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Title: Are Prisons Obsolete?
Author: Angela Davis
Language: en
Topics: prison, feminism, social sciences
Notes: Translated by Bonny and Read!

Angela Davis

Are Prisons Obsolete?

Are Prisons Obsolete?

Are Prisons Obsolete?

18. Januar 2022

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur deutschen Übersetzung

1

Einleitung: Reform oder Abschaffung?

2

Sklaverei und BĂŒrgerrechte

3

Strafvollzug und Reform

4

Geschlecht im GefÀngnissystem

5

Der industrielle GefÀngniskomplex

6

Mögliche Abschaffung

Vorwort zur deutschen Übersetzung

Angela Y. Davis veröffentlichte 2003 das Buch „Are Prisons obselete?“.

Seitdem wurde es in viele Sprachen ĂŒbersetzt, bisher haben wir aber noch

keine deutschsprachige Version gefunden. Deshalb haben wir das jetzt

eben selbst gemacht. Das heißt aber auch, dass wir uns zwar MĂŒhe gegeben

haben, aber keine Garantie geben können das keine Fehler drin sind,

insbesondere da viele Rassismus-bezogene Worte, sich nicht einfach

wörtlich aus dem Englischen ĂŒbersetzen lassen. Außerdem haben alle

Mitwirkende an dieser Übersetzung weiße Privilegien. Wenn euch beim

Lesen Formulierungen auffallen, die verletzend, falsch sind oder

Diskriminierung reproduzieren, dann sind wir froh ĂŒber RĂŒckmeldung (

Kontakt: angrybooks@riseup.net)

Bereits im Englischen ist das Buch von einem binÀren/ cisgender

Geschlechter-VerhÀltnis geprÀgt, im deutschen ist es sicherlich nicht

besser geworden. Wenn Menschen sich mehr mit trans-Themen und Knast

beschĂ€ftigen wollen/mĂŒssen, dann hier ein Tipp: Captive Genders - Trans

Embodiement and the Industrial Prison Complex, von Eric A. Stanley & Nat

Smith, AK Press (hat wer Zeit und Bock das zu ĂŒbersetzen?)

Und irgentwie sind wĂ€hrend des Übersetzens die Fußnoten verloren

gegangen. Ups. Aber im Internet finden sich zahlreiche pdf-versionen des

englischen Originals, also wenn ihr die Quellen nachlesen wollt, findet

ihr sie dort.... Falls ihr die Übersetzung verbessern wollt, schreibt

uns gerne, dann schicken wir euch die Schreibdatei! Ansonsten: Bis es

keine KnĂ€ste mehr gibt – schreibt Briefe an Gefangene!

ACAB

Kapitel 1 Einleitung: Reform oder Abschaffung des GefÀngnisses?

In den meisten Teilen der Welt gilt es als selbstverstÀndlich, dass

jeder, der wegen eines schweren Verbrechens verurteilt wird ins

GefÀngnis geschickt wird. In einigen LÀndern - auch in den Vereinigten

Staaten - in denen die Todesstrafe noch nicht abgeschafft wurde, wird

eine kleine, aber bedeutende Anzahl von Menschen die als besonders

schwere Verbrecher_innen gelten zum Tode verurteilt.

Viele Menschen sind mit der Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe

vertraut und tatsÀchlich ist die Todesstrafe in den meisten LÀndern

bereits abgeschafft worden. Selbst BefĂŒrworter_innen der Todesstrafe

rÀumen ein, dass die Todesstrafe ernsthafte Problematiken mit sich

bringt. Nur wenigen Menschen fÀllt es schwer, sich ein Leben ohne die

Todesstrafe vorzustellen.

Das GefÀngnis hingegen wird als unvermeidlicher und dauerhafter

Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens akzeptiert. Die meisten

Menschen sind ziemlich ĂŒberrascht, wenn sie hören, dass die Bewegung zur

Abschaffung des GefÀngnisses ebenfalls eine lange Geschichte hat. Eine

Geschichte, die bis zum historischen Auftreten des GefÀngnisses als

Hauptform der Bestrafung zurĂŒckreicht. TatsĂ€chlich ist die natĂŒrlichste

Reaktion, anzunehmen, dass GefÀngnisaktivisten - selbst diejenigen, die

sich sich bewusst als „Anti-GefĂ€ngnis-Aktivisten“ bezeichnen - einfach

versuchen, die Haftbedingungen zu verbessern oder vielleicht das

GefÀngnis in grundlegenderer Weise zu reformieren.

In den meisten Kreisen ist die Abschaffung der GefÀngnisse schlichtweg

undenkbar und unplausibel. GefÀngnisabschaffer_innen werden als

Utopist_innen und Idealist_innen abgetan, deren Ideen bestenfalls

unrealistisch und undurchfĂŒhrbar sind; schlimmstenfalls mystifizierend

und töricht. Dies zeigt, wie schwierig es ist, sich eine

Gesellschaftsordnung vorzustellen, die nicht auf der Drohung beruht,

Menschen in schrecklichen Maßnahmen einzusperren, um sie von ihren

Gemeinschaften und Familien zu trennen. Das GefÀngnis wird als so

„natĂŒrlich “ angesehen, dass man sich ein Leben ohne es nur schwer

vorstellen kann.

Ich hoffe, dass dieses Buch die Leser_innen dazu anregt, ihre eigenen

Annahmen ĂŒber das GefĂ€ngnis zu hinterfragen.

Viele Menschen sind bereits zu dem Schluss gekommen, dass die

Todesstrafe eine altmodische Form der Bestrafung ist, die gegen

grundlegende Prinzipien der Menschenrechte verstĂ¶ĂŸt. Ich glaube, es ist

an der Zeit, Ă€hnliche GesprĂ€che ĂŒber das GefĂ€ngnis zu fĂŒhren. WĂ€hrend

meiner eigenen Karriere als Anti-GefÀngnis-Aktivistin habe ich gesehen,

wie die Zahl der GefÀngnisse in den USA so schnell anstieg, dass viele

Menschen in schwarzen, lateinamerikanischen und indianischen Gemeinden

nun eine weitaus grĂ¶ĂŸere Chance haben, ins GefĂ€ngnis zu kommen, als eine

anstÀndige Ausbildung zu bekommen. Wenn viele junge Menschen

beschließen, zum MilitĂ€r zu gehen um den unvermeidlichen

GefÀngnisaufenthalt zu vermeiden, sollten wir uns fragen, ob wir nicht

versuchen sollten, bessere Alternativen einzufĂŒhren.

Die Frage, ob das GefĂ€ngnis eine ĂŒberholte Institution ist, wird

besonders dringend angesichts der Tatsache, dass mehr als zwei Millionen

Menschen (von insgesamt neun Millionen weltweit) in GefÀngnissen,

Jugendeinrichtungen und Haftanstalten fĂŒr Einwander_innen der USA leben.

Sind wir bereit, eine immer grĂ¶ĂŸere Anzahl von Menschen aus rassisch

unterdrĂŒckten Gemeinschaften in eine isolierte Existenz zu zwingen, die

von autoritÀren Regimen, Gewalt, Krankheiten und Technologien der

Abschottung geprÀgt ist, die zu schwerer psychischer InstabilitÀt

fĂŒhren? Einer aktuellen Studie zufolge gibt es möglicherweise doppelt so

viele psychisch kranke Menschen in GefÀngnissen wie in allen

psychiatrischen Kliniken der Vereinigten Staaten zusammen.

Als ich mich in den spÀten 1960er Jahren zum ersten Mal in der

Anti-GefÀngnis-Bewegung engagierte, war ich erstaunt zu erfahren dass

damals fast zweihunderttausend Menschen im GefĂ€ngnis saßen. HĂ€tte mir

jemand gesagt, dass in drei Jahrzehnten zehnmal so viele Menschen in

KĂ€figen eingesperrt sein wĂŒrden, wĂ€re ich absolut unglĂ€ubig gewesen. Ich

stelle mir vor, dass ich in etwa so geantwortet hĂ€tte: „So rassistisch

und undemokratisch dieses Land auch sein mag [zur damaligen Zeit waren

die Forderungen der BĂŒrgerrechtsbewegung noch nicht gefestigt], glaube

ich nicht, dass die US-Regierung in der Lage sein wird, so viele

Menschen einzusperren, ohne dass es zu einem starken öffentlichen

Widerstand kommt. Nein, das wird nie passieren, es sei denn, dieses Land

stĂŒrzt in den Faschismus. “Vor dreißig Jahren wĂ€re das vielleicht meine

Reaktion gewesen.

Die RealitÀt ist, dass wir aufgerufen waren, das einundzwanzigste

Jahrhundert zu beginnen, indem wir die Tatsache akzeptieren, dass zwei

Millionen Menschen - mehr als die Bevölkerung vieler LÀnder - ihr Leben

an Orten wie Sing Sing, Leavenworth, San Quentin und Alderson Federal

Reformatory fĂŒr Frauen verbringen. Die Schwere dieser Zahlen wird noch

deutlicher, wenn wir bedenken, dass die US-Bevölkerung im Allgemeinen

weniger als fĂŒnf Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, wĂ€hrend mehr als

zwanzig Prozent der gesamten GefÀngnispopulation der Welt auf die

Vereinigten Staaten entfallen. In den Worten von Elliott Currie: „Das

GefĂ€ngnis ist in unserer Gesellschaft in einem Ausmaß prĂ€sent wie es in

unserer Geschichte oder in der Geschichte einer anderen industriellen

Demokratie noch nie vorgekommen ist. Abgesehen von großen Kriegen ist

die Masseneinkerkerung das am grĂŒndlichsten umgesetzte staatliche

Sozialprogramm unserer Zeit.“

Wenn wir ĂŒber die mögliche ÜberflĂŒssigkeit des GefĂ€ngnisses nachdenken,

sollten wir uns fragen, wie es sein kann, dass so viele Menschen im

GefĂ€ngnis landen konnten, ohne dass es zu grĂ¶ĂŸeren Debatten ĂŒber die

Wirksamkeit der Inhaftierung kam. In den 1980er Jahren, wÀhrend der

sogenannten Reagan-Ära, argumentierten Politiker, dass nur „harte

VerbrechensbekĂ€mpfung“ - einschließlich steigender Inhaftierungen und

lĂ€ngerer Haftstrafen - die Gemeinden von KriminalitĂ€t befreien wĂŒrde.

