ nach russischem Vorbild|
|immer autoritÀrer regierenden Narendra Modi|
|Abhörskandal gegen Journalisten|
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Thu, 02 May 2024 07:20:50 +0000
Maximilian Henning
Im Juni wĂ€hlt Europa ein neues Parlament und bekommt auch eine neue EU-Kommission. Deren alte PrĂ€sidentin wird wahrscheinlich auch die neue sein: Ursula von der Leyen. Was hat die mĂ€chtigste Frau der Welt in den vergangenen fĂŒnf Jahren netzpolitisch erreicht? Wir prĂŒfen ihre Versprechen.
GroĂe Krisen, groĂe Worte, groĂe Vorhaben. So lĂ€sst sich Ursula von der Leyens Amtszeit als PrĂ€sidentin der EU-Kommission zusammenfassen. âEine Union, die mehr erreichen willâ, das versprach die CDU-Politikerin vor fĂŒnf Jahren in ihren politischen Leitlinien fĂŒr die neue Kommission. Von der Leyen, kurz VdL, war damals die Ăberraschungskandidatin fĂŒr den Posten als PrĂ€sidentin. Ihre Kandidatur war das |Ergebnis eines Politdramas|, an dessen Ende sie die UnterstĂŒtzung aller EU-Regierungschefs erhielt. Das dĂŒpierte EU-Parlament konnte die Entscheidung nur noch abnicken, zĂ€hneknirschend und mit einer hauchdĂŒnnen Mehrheit.
Denn eigentlich sollte nach der letzten Europawahl der CSU-Politiker Manfred Weber |KommissionsprĂ€sident werden|. Das hatte zumindest das Parlament vorab gefordert, um den Prozess demokratischer zu machen: Weber war Chef der EuropĂ€ischen Volkspartei und Spitzenkandidat der Konservation, die die EU-Wahl gewonnen hatten. Doch die Mitgliedstaaten spielten ihre ĂŒbliche Rolle im EU-GefĂŒge und verhinderten das. Victor Orban soll ein Wörtchen mitgeredet haben, ebenso wie Emmanuel Macron. Am Ende wurde es Webers Parteikollegin von der Leyen.
Diese war damals noch deutsche Verteidigungsministerin und im Amt mĂ€Ăig erfolgreich. Als KommissionsprĂ€sidentin hatte sie mit groĂen Krisen zu kĂ€mpfen, die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg prĂ€gten die vergangenen fĂŒnf Jahre. Doch auch ambitionierte Digitalprojekte, allen voran der Kampf gegen die Macht der groĂen Tech-Konzerne aus Ăbersee, standen auf ihrer |Agenda|. Es gab sehr viele Vorhaben, zu viele fĂŒr einen Text. Wir beschrĂ€nken uns deshalb hier auf die, die sie in ihrer Agenda angekĂŒndigt hatte. Soviel sei zu ihnen schon einmal verraten: WĂ€hrend von der Leyen sich das Erreichen wichtiger Meilensteine auf die Fahne schreiben kann, blieb sie bei digitalen Grund- und BĂŒrgerrechten hinter den groĂen Worten zurĂŒck.
Das wichtigste digitalpolitische Vorhaben der VdL-Kommission war wohl das Mammutgesetz fĂŒr Digitale Dienste. Dieses ist zwar, wie wir damals kommentierten, |weder ein Plattformgrundgesetz| noch |eine Revolution|, aber trotzdem eine sehr wichtige Neuregelung der groĂen Online-Plattformen. Das Gesetz soll unter anderem Haftung und Sicherheit von Sozialen Medien verbessern und Plattformkonzerne stĂ€rker in die Pflicht nehmen. Wie gut das gelingt, wird sich erst in den nĂ€chsten Jahren zeigen. In den ersten Monaten, in denen das Gesetz vollstĂ€ndig gĂŒltig war, ging die Kommission jedenfalls bereits hart gegen Plattformen vor, die sich nicht an die Regeln hielten.
Das Schwestergesetz ist das Gesetz fĂŒr Digitale MĂ€rkte, auf Englisch Digital Markets Act (DMA). Das hat einige seiner Ziele ĂŒbernommen, etwa bessere Regeln fĂŒr Produkte. Wenn der DMA die |erhoffte Wirkung auf die MarktĂŒbermacht| dieser Unternehmen entfaltet, könnte es sogar das wichtigere der beiden Gesetze werden. Dabei war im Programm von der Leyens vom DMA noch gar keine Rede.
Zu den beiden Plattformgesetzen gesellt sich das GroĂvorhaben einer Verordnung zu KĂŒnstlicher Intelligenz. Eigentlich wollte von der Leyen bereits in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit ein Gesetz vorschlagen, das KĂŒnstliche Intelligenz regulieren soll, gedauert hat es noch bis 2021. Ein Jahr spĂ€ter brachte der ChatGPT-Boom das Thema dann auf einmal ganz nach vorn auf die politische Agenda. Das Gesetz stand damals schon halb, musste noch einmal grundlegend erweitert werden und wĂ€re auf den letzten Metern fast noch gescheitert. Am Ende kam es |ohne ausreichende Verbote| fĂŒr biometrische Ăberwachung ĂŒber die Ziellinie. Damit lĂ€uft die Verordnung Gefahr, groĂflĂ€chige Ăberwachung in Europa zu ermöglichen.
FĂŒr Menschen, die an Europas AuĂengrenzen ankommen, ist die umfassende Ăberwachung bereits RealitĂ€t. Wer auf der Flucht etwa an der griechischen Grenze ankommt, musste bisher schon seine FingerabdrĂŒcke preisgeben. Mit dem groĂ angelegten neuen Migrationspakt kommen dazu |nun auch noch biometrische Fotos|. Das ist zwar nur ein Teilaspekt der unter von der Leyens FĂŒhrung verschĂ€rften Abschottungspolitik der EU gegen GeflĂŒchtete. Doch fĂŒr Migrant:innen kann das, wenn sie wegen ihrer FingerabdrĂŒcke zurĂŒck in ein unsicheres Heimatland geschickt werden, den Tod bedeuten.
Die Tech-Riesen sind auch deshalb mĂ€chtig, weil sie Geld scheffeln. Meta, der Mutterkonzern von Facebook, machte im vergangenen Jahr einen Umsatz von umgerechnet 126 Milliarden Euro. Das entspricht ungefĂ€hr der gesamten Volkswirtschaft der Slowakei. Gleichzeitig bezahlten sie lange verschwindend geringe Steuern, durch kreative Unternehmensstrukturen und besondere Deals. Von der Leyen hatte angekĂŒndigt, dagegen vorgehen zu wollen: Steuern fĂŒr Tech-Riesen sollten âganz oben auf der Agendaâ stehen.
Das bezog sich besonders auf Verhandlungen bei der Organisation fĂŒr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der OECD. Diese wurden 2021 abgeschlossen, Ergebnis war ein Deal aus zwei Teilen: Einerseits sollen die Gewinne groĂer Unternehmen in den LĂ€ndern besteuert werden, in denen sie sie erzielen. Andererseits soll es weltweite Minimalsteuer von 15% auf Unternehmen geben.
Die Minimalsteuer ist in der EU umgesetzt, die |entsprechende Richtlinie| gilt seit Anfang dieses Jahres. Schwieriger sieht es bei der Verteilung der Gewinne aus, denn hier strĂ€uben sich die USA. Dort sitzen viele Tech-Riesen, das Land hĂ€tte also viel zu verlieren â und hat deshalb schon angekĂŒndigt, auf Steuern mit Strafzöllen zu reagieren. Der Prozess |verzögert sich deshalb momentan immer weiter|, wahrscheinlich bis nach der US-PrĂ€sidentschaftswahl. Das kann man von der Leyen nicht wirklich vorwerfen, aber PrioritĂ€t hatte das Thema fĂŒr sie auch nicht.
âBei der Verteidigung unserer Grundwerte dĂŒrfen wir keine Kompromisse eingehen. Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit erschĂŒttern die Union in ihren rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Grundfesten.â Vor ihrem Amtsantritt fand von der Leyen starke Worte zur Verteidigung der europĂ€ischen Werte â weniger stark war ihre Reaktion auf den Pegasus-Skandal. Medien und Nichtregierungsorganisationen hatten enthĂŒllt, dass der Pegasus-Trojaner der israelischen NSO Group in mehreren Mitgliedstaaten, darunter Spanien und Polen, gegen Oppositionelle eingesetzt wurde.
Die Details dazu, ob und wie europĂ€ische Regierungen hier ihre eigenen BĂŒrger:innen und politischen Feinde ausgespĂ€ht haben, wird die europĂ€ische Ăffentlichkeit aber wahrscheinlich nie erfahren. Das EU-Parlament drĂ€ngte mit einem |eigenen Untersuchungsausschuss| auf die AufklĂ€rung des Skandals, den wir |intensiv begleitet haben|. |Die Kommission blieb trotzdem untĂ€tig|. Die Mitgliedstaaten verstecken sich hinter der Ausrede der nationalen Sicherheit â sobald die berĂŒhrt ist, hat die EU nichts mehr zu melden. Nur |Polen| und seit neuestem auch |Spanien| arbeiten daran, die Spionage aufzuklĂ€ren.
Mit aller Macht trieben die EU-Kommission und Innenkommissarin Ylva Johansson stattdessen das Vorhaben der |Chatkontrolle| voran: Um Darstellungen von Kindesmissbrauch und andere illegale Inhalte aufzuspĂŒren, sollten mittels Client-Side-Scanning Chat-Nachrichten proaktiv durchsucht werden. Das Vorhaben dieser MassenĂŒberwachung ist vorerst gescheitert, doch sicher nicht vom Tisch.
Von der Leyen hatte sich auch mehr Transparenz auf die Fahnen geschrieben. âDie BĂŒrgerinnen und BĂŒrger sollten wissen, mit wem wir â als die Organe, die ihnen dienen â uns treffen, mit wem wir diskutieren und welche Positionen wir vertretenâ, hieĂ es in ihren Leitlinien. TatsĂ€chlich veröffentlichen alle EU-Kommissar:innen und ihre leitenden Mitarbeiter:innen im EU-Transparenzregister, |mit wem sie sich zu welchen Themen treffen|. So etwas gibt es auf Bundesebene nicht. Per Informationsfreiheitsantrag kann auch jede BĂŒrger:in die Protokolle dieser Treffen anfordern.
Nicht so genau nahm von der Leyen es aber mit der Transparenz, wenn es um ihre SMS ging. Die standen im Zentrum von âPfizergateâ, einem Skandal, den unser ehemaliger Kollege Alexander Fanta |losgetreten hat|. Er hatte per Informationsfreiheitsanfrage die SMS angefordert, die von der Leyen mit dem Chef von Impfstofflieferant Pfizer ausgetauscht hatte, um einen Lieferdeal einzufĂ€deln. Die Kommission hat die SMS bis heute nicht herausgerĂŒckt, die EuropĂ€ische BĂŒrger:innenbeauftragte |hat sie dafĂŒr verwarnt|. Eine Klage der New York Times |lĂ€uft noch|.
Online-Plattformen gibt es nicht mehr nur fĂŒr Videos oder Bilder, sondern zunehmend auch fĂŒr Jobs. Vor zwei Jahren arbeiteten laut der Kommission noch 28 Millionen EuropĂ€er:innen auf Online-Plattformen, im 2025 sollen es schon 43 Millionen sein. Vor dem Amtsantritt hatte von der Leyen angekĂŒndigt, prĂŒfen zu wollen, wie man die Arbeitsbedingungen dieser Menschen verbessern kann, âinsbesondere im Hinblick auf Kompetenzen und Bildung.â
Daraus wurde dann ein wenig mehr â auch durch den Einsatz von Nicolas Schmit, dem sozialdemokratischen Arbeitskommissar von der Leyens. Statt einer vagen ErklĂ€rung fĂŒr mehr Digitalkompetenz legte die Kommission einen ambitionierten Vorschlag fĂŒr eine Richtlinie zur Plattformarbeit vor. Die sollte europaweit einheitliche Regeln gegen ScheinselbststĂ€ndigkeit einfĂŒhren, dazu noch neue Rechte bei algorithmischen Entscheidungen. Fast wĂ€re das Vorhaben am Widerstand Frankreichs und der FDP gescheitert. Am Ende wurde es eine abgespeckte Richtlinie, die zwar |mehr Rechte fĂŒr Plattformarbeiter:innen| bringt, aber den Mitgliedstaaten mehr Macht ĂŒberlĂ€sst â die diese etwa unter Macron gegen Arbeiter:innen nutzen dĂŒrften.
Vom 6. bis 9. Juni wĂ€hlen die Menschen in der EU ein neues Parlament. Es ist wahrscheinlich, dass Ursula von der Leyen danach weitere fĂŒnf Jahre Zeit bekommt, um die Geschicke der EU zu leiten. Am Montag |stellte sich von der Leyen| das erste Mal ihren Konkurrent:innen fĂŒr den Posten als KommissionsprĂ€sidentin. Sie ist diesmal offiziell Spitzenkandidatin der EVP, diese fĂŒhrt in Umfragen haushoch. Wenn nicht die Sozialdemokraten noch ĂŒberraschend einen Turbo-Wahlkampf hinlegen oder die Mitgliedstaaten wieder eine andere Ăberraschungskandidatin aus dem Hut zaubern, wird es eine zweite VdL-Kommission geben.
Auf dem Papier kann Ursula von der Leyen eine ordentliche Bilanz vorweisen. Von den groĂen digitalpolitischen Brocken, die sie sich vorgenommen hatte â Plattformen neu regeln, Steuern auf ihre Gewinne erheben, die Grundwerte der EU verteidigen â hat sie viele umsetzen können. Doch nicht jede beschlossene Verordnung ist eine gute Verordnung, das zeigt sich besonders bei der KI-Verordnung. Wenn man Projekte auf Teufel komm heraus fertigstellen will, dann leidet oft die QualitĂ€t. Bei EinbauschrĂ€nken heiĂt das, dass die TĂŒren klappern â bei Gesetzen kann es bedeuten, dass sie massenhafte biometrische Ăberwachung ermöglichen.
