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Der autonom fahrende Kinderwagen — Nein, einfach nur Nein!

Ich bin zwar Atheist, habe aber sonst in vielen Dingen einen durchaus naiven Glauben. Ich glaube zum Beispiel daran, dass es die Menschheit schaffen kann, technischen Fortschritt zu ihrem Wohlergehen einzusetzen und auch die drängendsten Herausforderungen unserer Zeit, wie den Klimawandel, zu meistern. Heute auf dem Weg nach Hause sah ich im Bus am Infoscreen einen Bericht, der meinen Glauben wieder einmal auf eine harte Probe stellte und aufs Schärfste herabwürdigte.

Es wurde ein Beitrag über ein neues innovatives Produkt gezeigt: Ein autonom mit Elektroantrieb fahrender Kinderwagen. Am Video war zu sehen, wie der Kinderwagen dne Gehsteig entlang fuhr, vor einem fröhlicher Elternteil der gemütlich hinterher spazierte. Was für ein Irrsinn.

Zugegeben, letzteres Urteil mag nicht allen Leserys sofort in den Sinn kommen. Ich komme zu Diesem, weil ich als Vater von drei Kindern schon einige Erfahrungen gemacht habe, auch mit Kinderwägen. Hier sind einmal die wichtigsten Argumente, wieso "Irrsinn" genau die richtige Beschreibung, wenn nicht sogar noch noch eine Untertreibung ist.

Der Preis

Laut dem Bericht würde der Kinderwagen 4000 Euro kosten. Ich recherchierte ein wenig nach und fand eine weitere Quelle zu einem autonomen Kinderwagen [1] (keine Ahnung ob es sich um das gleiche Produkt handelt), wo von 3000 Euro die Rede war, und nebenbei, dass man es für eine Anzahlung von 140 Euro vorbestellen könne. Nun gibt es da natürlich eine gewisse Bandbreite, aber generell kann man sagen, dass bei Jungfamilien das Haushaltseinkommen nur endlich groß ist und der finanzielle Spielraum für solche Spielereien entsprechend klein. Kurz gesagt, ein vierstelliger Eurobetrag ist zu hoch für die anvisierte Zielgruppe, das Produkt somit allein schon aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt. Aber gut, ich will ja nicht nachsagen lassen, dass ich nur ein alter Nörgler bin, der veraltete Ansichten hat und die Genialität dieser Idee einfach nicht erkennen kann. Deshalb belasse ich es nicht bei diesem Punkt sondern bringe noch ein paar Totschlagargumente.

Zuvor aber an dieser Stelle ein Tipp an werdende Eltern: Gebt nicht so viel Geld für einen Kinderwagen aus, egal ob autonom fahren oder schiebend. Jedes Baby hat seine eigenen Bedürfnisse und viele mögen, gerade am Anfang, gar nicht gerne im Wagen liegen sondern lieber getragen werden. Tragetücher und -Hilfen sind da eine tolle Alternative (gerade auch für Väter) und unter Umständen anfangs völlig ausreichend. Ansonsten sind gebrauchte Kinderwägen einfach zu finden und ebenso gut, aber viel günstiger.

Der Nutzen

Im Artikel steht auch geschrieben, dass der autonome Kinderwagen einen "Innovationspreis" auf der CES erhalten hat. Wofür denn das, bitte? Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass einem innovative Erfindungen das Leben erleichtern und Arbeit abnehmen sollten. Bei einigen autonomen Geräten ist das zweifellos der Fall, Staubsaugerroboter sind zum Beispiel ein wahrer Segen.

Bei diesem autonomen Kinderwagen ist das glatte Gegenteil der Fall. Er nimmt einem keine nennenswerte Arbeit ab, einen Kinderwagen zu schieben ist schließlich nicht übermäßig anstrengend. Am Anstrengensten ist noch das Überwinden von Gehsteigkanten und Rampen, und da bezweifle ich stark, dass der autonome Buggy da überhaupt eine Hilfe ist. Dieser Kinderwagen nimmt uns also nichts ab, dafür aber einiges weg: Kontrolle und Sicherheit.

Ich habe schon einige Kinderwägen geschoben. Die Vorstellung, die Hände vom Griff los und den Wagen selbst fahren zu lassen ist für mich komplett hirnrissig. Die Haptik des Griffs fehlt und somit wesentliche Informationen: Wie ist die Fahrbahn beschaffen, wie holprig ist der Untergrund, passt die Geschwindigkeit dazu? Kleine Dinge, die wesentlich für das Wohlbefinden und Wohlergehen des Babys sind, sind mit einem Mal außerhalb der eigenen Kontrolle und in den Händen einer hochkomplexen Software.

Darauf zu vertrauen, dass die Software alles richtig macht, wäre völlig naiv und fahrlässig. Damit ist es viel stressiger einem autonom fahrenden Kinderwagen hinterher zu gehen als ihn selbst zu schieben.

Die Moral

Moralische Abhandlungen über die praktischen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz sind umfangreich und komplex. Ich kann hier nur an der Oberfläche Streifen, aber ein paar Vergleiche kann ich hier ziehen.

Es machten schon viele Berichte die Runde über Unfälle im Zusammenhang mit dem "Autopilot" vom Tesla. Abgesehen von der Debatte um die Mitverantwortung von Tesla kann man hier zumindest die Eigenverantwortung des Fahrers nennen, der seine Sicherheit freiwillig aus den Händen gegeben hat. Beim Kinderwagen hingegen ist auch eine Person involviert, die noch keine Entscheidung treffen kann und auf die Obhut der Obsorgeberechtigten angewiesen ist. Dieses Vertrauen für eine technische Spielerei mit hohem Risiko zu missbrauchen ist auf gut deutsch unter aller Sau.

Auch im Großen ergibt sich ein Bild von moralischem Fehlverhalten auf höchster Ebene. Es entsteht der Eindruck, dass nun auch die Jüngsten als Versuchskaninchen für das Testen von autonom fahrenden Algorithmen herhalten müssen.

Schlussendlich wird das ganze auch gesellschaftspolitisch: Wieso müssen (sicherlich gute) Ingenieure und Entwickler ihr Talent für so einen Schwachsinn vergeuden? Gibt es keine wichtigeren Aufgaben, wo sie sich einbringen können? Die Antwort ist leider: Ja, die gibt es, aber so lange unser System erfordert, dass alles verrechnet und bezahlt wird, und irgendwelche windigen Investoren bereit sind für diesen Unfug Geld herbei zu schaffen, müssen wir uns mit dieser unwürdigen Situation herumschlagen.

Fußnoten

[1] CES 2023 Autonomer Kinderwägen gewinnt Innovation Award

Ich freue mich über Rückmeldungen und Kommentare via e-mail:

300nm@derschwarzestrahler.at

CC BY-SA 4.0 Martin Marot-Perz, 2023-01-19

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