Die massenhafte Inhaftierung wÀhrend dieser Zeit hatte jedoch nur

geringe oder gar keine Auswirkungen auf die offiziellen

KriminalitÀtsraten. TatsÀchlich war das offensichtlichste Muster, dass

grĂ¶ĂŸere GefĂ€ngnispopulationen nicht zu sichereren Gemeinden, sondern

vielmehr zu noch grĂ¶ĂŸeren GefĂ€ngnispopulationen fĂŒhrte. Jedes neue

GefÀngnis erzeugte ein weiteres neues GefÀngnis. Und mit der Ausweitung

des US-GefÀngnissystems wuchs auch die Beteiligung von Unternehmen durch

den Bau, die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen und den

Einsatz von ArbeitskrĂ€ften. Aufgrund des Ausmaßes, in dem der Bau und

Betrieb von GefĂ€ngnissen große Mengen an Kapital anzog - von der

Bauindustrie bis hin zur Bereitstellung von Lebensmitteln und

medizinischer Versorgung - und das in einer Weise, die an die Entstehung

des militÀrisch-industriellen Komplexes erinnerte, begannen wir, von

einem „industriellen GefĂ€ngniskomplex“ zu sprechen.

Nehmen wir den Fall Kalifornien, dessen Landschaft in den letzten

zwanzig Jahren durch und durch von GefÀngnissen geprÀgt wurde. Das erste

StaatsgefÀngnis in Kalifornien war San Quentin, das 1852 eröffnet wurde.

Folsom, eine weitere bekannte Einrichtung, wurde 1880 eröffnet. Zwischen

1880 und 1933, als in Tehachapi eine Einrichtung fĂŒr Frauen eröffnet

wurde, wurde kein einziges neues GefÀngnis gebaut. Im Jahr 1952 wurde

die California Institution fĂŒr Frauen eröffnet und Tehachapi wurde zu

einem neuen GefĂ€ngnis fĂŒr MĂ€nner. Insgesamt wurden zwischen 1852 und

1955 neun GefÀngnisse in Kalifornien gebaut. Zwischen 1962 und 1965

wurden zwei Lager und das California Rehabilitation Center errichtet. In

der zweiten HÀlfte der sechziger Jahre wurde kein einziges GefÀngnis

eröffnet und auch nicht wÀhrend des gesamten Jahrzehnts der 1970er

Jahre.

In den 1980er Jahren - also wÀhrend der PrÀsidentschaft von Reagan -

wurde dann ein massives Projekt zum Bau von GefÀngnissen in Angriff

genommen. Neun GefÀngnisse, darunter die Northern California Facility

fĂŒr Frauen, wurden zwischen 1984 und 1989 eröffnet. Zur Erinnerung: Es

hatte mehr als hundert Jahre gedauert um die ersten neun kalifornischen

GefÀngnisse zu bauen. In weniger als einem Jahrzehnt hatte sich die Zahl

der kalifornishen GefÀngnisse verdoppelt. Und in den 1990er Jahren

wurden zwölf neue GefĂ€ngnisse eröffnet, darunter zwei weitere fĂŒr

Frauen. Im Jahr 1995 wurde das Valley State Prison for Women eröffnet.

Laut seiner Aufgabenbeschreibung stellt es „1.980 Frauenbetten fĂŒr das

ĂŒberfĂŒllte kalifornische GefĂ€ngnissystem zur VerfĂŒgung“. Im Jahr 2002

waren jedoch bereits 3.570 Gefangene inhaftiert, und die beiden anderen

FrauengefĂ€ngnisse ebenfalls ĂŒberbelegt.

Inzwischen gibt es dreiunddreißig GefĂ€ngnisse, achtunddreißig Lager,

sechzehn kommunale Strafvollzugsanstalten und fĂŒnf winzige Einrichtungen

fĂŒr HĂ€ftlingsmĂŒtter in Kalifornien. Im Jahr 2002 waren 157.979 Menschen

in diesen Einrichtungen inhaftiert, darunter etwa zwanzigtausend

Menschen, die der Staat VerstĂ¶ĂŸen gegen die Einwanderungsbestimmungen

beschuldigt. Die rassische Zusammensetzung dieser GefÀngnispopulation

ist aufschlussreich. Latinos, die jetzt in der Mehrheit sind, machen

35,2 Prozent aus, Afroamerikaner 30 Prozent, und weiße HĂ€ftlinge 29,2

Prozent. Im Bundesstaat Kalifornien sind heute mehr Frauen inhaftiert

als in den frĂŒhen 1970er Jahren in den ganzen USA. TatsĂ€chlich

beansprucht Kalifornien fĂŒr sich mit mehr als 3500 Insass_innen das

grĂ¶ĂŸte FrauengefĂ€ngnis der Welt, das Valley State Prison for Women. In

der gleichen Stadt wie Valley State und buchstÀblich auf der anderen

Straßenseite befindet sich das zweitgrĂ¶ĂŸte FrauengefĂ€ngnis der Welt, die

Central California Women’s Facility, deren Insassenzahl 2002 ebenfalls

um die 3500 lag. Schaut man sich eine Karte von Kalifornien mit den

Standorten der dreiunddreißig StaatsgefĂ€ngnisse an, sieht man, dass das

einzige Gebiet, das nicht stark von GefÀngnissen bevölkert ist, die

Gegend nördlich von Sacramento ist. Dennoch gibt es zwei GefÀngnisse in

der Stadt Susanville, und eines der berĂŒchtigten

HochsicherheitsgefÀngnisse des Bundesstaates, Pelican Bay, befindet sich

in der NĂ€he der Grenze zu Oregon.

Der kalifornische KĂŒnstler Sandow Birle ließ sich von der Besiedlung der

Landschaft durch GefĂ€ngnisse zu einer Serie von dreiunddreißig

LandschaftsgemÀlden dieser Einrichtungen und ihrer Umgebung inspirieren.

Sie sind gesammelt in seinem Buch Incarcerated: Visions of California in

the Twenty-first Century. Ich prÀsentiere diese kurze Geschichte der

GefÀngnisisierung der kalifornischen Landschaft, um den Lesenden zu

verdeutlichen, wie einfach es war, mit der stillschweigenden Zustimmung

der Öffentlichkeit ein massives System der Einsperrung aufzubauen.

Warum hat diese Gesellschaft so vorschnell angenommen, dass das

Wegsperren eines immer grĂ¶ĂŸeren Teils der US-Bevölkerung dazu beitragen

wĂŒrde, dass sich die Menschen in Freiheit sicherer und geschĂŒtzter

fĂŒhlen? Diese Frage lĂ€sst sich auch allgemeiner formulieren. Warum

neigen GefÀngnisse dazu, Menschen glauben zu lassen, ihre eigenen Rechte

und Freiheiten wÀren gesicherter, als sie es ohne GefÀngnisse wÀren?

Welche anderen GrĂŒnde könnte es fĂŒr die Schnelligkeit geben, mit der

GefÀngnisse die kalifornische Landschaft zu kolonisieren begannen?

Die Geografin Ruth Gilmore beschreibt die Ausbreitung der GefÀngnisse in

Kalifornien als „eine geografische Lösung fĂŒr sozioökonomische

Probleme“. Ihre Analyse des industriellen GefĂ€ngniskomplexes in

Kalifornien beschreibt diese Entwicklungen als Reaktion auf den

Überschuss an Kapital, Land, ArbeitskrĂ€ften und staatlichen KapazitĂ€ten.

Kaliforniens neue GefÀngnisse stehen auf entwertetem lÀndlichen Land,

die meisten sogar auf ehemals bewÀsserten landwirtschaftlich genutzten

FlĂ€chen [...] Der Staat kaufte Land von Großgrundbesitzern. Und der

Staat versicherte den kleinen, strukturschwachen StÀdten, die jetzt von

GefĂ€ngnissen ĂŒberschattet werden, die neue, rezessionssichere und

umweltfreundliche Industrie wĂŒrde die lokale Entwicklung ankurbeln.

Aber, wie Gilmore betont, kamen weder die ArbeitsplÀtze noch der von den

GefÀngnissen versprochene allgemeine wirtschaftliche Aufschwung.

Dennoch hilft uns dieses Fortschrittsversprechen zu verstehen, warum die

Legislative und die kalifornischen WÀhler dem Bau von GefÀngnissen

zugestimmt haben. Die Menschen wollten glauben, dass GefÀngnisse nicht

nur die KriminalitÀt reduzieren, sondern auch ArbeitsplÀtze schaffen und

die wirtschaftliche Entwicklung in abgelegenen Gegenden ankurbeln wĂŒrde.

Im Grunde geht es um die grundlegende Frage: Warum halten wir

GefĂ€ngnisse fĂŒr selbstverstĂ€ndlich? WĂ€hrend ein relativ kleiner Teil der

Gesamtbevölkerung ĂŒberhaupt direkt mit dem Leben im GefĂ€ngnis

konfrontiert war, ist dies in armen, schwarzen und Latino-Gemeinden

nicht der Fall. Es gilt auch nicht fĂŒr Native Americans oder fĂŒr

bestimmte asiatisch-amerikanische Gemeinschaften. Aber selbst unter den

Menschen, die GefÀngnisstrafen als alltÀgliche Dimension des

Gemeinschaftslebens hinnehmen mĂŒssen - vor allem junge Menschen - ist es

kaum akzeptabel, in der Öffentlichkeit ernsthafte Diskussionen ĂŒber das

Leben im GefĂ€ngnis oder radikale Alternativen zum GefĂ€ngnis zu fĂŒhren.