So stark von der Leyens Ergebnisse im Ringen mit den US-Plattformkonzernen sind, so dĂŒster ist die digitalpolitische Bilanz bei den Grundwerten. Sollte sie eine zweite Amtszeit erreichen, hĂ€tte Ursula von der Leyen die Möglichkeit, ihren groĂen Worten hier Taten folgen zu lassen, vor allem bei Transparenz und BĂŒrgerrechten.
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|KommissionsprÀsident werden|
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|verzögert sich deshalb momentan immer weiter|
|eigenen Untersuchungsausschuss|
|Die Kommission blieb trotzdem untÀtig|
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|mehr Rechte fĂŒr Plattformarbeiter:innen|
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Wed, 01 May 2024 06:00:09 +0000
Robin Berjon
Das Internet ist zu einer ausbeuterischen und fragilen Monokultur geworden. Aber wir können es renaturieren, indem wir die Lehren von Ăkologen nutzen.
Der Text ist die Ăbersetzung des englischsprachigen Beitrags â|We Need To Rewild The Internet|â, der am 16. April im |Noema Magazine| erschienen ist.Â
âDas Wort fĂŒr Welt ist Waldâ â Ursula K. Le Guin
Im spĂ€ten 18. Jahrhundert begannen Beamte in PreuĂen und Sachsen damit, ihre vielschichtigen und vielfĂ€ltigen WĂ€lder in geradlinige Reihen mit nur einer Baumart umzugestalten. FĂŒr die dort lebenden Menschen waren die WĂ€lder bis dahin eine Quelle fĂŒr Nahrung, Weideland, Schutz, Medizin, Bettzeug und vieles mehr. FĂŒr den frĂŒhmodernen Staat waren sie hingegen lediglich eine Quelle fĂŒr Holz.
Die sogenannte âwissenschaftliche Forstwirtschaftâ war einer der Wachstumsmotoren des Jahrhunderts, ein âWachstums-Hackâ. Sie erleichterte das ZĂ€hlen, Vorhersagen und Ernten der HolzertrĂ€ge und bedeutete, dass die EigentĂŒmer nicht mehr auf qualifizierte lokale Förster angewiesen waren, um die WĂ€lder zu bewirtschaften. An ihre Stelle traten weniger qualifizierte ArbeitskrĂ€fte, die einfache algorithmische Anweisungen befolgten, um die Monokulturen in Ordnung und das Unterholz kahl zu halten.
Informationen und Entscheidungsgewalt flossen nun direkt nach oben. Jahrzehnte spĂ€ter, als die ersten Plantagen abgeholzt waren, wurde Baum fĂŒr Baum ein riesiges Vermögen gemacht. Die gerodeten WĂ€lder wurden wieder aufgeforstet, in der Hoffnung, den Boom zu verlĂ€ngern. |Was dann geschah|, wissen die Leserinnen und Leser des amerikanischen politischen Anthropologen fĂŒr |Anarchie| und Ordnung, James C. Scott.
Die Katastrophe und ihre Folgen waren so schlimm, dass dafĂŒr ein neues Wort geprĂ€gt wurde: âWaldsterbenâ. Alle BĂ€ume derselben Art und desselben Alters wurden von StĂŒrmen niedergewalzt, von Insekten und Krankheiten heimgesucht â selbst die ĂŒberlebenden BĂ€ume waren spindeldĂŒrr und schwach. Die WĂ€lder waren jetzt so kahl, dass sie fast tot waren. Die erste prĂ€chtige Ernte war nicht der Beginn unendlichen Reichtums, sondern eine einmalige Ausbeute von BodenschĂ€tzen, die in Jahrtausenden durch biologische Vielfalt und Symbiose entstanden waren. Die Vielschichtigkeit der WĂ€lder war die Gans, die goldene Eier legte, und sie wurde geschlachtet.
Diesen Drang, die Unordnung zu beseitigen, die das Leben erst widerstandsfĂ€hig macht, bezeichnen viele Naturschutzbiologen als âPathologie des Befehlens und des Kontrollierensâ.
Die Geschichte der deutschen Forstwissenschaft vermittelt eine zeitlose Wahrheit: Wenn wir komplexe Systeme vereinfachen, zerstören wir sie, und die verheerenden Folgen werden manchmal erst dann erkannt, wenn es zu spÀt ist.
Diesen Drang, die Unordnung zu beseitigen, die das Leben erst widerstandsfĂ€hig macht, bezeichnen viele Naturschutzbiologen |als âPathologie des Befehlens und des Kontrollierensâ|. Heute hat derselbe Drang nach Zentralisierung, Kontrolle und Extraktion das Internet |in das gleiche Schicksal| gefĂŒhrt wie die verwĂŒsteten WĂ€lder.
In den 2010er Jahren, den Boomjahren des Internets, wurde vielleicht die erste glorreiche Ernte eingefahren, die eine einzigartige Fundgrube der Vielfalt ausgebeutet hat. Das komplexe Geflecht menschlicher Interaktionen, das in der anfĂ€nglichen technologischen Vielfalt des Internets gedieh, wird |nun in weltumspannenden Datenextraktionsmaschinen| gebĂŒndelt, die einigen wenigen ein riesiges Vermögen einbringen.
Unsere Online-RĂ€ume sind keine Ăkosysteme, auch wenn die Technologie-Unternehmen |dieses Wort lieben|. Sie sind Plantagen â hochkonzentrierte und kontrollierte Umgebungen, die eher mit industriellen Rindermastanlagen oder HĂŒhnerbatterien zu vergleichen sind, die die darin gefangenen Lebewesen in den Wahnsinn treiben.
Wir alle kennen das. Wir erleben es jedes Mal, wenn wir zum Smartphone greifen. Die meisten Menschen ĂŒbersehen jedoch, dass diese Konzentration bis tief in die Infrastruktur des Internets hineinreicht â die Leitungen und Protokolle, Kabel und Netzwerke, Suchmaschinen und Browser. Diese Strukturen bestimmen, wie wir das Internet jetzt und in Zukunft aufbauen und nutzen.
Sie haben sich zu einer Reihe nahezu globaler Duopole zusammengeschlossen. Im April 2024 teilten sich beispielsweise die Internet-Browser von Google und Apple |fast 85 Prozent des Weltmarktes|, die beiden Desktop-Betriebssysteme von Microsoft und Apple |mehr als 80 Prozent|. Google wickelt |84 Prozent der weltweiten Internetsuchen| ab und Microsoft rund 3 Prozent. Etwas mehr als die HĂ€lfte aller Mobiltelefone |stammen von Apple und Samsung|, und ĂŒber 99 Prozent der mobilen Betriebssysteme basieren |auf Software von Google oder Apple|. Zwei Cloud-Computing-Anbieter, Amazon Web Services und Microsoft Azure, |vereinen mehr als 50 Prozent des weltweiten Marktes auf sich|. Die E-Mail-Clients von Apple und Google |verwalten fast 90 Prozent des weltweiten Mail-Verkehrs|. Google und Cloudflare wickeln rund die HĂ€lfte der weltweiten Domain-Namen-Systemanfragen ab.
Zwei Arten von allem mögen ausreichen, um eine fiktive Arche zu fĂŒllen und eine zerstörte Welt wieder zu bevölkern, aber sie können kein offenes, globales âNetz der Netzeâ betreiben, in dem jeder die gleichen Chancen auf Innovation und Wettbewerb hat. Kein Wunder also, dass die Internet-Ingenieurin Leslie Daigle die Konzentration der technischen Architektur des Internets |als ââKlimawandelâ des Internet-Ăkosystemsâ bezeichnet hat|.
Das Internet hat die Tech-Giganten erst möglich gemacht. Ihre Dienste haben sich dank seines offenen und interoperablen Kerns weltweit verbreitet. In den vergangenen zehn Jahren haben sie jedoch daran gearbeitet, die verschiedenen konkurrierenden, oftmals quelloffenen oder kollektiv bereitgestellten Dienste, auf denen das Internet beruht, in ihre eigenen DomĂ€nen einzuschlieĂen. Dies verbessert zwar ihre operative Effizienz, verhindert aber auch, dass potenzielle Konkurrenten jene Bedingungen fĂŒr sich nutzen können, unter denen die Tech-Giganten einst florieren konnten. FĂŒr die groĂen der Branche ist die lange Zeit der offenen Entwicklung des Internets vorbei. Ihr Internet ist kein Ăkosystem mehr. Es ist ein Zoo.
Google, Amazon, Microsoft und Meta festigen ihre Kontrolle ĂŒber die zugrundeliegende Infrastruktur durch Ăbernahmen, vertikale Integration, den Aufbau eigener Netzwerke, die Schaffung von EngpĂ€ssen und die Konzentration von Funktionen aus verschiedenen technischen Schichten in einem einzigen Silo mit Kontrolle von oben nach unten. Sie können sich das leisten, weil sie von dem enormen Reichtum profitieren, den sie aus der einmaligen Ernte des kollektiven, globalen Reichtums gewonnen haben.
Die Abschottung der Infrastruktur und die EinfĂŒhrung einer technologischen Monokultur blockiert unsere Zukunft. Internetfachleute sprechen gerne vom âStackâ, der mehrschichtigen Architektur aus Protokollen, Software und Hardware, die von verschiedenen Dienstanbietern betrieben werden und das tĂ€gliche Wunder der KonnektivitĂ€t ermöglichen. Es handelt sich um ein komplexes, dynamisches System, in dessen Kerndesign ein grundlegender Wert integriert ist: Die wichtigsten Funktionen werden getrennt gehalten, um Ausfallsicherheit und UniversalitĂ€t zu gewĂ€hrleisten sowie Raum fĂŒr Innovation zu schaffen.
UrsprĂŒnglich |vom US-MilitĂ€r finanziert| und von Forschenden entwickelt, um in Kriegszeiten zu funktionieren, hat sich das Internet zu einem System entwickelt, das ĂŒberall und unter allen Bedingungen funktioniert und von jeder Person genutzt werden kann, die eine Verbindung herstellen möchte. Doch was einst ein dynamisches, sich stĂ€ndig weiterentwickelndes Tetris-Spiel |mit verschiedenen âSpielernâ und âSchichtenâ| war, ist heute zu einem kontinentĂŒbergreifenden System verdichteter tektonischer Platten erstarrt. Infrastruktur ist nicht nur das, was wir an der OberflĂ€che sehen, sondern auch die KrĂ€fte, die darunter liegen, die Berge auftĂŒrmen und Tsunamis auslösen. Wer die Infrastruktur kontrolliert, bestimmt die Zukunft. Wer das bezweifelt, sollte bedenken, dass wir in Europa immer noch StraĂen benutzen und in StĂ€dten leben, die das Römische Reich vor 2.000 Jahren gebaut hat.
Im Jahr 2019 schlugen einige Internet-Ingenieure in der Internet Engineering Task Force â dem globalen Gremium zur Festlegung von Standards â Alarm. Daigle, eine angesehene Ingenieurin und ehemalige Vorsitzende des Aufsichtsausschusses und des Internet Architecture Board, |schrieb in einem Strategiepapier|, die Konsolidierung bedeute eine Verknöcherung der Netzwerkstrukturen ĂŒber den gesamten Stack hinweg. Dies erschwere es, die etablierten Betreiber zu verdrĂ€ngen und verstoĂe zudem gegen ein Grundprinzip des Internets: dass es keine âdauerhaften Favoritenâ gebe. Konsolidierung verdrĂ€ngt nicht nur den Wettbewerb. Sie schrĂ€nkt auch die möglichen Beziehungen zwischen den Betreibern verschiedener Dienste ein.
Das komplexe Netz menschlicher Interaktionen, das in der anfÀnglichen technologischen Vielfalt des Internets gedieh, ist in den weltumspannenden Datenextraktionsmaschinen gefangen, die einigen wenigen ein riesiges Vermögen einbringen.
Daigle drĂŒckt es so aus: âJe mehr proprietĂ€re Lösungen anstelle von kollaborativen, auf offenen Standards basierenden Lösungen entwickelt und eingesetzt werden, desto weniger wird das Internet als Plattform fĂŒr kĂŒnftige Innovationen erhalten bleiben.â Die Konsolidierung untergrĂ€bt die Zusammenarbeit zwischen Diensteanbietern ĂŒber den gesamten Stack hinweg, indem sie eine Reihe unterschiedlicher Beziehungen â wettbewerbsorientierte und kooperative â in eine einzige, rĂ€uberische Beziehung umwandelt.
Seitdem haben Organisationen, die fĂŒr die Entwicklung von Standards zustĂ€ndig sind, mehrere Initiativen gestartet, um die Konsolidierung der Infrastruktur als solche klar zu benennen und in Angriff zu nehmen. Allerdings sind alle Initiativen gescheitert. Die meisten Internet-Ingenieure mit ihrem technischen Detailwissen sahen den Wald vor lauter BĂ€umen nicht. Sie waren offenbar auĂerstande, sich von den Interessen ihrer Arbeitgeber und |den tief verwurzelten beruflichen Werten der Vereinfachung und Kontrolle| zu lösen.
Aus der NĂ€he erscheint das Internet zu kompliziert, um es zu entwirren, aus der Ferne zu unĂŒberschaubar. Was aber wĂ€re, wenn wir das Internet nicht als ein dem Untergang geweihtes â|Hyperobjekt|â betrachten wĂŒrden, sondern als ein beschĂ€digtes und kĂ€mpfendes Ăkosystem, das kurz vor der Zerstörung steht? Was wĂ€re, wenn wir es nicht mit hilflosem Entsetzen ĂŒber die unheimlichen Ăbergriffe seiner derzeitigen Beherrscher betrachten wĂŒrden, sondern mit MitgefĂŒhl, KonstruktivitĂ€t und Hoffnung?