Es ist, als wÀre das GefÀngnis eine unvermeidliche Tatsache des Lebens,

wie die Geburt und der Tod

Im Großen und Ganzen neigen die Menschen dazu, GefĂ€ngnisse als

selbstverstÀndlich hinzunehmen. Es ist schwierig, sich ein Leben ohne

sie vorzustellen. Gleichzeitig strÀuben sich die Menschen davor, sich

mit der RealitÀt auseinanderzusetzen, die sich in ihnen verbirgt, und

haben Angst davor darĂŒber nachzudenken, was in ihnen geschieht. So ist

das GefÀngnis in unserem Leben prÀsent und gleichzeitig in unserem Leben

abwesend. Über diese gleichzeitige Anwesenheit und Abwesenheit

nachzudenken, bedeutet, anzuerkennen, welch grundlegende Rolle

Ideologien fĂŒr unseren Umgang mit unserem sozialen Umfeld speielen. Wir

nehmen GefÀngnisse als selbstverstÀndlich hin, haben aber oft Angst, uns

ihrer RealitĂ€t zu stellen. Schließlich will niemand ins GefĂ€ngnis gehen.

Weil es zu quÀlend wÀre, mit der Möglichkeit umzugehen dass

irgendjemand, auch wir selbst, zum Gefangenen werden könnte, neigen wir

dazu, das GefÀngnis als von unserem eigenen Leben abgekoppelt zu

betrachten. Dies gilt sogar fĂŒr einige, sowohl fĂŒr Frauen als auch fĂŒr

MĂ€nner, die bereits in Gefangenschaft waren. Wir betrachten also das

GefĂ€ngnis als ein Schicksal, das anderen , das den „ÜbeltĂ€ter_innen“

vorbehalten ist, um den kĂŒrzlich von George W. Busch popularisierten

Begriff zu verwenden. Aufgrund der anhaltenden Macht des Rassismus sind

„Kriminelle“ und „ÜbeltĂ€ter_innen“ in der kollektiven Vorstellungskraft

nicht-weiße Menschen. Das GefĂ€ngnis funktioniert daher ideologisch als

abstrakter Ort, an dem UnerwĂŒnschte deponiert werden, und entbindet uns

von der Verantwortung, ĂŒber die ĂŒber die wirklichen Probleme

nachzudenken, die die Gemeinschaften betreffen, aus denen

unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig viele Gefangene kommen. Dies ist die ideologische

Arbeit, die das GefÀngnis leistet - es entbindet uns von der

Verantwortung, uns ernsthaft mit den Problemen unserer Gesellschaft zu

befassen. Insbesondere mit denen die durch Rassismus und zunehmend durch

den globalen Kapitalismus verursacht werden.

Was ĂŒbersehen wir zum Beispiel, wenn wir versuchen, ĂŒber den Ausbau von

GefĂ€ngnissen nachzudenken, ohne uns mit grĂ¶ĂŸeren wirtschaftlichen

Entwicklungen auseinanderzusetzen? Wir leben in einer Ära global

agierender Konzerne. Um der organisierten Arbeit in diesem Land zu

entkommen - und damit höheren Löhnen, Sozialleistungen usw. zu entgehen,

durchstreifen die Unternehmen die Welt auf der Suche nach LĂ€ndern, die

billige ArbeitskrÀfte bieten. Diese Abwanderung der Unternehmen

hinterlÀsst ganze Gemeinden in Schutt und Asche. Enorm viele Menschen

verlieren ihre Jobs und ihre Aussichten auf zukĂŒnftige ArbeitsplĂ€tze. Da

die wirtschaftliche Basis dieser Gemeinden zerstört ist, sind das

Bildungswesen und andere ĂŒberlebenswichtige soziale Dienste hochgradig

betroffen. Dieser Prozess macht die Menschen , die in diesen betroffenen

Gemeinden leben, zu perfekten Kandidat_innen fĂŒr das GefĂ€ngnis.

In der Zwischenzeit ziehen Unternehmen die mit der Strafvollzugindustrie

verbundenen sind, Gewinne aus dem System zur Verwaltung von Gefangenen

und haben ein klares Interesse am Wachstum der GefÀngnispopulationen.

Einfach ausgedrĂŒckt: Dies ist das Zeitalter des

GefÀngnisindustrie-Komplexes. Das GefÀngnis ist zu einem schwarzen Loch

geworden, in dem derAbfall des heutigen Kapitalismus deponiert wird. Die

Masseninhaftierung generiert Profite, wÀhrend sie gesellschaftlichen

Wohlstand verschlingt, und neigt daher dazu die Bedingungen zu

reproduzieren, die Menschen ins GefÀngnis bringen. Es gibt also reale

und oft komplizierte ZusammenhÀnge zwischen der Deindustrialisierung der

Wirtschaft - ein Prozess, der in den den 1980er Jahren seinen Höhepunkt

erreichte - und der Zunahme der Masseninhaftierungen, die ebenfalls in

der Reagan-Bush-Ära stattfand. Allerdings wurde die Forderung nach mehr

GefĂ€ngnissen in der Öffentlichkeit vereinfacht dargestellt: Es wĂŒrden

mehr GefÀngnisse benötigt, weil es mehr KriminalitÀt gebe. Viele

Wissenschaftler_innen haben jedoch nachgewiesen, dass zu dem Zeitpunkt,

als der Boom des GefÀngnisbaus einsetzte, die offiziellen

KriminalitĂ€tsstatistiken bereits rĂŒcklĂ€ufig waren. Außerdem wurden

drakonische Drogengesetze erlassen, und „Three-Strikes“-Bestimmungen

standen in vielen Staaten auf der Tagesordnung.

Um die Ausbreitung von GefÀngnissen und den Aufstieg des industriellen

GefĂ€ngniskomplexes zu verstehen, ist es hilfreich weiter ĂŒber die GrĂŒnde

nachzudenken, warum wir GefÀngnisse so leicht als selbstverstÀndlich

hinnehmen. In Kalifornien wurden, wie wir gesehen haben, fast zwei

Drittel der bestehenden GefÀngnisse in den achtziger und neunziger

Jahren eröffnet. Warum gab es keinen großen Aufschrei? Eine Teilantwort

auf diese Frage hat mit der Art und Weise zu tun, wie wir die Bilder des

GefÀngnisses in den Medien konsumieren, auch wenn die RealitÀt des

GefĂ€ngnisses fĂŒr fast alle verborgen ist, die nicht das Pech hatten, im

GefÀngnis zu sitzen. Die Kulturkritikerin Gina Dent hat darauf

hingewiesen, dass unser GefĂŒhl der Vertrautheit mit dem GefĂ€ngnis zum

Teil aus Darstellungen von GefÀngnissen in Film und anderen visuellen

Medien stammt. Die Geschichte der VisualitÀt, die mit dem GefÀngnis

verbunden ist, ist auch eine wesentliche VerstÀrkung der Institution des

GefÀngnisses als naturalisierter Teil unserer sozialen Landschaft.

Die Geschichte des Films ist seit jeher mit der Darstellung des

GefĂ€ngnisses verknĂŒpft. Die ersten Filme von Thomas Edison (zurĂŒckgehend

auf das 1901 als Wochenschau prÀsentierte Reenactment Execution of

Czolgosz) zeigte Aufnahmen aus den dunkelsten Winkeln des GefÀngnisses.

Somit ist das GefÀngnis fest mit unserer Erfahrung von VisualitÀt, die

auch ein GefĂŒhl der BestĂ€ndigkeit der Institution vermittelt, verbunden.

Ebenso gibt es einen stÀndigen Strom, tatsÀchlich ein ganzes Genre von

Hollywood-GefÀngnisfilmen.

Einige der bekanntesten GefÀngnisfilme sind: I want to live, Papillon,

Cool Hand Luke und Flucht aus Alcatraz. Auch wird das Fernsehprogramm

zunehmend mit Bildern von GefĂ€ngnissen durchtrĂ€nkt. Zu den jĂŒngsten

Dokumentarfilmen gehören die A& E-Serie The Big House, bestehend aus

Sendungen ĂŒber San Quentin, Alcatraz, Leavenworth, und das Alderson

Federal Reformatory for Women. Die seit langem laufende HBO-Sendung Oz

hat es geschafft, viele Zuschauer davon zu ĂŒberzeugen, dass sie genau

wissen, was in mÀnnlichen HochsicherheitsgefÀngnissen vor sich geht.

Aber auch wer sich nicht bewusst einen Dokumentarfilm oder eine

dramatische Sendung zum Thema GefÀngnisse ansieht, konsumiert

unweigerlich Bilder von GefÀngnissen, ob gewollt oder nicht. Es ist

praktisch unmöglich, den Konsum von Bildern aus dem GefÀngnis zu

vermeiden. Als ich 1997 Frauen in drei kubanischen GefÀngnissen

befragte, stellte ich zu meinem eigenen Erstaunen fest, dass die meisten

von ihnen erzÀhlten, dass sie die GefÀngnisse bereits kannten, bevor sie

eingesperrt wurden. Und zwar aus den vielen Hollywood-Filmen, die sie

gesehen hatten. Das GefÀngnis ist eines der wichtigsten Merkmale unserer

Bildwelt. Dies trÀgt dazu bei, dass wir die Existenz von GefÀngnissen

fĂŒr selbstverstĂ€ndlich halten. Das GefĂ€ngnis ist zu einem wichtigen

Bestandteil unseres gesunden Menschenverstands geworden. Es ist da,

ĂŒberall um uns herum. Und wir fragen uns nicht, ob es existieren sollte.

Es ist so sehr zu einem Teil unseres Lebens geworden, dass es eine große

Vorstellungskraft erfordert, sich ein Leben ohne GefÀngnisses

vorzustellen.

Damit sollen die grundlegenden Änderungen der Art, wie öffentliche

GesprĂ€che ĂŒber das GefĂ€ngnis gefĂŒhrt werden nicht heruntergespielt

werden. Noch vor zehn Jahren, als die Bestrebungen zur Ausweitung des

GefÀngnissystems ihren Höhepunkt erreichten, gab es in der

Öffentlichkeit nur wenige kritische Stimmen zu diesem Prozess.

TatsĂ€chlichwar den meisten Menschen das Ausmaß dieses Prozesses

unbekannt. Dies war die Zeit, in der interne VerÀnderungen - zum Teil

durch den Einsatz neuer Technologien - das US-GefÀngnissystem in eine

wesentlich repressivere Richtung lenkten. WĂ€hrend frĂŒhere

Klassifizierungen sich auf Normale und HochsicherheitsgefÀngnisse

beschrÀnkte, wurde eine neue Kategorie erfunden: das

Super-Maximum-Security-GefÀngnis, das Supermax. Die Hinwendung zu

verstÀrkter Repression im GefÀngnissystem veranlasste einige

Journalist_innen, Intellektuelle und progressive Organisationen dazu,

sich gegen die wachsende AbhÀngigkeit von GefÀngnissen zur Lösung

sozialer Probleme, die durch die Masseninhaftierung sogar noch

verschÀrft werden, zu engagieren.

Im Jahr 1990 veröffentlichte das in Washington ansÀssige Sentencing

Project eine Studie ĂŒber die US-Populationen in GefĂ€ngnissen und auf

BewÀhrung, die zu dem Schluss kam, dass einer von vier schwarzen MÀnnern

zwischen zwanzig und neunundzwanzig Jahren zu dieser Gruppe gehörte.

FĂŒnf Jahre spĂ€ter ergab eine zweite Studie, dass der Anteil auf fast ein

Drittel (32,2%) angestiegen war. Außerdem war mehr als jeder zehnte

Latino-Mann in derselben Altersgruppe bereits im GefÀngnis oder auf

BewĂ€hrung. Die zweite Studie ergab auch, dass die Gruppe mit dem grĂ¶ĂŸten

Anstieg (+78%) schwarze Frauen waren. Nach Angaben des Bureau of Justice

Statistics stellen Afroamerikaner_innen mit einer Gesamtzahl von 803.400

(18.600 mehr als die Gesamtzahl der weißen Gefangenen) inzwischen die

Mehrheit der Landes- und Bundesgefangenen. In den spÀten 1990er Jahren

erschienen in Newsweek, Harper’s, Emerge und Atlantic Monthly wichtige

Artikel ĂŒber die Ausweitung der GefĂ€ngnisse. Selbst Colin Powell warf

die Frage nach der steigenden Zahl der schwarzen MĂ€nner in den

GefÀngnissen auf, als er im Jahr 2000 auf dem Nationalkongress der

Republikaner, der George W. Bush zu seinem PrÀsidentschaftskandidaten

erklÀrte, sprach.

In den letzten Jahren ist das Fehlen kritischer Positionen zum Ausbau

der GefÀngnisse Forderungen nach einer GefÀngnisreform gewichen. Der

öffentliche Diskurs ist zwar flexibler geworden, aber der Schwerpunkt

liegt fast unwausweichlich auf der Schaffung von VerÀnderungen, hin zu

einem besseren GefĂ€ngnissystem. Mit anderen Worten: Die grĂ¶ĂŸere

FlexibilitÀt, die eine kritische Diskussion der Probleme, die mit dem

Ausbau der GefÀngnisse verbunden sind, erlaubt, beschrÀnkt diese

Diskussion auch gleichzeitigauf die Frage der GefÀngnisreform.

So wichtig einige Reformen auch sein mögen - die Beseitigung von

sexuellem Missbrauch und medizinischer VernachlÀssigung in

FrauengefĂ€ngnissen, zum Beispiel: Ein Diskurs, der sich ausschließlich

auf Reformen stĂŒtzt, trĂ€gt zu der lĂ€hmende Vorstellung bei, dass nichts

jenseits des GefĂ€ngnisses liegt. Debatten ĂŒber Strategien der

Haftentlassung, die im Mittelpunkt unserer GesprĂ€che ĂŒber die

GefÀngniskrise stehen sollten, werden tendenziell an den Rand gedrÀngt

wenn die Reform in den Mittelpunkt rĂŒckt. Die dringlichste Frage ist

heute, wie eine weitere Zunahme der Gefangenenpopulationen verhindert

werden kann und wie so viele inhaftierte Menschen wie möglich in die von

Gefangenen so genannte „freie Welt“ zurĂŒckgefĂŒhrt werden können. Wie

können wir Drogenkonsum und den Handel mit sexuellen Dienstleistungen

entkriminalisieren?

Wie können wir ernsthaft Strategien der Wiedergutmachung statt einer

ausschließlich strafenden Justiz etablieren? Wirksame Alternativen

beinhalten sowohl eine VerÀnderung der Techniken zur BekÀmpfung von

„Verbrechen“ als auch der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, die

so viele Kinder Kinder aus armen Gemeinden, insbesondere aus farbigen

Gemeinden, in das Jugendstrafsystem und dann weiter ins GefÀngnis

bringt. Die schwierigste und dringlichste Herausforderung besteht heute

darin, auf kreative Weise neue Wege der Justiz zu beschreiten, bei denen

das GefÀngnis nicht mehr als unser wichtigster Anker dient.

Kapitel 2 Sklaverei, BĂŒrgerrechte und Sichtweisen zur Abschaffung des

GefÀngnis

Die BefĂŒrworter der Inhaftierung [...] hofften, dass das Zuchthaus seine

Insassen rehabilitieren wĂŒrde. WĂ€hrend Philosophen einen unaufhörlichen

Kriegszustand zwischen Sklaven und ihren Herren sahen, hofften die

Kriminologen, innerhalb der GefÀngnismauern eine Art Friedensvertrag

aushandeln zu können. Doch hier lauerte ein Paradoxon: wenn das interne

Regime des Zuchthauses dem der Plantage so sehr Àhnelte, dass die beiden

oft locker gleichgesetzt wurden, wie konnte das GefĂ€ngnis dann ĂŒberhaupt

funktionieren, um Kriminelle zu rehabilitieren? -Adam Jay Hirsch

Das GefÀngnis ist nicht die Einzige Institution, die die Menschen die

sie erleben vor komplexe Herausforderungen stellt, weil sie sich so an

sie gewöhnt haben, dass sie sich ein Gesellscheft ohne nicht mehr

vorstellen können. Mit Blick auf die Geschichte der Vereinigten Staaten

sticht das System der Sklaverei heraus. Obwohl die Gegner_innen schon

wĂ€hrend der Amerikanischen Revolution fĂŒr die Abschaffung der Sklaverei

eintraten, dauerte es fast ein Jahrhundert, bis zum Ende der „Peculiar

Institution“ (= engl. „Besondere Institution “ als Bezeichnung fĂŒr die

Sklaverei in den SĂŒdstaaten).

Weiße Ablehner der Sklaverei wie John Brown und William Lloyd Garrison

wurden in den vorherrschenden Medien jener Zeit als Extremisten und

Fanatiker dargestellt. Als Fred Douglass seine Karriere als

Anti-Sklaverei-Redner begann, konnten Weiße - selbst leidenschaftliche

Abolitionist_innen - nicht glauben, dass ein schwarzer Sklave eine

solche Intelligenz an den Tag legen konnte. Der Glaube an den

Fortbestand der Sklaverei war so weit verbreitet, dass es selbst weiße

Abolitionist_innen es schwierig fanden, sich Schwarze als

gleichberechtigte Menschen vorzustellen. Es bedurfte eines langen und

gewaltsamen BĂŒrgerkriegs, um die Sklaverei rechtlich abzuschaffen.

Obwohl der dreizehnte Zusatzartikel zur US-Verfassung die unfreiwillige

Knechtschaft verbot, blieb die „weiße Vorherrschaft“ ein zentrales Bild

vieler Menschen und tief in etlichen Institutionen verankert. Unter

diesen Institutionen war die Lynchjustiz, die viele Jahrzehnte nach Ende

der Sklaverei noch weithin akzeptiert wurde. Dank der Arbeit von

Persönlichkeiten wie Ida B. Wells fĂŒhrten die Anti-Lynch-Kampagnen in

der ersten HĂ€lfte des zwanzigsten Jahrhunderts schrittweise zu

legislativen Änderungen. Aus den BemĂŒhungen fĂŒr die Abschaffung des

Lynchmordsentwickelte sich unter anderem die NAACP, die heute noch auf

juristischem Weg gegen Diskriminierung kÀmpft.

Im SĂŒden herrschte die Segregation bis sie ein Jahrhundert nach der

Abschaffung der Sklaverei verboten wurde. Viele Menschen, die unter Jim

Crow lebten, konnten sich kein Rechtssystem vorstellen, in dem

Rassengleichheit herrscht. Als der Gouverneur von Alabama persönlich

versuchte, Arthurine Lucy an der Einschreibung an der UniversitÀt von

Alabama zu hindern, war seine Haltung Ausdruck der UnfÀhigkeit, sich

vorzustellen, dass Schwarze und Weiße Menschen jemals friedlich zusammen

leben und studieren wĂŒrden. „Heute Segregation, morgen Segregation,

Segregation fĂŒr immer“ sind die bekanntesten Worte dieses Politikers,

der einige Jahre spÀter gezwungen war, sie zu widerrufen als das System

der Segregation als weitaus verwundbarer erwiesen hatte, als er es sich

hÀtte vorstellen können.