Technologen sind gut darin, schrittweise Lösungen zu finden. Aber um ganze LebensrĂ€ume zu regenerieren, mĂŒssen wir von den Ăkologinnen und Ăkologen lernen, die das ganze System betrachten. Ăkologen wissen auch, wie man weitermacht, wenn andere einen erst ignorieren und dann sagen, es sei zu spĂ€t. Sie wissen, wie man mobilisiert und gemeinsam arbeitet. Und sie wissen, wie man RĂ€ume der Vielfalt und Resilienz schafft, die sie ĂŒberdauern und Möglichkeiten fĂŒr eine Zukunft im Ăberfluss schaffen, die sie sich zwar vorstellen, aber niemals kontrollieren können. Kurz gesagt: Wir mĂŒssen die Infrastruktur des Internets nicht reparieren. Vielmehr mĂŒssen wir sie neu verwildern lassen und damit wieder zum Leben erwecken. Im Englischen nennen wir das âRewildingâ.
Rewilding âzielt darauf ab, gesunde Ăkosysteme wiederherzustellen, indem wilde, biodiverse RĂ€ume geschaffen werdenâ, |so die International Union for Conservation of Nature| (IUCN). Es ist ehrgeiziger und risikotoleranter als der traditionelle Naturschutz. Er zielt auf ganze Ăkosysteme ab, um Raum fĂŒr komplexe Nahrungsnetze und das Entstehen unerwarteter Beziehungen zwischen den Arten zu schaffen. Der Ansatz ist weniger an der Rettung einzelner bedrohter Arten interessiert. Sie sind nur Bestandteile des Ăkosystems, und wenn man sich nur auf die Bestandteile konzentriert, verliert man den Blick fĂŒr das Ganze. Ăkosysteme gedeihen durch zahlreiche Verbindungen zwischen ihren vielen Elementen, genau wie Computernetzwerke. Und wie in Computernetzwerken sind die Interaktionen in Ăkosystemen vielschichtig und generativ.
Rewilding hat Menschen, die sich fĂŒr das Internet interessieren, viel zu bieten. Wie Paul Jepson und Cain Blythe |in ihrem Buch| âRewilding: The Radical New Science of Ecological Recoveryâ (zu Deutsch: Die radikale neue Wissenschaft der ökologischen Wiederherstellung) schreiben, achtet Rewilding âauf die sich entwickelnden Eigenschaften der Interaktionen zwischen den âDingenâ in den Ăkosystemen ⊠ein Ăbergang vom linearen zum systemischen Denkenâ.
Es ist eine grundsĂ€tzlich positive und handwerkliche Herangehensweise an ein scheinbar unlösbares Problem. Es ist kein Mikromanagement. Es schafft Raum fĂŒr âökologische Prozesse, die komplexe und sich selbst organisierende Ăkosysteme fördernâ. Rewilding setzt in die Praxis um, was jede gute Managerin und jeder gute Manager weiĂ: Stell die besten Leute ein, gib ihnen das, was sie brauchen, um zu gedeihen, und lass sie dann in Ruhe. Es ist das Gegenteil von Befehl und Kontrolle.
Die Transformation des Internets ist mehr als eine Metapher. Es ist ein Rahmen und ein Plan. Es bietet uns eine neue Sicht auf das verhĂ€ngnisvolle Problem der Ausbeutung und Kontrolle sowie neue Mittel und VerbĂŒndete, um dieses Problem zu lösen. Es erkennt an, dass die Abschaffung von Internetmonopolen nicht nur ein intellektuelles Problem ist, sondern auch ein emotionales. Es beantwortet Fragen wie: Wie können wir weitermachen, wenn die Monopolisten mehr Geld und Macht haben? Wie können wir kollektiv handeln, wenn sie unsere gemeinsamen RĂ€ume, Finanzmittel und Netzwerke unterwandern? Und wie können wir unseren VerbĂŒndeten vermitteln, wie eine Lösung aussehen und sich anfĂŒhlen wird?
Rewilding ist eine positive Vision fĂŒr die Netzwerke, in denen wir leben wollen, und eine gemeinsame Geschichte, wie wir dorthin gelangen. Es pflanzt einen neuen Baum auf dem mĂŒden alten Bestand der Technologie.
Die Ăkologie ist mit komplexen Systemen vertraut, wovon Technologen profitieren können. Sie hat vor allem Erfahrungen damit, dass |sich Grundlinien verschieben|.
Wer in den 1970er Jahren geboren ist, erinnert sich wahrscheinlich an viel mehr tote Insekten auf der Windschutzscheibe des Autos der Eltern als auf der eigenen Scheibe heute. Die Populationen landlebender Insekten |gehen weltweit um etwa 9 % pro Jahrzehnt zurĂŒck|. Wenn du ein Geek bist, hast du wahrscheinlich deinen eigenen Computer programmiert, um einfache Spiele zu entwickeln. Sicherlich erinnerst du dich an ein Internet, in dem es mehr zu lesen gab |als die gleichen fĂŒnf Websites|. Vielleicht hattest du sogar ein eigenes Blog.
Aber viele Menschen, die nach dem Jahr 2000 geboren sind, halten wahrscheinlich eine Welt fĂŒr normal, in der es nur wenige Insekten und wenige UmgebungsgerĂ€usche durch Vögel gibt â und in der nur einige wenige soziale Medien und Messaging-Apps statt das ganze Internet genutzt werden. Wie Jepson und Blythe schreiben, verschieben sich die Grundlinien, âwenn jede Generation die Natur, die sie in ihrer Jugend erlebt hat, als normal ansieht und damit unwissentlich den RĂŒckgang und die SchĂ€den akzeptiert, die vorangegangene Generationen angerichtet habenâ. Der Schaden ist bereits vorprogrammiert. Er scheint sogar naturgegeben zu sein.
Die Ăkologie weiĂ, dass die Verschiebung der Grundlinien die kollektive Dringlichkeit dĂ€mpft und die GrĂ€ben zwischen den Generationen vertieft. Menschen, die Monokultur und Kontrolle im Internet ablehnen, werden oft als Nostalgiker bezeichnet, die sich nach den Pionierzeiten zurĂŒcksehnen. Es ist verdammt schwierig, eine offene und wettbewerbsfĂ€hige Infrastruktur fĂŒr jĂŒngere Generationen zu schaffen, die mit der Vorstellung aufgewachsen sind, dass das Internet aus zwei oder drei Plattformen, zwei App-Stores, zwei Betriebssystemen, zwei Browsern, einem Cloud-/Megastore und einer einzigen Suchmaschine fĂŒr die ganze Welt besteht. Wenn das Internet fĂŒr dich ein riesiges, in den Himmel ragendes Silo ist, in dem du lebst, und das Einzige, was du von auĂen sehen kannst, ein anderes riesiges, in den Himmel ragendes Silo ist, wie kannst du dir dann etwas anderes vorstellen?
Konzentrierte digitale Macht fĂŒhrt zu den gleichen Symptomen, die Befehl und Kontrolle in biologischen Ăkosystemen hervorrufen: akute Not, unterbrochen von plötzlichen ZusammenbrĂŒchen, sobald Kipppunkte erreicht werden. Wie weit mĂŒssen wir gehen, damit Rewilding gelingt? Es ist eine Sache, Wölfe wieder in dem knapp 3.500 Quadratmeilen groĂen Yellowstone-Park |wieder anzusiedeln|, und eine ganz andere, etwa 20 Quadratmeilen eines Poldergebietes abzuriegeln â Land, das von einem GewĂ€sser zurĂŒckgewonnen wurde, bekannt als Oostvaardersplassen in der NĂ€he von Amsterdam. Der groĂe und vielfĂ€ltige Yellowstone ist wahrscheinlich komplex genug, um sich an VerĂ€nderungen anzupassen, aber Oostvaardersplassen |hat damit zu kĂ€mpfen|.
In den 1980er Jahren versuchte die niederlĂ€ndische Regierung, einen Teil der ĂŒberwucherten Oostvaardersplassen zu regenerieren. Ein unabhĂ€ngiger Ăkologe der Regierung, Frans Vera, prognostizierte, dass Schilf und GestrĂŒpp vorherrschen wĂŒrden, wenn die inzwischen ausgestorbenen Pflanzenfresser sie nicht abweiden wĂŒrden. Statt der alten Auerochsen fĂŒhrte die staatliche Forstverwaltung |deutsche Heckrinder| ein, die fĂŒr ihre schlechte Laune bekannt sind, und statt des ausgestorbenen Steppenponys eine polnische halbwilde Rasse.
Rund 30 Jahre spĂ€ter, als es keine natĂŒrlichen Raubtiere mehr gab und PlĂ€ne fĂŒr einen Wildtierkorridor zu einem anderen Reservat gescheitert waren, gab es viel mehr Tiere, als die spĂ€rliche Wintervegetation vertragen konnte. Die Menschen |waren entsetzt| ĂŒber die verhungerten KĂŒhe und Ponys, und 2018 fĂŒhrten die Behörden Tierschutzkontrollen und Keulungen ein.
Es reichte nicht aus, nur die Uhr zurĂŒckzudrehen. Der Teil der Oostvaardersplassen war zu klein und zu isoliert, um sich selbst ĂŒberlassen und wieder verwildert zu werden. Da die Tiere nirgendwo anders hin konnten, waren Ăberweidung und Zusammenbruch unvermeidlich â eine ernĂŒchternde, aber notwendige Lektion. Rewilding ist ein kontinuierlicher Prozess. Es geht nicht darum, Ăkosysteme in ein mythisches Eden zurĂŒckzuversetzen. Vielmehr versuchen die Renaturierer, die WiderstandsfĂ€higkeit der Ăkosysteme wiederherzustellen, indem sie autonome natĂŒrliche Prozesse in Gang setzen und in groĂem MaĂstab ablaufen lassen, um KomplexitĂ€t zu erzeugen. âRewildingâ ist jedoch selbst ein Eingriff des Menschen und kann mehrere Schritte erfordern, um erfolgreich zu sein.
Unsere Online-RĂ€ume sind Plantagen â hochkonzentrierte und kontrollierte Umgebungen, die eher mit industriellen Rindermastanlagen oder HĂŒhnerbatterien zu vergleichen sind, die die darin gefangenen Lebewesen in den Wahnsinn treiben.
Was auch immer wir tun, das Internet wird nicht zu den alten, damals ĂŒblichen Schnittstellen wie FTP und Gopher zurĂŒckkehren, oder dazu, dass Unternehmen wieder ihre eigenen Mailserver betreiben, anstatt Lösungen von der Stange wie die G-Suite zu verwenden. Aber einiges von dem, was wir brauchen, ist bereits da, vor allem im Web. Schauen wir uns nur das Wiederaufleben von RSS-Feeds, E-Mail-Newslettern und Blogs an, weil wir â wieder einmal â feststellen, dass die AbhĂ€ngigkeit von einer einzigen Anwendung fĂŒr globale Konversationen zu einer einzigen Fehlerquelle und Kontrolle fĂŒhrt. Es entstehen neue Systeme, wie das |Fediverse| mit seinen föderierten Inseln oder Bluesky |mit seiner algorithmischen Auswahl| und |Moderation|.
Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird. Unsere Aufgabe ist es, so viele Möglichkeiten wie möglich offen zu halten und darauf zu vertrauen, dass diejenigen, die spĂ€ter kommen, sie nutzen werden. Anstatt Reinheitstests durchzufĂŒhren, um herauszufinden, welche Art von Internet dem ursprĂŒnglichen am Ă€hnlichsten ist, können wir Ănderungen anhand der Werte des ursprĂŒnglichen Designs testen. SchĂŒtzen die neuen Standards die âAllgemeinheitâ des Netzes, das heiĂt seine FĂ€higkeit, mehrere Verwendungszwecke und Anwendungen zu unterstĂŒtzen, oder schrĂ€nken sie die FunktionalitĂ€t ein, um die Effizienz fĂŒr die gröĂten Technologieunternehmen zu optimieren?
|Bereits 1985 schrieben| die Pflanzenökologen Steward T.A. Pickett und Peter S. White in âThe Ecology of Natural Disturbance and Patch Dynamicsâ, dass ein âwesentliches Paradoxon des Naturschutzes darin besteht, dass wir versuchen zu erhalten, was sich verĂ€ndern mussâ. Einige Internet-Ingenieure sind sich dessen bewusst. David Clark, ein Professor am Massachusetts Institute of Technology, der an einigen der ersten Protokolle des Internets mitwirkte, hat ein ganzes Buch ĂŒber alternative Netzwerkarchitekturen |geschrieben|, die hĂ€tten entwickelt werden können, wenn die Schöpfer des Internets anderen Werten wie Sicherheit oder zentraler Verwaltung Vorrang eingerĂ€umt hĂ€tten.
Aber unser Internet hat sich durchgesetzt, weil es als Allzwecknetz konzipiert wurde, um alle miteinander zu verbinden.
Unser Internet wurde entwickelt, um komplex und unĂŒberwindbar zu sein, um Dinge zu tun, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Als wir Clark interviewten, sagte er uns: ââKomplexâ bedeutet ein System, in dem es ein sich entwickelndes Verhalten gibt, ein System, dessen Ergebnisse nicht modellieren werden können. Ihre Intuitionen können falsch sein. Aber ein zu einfaches System bedeutet verpasste Gelegenheiten.â Alles, was wir gemeinsam schaffen und was es wert ist, ist komplex und damit ein wenig unĂŒbersichtlich. Die Risse sind der Ort, an dem neue Menschen und neue Ideen eintreten.
Die Internet-Infrastruktur ist ein erodiertes Ăkosystem, aber sie ist auch eine gebaute Umgebung, wie eine Stadt. Ihre Unvorhersehbarkeit macht sie generativ, wertvoll und zutiefst menschlich. 1961 |argumentierte Jane Jacobs|, eine amerikanisch-kanadische Aktivistin und Autorin von âThe Death and Life of Great American Citiesâ, dass gemischt genutzte Stadtviertel sicherer, glĂŒcklicher, wohlhabender |und lebenswerter seien| als Viertel, die den sterilen, |stark kontrollierenden EntwĂŒrfen| von Stadtplanern wie Robert Moses in New York nachempfunden sind.