Obwohl die Regierung, Unternehmen und die dominanten Medien versuchen,

Rassismus als eine Vergangenheit darzustellen, die auf den Friedhof der

US-Geschichte verbannt wurde, durchdringt er nach wie vor heutige

Strukturen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Dennoch wird heute

niemand ernst genommen, der es wagt, öffentlich die WiedereinfĂŒhrung der

Sklaverei, der Rassentrennung oder die Organisation von Lynchmobs zu

fordern. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass sich die Vorfahren

vieler der heutigen Liberalen ein Leben ohne Sklaverei, ohne Lynchjustiz

nicht hÀtten vorstellen können.

WĂ€hrend der Weltkonferenz 2001 gegen Rassismus, rassistische

Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhÀngende

Intoleranzen, die in Durban stattfand, wurde deutlich, wie groß die

Aufgabe ist, den Rassismus weltweit zu beseitigen. Es mag viele

Meinungsverschiedenheiten darĂŒber geben, was als Rassismus gilt und

welches die wirksamsten Strategien zu seiner Beseitigung sind. Doch

insbesondere seit dem Sturz des Apartheidregimes in SĂŒdafrika gibt es

einen weltweiten Konsens darĂŒber, dass Rassismus nicht die Zukunft des

Planeten bestimmen sollte.

Ich habe mich auf diese historischen Beispiele fĂŒr BemĂŒhungen zur

Beseitigung rassistischer Institutionen bezogen, weil sie fĂŒr unsere

Diskussion ĂŒber GefĂ€ngnisse und die Abschaffung von GefĂ€ngnissen von

großer Bedeutung sind. Es ist wahr, dass Sklaverei, Lynchjustiz und

Rassentrennung ideologisch so stark verankert waren, dass viele, wenn

nicht sogar die meisten, ihren Niedergang und Zusammenbruch nicht

vorhersehen konnten. Sklaverei, Lynchjustiz und Rassentrennung sind

sicherlich ĂŒberzeugende Beispiele fĂŒr soziale Institutionen, die, wie

das GefÀngnis, einst als so unvergÀnglich wie die Sonne galten wurden.

Doch bei allen dreien können wir auf Bewegungen verweisen die radikale

Haltungen einnahmen um die Überwindung dieser Institutionen zu

erkÀmpfen. Es kann helfen Perspektive auf das GefÀngnis zu gewinnen,

wenn wir versuchen, uns vorzustellen, wie seltsam und unangenehm die

Debatten ĂŒber die ÜberflĂŒssigkeit der Sklaverei fĂŒr diejenigen gewesen

sein mĂŒssen, die sie fĂŒr selbstverstĂ€ndlich hielten. Vor allem fĂŒr die,

die direkt von diesem System der rassistischen Ausbeutung profitierten.

Und obwohl der Widerstand unter den schwarzen Sklaven weit verbreitet

war, gab es sogar einige unter ihnen, die davon ausgingen, dass sie und

ihre Nachkommen fĂŒr immer unter der Tyrannei der Sklaverei leben wĂŒrden.

Ich habe drei letztendlich mehr oder weniger erfolgeiche Kampagnen zur

Abschaffung der Sklaverei vorgestellt,um deutlich zu machen, dass sich

die gesellschaftlichen VerhÀltnisse und die Einstellung der Bevölkerung

als Reaktion auf organisierte soziale Bewegungen Àndern. Ich habe diese

historischen Kampagnen aber auch deshalb aufgegriffen, weil sie sich

alle gegen einen Ausdruck von Rassismus richteten. Die US-amerikanische

Sklaverei war ein System der Zwangsarbeit, das sich auf rassistische

Ideen und Überzeugungen stĂŒtzte, um die Degradierung von Menschen

afrikanischer Abstammung auf den rechtlichen Status des Eigentums zu

rechtfertigen. Das Lynchen war eine extralegale Institution, die

Tausende von Leben von Afroamerikaner_innen der Gewalt rĂŒcksichtsloser

rassistischer Mobs auslieferte. Im Rahmen der Rassentrennung wurden

Schwarze rechtlich zu BĂŒrgern zweiter Klasse erklĂ€rt, fĂŒr die das Wahl-,

Arbeits-, Bildungs- und Wohnungsrecht drastisch beschnitten wurden.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesen historischen

Ausdrucksformen des Rassismus und der Rolle des GefÀngnissystems heute?

Die Erkundung solcher ZusammenhÀnge kann uns eine andere Perspektive auf

den aktuellen Zustand der Strafvollzugsindustrie eröffnen. Wenn wir

erfolgreich argumentieren können, dass GefÀngnisse rassistische

Institutionen sind, könnte dies dazu fĂŒhren, dass wir die Aussicht,

GefĂ€ngnisse fĂŒr obsolet zu erklĂ€ren, ernst nehmen.

Ich konzentriere mich vorerst auf die Geschichte des antischwarzen

Rassismus, um deutlich zu machen, dass das GefÀngnis erstarrte Formen

des antischwarzen Rassismus offenbart, die im Verborgenen wirken. Mit

anderen Worten: Sie werden selten als rassistisch erkannt. Aber es gibt

noch andere rassistische Geschichten, die die Entwicklung des

amerikanischen Strafvollzugssystems beeinflusst haben - die Geschichte

der Latinos, amerikanischen Ureinwohnern und asiatischen Amerikanern.

Diese Rassismen verfestigen und verbinden sich auch im GefÀngnis. Da wir

so daran gewöhnt sind, ĂŒber Rasse in Form von Schwarz und Weiß zu

sprechen, versÀumen wir es oft zu erkennen und zu bekÀmpfen, wenn sich

der Rassismus gegen Menschen richtet, die nicht schwarz sind. Denken Sie

an die Massenverhaftungen und Inhaftierungen von Menschen aus dem Nahen

Osten, aus SĂŒdasien oder von Muslimen nach den AnschlĂ€gen auf das

Pentagon und das World Trade Center am 11. September 2001.

Dies fĂŒhrt uns zu zwei wichtigen Fragen: Sind GefĂ€ngnisse rassistische

Einrichtungen? Ist der Rassismus so tief in der Institution GefÀngnis

verwurzelt, dass es nicht möglich ist, das eine zu beseitigen, ohne das

andere zu beseitigen? Diese Fragen sollten wir im Hinterkopf behalten,

wenn wir uns mit den historischen ZusammenhÀngen zwischen der Sklaverei

in den USA und dem frĂŒhen Strafvollzugssystem untersuchen. Das Zuchthaus

als eine Institution, die gleichzeitig bestrafte und rehabilitierte, war

ein neues Strafsystem, das in den Vereinigten Staaten zum ersten Mal zur

Zeit der Amerikanischen Revolution auftrat. Dieses neue System beruhte

auf der Ersetzung der Todesstrafe und der PrĂŒgelstrafe durch die

Inhaftierung.

Die Inhaftierung an sich war weder in den Vereinigten Staaten noch in

der Welt neu, aber bis zur Schaffung dieser neuen Institution, des

Zuchthauses, diente sie als Vorstufe zur Bestrafung. Die Menschen, die

einer körperlichen Bestrafung unterworfen werden sollten, wurden im

GefÀngnis bis zur Vollstreckung der Strafe festgehalten. Mit dem

Zuchthaus wurde die Inhaftierung zur Strafe selbst.

Wie aus der Bezeichnung „Zuchthaus“ hervorgeht, wurde die Inhaftierung

als rehabilitierend angesehen und das Zuchthaus wurde entwickelt ĂŒber

ihre Verbrechen nachzudenken und durch Buße ihre Gewohnheiten und sogar

ihre Seele umzugestalten. Obwohl einige Sklavereigegner_innen wÀhrend

der Revolutionszeit gegen dieses neue System der Bestrafung aussprachen,

wurde das Zuchthaus im Allgemeinen als eine fortschrittliche Reform

angesehen, das in eine Kampagne fĂŒr die Rechte der BĂŒrger eingebettet

war. In vielerlei Hinsicht war das Zuchthaus eine enorme Verbesserung

gegenĂŒber den vielen Formen der Kapital- und Körperstrafen, die von den

EnglĂ€ndern ĂŒbernommen worden waren. Doch die Behauptung, dass sich die

Gefangenen selbst neu gestalten wĂŒrden, wenn man ihnen nur die

Möglichkeit gÀbe, in Einsamkeit und Stille nachzudenken und zu arbeiten

ließ die Auswirkungen der autoritĂ€ren Lebens- und Arbeitsbedingungen

außer Acht. In der Tat gab es erhebliche Ähnlichkeiten zwischen der

Sklaverei und dem Zuchthaus. Der Historiker Adam Jay Hirsch hat

aufgezeigt:

Man kann im Zuchthaus viele Spiegelungen der Sklaverei erkennen, wie sie

im SĂŒden praktiziert wurde. Beide Institutionen ordneten ihre Untertanen

dem Willen anderer unter. Wie die Sklaven des SĂŒdens folgten die

GefÀngnisinsassen einem von ihren Vorgesetzten vorgegebenen Tagesablauf.

Beide Einrichtungen zwingen Insassen auf die AbhÀngigkeit von anderen in

Bezug auf die Versorgung mit grundlegenden menschlichen BedĂŒrfnissen wie

Nahrung und Unterkunft. Beide isolierten ihre Untertanen von der

allgemeinen Bevölkerung, indem sie ihnen nur eine bestimmten FlÀche zum

Leben und Bewegen erlauben . Und beide zwangen ihre Untertanen hÀufig

zur Arbeit, oft zu lĂ€ngeren Arbeitszeiten und fĂŒr eine geringere

Entlohnung als freie Arbeiter.