Als eine von oben nach unten aufgebaute Umgebung ist das Internet zu etwas geworden, das uns widerfÀhrt, und nicht zu etwas, das wir jeden Tag gemeinsam neu gestalten.
Genau wie die von KriminalitĂ€t geplagten, Le-Corbusier-Ă€hnlichen TĂŒrme, in die Moses die Menschen pferchte, als er gemischte Stadtviertel abriss und Autobahnen durch sie hindurch errichtete, ist das heutige von oben nach unten aufgebaute, konzentrierte Internet fĂŒr viele ein unangenehmer und schĂ€dlicher Ort. Seine Besitzer sind schwer zu vertreiben, und ihre Interessen stimmen nicht mit unseren ĂŒberein.
Wie Jacobs schreibt: âWie in allen Utopien hatten nur die verantwortlichen Planer das Recht, PlĂ€ne von Bedeutung zu haben.â Als eine von oben nach unten aufgebaute Umgebung ist das Internet zu etwas geworden, das uns widerfĂ€hrt, und nicht zu etwas, das wir jeden Tag gemeinsam neu gestalten.
Ăkosysteme existieren, weil die Arten sich gegenseitig kontrollieren und ausbalancieren. Es gibt verschiedene Formen der Interaktion, nicht nur Extraktion, sondern auch ReziprozitĂ€t, Gemeinschaft, Konkurrenz und Raubtiere. In florierenden Ăkosystemen sind den Raubtieren |Grenzen gesetzt|. Sie sind nur ein Teil eines komplexen Netzwerks, das Kalorien weitergibt, und keine EinbahnstraĂe, die zum Ende der Evolution fĂŒhrt.
|Am 18. Juli 2001 entgleisten| 11 Waggons eines aus 60 Waggons bestehenden GĂŒterzugs im Howard Street Tunnel unter dem Stadtteil Mid-Town Belvedere, nördlich der Innenstadt von Baltimore. Innerhalb weniger Minuten wurde ein Waggon beschĂ€digt, der mit einer hochentzĂŒndlichen Chemikalie beladen war. Die auslaufende Chemikalie entzĂŒndete sich, und schon bald standen benachbarte Waggons in Flammen. Es dauerte fĂŒnf Tage, bis das Feuer gelöscht war.
Die Katastrophe vervielfachte sich und breitete sich aus. Die dicken, gemauerten TunnelwĂ€nde |wirkten wie ein Ofen|, und die Temperaturen stiegen auf ĂŒber 1.000 Grad Celsius. Eine groĂe Wasserleitung ĂŒber dem Tunnel brach und ĂŒberflutete ihn innerhalb weniger Stunden mit Millionen von Litern Wasser. Er kĂŒhlte sich nur wenig ab. Drei Wochen spĂ€ter |sprengte eine Explosion|, die mit der brennbaren Chemikalie in Verbindung gebracht wurde, Kanaldeckel |in bis zu eineinhalb Kilometern Entfernung|.
WorldCom, damals der zweitgröĂte FerngesprĂ€chsanbieter der USA, hatte in einem der Tunnel Glasfaserkabel verlegt, ĂŒber die ein GroĂteil des Telefon- und Internetverkehrs verlief. Laut dem MIT-Professor Clark bedeutete die Ausfallplanung von WorldCom jedoch, dass der Datenverkehr in Erwartung eines solchen Ereignisses auf verschiedene Glasfasernetze verteilt wurde.
Auf dem Papier verfĂŒgte WorldCom ĂŒber eine redundantes Netz. Doch fast unmittelbar nach der Katastrophe |verlangsamte sich| der Internetverkehr in den USA, und die Telefonleitungen von WorldCom an der OstkĂŒste und ĂŒber den Atlantik fielen aus. Die enge Topographie der Region hatte all diese verschiedenen Glasfasernetze auf einen einzigen Engpass konzentriert, den Howard Street Tunnel. Die WiderstandsfĂ€higkeit von WorldCom war buchstĂ€blich eingeĂ€schert worden. Das Unternehmen hatte technische Redundanz, aber keine Vielfalt. Manchmal erkennen wir die Konzentration erst, wenn es zu spĂ€t ist.
Clark erzĂ€hlt die Geschichte des Brandes im Howard Street Tunnel, um zu zeigen, dass EngpĂ€sse nicht immer offensichtlich sind â vor allem auf operativer Ebene â und dass riesige Systeme, die aufgrund ihrer GröĂe und Ressourcen sicher erscheinen, unerwartet zusammenbrechen können.
Im heutigen Internet |wird ein GroĂteil des Datenverkehrs| ĂŒber die privaten Netze von Technologieunternehmen abgewickelt, beispielsweise ĂŒber die eigenen Unterseekabel von Google und Meta. Ein groĂer Teil des Internetverkehrs erfolgt ĂŒber einige wenige marktbeherrschende Content-Distributionsnetze wie Cloudflare und Akamai, die ihre eigenen Netzwerke aus Proxyserver und Datenzentren betreiben. Der Datenverkehr wird auch ĂŒber eine immer geringer werdende Anzahl von DNS-Auflösern (Domain Name System) geleitet, die wie TelefonbĂŒcher fĂŒr das Internet funktionieren und die Namen von Websites mit ihren numerischen Adressen verknĂŒpfen.
All dies verbessert die Geschwindigkeit und Effizienz der Netze, schafft aber auch neue und nicht offensichtliche EngpĂ€sse wie den Howard Street Tunnel. Zentralisierte Diensteanbieter behaupten, ĂŒber bessere Ressourcen und mehr Erfahrung mit Angriffen und AusfĂ€llen zu verfĂŒgen. Aber sie sind auch |groĂe und attraktive Ziele fĂŒr Angreifer| und potenzielle Schwachstellen im System.
Am 21. Oktober 2016 funktionierten Dutzende groĂe US-Websites plötzlich nicht mehr. Die Domainnamen von Airbnb, Amazon, Paypal, CNN und der New York Times lieĂen sich nicht mehr auflösen. Sie alle waren Kunden des kommerziellen DNS-Dienstleisters Dyn, der von einer Cyberattacke betroffen war. Die Angreifer |infizierten zehntausende internetfĂ€hige GerĂ€te| mit Schadsoftware und bauten ein Netzwerk gekaperter GerĂ€te, ein so genanntes Botnet, mit dem sie Dyn mit Anfragen bombardierten, bis der Dienst zusammenbrach. Amerikas gröĂte Internet-Marken wurden durch nichts anderes als ein Netzwerk von |Babyphones|, Sicherheits-Webcams und anderen VerbrauchergerĂ€ten zu Fall gebracht. Obwohl sie wahrscheinlich alle ĂŒber AusfallplĂ€ne und Redundanzen verfĂŒgten, kam es zum Zusammenbruch, weil ein einziger Engpass â in einer entscheidenden Schicht der Infrastruktur â ausfiel.
AbstĂŒrze, BrĂ€nde und Ăberschwemmungen mögen einfach nur Entropie in Aktion sein, aber systemisch konzentrierte und riskante Infrastrukturen sind manifeste Entscheidungen â und wir können bessere treffen.
GroĂflĂ€chige AusfĂ€lle aufgrund von zentralen EngpĂ€ssen sind inzwischen so hĂ€ufig, dass Investoren sie sogar dazu nutzen, um Chancen zu erkennen. Als im Jahr 2021 ein Ausfall des Cloud-Anbieters Fastly dazu fĂŒhrte, dass fĂŒhrende Websites nicht mehr erreichbar waren, |schnellte Fastlys Aktienkurs in die Höhe|. Die Anleger waren begeistert von den Schlagzeilen, die sie ĂŒber einen obskuren technischen Dienstleister informierten, der offenbar einen wichtigen Dienst besetzt hatte. Der Ausfall kritischer Infrastrukturen erscheint den Investoren nicht als Verwundbarkeit, sondern als Gewinnchance.
Das Ergebnis der infrastrukturellen Monokultur ist eine eingebaute Verwundbarkeit, die wir erst nach einem Ausfall bemerken. Aber auch in unseren Such- und Navigationswerkzeugen ist die Monokultur deutlich sichtbar. Durch Suchen, Browsen und die Nutzung sozialer Medien finden und teilen wir Wissen und kommunizieren miteinander. Es handelt sich um eine kritische, globale epistemische und demokratische Infrastruktur, die nur von wenigen US-Unternehmen kontrolliert wird. AbstĂŒrze, BrĂ€nde und Ăberschwemmungen mögen nur Entropie in Aktion sein, aber systemisch konzentrierte und riskante Infrastrukturen sind manifeste Entscheidungen â und wir können bessere treffen.
Ein erneuertes Internet wird viel mehr Dienste zur Auswahl haben. Einige Dienste wie die Suche und soziale Medien werden aufgespalten werden, |wie es bei AT&T der Fall war|. Anstatt dass Technologieunternehmen die persönlichen Daten der Menschen auslesen und verkaufen, werden verschiedene Zahlungsmodelle die Infrastruktur finanzieren, die wir brauchen. Derzeit gibt es kaum explizite Regelungen fĂŒr öffentliche GĂŒter wie Internetprotokolle und Browser, die fĂŒr das Funktionieren des Internets unerlĂ€sslich sind. Die groĂen Technologieunternehmen subventionieren sie und ĂŒben einen groĂen Einfluss auf sie aus.
Ein Teil des Rewildings besteht darin, das, was in den groĂen Tech-Stack hineingezogen wurde, wieder herauszuholen und fĂŒr die tatsĂ€chlichen Kosten der KonnektivitĂ€t zu bezahlen. Einige Aspekte, etwa die grundlegende KonnektivitĂ€t, werden wir weiterhin direkt begleichen. Andere, wie Browser, werden wir indirekt, aber transparent unterstĂŒtzen, wie weiter unten beschrieben. Das erneuerte Internet wird eine FĂŒlle von Möglichkeiten bieten, sich miteinander zu verbinden und zueinander in Beziehung zu treten. Es wird nicht nur ein oder zwei Nummern geben, die man anrufen kann, wenn die AnfĂŒhrer eines politischen Putsches beschlieĂen, das Internet mitten in der Nacht abzuschalten, wie es in LĂ€ndern wie |Ăgypten| und |Myanmar| geschehen ist. Kein Unternehmen wird auf Dauer an der Spitze stehen. Ein neu verwildertes Internet wird ein aufregenderer, nutzbarerer, stabilerer und angenehmererer Ort sein.
Die WirtschaftsnobelpreistrĂ€gerin Elinor Ostrom hat in ihrer umfangreichen Forschungsarbeit |herausgefunden|, dass âwenn Menschen gut ĂŒber ein Problem informiert sind, mit dem sie konfrontiert sind, und darĂŒber, wer sonst noch daran beteiligt ist, und wenn sie ein Umfeld schaffen können, in dem Vertrauen und Gegenseitigkeit entstehen, wachsen und ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum aufrechterhalten werden können, dann werden sie oft komplexe und positive MaĂnahmen ergreifen, ohne darauf zu warten, dass eine externe AutoritĂ€t Regeln aufstellt, deren Einhaltung ĂŒberwacht und Strafen verhĂ€ngtâ.  Ostrom |kam zu dem Ergebnis|, dass Menschen sich spontan organisieren, um natĂŒrliche Ressourcen zu bewirtschaften â von der Zusammenarbeit mit Wasserunternehmen in Kalifornien bis hin zu Hummerfischern in Maine, die sich organisieren, um Ăberfischung zu verhindern.
Selbstorganisation gibt es auch bei der SchlĂŒsselfunktion des Internets: der Koordinierung des Datenverkehrs. Internet Exchange Points (|IXPs|) sind ein Beispiel fĂŒr das Management gemeinsamer Ressourcen, bei dem sich Internet Service Provider (ISPs) darauf einigen, die Daten der anderen zu geringen oder gar keinen Kosten zu ĂŒbertragen. Netzbetreiber aller Art â Telekommunikationsunternehmen, groĂe Technologieunternehmen, UniversitĂ€ten, Regierungen und Rundfunkanstalten â mĂŒssen groĂe Datenmengen durch die Netze anderer ISP leiten, um ihr Ziel zu erreichen.
WĂŒrden sie dies separat durch EinzelvertrĂ€ge regeln, mĂŒssten sie viel mehr Zeit und Geld aufwenden. Stattdessen grĂŒnden sie hĂ€ufig IXPs, in der Regel als unabhĂ€ngige, gemeinnĂŒtzige Vereinigungen. Neben der Verwaltung des Datenverkehrs bilden IXPs in vielen LĂ€ndern â insbesondere in EntwicklungslĂ€ndern â das RĂŒckgrat einer florierenden technischen Gemeinschaft, die die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibt.
Sowohl zwischen Menschen als auch im Internet sind Verbindungen produktiv. Von technischen Standards ĂŒber die Verwaltung von Gemeinschaftsressourcen bis hin zu lokalen Breitbandnetzen, den so genannten âAltnetsâ, verfĂŒgt das Internet-Rewilding bereits ĂŒber eine breite Palette kollektiver Instrumente, die genutzt werden können.
Die Liste der zu diversifizierenden Infrastrukturen ist lang. Neben Leitungen und Protokollen gibt es Betriebssysteme, Browser, Suchmaschinen, das Domain Name System, soziale Medien, Werbung, Cloud-Anbieter, App-Stores, KI-Unternehmen und vieles mehr. Und all diese Technologien sind auch miteinander verbunden.
Aber wenn man aufzeigt, was in einem Bereich getan werden kann, ergeben sich auch Möglichkeiten in anderen Bereichen. Fangen wir mit der Regulierung an.
Man braucht nicht immer eine groĂe neue Idee wie Rewilding, um einen gröĂeren Strukturwandel zu gestalten und voranzutreiben. Manchmal reicht es auch, eine alte Idee wiederzubeleben. PrĂ€sident Bidens â|Executive Order on Promoting Competition in the American Economy|â aus dem Jahr 2021 belebte die ursprĂŒngliche, arbeitnehmerfreundliche und vertrauenbildende Reichweite und Dringlichkeit des Richters am Obersten Gerichtshof Louis D. Brandeis aus dem frĂŒhen 20. Jahrhundert zusammen mit rechtlichen Rahmenbedingungen, die auf die 1930er Jahre und den Great New Deal zurĂŒckgehen.
Es geht darum, die Strukturen niederzureiĂen, die all jenen den Zugang zum Licht verwehren, die nicht reich genug sind, um im obersten Stockwerk zu wohnen.
Damals wurde |das US-Kartellrecht geschaffen|, um die Macht der Oligarchen in der Ăl-, Stahl- und Eisenbahnindustrie zu brechen, die Amerikas junge Demokratie bedrohten. Es bot einen grundlegenden Schutz fĂŒr Arbeitnehmer und betrachtete die wirtschaftliche Chancengleichheit als wesentliche Voraussetzung fĂŒr die Freiheit. Diese Auffassung, dass Wettbewerb unverzichtbar ist, wurde durch die Wirtschaftspolitik der Chicagoer Schule in den 1970er Jahren und die Gerichtsurteile der Richter der Reagan-Ăra |im Laufe der Jahrzehnte ausgehöhlt|. Sie vertraten |die Ansicht|, dass Eingriffe nur dann erlaubt sein sollten, wenn eine Monopolmacht die Verbraucherpreise in die Höhe treibt. Die geistige Monokultur dieser verbraucherschĂ€dlichen Schwelle hat sich seither weltweit verbreitet.
Das ist auch der Grund, warum die Regierungen einfach tatenlos zusahen, als sich die Technologiekonzerne des 21. Jahrhunderts zum Oligopol aufschwangen. Wenn das einzige Handlungskriterium einer Regulierungsbehörde darin besteht, sicherzustellen, dass die Verbraucher keinen Cent mehr bezahlen, dann fallen die kostenlosen oder datensubventionierten Dienste der Tech-Plattformen kaum ins Gewicht. (NatĂŒrlich zahlen die Verbraucher auf andere Weise, da diese Tech-Giganten ihre persönlichen Daten gewinnbringend verwerten). Dieser Laissez-faire-Ansatz hat es den gröĂten Unternehmen ermöglicht, den Wettbewerb |durch die Ăbernahme von Konkurrenten| und die vertikale Integration von Dienstleistern zu ersticken, was zu den heutigen Problemen gefĂŒhrt hat.
Die Regulierungs- und Durchsetzungsbehörden in Washington und BrĂŒssel sagen nun, dass sie diese Lektion gelernt haben und nicht zulassen werden, dass die sogenannte KĂŒnstlichen Intelligenz (KI) eine Ă€hnliche Dominanz erlangt wie die Konzentration im Internet. Die Vorsitzende der Federal Trade Commission, Lina Khan, und der Kartellrechtsexperte des US-Justizministeriums, |Jonathan Kanter|, |identifizieren EngpĂ€sse| im KI-â|Stack|â â der Konzentration bei der Kontrolle von Verarbeitungschips, DatensĂ€tzen, RechenkapazitĂ€ten, Algorithmus-Innovationen, Vertriebsplattformen und BenutzeroberflĂ€chen. Sie analysieren die EngpĂ€sse, um festzustellen, ob und wie sie den systemischen Wettbewerb beeintrĂ€chtigen. Das sind potenziell gute Nachrichten fĂŒr alle, die verhindern wollen, dass die derzeitige Dominanz der Tech-Giganten auch in der sich abzeichnenden KI-Zukunft fortbesteht.
Als PrĂ€sident Biden im Jahr 2021 die DurchfĂŒhrungsverordnung zum Wettbewerb unterzeichnete, |sagte er|: âKapitalismus ohne Wettbewerb ist kein Kapitalismus, sondern Ausbeutungâ. Bidens WettbewerbshĂŒter Ă€ndern die Art der FĂ€lle, mit denen sie sich befassen, und erweitern die anwendbaren Rechtstheorien ĂŒber den Umfang des Schadens, den sie den Richtern vorlegen. Anstelle des traditionell engen Fokus auf Verbraucherpreise wird in den heutigen FĂ€llen argumentiert, dass der wirtschaftliche Schaden, den marktbeherrschende Unternehmen verursachen, auch den Schaden umfasst, den Arbeitnehmer, kleine Unternehmen und der Markt als Ganzes erleiden.
Khan und Kanter haben verengte und abstruse Modelle des Marktverhaltens zugunsten der realen Erfahrungen von BeschĂ€ftigten im Gesundheitswesen, Landwirten und Schriftstellern ĂŒber Bord geworfen. Sie haben verstanden, dass die Beschneidung wirtschaftlicher Möglichkeiten den Rechtsextremismus schĂŒrt. Bei der Durchsetzung des Kartellrechts und der Wettbewerbspolitik setzen sie explizit auf Zwang versus Wahlmöglichkeiten sowie auf Macht versus Demokratie. Kanter |sagte kĂŒrzlich| auf einer Konferenz in BrĂŒssel, âĂŒbermĂ€Ăige Machtkonzentration ist eine Bedrohung. ⊠Es geht nicht nur um Preise oder Produktion, es geht um Freiheit, UnabhĂ€ngigkeit und Chancenâ.
Die Behörden in Washington und BrĂŒssel haben damit begonnen, prĂ€ventiv zu verhindern, dass Technologieunternehmen ihre Vormachtstellung in einem Bereich nutzen, um einen anderen zu erobern. Nach einer Untersuchung durch die US-Finanzaufsichtsbehörde FTC und die EU-Kommission hat Amazon kĂŒrzlich |seine PlĂ€ne aufgegeben|, den HaushaltsgerĂ€tehersteller iRobot zu ĂŒbernehmen. Die Regulierungsbehörden auf beiden Seiten des Atlantiks haben auch versucht, Apple daran zu hindern, seine Dominanz auf der iPhone-Plattform zu nutzen, um den Wettbewerb in den App-Stores einzuschrĂ€nken und kĂŒnftige MĂ€rkte zu beherrschen, indem sie etwa Automobilherstellern die Nutzung von CarPlay vorschreiben und den Zugang zu ihrer digitalen Zahlungsmethode Tap-to-Pay im Finanzdienstleistungssektor einschrĂ€nken.
Dennoch haben sich |ihre DurchsetzungsmaĂnahmen| bisher auf die fĂŒr die Verbraucher sichtbaren Teile des von den Technologiegiganten betriebenen und proprietĂ€ren Internets konzentriert. Die wenigen, eng gefassten MaĂnahmen der DurchfĂŒhrungsverordnung 2021, die darauf abzielen, infrastrukturbasierte Monopole zu reduzieren, verhindern nur zukĂŒnftigen Missbrauch wie die Aneignung von Funkfrequenzen. Sie verhindern nicht solche, |die bereits etabliert sind|. NatĂŒrlich ist das beste Mittel gegen Monopole, sie von vornherein zu verhindern. Aber wenn die Regulierungs- und Durchsetzungsbehörden die bestehende Dominanz dieser Giganten nicht jetzt beseitigen, werden wir noch Jahrzehnte, vielleicht sogar ein Jahrhundert, mit dem heutigen Infrastrukturmonopol leben mĂŒssen.
Selbst aktivistische Regulierungsbehörden schrecken davor zurĂŒck, hĂ€rteste MaĂnahmen gegen Marktkonzentrationen in alteingesessenen MĂ€rkten zu ergreifen. Dazu gehören Nichtdiskriminierungsauflagen, funktionale InteroperabilitĂ€t und strukturelle Entflechtungen, also die Zerschlagung von Unternehmen. Und zu erklĂ€ren, dass Such- und Social-Media-|Monopole| eigentlich |öffentliche Versorgungsunternehmen| sind â und sie dazu zu zwingen, als gemeinsame, fĂŒr alle offene TrĂ€ger zu agieren â scheint den meisten derzeit noch als zu extrem.
Aber Rewilding einer bereits erbauten Umwelt zu betreiben, bedeutet nicht, sich einfach nur zurĂŒckzulehnen und dabei zuzusehen, welches zarte, lebendige PflĂ€nzchen sich seinen Weg durch den Beton bahnen kann. Stattdessen geht es darum, die Strukturen niederzureiĂen, die all jenen den Zugang zum Licht verwehren, die nicht reich genug sind, um im obersten Stockwerk zu wohnen.
Als der Schriftsteller und Aktivist Cory Doctorow |darĂŒber schrieb|, wie wir uns aus den FĂ€ngen von Big Tech befreien können, sagte er, dass es wahrscheinlich Jahrzehnte dauern wĂŒrde, die groĂen Unternehmen zu zerschlagen. Aber die Schaffung einer starken und verbindlichen InteroperabilitĂ€t wĂŒrde Raum fĂŒr Innovation schaffen und den Geldfluss zu den groĂen Unternehmen verlangsamen â Geld, das diese sonst dazu verwenden wĂŒrden, ihre BurggrĂ€ben zu vertiefen.
Doctorow beschreibt âComcomâ â oder Competitive Compatibility, zu Deutsch: wettbewerbsfĂ€hige KompatibilitĂ€t â als eine Art âGuerilla-InteroperabilitĂ€t, die durch Reverse Engineering, Bots, Scraping und andere erlaubnisfreie Taktiken erreicht wirdâ. Bevor ein Dickicht invasiver Gesetze entstand, um es zu ersticken, war Comcom die Art und Weise, wie die Menschen herausfanden, wie man Autos und Traktoren repariert oder Software umschreibt. Comcom treibt das Verhalten an, das man in einem florierenden Ăkosystem beobachten kann: âMan probiert alles aus, bis es funktioniert.â
Ăkologen haben ihr Fachgebiet als âKrisendisziplinâ neu ausgerichtet â ein Fachgebiet, in dem es nicht nur darum geht, Dinge zu lernen, sondern auch darum, sie zu retten. Wir Technologen mĂŒssen es ihnen gleichtun.
In einem Ăkosystem ist die Artenvielfalt ein anderes Wort fĂŒr âTaktikenvielfaltâ. Denn jede neue erfolgreiche Taktik schafft eine neue Nische, die es zu besetzen gilt. Sei es ein Oktopus, der sich als Seeschlange tarnt, ein Kuckuck, der seine KĂŒken in das Nest eines anderen Vogels schmuggelt, eine Orchidee, deren BlĂŒten einer weiblichen Biene gleichen, oder ein Parasit, der Nagetiere dazu bringt, lebensgefĂ€hrliche Risiken einzugehen â jede evolutionĂ€re Mikro-Nische wird durch eine erfolgreiche Taktik geschaffen. Comcom ist schlicht und einfach taktische Vielfalt: Es geht darum, wie Organismen in komplexen, dynamischen Systemen interagieren. Und der Mensch hat bewiesen, dass er kurzfristig denkt, indem er es den Oligarchen ermöglichte, dieser Vielfalt ein Ende zu setzen.
Nun aber gibt es erste BemĂŒhungen, sich dem entgegenzustellen. Die EU verfĂŒgt bereits ĂŒber mehrjĂ€hrige Erfahrung mit InteroperabilitĂ€tsvorschriften und hat wertvolle Erkenntnisse darĂŒber gewonnen, wie Unternehmen solche Gesetze umgehen. Im Gegensatz dazu stehen die USA noch ganz am Anfang, wenn es darum geht, die Software-InteroperabilitĂ€t, |zum Beispiel bei Videokonferenzen|, zu gewĂ€hrleisten.
Eine Möglichkeit, die Regulierungs- und Durchsetzungsbehörden ĂŒberall zu motivieren und zu ermutigen, besteht vielleicht darin, zu erklĂ€ren, dass die unterirdische Architektur des Internets zu einem Schattenland geworden ist, in dem die Entwicklung fast zum Stillstand gekommen ist. Die BemĂŒhungen der Regulierungsbehörden, das sichtbare Internet wettbewerbsfĂ€hig zu machen, werden wenig bewirken, wenn sie sich nicht auch um die VerwĂŒstungen unter der OberflĂ€che kĂŒmmern.
Vieles von dem, was wir brauchen, ist bereits vorhanden. Abgesehen davon, dass die Regulierungsbehörden viel Mut, Visionen und mutige neue Strategien fĂŒr Rechtsstreitigkeiten benötigen, brauchen wir eine energische und wettbewerbsfördernde Regierungspolitik in den Bereichen Beschaffung, Investitionen und physische Infrastruktur. Die UniversitĂ€ten mĂŒssen |Forschungsgelder von Technologieunternehmen ablehnen|, da diese immer an Bedingungen geknĂŒpft sind, sowohl ausgesprochen |als auch| |unausgesprochen|.
Stattdessen brauchen wir mehr öffentlich finanzierte Technologieforschung mit öffentlich zugĂ€nglichen Ergebnissen. Diese Forschung sollte die Machtkonzentration im Internet-Ăkosystem und praktische Alternativen dazu untersuchen. Wir mĂŒssen anerkennen, dass ein groĂer Teil der Internet-Infrastruktur de facto eine Versorgungseinrichtung (âutilityâ) ist, die wir wieder unter unsere Kontrolle bringen mĂŒssen.
Wir mĂŒssen regulatorische und finanzielle Anreize schaffen und Alternativen unterstĂŒtzen, wie etwa die Verwaltung von Gemeinschaftsressourcen, kommunale Netzwerke und die unzĂ€hligen anderen Mechanismen der Zusammenarbeit unterstĂŒtzen, die die Menschen genutzt haben, um wichtige öffentliche GĂŒter wie StraĂen, Verteidigung und sauberes Wasser bereitzustellen.