Wie Hirsch feststellt, wendeten beide Institutionen Àhnliche Formen der

Bestrafung an, und die Vorschriften fĂŒr GefĂ€ngnisse Ă€hnelten den

Sklavengesetzen, die den versklavten Menschen praktisch alle Rechte

entzogen. Außerdem unterstellte man sowohl Gefangenen als auch Sklaven

eine ausgeprÀgte Neigung zur KriminalitÀt. Die im Norden zum

Strafvollzug verurteilten Menschen, Weiße wie Schwarze wurden im

Volksmund so dargestellt, als seien sie eng mit den versklavten

Schwarzen verwandt.

Die Ideologien der Sklaverei und der Bestrafung waren eng miteinander

verbunden. WĂ€hrend freie Menschen rechtlich zu Strafarbeit verurteilt

werden konnten, Ànderte eine solche Strafe nichts an den

Existenzbedingungen die die Sklaven bereits erlebt hatten. Wie Hirsch

weiter ausfĂŒhrt, hat Thomas Jefferson, der die Verurteilung zu

Schwerstarbeit bei Straßen- und Wasserbauprojekten befĂŒrwortete, auch

darauf hingewiesen, dass er Sklaven von dieser Art der Bestrafung

ausschließen wĂŒrde. Da Sklaven bereits Schwerstarbeit leisteten, wĂŒrde

die Verurteilung zu Strafarbeit keinen Unterschied in ihrem Zustand

bedeuten. Jefferson schlug stattdessen die Verbannung in andere LĂ€nder

vor.

Besonders in den Vereinigten Staaten spielte Race schon immer eine

zentrale Rolle bei der Konstruktion von KriminalitÀt. Nach der

Abschaffung der Sklaverei verabschiedeten die ehemaligen Sklavenstaaten

neue Gesetze zur Überarbeitung der Sklavengesetze, um das Verhalten

freier Schwarzer in Àhnlicher Weise zu regeln, wie wÀhrend der

Sklaverei. Die neuen Black Codes verboten eine Reihe von Handlungen, wie

etwa Landstreicherei, das Fernbleiben von der Arbeit, der Bruch von

ArbeitsvertrÀgen, der Besitz von Schusswaffen und beleidigende Gesten

oder Handlungen, die nur dann unter Strafe gestellt wurden, wenn die

beschuldigte Person schwarz war. Mit der Verabschiedung des

Verfassungszusatzes wurden Sklaverei und unfreiwillige Knechtschaft

vermeintlich abgeschafft. Allerdings gab es eine wichtige Ausnahme. Nach

dem Wortlaut des Zusatzartikels wurden Sklaverei und unfreiwillige

Knechtschaft abgeschafft, „außer als Strafe fĂŒr ein Verbrechen, fĂŒr das

die betreffende Person ordnungsgemĂ€ĂŸ verurteilt worden ist.“Nach den

Black Codes gab es durch Landesgesetze definierte Verbrechen, fĂŒr die

nur Schwarze „ordnungsgemĂ€ĂŸ verurteilt“ werden konnten. So wurden

ehemalige Sklaven, die vor kurzem aus einer lebenslangen Zwangsarbeit

befreit worden waren, rechtmĂ€ĂŸig zu Strafknechtschaft verurteilt.

Unmittelbar nach der Abschaffung der Sklaverei beeilten sich die

SĂŒdstaaten, ein Strafrechtssystem zu entwickeln, das die Möglichkeiten

der Freiheit fĂŒr neu entlassene Sklaven rechtlich einschrĂ€nken konnte.

Schwarze Menschen wurden zur Hauptzielscheibe eines sich entwickelnden

StrÀflingsleasingsystems, das von vielen als eine Reinkarnation der

Sklaverei bezeichnet wurde. Die Black Codes von Mississippi

beispielsweise erklÀrten jeden zum Landstreicher, der sich des

Diebstahls schuldig gemacht hatte, [offenbar von einem Arbeitsplatz]

weggelaufen war, betrunken war, sich rĂŒcksichtslos verhielt, Job oder

seine Familie vernachlÀssigt hatte, unvorsichtig mit Geld umging und

[...] alle anderen mĂŒĂŸigen und unordentlichen Personen. So wurde

Landstreicherei als schwarzes Verbrechen eingestuft, das mit GefÀngnis

und Zwangsarbeit bestraft wurde, manchmal auf genau den Plantagen, die

zuvor von der Sklavenarbeit profitiert hatten.

Mary Ellen Curtins Studie ĂŒber Gefangene in Alabama in den Jahrzehnten

nach der Emanzipation offenbart, dass vor der Freilassung der

vierhunderttausend schwarzen Sklaven in diesem Staat neunundneunzig

Prozent der Gefangenen in den ZuchthĂ€usern Alabamas weiß waren. Als

Folge der Verschiebungen die durch die EinfĂŒhrung der Black Codes, war

innerhalb kurzer Zeit die ĂŒberwĂ€ltigende Mehrheit der StrĂ€flinge in

Alabama schwarz. Sie stellt weiter fest:

Obwohl die ĂŒberwiegende Mehrheit der Menschen in Alabama in der

Vorkriegszeit weiß war, herrschte die Meinung vor dass die wahren

Verbrecher des SĂŒdens seine schwarzen Sklaven waren.

In den 1870er Jahren untermauerte die wachsende Zahl schwarzer

Gefangener im SĂŒden die Überzeugung, dass Afroamerikaner von Natur aus

kriminell waren und insbesondere zu DiebstÀhlen neigten. Bereits 1883

hatte Frederick Douglass ĂŒber die Tendenz der SĂŒdstaaten geschrieben,

„Verbrechen der Hautfarbe zuzuschreiben“. Wann immer ein besonders

schweres Verbrechen begangen wurde, stellte er fest, wurde nicht nur die

Schuld unabhÀngig von der Rasse des TÀters hÀufig einer schwarzen Person

zugeschrieben, sondern weiße MĂ€nner versuchten bisweilen der Strafe zu

entgehen, indem sie sich als Schwarze verkleideten. Douglass erzÀhlte

spÀter einen solchen Vorfall, der sich in Granger County, Tennessee,

ereignete:

Ein offenbar schwarzer Mann wurde bei einem RaubĂŒberfall erschossen. Der

verwundete Mann entpuppte sich jedoch als respektabler weißer BĂŒrger,

der sein Gesicht schwarz gefÀrbt hatte.

Das obige Beispiel von Douglass zeigt, wie Weißsein nach den Worten der

Rechtswissenschaftlerin Cheryl Harris als Eigentum funktioniert. Harris

zufolge bedeutete die Tatsache, dass die weiße IdentitĂ€t als Eigentum

besessen wurde bedeutete, dass Rechte, Freiheit und SelbstidentitĂ€t fĂŒr

Weiße bekrĂ€ftigt wurden, wĂ€hrend sie Schwarze verweigert wurden.

Letztere hatten nur durch das „Passing“ Zugang zum Weißsein. Douglass’

Kommentare zeigen, wie dieses Eigentumsinteresse am Weißsein leicht in

Schemata umgedreht werden konnte, um schwarzen Menschen ihr Recht auf

ein ordentliches Verfahren zu verweigern. Interessanterweise gab es in

den Vereinigten Staaten in den 1990er Jahren Àhnliche FÀlle wie den von

Douglass geschilderten: In Boston ermordete Charles Stuart seine

schwangere Frau und versuchte, einen anonymen schwarzen Mann dafĂŒr

verantwortlich zu machen, und in Union, South Carolina, tötete Susan

Smith ihre Kinder und behauptete, sie seien von einem schwarzen Autodieb

entfĂŒhrt worden. Die Rationalisierung von Verbrechen - die Tendenz,

„Verbrechen der Hautfarbe zuzuschreiben“, um es mit den Worten von

Frederick Douglass zu sagen - verschwand nicht als sich das Land immer

weiter von der Sklaverei entfernte. Der Beweis dafĂŒr, dass Verbrechen

nach wie vor der Hautfarbe zugeschrieben werden, zeigt sich an den

vielen Beschwörungen des „Racial Profiling“ in unserer Zeit.

Dass es möglich ist, von der Polizei aus keinem anderen Grund als der

eigenen Hautfarbe ins Visier genommen zu werden ist keine bloße

Spekulation. Polizeidienststellen in GroßstĂ€dten haben zugegeben, dass

es formelle Verfahren gibt, die darauf abzielen, die Zahl der

festgenommenen Afroamerikaner und Latinos zu maximieren, selbst wenn

kein hinreichender Verdacht besteht. Nach den AnschlÀgen vom 11.

September wurden zahlreiche Menschen aus dem Nahen Osten und SĂŒdasien

von den Immigration and Naturalization Services (INS) festgenommen. Die

INS ist die Bundesbehörde, die die meisten bewaffneten Agenten

beschÀftigt, sogar mehr als das FBI.

WĂ€hrend der Ära nach der Sklaverei, als Schwarze in die

Strafvollzugsanstalten der SĂŒdstaaten integriert wurden - und als der

Strafvollzug zu einem System der Strafknechtschaft wurde, wurden auch

die mit der Sklaverei verbundenen Bestrafungen in den Strafvollzug

integriert. „Die Auspeitschung“, so hat Matthew Mancini beobachtet, „war

die Form der Bestrafung in der Sklaverei, und die Peitsche wurde

zusammen mit der Kette fĂŒr Sklaven und Gefangene zum Sinnbild der

Knechtschaft.“Wie bereits erwĂ€hnt, waren Schwarze unter den die in den

verschiedenen Black Codes der SĂŒdstaaten zusammengefassten Gesetze

inhaftiert, die, da es sich dabei um Wiederauflagen der Sklavengesetze

handelte, dazu tendierten, die Strafe zu rassifizieren und eng mit

frĂŒheren Sklavereiregimes verknĂŒpften.

Die Ausweitung des StrÀflingsleasingsystems und der County Chain

bedeutete, dass das Strafrechtssystem der SĂŒdstaaten der Vorkriegszeit,

das sich viel stĂ€rker auf Schwarze Menschen als auf Weiße konzentrierte,

weitgehend ein Mittel zur Kontrolle der von schwarzen Menschen

geleisteten Arbeit wurde. Laut Mancini:

Zu den vielfÀltigen Hinterlassenschaften der Sklaverei gehörte die

Überzeugung, dass Schwarze nur auf eine bestimmte Art und Weise arbeiten

konnten - auf eine Art und Weise, wie sie in der Vergangenheit

gearbeitet hatten: in Gruppen, unter stÀndiger Aufsicht und unter der

Disziplin der Peitsche. Da dies die Voraussetzungen fĂŒr die Sklaverei

waren und die Sklaven Schwarze waren, kamen die Weißen des SĂŒdens fast

durchgÀngig zu dem Schluss, dass Schwarze nicht arbeiten konnten, wenn

sie nicht einer so intensiven Überwachung und Disziplin unterworfen

waren.[?]

Wissenschaftler, die sich mit dem StrÀflingsleasing befasst haben,

weisen darauf hin, dass das StrÀflingsleasing in vielen wichtigen

Aspekten in vielerlei Hinsicht weitaus schlimmer war als die Sklaverei -

eine Erkenntnis, die sich aus Titeln wie One Dies, Get Another 0 (von

Mancini), Worse Than Slavery0 (David Oshinskys Arbeit ĂŒber das Parchman

Prison) und Twice the Work of Free Labor 0 (Alex Lichtensteins

Untersuchung der politischen ď6konomie des StrĂ€flingsleasings). Die

Sklavenhalter mögen um das Überleben der einzelnen Sklaven besorgt

gewesen sein, die immerhin eine bedeutende Investition darstellten.

StrÀflinge hingegen wurden nicht als Einzelpersonen, sondern als Gruppe

geleast und konnten buchstÀblich zu Tode gearbeitet werden, ohne die

RentabilitÀt einer StrÀflingsmannschaft zu beeintrÀchtigen.

Den Beschreibungen von Zeitgenossen zufolge waren die Bedingungen, unter

denen die geleasten StrÀflinge und County Chain Gangs lebten, waren

weitaus schlimmer als die, unter denen Schwarze als Sklaven gelebt

hatten.

Aus den Aufzeichnungen von Mississippi-Plantagen im Yazoo-Delta in den

spÀten 1880er Jahren geht hervor, dass

die Gefangenen auf dem nackten Boden aßen und schliefen, ohne Decken

oder Matratzen und oft ohne Kleidung. Sie wurden bestraft fĂŒr „langsames

Hacken“ (zehn Peitschenhiebe), „schlechtes Pflanzen“ (fĂŒnf

Peitschenhiebe) und „fahrlĂ€ssigen Umgang mit der Baumwolle“ (fĂŒnf

Peitschenhiebe). Einige, die versuchten zu fliehen, wurden

ausgepeitscht, „bis das Blut an den Beinen herunterlief“; anderen wurde

ein Metallsporn an die FĂŒĂŸe genietet. StrĂ€flinge starben an Erschöpfung,

LungenentzĂŒndung, Malaria, Erfrierungen, Schwindsucht, Sonnenstich,

Ruhr, Schusswunden und Vergiftungen (durch das stÀndige Reiben der

Ketten und Fußeisen am nackten Fleisch).

Die entsetzliche Behandlung, der die StrÀflinge im Pachtsystem

ausgesetzt waren, wiederholte und verlÀngerte die Sklaverei. Wenn, wie

Adam Tay Hirsch behauptet, die frĂŒhen Formen des US-Strafvollzugs im

Norden die Institution der Sklaverei in vielen Aspekten spiegelten, war

die Entwicklung des Strafvollzugs nach dem BĂŒrgerkrieg im wahrsten Sinne

des Wortes die FortfĂŒhrung eines Sklavensystems, das in der „freien“

Welt nicht mehr legal war. Die Bevölkerung der StrÀflinge, deren

rassische Zusammensetzung sich durch die Abschaffung der Sklaverei

dramatisch verÀndert hatte, konnte so intensiv ausgebeutet und auf so

grausame Weise bestraft werden, gerade weil sie weiterhin als Sklaven

angesehen wurden. Die Historikerin Mary Ann Curtin hat festgestellt,

dass viele Wissenschaftler, die den tief verwurzelten Rassismus in den

Strafstrukturen des SĂŒdens nach dem BĂŒrgerkrieg anerkannt haben,

versÀumt haben zu erkennen, inwieweit der Rassismus die Kriminalisierung

schwarzer Gemeinschaften geprÀgt hat. Selbst antirassistische

Historiker, behauptet sie, gehen bei der Untersuchung der Art und Weise,

in der Schwarze zu Kriminellen gemacht wurden, nicht weit genug. Sie

weisen darauf hin - laut Curtin teilweise richtig -, dass in der Zeit

nach der Emanzipation viele Schwarze durch ihre neue soziale Situation

gezwungen waren, zu stehlen, um zu ĂŒberleben. Es war jedoch die

Umwandlung von Bagatelldiebstahl in ein Verbrechen, das eine

betrĂ€chtliche Anzahl in die „unfreiwillige Knechtschaft“ zwang, die

durch den dreizehnten Verfassungszusatz legalisiert wurde.

Curtin weist darauf hin, dass diese Anklagen wegen Diebstahls hÀufig

frei erfunden waren. „Sie dienten auch als Vorwand fĂŒr politische Rache.

Nach der Emanzipation wurde der Gerichtssaal ein idealer Ort, um

rassistische Vergeltung zu ĂŒben“. In diesem Sinne war die Arbeit des

Strafrechtssystems eng mit der extralegalen Arbeit der Lynchjustiz

verbunden. Alex Lichtenstein, dessen Studie sich mit der die Rolle des

Leasingsystems fĂŒr StrĂ€flinge bei der Gewinnung neuer ArbeitskrĂ€fte fĂŒr

den SĂŒden konzentriert, stellt fest, dass das Leasingsystem zusammen mit

den neuen Jim-Crow-Gesetzen eine zentrale Institution bei der

Entwicklung eines rassistischen Staates war.

Die Kapitalist_innen des Neuen SĂŒdens in Georgia und anderswo konnten

den Staat nutzen, um StrÀflinge zu rekrutieren und zu disziplinieren.

Dadurch konnten sie die Ressourcen ihrer Staaten erschließen, ohne

LohnarbeitskrĂ€fte zu bezahlen und ohne die Kontrolle der Pflanzer ĂŒber

die schwarzen ArbeitskrÀfte zu untergraben. Im Gegenteil: Der

Strafvollzug konnte als wirksame Sanktion gegen Schwarze auf dem Lande

eingesetzt werden, die die rassistische Ordnung, auf die sich die

Kontrolle der landwirtschaftlichen Arbeit stĂŒtzte, in Frage stellten.

Lichtenstein zeigt zum Beispiel auf, in welchem Ausmaß der Bau von

Eisenbahnlinien in Georgia im 19. Jahrhundert auf die Arbeit schwarzer

StrÀflinge angewiesen war. Er erinnert uns auch daran, dass wir auf der

Peachtree Street, die berĂŒhmteste Straße in Atlanta, auf dem RĂŒcken von

StrĂ€flingen fahren: „Die berĂŒhmte Peachtree Street und der Rest von

Atlantas gut gepflasterten Straßen und moderner Verkehrsinfrastruktur

die dazu beitrugen, Atlantas Platz als Handelszentrum des modernen

SĂŒdens zu festigen, wurden ursprĂŒnglich von StrĂ€flingen

angelegt.“Lichtensteins Hauptargument ist, dass das StrĂ€flingsleasing

keine irrationale Regression war; es war nicht in erster Linie ein

RĂŒckfall in vorkapitalistische Produktionsweisen. Vielmehr war es ein

höchst effizienter und rationaler Einsatz rassistischer Strategien zur

raschen Industrialisierung des SĂŒdens.

In diesem Sinne, so argumentiert er, war die StrÀflingsarbeit in

vielerlei Hinsicht die Vorhut der ersten zaghaften, ambivalenten

Schritte in Richtung Moderne. Diejenigen von uns, die Gelegenheit

hatten, HerrenhÀuser aus dem neunzehnten Jahrhundert zu besichtigen, die

ursprĂŒnglich auf Sklavenplantagen errichtet wurden, begnĂŒgen sich selten

mit einer Àsthetischen Bewertung dieser Strukturen, so schön sie auch

sein mögen. In unserem Umfeld kursieren genĂŒgend visuelle Bilder von

schuftenden schwarzen Sklaven, die sich abrackern mussten, um uns die

BrutalitÀt vorzustellen, die sich unter der OberflÀche dieser

wundervollen Villen verbirgt. Wir haben gelernt, die Rolle der

Sklavenarbeit zu erkennen, ebenso wie den Rassismus, den sie

verkörperte. Aber die Arbeit der schwarzen StrÀflinge bleibt eine

verborgene Dimension unserer Geschichte. Es ist Ă€ußerst beunruhigend,

wenn man sich vorstellt, dass moderne, industrialisierte Stadtgebiete

durch rassistischen Arbeitsbedingungen der Strafknechtschaft entstanden

sind, die von Historikern oft als noch schlimmer als die Sklaverei

beschrieben werden.

Ich bin in der Stadt Birmingham, Alabama, aufgewachsen. Wegen ihrer

Minen - Kohle und Eisenerz - und ihrer Stahlwerke, die bis zur

Deindustrialisierung in den 1980er Jahren in Betrieb blieben, war die

Stadt weithin als „das Pittsburgh des SĂŒdens“ genannt. Die VĂ€ter vieler

meiner Freunde arbeiteten in diesen Minen und MĂŒhlen. Erst vor kurzem

habe ich erfahren, dass die schwarzen Bergleute und Stahlarbeiter, die

ich in meiner Kindheit kannte ihren Platz in der industriellen

Entwicklung Birminghams von schwarzen StrĂ€flingen ĂŒbernommen hatten, die

im Rahmen des Pachtsystems zu dieser Arbeit gezwungen wurden.