All dies erfordert Geld. Den Regierungen fehlen die Steuereinnahmen aus den einmaligen Gewinnen der heutigen Tech-Giganten. Das aber zeigt auch, wo das Geld ist. Wir mĂŒssen es uns zurĂŒckholen.
Wir wissen das alles, aber tun uns trotzdem schwer, gemeinsam zu handeln. Warum?
Es ist nicht einfach, sich Alternativen vorzustellen, weil wir in starren Technologie-Plantagen gefangen sind, statt in funktionierenden, vielfĂ€ltigen Ăkosystemen. Selbst diejenigen, die das Problem klar vor Augen haben, fĂŒhlen sich oft hilflos und allein. Rewilding vereint alles, von dem wir wissen, dass wir es tun mĂŒssen, und bringt einen völlig neuen Werkzeugkasten und eine neue Vision mit sich.
UmweltschĂŒtzer sehen sich mit den gleichen Ausbeutungssystemen konfrontiert und organisieren sich â in groĂem MaĂstab und sektorĂŒbergreifend. Sie |sehen deutlich|, dass die Probleme nicht isoliert sind, sondern Teil derselben Problematik von Befehl und Kontrolle, Ausbeutung und Herrschaft, die der politische Anthropologe Scott zuerst in der wissenschaftlichen Forstwirtschaft erkannt hat. Die Lösungen sind die gleichen in der Ăkologie und in der Technologie: Der Rechtstaat muss aggressiv eingesetzt werden, um ungleiche Kapital- und MachtverhĂ€ltnisse auszugleichen. Und dann mĂŒssen die LĂŒcken mit besseren Lösungen gefĂŒllt werden.
Susan Leigh Star, Soziologin und Theoretikerin fĂŒr Infrastrukturen und Netzwerke, schrieb 1999 in ihrem einflussreichen Essay âThe Ethnography of Infrastructureâ:
âWenn man eine Stadt studiert und ihre Kanalisation und Energieversorgung vernachlĂ€ssig â wie viele es getan haben â, so entgehen einem wesentliche Aspekte von Verteilungsgerechtigkeit und Planungsmacht. Studiert man ein Informationssystem und vernachlĂ€ssigt seine Standards, Leitungen und Einstellungen, dann entgehen einem ebenso wesentliche Aspekte der Ăsthetik, der Gerechtigkeit und des Wandels.â
Die technischen Protokolle und Standards, die der Internet-Infrastruktur zugrundeliegen, werden vordergrĂŒndig in offenen, kollaborativen Standardisierungsorganisationen (SDOs) entwickelt. Sie befinden sich jedoch zunehmend unter der Kontrolle einiger weniger Unternehmen. Die scheinbar âfreiwilligenâ Standards sind oft die GeschĂ€ftsentscheidungen der gröĂten Unternehmen.
Die Dominanz groĂer Unternehmen in den SDOs bestimmt auch, was nicht standardisiert wird â zum Beispiel die Suche, die de facto ein globales Monopol ist. Trotz wiederholter BemĂŒhrungen |innerhalb der SDOs|, die Konsolidierung des Internets direkt anzugehen, wurden kaum Fortschritte erzielt. Dies |schadet der GlaubwĂŒrdigkeit| der SDOs, insbesondere auĂerhalb der USA. Die SDOs mĂŒssen sich radikal Ă€ndern, sonst verlieren sie ihr implizites globales Mandat, die Zukunft des Internets zu gestalten.
Wir brauchen Internet-Standards, die global, offen und generativ sind. Sie sind die Drahtmodelle, die dem Internet seine planetarische Form geben, die hauchdĂŒnnen und zugleich stahlharten FĂ€den, die seine InteroperabilitĂ€t gegen Fragmentierung und permanente Dominanz zusammenhalten.
Im Jahr 2018 |gelang es einer kleinen Gruppe kalifornischer BĂŒrgerinnen und BĂŒrger|, ein kalifornisches Verbraucherdatenschutzgesetz (|California Consumer Privacy Act|) durchzusetzen. Das Gesetz enthielt eine unscheinbare Bestimmung: das Recht, den Verkauf oder die Weitergabe persönlicher Daten ĂŒber ein âbenutzeraktiviertes globales Datenschutzkontrollsignalâ (GPC-Signal) abzulehnen, das eine automatisierte Methode fĂŒr diesen Zweck vorsieht. Das Gesetz legte nicht fest, wie das GPC funktionieren sollte. Da ein technischer Standard erforderlich war, damit Browser, Unternehmen und Anbieter dieselbe Sprache sprechen, wurden die Einzelheiten des Signals an eine Expertengruppe delegiert.
Im Juli 2021 |ordnete der kalifornische Generalstaatsanwalt an|, dass alle Unternehmen die neu geschaffene GPC fĂŒr in Kalifornien ansĂ€ssige Verbraucher verwenden mĂŒssen, die ihre Websites besuchen. Die Expertengruppe |begleitet| nun die technische Spezifikation durch die Entwicklung globaler Webstandards beim World Wide Web Consortium. Der GPC automatisiert die Abfrage, ob Kalifornier dem Verkauf ihrer Daten, zum Beispiel durch Cookie-basiertes Tracking, auf Websites zustimmen oder nicht. Es wird jedoch noch nicht von groĂen Browsern wie Chrome und Safari unterstĂŒtzt. Eine breite Akzeptanz wird einige Zeit in Anspruch nehmen, aber es ist ein kleiner Schritt, um die tatsĂ€chlichen Ergebnisse zu verĂ€ndern, indem Antimonopol-Praktiken tief in die Standards integriert werden â und sie werden |bereits anderswo ĂŒbernommen|.
GPC ist nicht der erste gesetzlich vorgeschriebene offene Standard. Aber er wurde von Anfang an bewusst als BrĂŒcke zwischen Politik und Standardsetzung konzipiert. Diese Idee setzt sich immer mehr durch. Ein |kĂŒrzlich veröffentlichter Bericht| des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen empfiehlt, dass Staaten âregulatorische Funktionen an Standardisierungsorganisationen delegierenâ.
Das heutige Internet bietet nur ein Minimum an Transparenz fĂŒr die wichtigsten Anbieter von Internet-Infrastrukturen. Browser zum Beispiel sind hochkomplexe Teile der Infrastruktur. Sie bestimmen, wie Milliarden von Menschen das Internet nutzen, und werden dennoch kostenlos zur VerfĂŒgung gestellt. Das liegt daran, dass die meistgenutzten Suchmaschinen undurchsichtige finanzielle Vereinbarungen mit den Browser-Herstellern treffen und sie dafĂŒr bezahlen, dass sie als Standard eingestellt werden. Da nur wenige Menschen ihre Standardsuchmaschine wechseln, |verdienen Browser wie Safari und Firefox Geld damit|, dass die Suchleiste standardmĂ€Ăig auf Google eingestellt ist. Damit sichern sie ihre Dominanz, auch wenn |die QualitĂ€t der Suchmaschine abnimmt|.
Dies schafft ein Dilemma. WĂŒrden die KartellwĂ€chter den Wettbewerb erzwingen, verlören die Browser ihre Haupteinnahmequelle. Infrastruktur braucht Geld, aber die globale Natur des Internets stellt unser öffentliches Finanzierungsmodell infrage und lĂ€sst die TĂŒr fĂŒr eine Ăbernahme durch den Privatsektor offen. Wenn wir jedoch das derzeitige undurchsichtige System als das sehen, was es ist, nĂ€mlich eine Art nichtstaatliche Besteuerung, dann können wir eine Alternative entwickeln.
Suchmaschinen sind ein idealer Ort fĂŒr Regierungen, um eine Abgabe zur UnterstĂŒtzung von Browsern und anderen wichtigen Internet-Infrastrukturen zu erheben. Sie könnte auf transparente Weise und unter offener, lĂ€nderĂŒbergreifender und von vielen Interessengruppen getragener Kontrolle finanziert werden.
Wir mĂŒssen aufhören, die Internet-Infrastruktur als etwas zu betrachten, das nur schwer zu reparieren ist. Es ist das zugrundeliegende System, das wir fĂŒr fast alles nutzen, was wir tun. Der ehemalige schwedische Premierminister Carl Bildt und der ehemalige stellvertretende kanadische AuĂenminister Gordon Smith |schrieben| 2016, dass das Internet âdie Infrastruktur aller Infrastrukturenâ wird. Es ist die Art und Weise, wie wir Wissen organisieren, verbinden und aufbauen â vielleicht eines Tages sogar als globale Intelligenz. Im Moment ist dieses Netz jedoch konzentriert, zerbrechlich und manchmal ĂŒberaus toxisch.
Ăkologen haben ihr Fachgebiet als â|Krisendisziplin|â neu ausgerichtet â ein Fachgebiet, in dem es nicht nur darum geht, Dinge zu lernen, sondern auch darum, sie zu retten. Wir Technologen mĂŒssen es ihnen gleichtun. âRewilding the Internetâ verbindet und erweitert die AktivitĂ€ten der Menschen in den Bereichen Regulierung und Standardisierung. Und es eröffnet neue Wege, um die Infrastruktur zu organisieren und aufzubauen. Und nur so können wir eine gemeinsame Geschichte erzĂ€hlen, wohin wir gehen wollen.
Es ist eine gemeinsame Vision mit vielen Strategien. Die Instrumente, die wir brauchen, um die extraktiven technologischen Monokulturen zu ĂŒberwinden, sind bereits vorhanden oder bereit, gebaut zu werden.
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Maria Farrell ist Autorin und Rednerin zum Thema Technologie und Zukunft. Sie hat bei der Internationalen Handelskammer, der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers sowie der Weltbank im Bereich Technologiepolitik gearbeitet.
Robin Berjon ist Experte fĂŒr digitale Governance und hat an zahlreichen Webstandards mitgewirkt, unter anderem an der Global Privacy Control. Er arbeitet an neuartigen Web-Protokollen wie dem InterPlanetary File System und sitzt im Vorstand des World Wide Web Consortium sowie im Technology Advisory Panel des britischen Information Commissionerâs Office.
|Diesen| und weitere englischsprachigen BeitrĂ€ge dieser Art gibt es auf |www.noemamag.com|.Â
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|We Need To Rewild The Internet|
|als âPathologie des Befehlens und des Kontrollierensâ|
|nun in weltumspannenden Datenextraktionsmaschinen|
|fast 85 Prozent des Weltmarktes|
|84 Prozent der weltweiten Internetsuchen|
|stammen von Apple und Samsung|
|auf Software von Google oder Apple|
|vereinen mehr als 50 Prozent des weltweiten Marktes auf sich|
|verwalten fast 90 Prozent des weltweiten Mail-Verkehrs|
|als ââKlimawandelâ des Internet-Ăkosystemsâ bezeichnet hat|
|mit verschiedenen âSpielernâ und âSchichtenâ|
|schrieb in einem Strategiepapier|
|den tief verwurzelten beruflichen Werten der Vereinfachung und Kontrolle|
|so die International Union for Conservation of Nature|
|sich Grundlinien verschieben|
|gehen weltweit um etwa 9 % pro Jahrzehnt zurĂŒck|
|als die gleichen fĂŒnf Websites|
|mit seiner algorithmischen Auswahl|
|stark kontrollierenden EntwĂŒrfen|
|Am 18. Juli 2001 entgleisten|
|in bis zu eineinhalb Kilometern Entfernung|
|wird ein GroĂteil des Datenverkehrs|
|groĂe und attraktive Ziele fĂŒr Angreifer|
|infizierten zehntausende internetfÀhige GerÀte|
|schnellte Fastlys Aktienkurs in die Höhe|
|wie es bei AT&T der Fall war|
|Executive Order on Promoting Competition in the American Economy|
|das US-Kartellrecht geschaffen|
|im Laufe der Jahrzehnte ausgehöhlt|
|durch die Ăbernahme von Konkurrenten|
|ihre DurchsetzungsmaĂnahmen|
|öffentliche Versorgungsunternehmen|
|zum Beispiel bei Videokonferenzen|
|Forschungsgelder von Technologieunternehmen ablehnen|
|schadet der GlaubwĂŒrdigkeit|
|gelang es einer kleinen Gruppe kalifornischer BĂŒrgerinnen und BĂŒrger|
|California Consumer Privacy Act|
|ordnete der kalifornische Generalstaatsanwalt an|
|bereits anderswo ĂŒbernommen|
|kĂŒrzlich veröffentlichter Bericht|
|verdienen Browser wie Safari und Firefox Geld damit|
|die QualitÀt der Suchmaschine abnimmt|
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Tue, 30 Apr 2024 16:03:27 +0000
Gastbeitrag
Der EuGH hat gerade den massenhaften und automatisierten Zugriff auf IP-Adressen genehmigt. Mit dem heutigen Urteil rÀumt das Gericht ein, dass es seine Rechtsprechung Àndern wird, wenn seine Urteile nicht umgesetzt werden. Ein Gastkommentar.
Dies ist ein ĂŒbersetzter |Beitrag der französischen Digital-Rights-Organisation La Quadrature du Net| zum heutigen |Urteil des EuropĂ€ischen Gerichtshofes|, welches die Vorratsdatenspeicherung erheblich ausweitet. GastbeitrĂ€ge geben nicht zwangslĂ€ufig die Haltung der Redaktion wider.
In seinem Urteil vom 30. April 2024 teilte der Gerichtshof der EuropĂ€ischen Union (EuGH) seine EinschĂ€tzung der RechtmĂ€Ăigkeit des massiven Ăberwachungssystems von Hadopi. Das Urteil ist enttĂ€uschend. Der EuGH hat seine bisherige Rechtsprechung erheblich verwĂ€ssert, was sich nicht nur auf den Fall der französischen Behörde Hadopi auswirkt.
Mit diesem neuen Urteil wird der Zugriff auf IP-Adressen nicht mehr standardmĂ€Ăig als schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte angesehen. Infolgedessen lĂ€sst der Gerichtshof die Möglichkeit einer MassenĂŒberwachung des Internets zu.
Der EuGH hat den massenhaften automatisierten Zugriff auf IP-Adressen genehmigt, die mit der bĂŒrgerlichen IdentitĂ€t und dem Inhalt einer Kommunikation verbunden sind. Dieser Zugriff kann zu Bagatellzwecken und ohne vorherige ĂberprĂŒfung durch ein Gericht oder eine unabhĂ€ngige Verwaltungsbehörde erfolgen.
Das Urteil vom 30. April 2024 stellt eine wichtige Wende in der EU-Rechtsprechung dar. Nach einem Jahrzehnt des juristischen Kampfes, in dem sich die europĂ€ischen Regierungen bewusst dafĂŒr entschieden haben, die vielen frĂŒheren EuGH-Urteile zur Vorratsdatenspeicherung nicht zu respektieren und umzusetzen, haben die Polizeien in ganz Europa gerade den Kampf gewonnen. Mit dem heutigen Urteil rĂ€umt der EuGH ein, dass er seine Rechtsprechung irgendwann Ă€ndern wird, wenn seine Urteile nicht umgesetzt werden. Dies ist eine beunruhigende SchwĂ€chung der AutoritĂ€t des Gerichtshofs angesichts des Drucks der Mitgliedstaaten.
WĂ€hrend der EuGH im Jahr 2020 die Auffassung vertrat, dass die Vorratsspeicherung von IP-Adressen einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte darstellte und der Zugriff auf die IP-Adressen zusammen mit der zivilen IdentitĂ€t des Internetnutzers nur zur BekĂ€mpfung schwerer Straftaten oder zum Schutz der nationalen Sicherheit erfolgen durfte, trifft dies nun nicht mehr zu. Der EuGH hat seine Argumentation umgekehrt: Er ist nun der Ansicht, dass die Vorratsspeicherung von IP-Adressen standardmĂ€Ăig keinen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte mehr darstellt und dass ein solcher Zugriff nur in bestimmten FĂ€llen einen schwerwiegenden Eingriff darstellt, der durch geeignete SchutzmaĂnahmen abgesichert werden muss.
Im Hinblick auf unseren Fall und die Besonderheit von Hadopi in Frankreich fordert der Gerichtshof Hadopi lediglich auf, sich etwas weiterzuentwickeln. Er ist der Ansicht, dass in bestimmten âatypischenâ Situationen der Zugriff auf die IP-Adresse und die bĂŒrgerliche IdentitĂ€t im Zusammenhang mit urheberrechtlich geschĂŒtzten Werken einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf PrivatsphĂ€re darstellen kann (zum Beispiel wenn das Material RĂŒckschlĂŒsse auf politische Meinungen, die sexuelle Orientierung usw. zulĂ€sst); er ist auch der Ansicht, dass ein solcher Zugriff im âWiederholungsfallâ einen schwerwiegenden Eingriff darstellt, und verlangt daher, dass der Zugriff auf die IP-Adressen nicht âvollstĂ€ndig automatisiertâ sein darf. In allen anderen FĂ€llen stellt der EuGH jedoch eindeutig fest, dass Hadopi massiv und automatisiert auf die bĂŒrgerlichen IdentitĂ€ten von Personen zugreifen kann.
Mit anderen Worten: Die abgestufte Reaktion (benannt nach dem von Hadopi angewandten Verfahren, das darin besteht, mehrere Warnungen zu verschicken, bevor rechtliche Schritte eingeleitet werden, wenn der Internetnutzer seine Verbindung nicht âsichertâ) wird eine andere Form annehmen mĂŒssen. Der französische Gesetzgeber wird sich einen komplizierten Mechanismus ausdenken mĂŒssen, um eine Art unabhĂ€ngiger externer Kontrolle des Zugriffs auf die bĂŒrgerliche IdentitĂ€t durch Hadopi zu gewĂ€hrleisten. WĂ€hrend Hadopi derzeit nicht verpflichtet ist, sich einer externen Kontrolle zu unterziehen, muss sich die Behörde nun einer solchen unterziehen, wenn sie in diesen âatypischenâ FĂ€llen oder im Falle eines âwiederholten VerstoĂesâ auf die IdentitĂ€t zugreifen will. Mit anderen Worten: Externe Bedienstete von Hadopi werden fĂŒr das Anklicken eines âValidierungsâ-Buttons verantwortlich sein, wĂ€hrend Hadopi heute selbst die Genehmigung erteilt.
Ganz allgemein hat diese Entscheidung des EuGH vor allem das Ende der Online-AnonymitĂ€t bestĂ€tigt. WĂ€hrend der Gerichtshof im Jahr 2020 feststellte, dass ein in der Datenschutzrichtlinie fĂŒr elektronische Kommunikation verankertes Recht auf Online-AnonymitĂ€t existiert, gibt er es jetzt auf. Leider setzt er der Online-AnonymitĂ€t ein faktisches Ende, indem er der Polizei einen umfassenden Zugang zur zivilen IdentitĂ€t, die mit einer IP-Adresse verbunden ist, und zum Inhalt einer Kommunikation gewĂ€hrt.
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|Beitrag der französischen Digital-Rights-Organisation La Quadrature du Net|
|Urteil des EuropÀischen Gerichtshofes|
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Tue, 30 Apr 2024 14:36:14 +0000
Markus Reuter
Der EuropĂ€ische Gerichtshof Ă€ndert seine bisher grundrechtsfreundliche Haltung zur Vorratsdatenspeicherung und erlaubt in einem Urteil die anlasslose Ăberwachung sogar bei Urheberrechtsverletzungen. Grundrechte-Organisationen sind entsetzt und sprechen von einer âWendeâ.
Der EuropĂ€ische Gerichtshof hat |in einem Urteil| die ZulĂ€ssigkeit der Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen erheblich ausgeweitet. Nicht nur sagt das Gericht in seiner |Pressemitteilung|, dass âdie allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von IP-Adressen nicht zwangslĂ€ufig einen schweren Eingriff in die Grundrechteâ darstelle, sondern sieht auch deren Erhebung zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen als rechtmĂ€Ăig an. Geklagt hatten verschiedene Digital-Rights-Organisationen, unter ihnen La Quadrature du Net gegen das französische Anti-Piraterie-System |HADOPI|.
Laut dem Gericht ist eine Vorratsdatenspeicherung zulĂ€ssig, âwenn die nationale Regelung SpeichermodalitĂ€ten vorschreibt, die eine wirksame strikte Trennung der verschiedenen Kategorien personenbezogener Daten gewĂ€hrleisten und es damit ausschlieĂen, dass genaue SchlĂŒsse auf das Privatleben der betreffenden Person gezogen werden können.â
Der EuropĂ€ische Gerichtshof hatte bislang immer |gegen eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung geurteilt|, so zum Beispiel |gegen die deutsche Variante der MassenĂŒberwachung|. Das Gericht hatte in den letzten Jahren wiederholt eine anlasslose Vorratsspeicherung von Verbindungs- und Standortdaten deutlich abgelehnt.
Gleichzeitig hatte er aber in AusnahmefĂ€llen erlaubt, IP-Adressen zu speichern, um schwere KriminalitĂ€t zu bekĂ€mpfen und schwere Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit zu verhĂŒten. Im letzten Jahr hatte sich schon angedeutet, dass es |zu einem anderen Umgang mit der Ăberwachung kommen könne|. Dennoch ist die EnttĂ€uschung bei DatenschĂŒtzer:innen und Grundrechte-Organisationen ĂŒber das Urteil groĂ.
Erik Tuchtfeld, Co-Vorsitzender von D64 |sprach von âGanz schlechten Nachrichtenâ|.  ChloĂ© BerthĂ©lĂ©my vom Dachverband europĂ€ischer Digitalorganisationen sagt: âDas heutige Urteil des EuGH zum französischen Anti-Piraterie-System HADOPI stellt eine traurige Wende in der europĂ€ischen Rechtsprechung zum Schutz des Grundrechts auf PrivatsphĂ€re im Internet dar.â Der Gerichtshof habe beschlossen, âdie bisherige Rechtsprechung zum Zugang zu Daten privater Unternehmen aufzuweichen, um Internetnutzer leichter identifizieren zu können.â In einem breiteren politischen Kontext der zunehmenden UnterdrĂŒckung von Journalistinnen, Menschenrechtsverteidigern und der Zivilgesellschaft in Europa untergrabe dieses Urteil auf gefĂ€hrliche Weise das Recht, online anonym zu bleiben.
La Quadrature du Net nennt das Urteil |in einer ErklĂ€rung| âenttĂ€uschendâ. Der EuGH habe seine bisherige Rechtsprechung erheblich verwĂ€ssert, was sich nicht nur auf den Fall Hadopi auswirke. âMit diesem neuen Urteil wird der Zugriff auf IP-Adressen nicht mehr standardmĂ€Ăig als schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte angesehen. Infolgedessen lĂ€sst der Gerichtshof die Möglichkeit einer MassenĂŒberwachung des Internets zuâ, so die Digitalorganisation aus Frankreich.
Auch La Quadrature stuft das Urteil als âwichtige Wende in der EU-Rechtsprechungâ ein. Der Gerichtshof habe mit dem Urteil den âmassenhaften, automatisierten Zugriff auf IP-Adressen genehmigt, die mit der bĂŒrgerlichen IdentitĂ€t und dem Inhalt einer Kommunikation verbunden sindâ. Dieser Zugriff könne laut dem Gericht sogar zu Bagatellzwecken und ohne vorherige ĂberprĂŒfung durch ein Gericht oder eine unabhĂ€ngige Verwaltungsbehörde erfolgen.
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|gegen eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung geurteilt|
|gegen die deutsche Variante der MassenĂŒberwachung|
|zu einem anderen Umgang mit der Ăberwachung kommen könne|
|sprach von âGanz schlechten Nachrichtenâ|
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Tue, 30 Apr 2024 12:39:24 +0000
Maximilian Henning
Kurz vor der Europawahl wird Meta verdĂ€chtigt, nicht genug gegen Desinformation zu tun. Die EU-Kommission befĂŒrchtet weitere VerstöĂe gegen den Digital Services Act, etwa erschwerten Datenzugang fĂŒr Forscher:innen. Auch die Drosselung politischer Inhalte könnte regelwidrig sein.
Die EU-Kommission hat heute eine Untersuchung zu Facebook und Instagram |eröffnet|. Sie verdĂ€chtigt beide Plattformen, gegen die Regeln des Digitale-Dienste-Gesetzes (Digital Services Act, DSA) zu verstoĂen. Es geht dabei um verschiedene Probleme, unter anderem mit dem Vorgehen gegen Desinformation in Werbung und dem Drosseln von politischen Inhalten.
Die Kommission hatte |schon im Oktober|, nach dem Anfang des Israel-Hamas-Krieges, erste Informationen zum Umgang mit Desinformation angefordert. Auch damals ging es schon darum, wie auf Facebook und Instagram Wahlen geschĂŒtzt werden sollen. âDas hier ist ein Fall, der fĂŒr Monate aufgebaut wurdeâ, sagte heute eine Beamte der Kommission.
Die Untersuchung betrifft vier Bereiche. Erster davon ist, wie sehr Meta die Inhalte von bezahlter Werbung kontrolliert. Hier scheine es keine ausreichende Moderation zu geben, sagte gestern ein Kommissionsbeamter. Neben politischen Inhalten gebe es auch immer mehr Werbung fĂŒr FinanzbetrĂŒgereien.
Auch bei organischen Inhalten, die von normalen Nutzer:innen auf den Plattformen gepostet werden, sieht die Kommission Probleme. Die Regeln zur Moderation seien undurchsichtig und restriktiv. Besonders kritisch sei, dass Meta-Plattformen politische Inhalte allgemein zu drosseln scheine. Davon seien Accounts betroffen, die besonders viel politische Inhalte posten wĂŒrden, so der Kommissionsbeamte.
Bei der Diagnose dieser Probleme stĂŒtzt sich die Kommission auf die Erkenntnisse unabhĂ€ngiger Forscher:innen. Die stehen jetzt aber vor einer neuen HĂŒrde: Meta hatte im MĂ€rz angekĂŒndigt, das viel genutzte CrowdTangle-Tool |im Sommer abschalten zu wollen|. Forscher:innen und Journalist:innen |haben CrowdTangle bisher genutzt|, um Metas Plattformen zu untersuchen. Schon jahrelang hatte Meta nicht mehr in seine Entwicklung investiert. Ein neues Tool namens Meta Content Library soll CrowdTangle ersetzen, wird aber anscheinend nur eingeschrĂ€nkte Funktionen haben.
Der Funktionsumfang der Content Library reicht der EU-Kommission nicht aus. Sie hat Meta deshalb nun fĂŒnf Tage Zeit gegeben, um weitere Informationen zur Abschaltung von CrowdTangle bereitzustellen. Danach will die Kommission ĂŒber mögliche weitere eventuelle MaĂnahmen entscheiden.
Schlussendlich kritisiert die Kommission auch die Meldemöglichkeiten fĂŒr illegale Inhalte auf Facebook und Instagram. Diese könnten eventuell nicht den Vorschriften des DSA entsprechen, weil sie zum Beispiel nicht einfach genug zu erreichen sind.
Insgesamt vermutet die Kommission, dass Facebook und Instagram 13 verschiedene Vorschriften des Digitale-Dienste-Gesetzes verletzt haben könnten. Meta droht dafĂŒr nun eine Strafzahlung von bis zu sechs Prozent des jĂ€hrlichen weltweiten Umsatzes. Im vergangenen Jahr waren das |126 Milliarden Euro|, die Strafe könnte also bis zu 7,5 Milliarden Euro betragen.
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|im Sommer abschalten zu wollen|
|haben CrowdTangle bisher genutzt|
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Tue, 30 Apr 2024 12:10:46 +0000
Tomas Rudl
Die EU brauche strengere Regeln beim Einsatz von Staatstrojanern, fordert die NGO Civil Liberties Union for Europe in einem Bericht zur europĂ€ischen Medienlandschaft. AuĂerdem nehme das Vertrauen in Medien insgesamt ab â auch in Deutschland, wo die Presse verhĂ€ltnismĂ€Ăig viel GlaubwĂŒrdigkeit genieĂt.
Die EU-LĂ€nder mĂŒssten den Einsatz von Staatstrojanern nur auf ïżœïżœauĂergewöhnlichste UmstĂ€ndeâ einschrĂ€nken und zudem Journalist:innen ausdrĂŒcklich ausnehmen, fordert die Nichtregierungsorganisation |Civil Liberties Union for Europe in ihrem aktuellen Bericht zur Medienfreiheit in Europa|. Generell mĂŒsste SpĂ€hsoftware âstrikt reguliertâ werden, damit es nicht weiter zu Verletzungen von Grundrechten kommt.
Das Hacken von IT-GerĂ€ten mit Spionagewerkzeugen wie Pegasus und Predator sei weiterhin ein Problem in der EU, schreibt die |NGO in ihrem Bericht|. Im Jahr 2023 seien Journalist:innen in Deutschland, Griechenland, den Niederlanden und Polen Ziel von Angriffen gewesen. Auch habe der |Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments zu Pegasus| im Vorjahr festgestellt, dass unter dem Vorwand ânationaler Sicherheitâ Journalist:innen ĂŒberwacht worden waren, unter anderem in Polen, Ungarn und Griechenland. Konsequenzen sind daraus jedoch |bis heute nicht erwachsen|.
Mit dem Einsatz von SpĂ€hsoftware in den LĂ€ndern seien fundamentale Grundrechte verletzt und die Demokratie gefĂ€hrdet worden, so der Bericht. In Griechenland, verweist die NGO auf die Untersuchung des EU-Parlaments, seien damit nicht nur Journalist:innen, Politiker:innen und GeschĂ€ftsleute ĂŒberwacht worden. Das Land habe die Spionagesoftware Predator zudem in Staaten mit einer schlechten Menschenrechtsbilanz exportiert. Zugleich hĂ€tte etwa Grigoris Dimitriadis, inzwischen zurĂŒckgetretener GeneralsekretĂ€r des griechischen MinisterprĂ€sidenten Kyriakos Mitsotakis, zahlreiche |Journalist:innen mit sogenannten SLAPP-Klagen ĂŒberzogen|, die ĂŒber seine Beziehungen zu der Spyware-Firma berichtet hatten.
Als SLAPP-Klage gilt ein rechtsmissbrĂ€uchliches Vorgehen, mit dem Kritiker:innen zum Schweigen gebracht werden sollen. Zu solchen strategischen Klagen gegen Journalist:innen sei es hĂ€ufig in LĂ€ndern wie Kroatien, Griechenland, Italien, den Niederlanden und Schweden gekommen, schreibt die NGO. Dagegen hat die EU im vergangenen Jahr eine eigene Richtlinie auf den Weg gebracht, endgĂŒltig |verabschiedet wurde sie diesen MĂ€rz|.
Gemeinsam mit dem |ebenfalls neuen Medienfreiheitsgesetz|, dem European Media Freedom Act (EMFA), seien nun zwei Gesetze in Kraft, die Journalist:innen insgesamt besser schĂŒtzen sollten â allerdings mit dem Wermutstropfen, dass der Einsatz von SpĂ€hwerkzeugen gegen Journalist:innen nicht restlos europaweit verboten wurde. Beide Gesetze und ihre nationale Umsetzung mĂŒssten nun von der EU-Kommission eng begleitet und ĂŒberwacht werden, fordert die NGO.
Ăhnliches gelte fĂŒr den Digital Services Act (DSA), der erst |kĂŒrzlich vollstĂ€ndig in Kraft| getreten ist. Hierbei mĂŒsste die EU-Kommission gemeinsam mit den europĂ€ischen Regulierungsbehörden sicherstellen, dass insbesondere die sehr groĂen Online-Dienste wie Google oder Facebook die Vorgaben umsetzen. Wie beim DSA wĂ€re es wĂŒnschenswert, Daten ĂŒber die Entfernung oder Sperrung von Inhalten im Rahmen des EMFA strukturiert zu veröffentlichen. Dies wĂŒrde Journalist:innen und der Zivilgesellschaft dabei helfen, die Methoden verschiedener Online-Dienste sowie die Rolle, die die Regulierer und die Kommission bei diesem Ansatz spielen, zu analysieren und zu vergleichen.
Insgesamt sei in vielen EU-LĂ€ndern eine hohe Medienkonzentration feststellbar, selbst in LĂ€ndern, in denen die Freiheit der Presse hochgehalten und von den jeweiligen Regierungen und Parteien geachtet werde. Besonders hoch falle die Konzentration in Kroatien, Frankreich, Ungarn, den Niederlanden, Polen, Slowakei und Slowenien aus. Dort wĂŒrde die Mehrheit der MedienhĂ€user von einer Handvoll Individuen kontrolliert, was die DiversitĂ€t der Berichterstattung gefĂ€hrde und zu einer verzerrten Berichterstattung fĂŒhren könne.
In Deutschland hĂ€tte hingegen eine WDR-Studie ergeben, dass die Berichterstattung |mehrheitlich als glaubwĂŒrdig wahrgenommen| werde. Obwohl es sich um vergleichsweise hohe Werte handle, habe im Zuge der Corona-Pandemie das Vertrauen in die Medien dennoch abgenommen. Hierbei lasse sich jedoch ein Riss zwischen Ost und West feststellen. So sei eine |Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung |zum Schluss gekommen, dass das Vertrauen in öffentlich-rechtliche Medien in Ostdeutschland bei 58 Prozent liege, im Westen jedoch bei 73 Prozent. Auch sei es wiederholt zu Attacken gegenĂŒber Journalist:innen gekommen, meist in rechtsextremen, verschwörungsideologischen und antisemitischen Kontexten.
Beim Zugang zu Informationen lege der Presse jedoch auch die Regierung Steine in den Weg, kritisiert die NGO. Anders als im |Koalitionsvertrag der Ampelkoalition| versprochen, sei etwa bis heute |kein presserechtlicher Auskunftsanspruch gesetzlich verankert|. Zudem gebe es weiterhin groĂe Unterschiede bei Informationsfreiheit- und Transparenzgesetzen der BundeslĂ€nder, bemĂ€kelt Civil Liberties Union for Europe. Auch in BundeslĂ€ndern wie Sachsen, die solche Gesetze erlassen haben, gebe es |breite Ausnahmen, um AuskĂŒnfte zu verweigern|, beklagt die NGO â und erst recht in BundeslĂ€ndern wie Bayern oder Niedersachsen, die solche Gesetze bis heute vermissen lassen.
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Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstĂŒtze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus |jetzt mit einer Spende|.
|Civil Liberties Union for Europe in ihrem aktuellen Bericht zur Medienfreiheit in Europa|
|Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments zu Pegasus|
|Journalist:innen mit sogenannten SLAPP-Klagen ĂŒberzogen|
|verabschiedet wurde sie diesen MĂ€rz|
|ebenfalls neuen Medienfreiheitsgesetz|
|kĂŒrzlich vollstĂ€ndig in Kraft|
|mehrheitlich als glaubwĂŒrdig wahrgenommen|
|Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung |
|Koalitionsvertrag der Ampelkoalition|
|kein presserechtlicher Auskunftsanspruch gesetzlich verankert|
|breite Ausnahmen, um AuskĂŒnfte zu verweigern|
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Tue, 30 Apr 2024 07:01:30 +0000
Markus Reuter
Immer wieder geraten Menschen oder Organisationen, die ethisch verantwortungsvoll SicherheitslĂŒcken aufdecken, in den Fokus von strafrechtlichen Ermittlungen. Dieses Mal hat es Ăsterreichs bekannteste Datenschutz-NGO epicenter.works erwischt. Die Ermittlungen wurden erst nach zwei Jahren eingestellt.
Da staunte Thomas Lohninger von epicenter.works nicht schlecht, als er im Dezember 2022 erfuhr, dass die Staatsanwaltschaft mit ErmĂ€chtigung des österreichischen Gesundheitsministers seit einem Jahr gegen ihn wegen angeblichen Hackings ermittelte. Die Datenschutz-NGO hatte zusammen mit der österreichischen Tageszeitung âDer Standardâ eine SicherheitslĂŒcke im Epidemiologischen Meldesystems aufgedeckt und diese vor |Veröffentlichung| nach den Prinzipien des |responsible disclosure| dem Gesundheitsministerium mitgeteilt, damit dieses sie schlieĂen konnte.
Die gemeinsame Recherche hatte ein |schwerwiegendes Sicherheitsproblem in Ăsterreichs zentralem Meldesystem fĂŒr Corona-Daten| festgestellt: Demnach wĂ€re es fĂŒr Unbefugte möglich gewesen, personenbezogene Daten abzufragen und falsche Laborergebnisse einzuspielen. Der Zugriff auf die Schnittstelle zum Epidemiologischen Meldesystem (EMS) war durch ein nicht-personalisiertes Zertifikat möglich. Wer ein solches Zertifikat hatte, konnte auf das System zugreifen. Insgesamt waren laut der Recherche mehr als 225 solcher Zertifikate im Umlauf, mindestens eines davon lief auf eine Labor-Firma, die schon seit mehreren Monaten nicht mehr dazu berechtigt hĂ€tte sein sollen. Es gab keine Bindung auf IP-Adressen von Laboren, welche den Zugriff begrenzt hĂ€tte.
Nachdem Standard und epicenter.works sich beim von den GrĂŒnen gefĂŒhrten Gesundheitsministerium gemeldet hatten, schloss dieses die LĂŒcke vor Veröffentlichung der Berichte am 16. Dezember. Eine Woche spĂ€ter stellten nach Angabe von epicenter.works jedoch zwei hochrangige Beamte aus dem Gesundheitsministerium Anzeige wegen § 118a StGB (Widerrechtlicher Zugriff auf ein Computersystem) und ermĂ€chtigten so die Strafverfolgung gegen die NGO im Namen des damaligen Ministers. Das Delikt kann bei einer Verurteilung mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden.
Erst ein Jahr spĂ€ter erfĂ€hrt die Datenschutzorganisation, dass gegen sie ermittelt wird. Sie wendet sich an den Nachfolger des Gesundheitsministers, beschwert sich per |Brief (PDF)|, fordert die RĂŒcknahme der ErmĂ€chtigung â und erhĂ€lt keine Antwort. Erst ein gutes Jahr spĂ€ter, Mitte Februar 2024, wird das Verfahren dann endlich eingestellt. Es dauerte unter anderem so lange, weil das Verfahren mit einem weiteren juristischen Verfahren gegen den Verursacher der SicherheitslĂŒcke verknĂŒpft war und deswegen jeder Schritt berichtspflichtig war.
Lohninger hĂ€lt eine politische Motivation der Anzeige nicht fĂŒr ausgeschlossen. Der Verein habe in der Covid-Pandemie |eine Vielzahl an SicherheitslĂŒcken und Datenschutzproblemen| im Gesundheitsbereich aufgezeigt. âWir fragen uns, ob die Anzeige gegen uns damit zu tun hatâ, so Lohninger gegenĂŒber netzpolitik.org.
Der Vorstand der Datenschutz-NGO weiter:
Es ist alarmierend, dass ĂŒber zwei Jahre gegen uns als Datenschutzorganisation ermittelt wird, obwohl wir nur unseren Job als Public Watchdog gemacht haben. Anstatt uns um den Schutz der Daten der Bevölkerung zu kĂŒmmern und wie bisher SicherheitslĂŒcken den Verantwortlichen zu melden, waren auch wir mit der Strafverfolgung gegen uns abgelenkt.
Im Gesundheitsministerium wehrt man sich gegen diesen Vorwurf. Eine Sprecherin sagt gegenĂŒber netzpolitik.org, dass das Ministerium zur Anzeige verpflichtet gewesen sei, deswegen habe es die ErmĂ€chtigung auch nicht spĂ€ter zurĂŒcknehmen können. âSelbstverstĂ€ndlich gab es kein Motiv, die Arbeit von epicenter.works zu behindernâ, so die Sprecherin weiter. âKontrolle ist wichtig in unserer Demokratie. Das gilt vor allem, wenn es um den Schutz von Gesundheitsdaten geht. NGOs wie epicenter.works leisten mit ihrer Arbeit hierfĂŒr einen wichtigen Beitrag.â
Die warmen Worte helfen der Datenschutzorganisation im Nachhinein nur wenig, ihr sind im Verfahren fĂŒr interne Bearbeitung und juristische Beratung fast 15.000 Euro Kosten entstanden, von denen die Anwaltskosten immerhin von der Rechtsschutzversicherung ĂŒbernommen wurden.
Doch auch politisch ist der Fall ein Problem. Epicenter spricht von einer âabschreckenden Wirkungâ auf alle Sicherheitsforscher:innen und NGOs, die Ă€hnliche SicherheitslĂŒcken den Verantwortlichen aus Angst vor Strafverfolgung vermutlich nicht mehr melden werden. âMoralisch richtiges Handeln wird nach derzeitiger Rechtslage bestraft, was uns alle unsicherer machtâ, sagt Lohninger.
Die BĂŒrgerrechtsorganisation fordert nicht erst seit dem Verfahren gegen sich selbst, im Hackerparagrafen âeine explizite gesetzliche Ausnahme fĂŒr den verantwortlichen Umgang mit SicherheitslĂŒcken zu schaffenâ, die dann unter gewissen Voraussetzungen immer straffrei bleiben soll. In einem |Hintergrundpapier (PDF)| hat sie die GrĂŒnde dafĂŒr dargelegt.
Offenlegung:
Thomas Lohninger hat in der Vergangenheit Artikel bei netzpolitik.org geschrieben.
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|eine Vielzahl an SicherheitslĂŒcken und Datenschutzproblemen|
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Skriptlauf: 2024-05-10T16:32:03