Wie Curtin feststellt:

Viele ehemalige Strafgefangene wurden Bergarbeiter, weil Alabama in

seinen Kohleminen in großem Umfang GefĂ€ngnisarbeiter einsetzte. Bis 1888

waren alle arbeitsfĂ€higen mĂ€nnlichen Gefangenen Alabamas an zwei große

Bergbauunternehmen verpachtet: die Tennessee Coal and Iron Company (TCI)

und die Sloss Iron and Steel Company. Gegen eine GebĂŒhr von bis zu 18,50

Dollar pro Monat und Mann mieteten diese Unternehmen GefÀngnisarbeiter

und ließen sie in Kohleminen arbeiten.

Das Wissen um diese wenig beachtete Dimension der Geschichte der

Schwarzen und der Arbeiterschaft hat mich veranlasst meine eigenen

Kindheitserfahrungen neu zu bewerten. Einer der vielen Tricks, die der

Rassismus anwendet, besteht darin, dass er die historischen BeitrÀge von

farbigen Menschen praktisch auslöscht. Wir haben hier ein

Strafvollzugssystem, das in vielerlei Hinsicht rassistisch war -

diskriminierende Verhaftungen und Verurteilungen, Arbeitsbedingungen,

Art der Bestrafung - zusammen mit der rassistischen Auslöschung der

bedeutenden BeitrÀge, die schwarze StrÀflinge aufgrund von rassistischem

Zwang geleistet haben. So wie es schwierig ist, sich vorzustellen, wie

viel den StrÀflingen zu verdanken ist, die im neunzehnten und

zwanzigsten Jahrhundert in die Strafkolonie verbannt wurden, fÀllt es

uns heute schwer, eine Verbindung zu den Gefangenen zu spĂŒren, die eine

wachsende Zahl von GĂŒtern produzieren, die wir in unserem tĂ€glichen

Leben als selbstverstÀndlich ansehen. Im Staat Kalifornien werden

öffentliche Colleges und UniversitÀten mit Möbeln ausgestattet, die von

Gefangenen hergestellt wurden. Die große Mehrheit von ihnen sind Latinos

und Schwarze.

Es gibt Aspekte unserer Geschichte, die wir hinterfragen und ĂŒberdenken

mĂŒssen, deren Anerkennung dabei helfen kann, eine komplexere und

kritischere Haltung gegenĂŒber der Gegenwart und der Zukunft einzunehmen.

Ich habe mich auf die Arbeit einiger Wissenschaftler konzentriert, deren

Arbeit uns dazu anregt, Fragen ĂŒber die Vergangenheit, Gegenwart und

Zukunft zu stellen. Curtin zum Beispiel begnĂŒgt sich nicht damit, den

Stellenwert des Bergbaus und der Stahlindustrie im Leben der Schwarzen

in Alabama neu zu untersuchen. Sie nutzt ihre Recherchen auch, um uns

dazu anzuregen, ĂŒber die unheimlichen Parallelen zwischen dem

StrÀflingspachtsystem im 20.Jahrhundert und der GefÀngnisprivatisierung

im 21. Jahrhundert nachzudenken.

Im spÀten neunzehnten Jahrhundert wollten die Kohleunternehmen ihre

qualifizierten GefÀngnisarbeiter so lange wie möglich behalten, was zu

Verweigerungen von „Kurzarbeit“ fĂŒhrte. Heute ist die wirtschaftliche

Situation etwas anders, dennnoch kann ein wirtschaftlicher Anreiz zu

Ă€hnlichen Konsequenzen fĂŒhren. Die CCA [Corrections Corporation of

America] wird pro HĂ€ftling bezahlt. Wenn der Nachschub versiegt oder zu

viele Gefangene zu frĂŒh entlassen werden, wirkt sich das auf ihre

Gewinne aus. LÀngere Haftzeiten bedeuten höhere Gewinne, aber der

springende Punkt ist, dass das Profitmotiv mehr Inhaftierung fordert.

Das Fortbestehen des GefÀngnisses als Hauptform der Bestrafung, mit

seinen rassistischen und sexistischen Aspekten hat zu dieser

historischen KontinuitÀt zwischen dem StrÀflingspachtsystem des

neunzehnten und frĂŒhen zwanzigsten Jahrhunderts und dem heutigen

privatisierten GefĂ€ngnisbetrieb gefĂŒhrt. WĂ€hrend das

StrÀflingspachtsystem rechtlich abgeschafft wurde, sind seine

Ausbeutungsstrukturen in den Privatisierungsmustern und allgemeiner im

industiellen GefÀngniskomplex wieder aufgetaucht.

Wenn das GefÀngnis weiterhin die Landschaft der Bestrafung in diesem und

im nÀchsten Jahrhundert dominiert, was könnte dann auf die kommenden

Generationen verarmter Afroamerikaner, Latinos, amerikanischer

Ureinwohner_innen und asiatischer Amerikaner_innen zukommen? Angesichts

der Parallelen zwischen dem GefÀngnis und der Sklaverei könnte eine

produktive Übung darin bestehen, darĂŒber zu spekulieren, wie die

Gegenwart aussehen könnte, wenn die Sklaverei oder ihr Nachfolger, das

StrÀflingspachtsystem, nicht abgeschafft worden wÀre.

NatĂŒrlich will ich nicht behaupten, dass die Abschaffung der Sklaverei

und des Pachtsystems ein Zeitalter der Gleichheit und Gerechtigkeit

gebracht hat. Im Gegenteil, Rassismus definiert soziale und

wirtschaftliche Strukturen auf eine Art und Weise, die schwer zu

erkennen ist und daher viel mehr Schaden anrichtet. In einigen Staaten

sind zum Beispiel mehr als ein Drittel der schwarzen MĂ€nner als

Schwerverbrecher eingestuft worden.

In Alabama und Florida gilt: einmal ein Verbrecher, immer Verbrecher,

was den Verlust von BĂŒrgerrechten zur Folge hat. Eine der

schwerwiegenden Folgen der mÀchtigen Reichweite des GefÀngnisses war im

Jahr 2000 die Wahl von George W. Bush zum PrÀsidenten. Wenn die

schwarzen MĂ€nner und Frauen, denen aufgrund einer Verurteilung oder

mutmaßlicher Straftaten das Wahlrecht verweigert wurde, hĂ€tten wĂ€hlen

können, hĂ€tte Bush nie im Weißen Haus gesessen. Vielleicht wĂ€ren die

schrecklichen Konsequenzen des Krieges gegen den Terrorismus, der im

ersten Jahr seiner Amtszeit erklÀrt wurde, der Welt erspart geblieben.

WÀre er nicht gewÀhlt worden, hÀtten die Menschen im Irak nicht Tod,

Zerstörung und Umweltvergiftung durch das US-MilitĂ€r erleiden mĂŒssen. So

entsetzlich die derzeitige politische Situation auch sein mag, stellen

Sie sich vor, wie unser Leben verlaufen wÀre, wenn wir immer noch mit

der Institution der Sklaverei zu kÀmpfen hÀtten - oder mit dem

StrĂ€flingsleasing oder der Rassentrennung. Aber wir mĂŒssen nicht darĂŒber

spekulieren, wie wir mit den Folgen des GefÀngnisses leben. Es gibt mehr

als genug Beweise im Leben von Menschen , die von immer repressiveren

Institutionen in Anspruch genommen werden und denen der Zugang zu ihren

Familien, ihren Gemeinschaften, zu Bildungsmöglichkeiten, zu produktiver

und kreativer Arbeit, zu körperlicher und geistiger Erholung verwehrt

wird. Und es gibt sogar noch zwingendere Beweise fĂŒr den Schaden, den

die Ausweitung des GefÀngnissystems in den Schulen in armen farbigen

Gemeinden, die die Strukturen und Regime des GefÀngnisses reproduzieren.

Wenn Kinder Schulen besuchen, in denen mehr Wert auf Disziplin und

Sicherheit gelegt wird, als auf Wissen und intellektuelle Entwicklung,

besuchen sie Vorbereitungsschulen fĂŒr das GefĂ€ngnis. Wenn dies die

Situation ist, in der wir uns heute befinden, was könnte dann die

Zukunft bringen, wenn das GefĂ€ngnissystem eine noch grĂ¶ĂŸere PrĂ€senz in

unserer Gesellschaft erlangt? Im neunzehnten Jahrhundert bestanden

Antisklaverei-Aktivist_innen darauf, dass die Zukunft der Demokratie in

der Tat dĂŒster sei, solange die Sklaverei fortbestehe. Im 21.

Jahrhundert beharren GefÀngnisgegner_innen darauf, dass eine

grundlegende Voraussetzung fĂŒr die Wiederbelebung der Demokratie die

lĂ€ngst ĂŒberfĂ€llige Abschaffung des GefĂ€ngnissystems ist.

Kapitel 3 Strafvollzug und Reform

Man sollte sich daran erinnern, dass die Bewegung zur Reformierung der

GefÀngnisse, zur Kontrolle ihrer Funktion kein neues PhÀnomen ist. Sie

scheint nicht einmal der Erkenntnis des Scheiterns zu entspringen.Die

„Reform“ der GefĂ€ngnisse ist praktisch gleichbedeutend mit dem GefĂ€ngnis

selbst: Sie konsituiert es, als wÀre sie sein Programm - Michel Foucault

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das GefÀngnis selbst ein Produkt

der konzertierten BemĂŒhungen von Reformern war, ein besseres System der

Bestrafung zu schaffen. Wenn uns die Worte „GefĂ€ngnisreform“ so leicht

ĂŒber die Lippen kommen, dann deshalb weil „GefĂ€ngnis“ und „Reform“

untrennbar miteinander verbunden sind, seitdem das die Haft das

wichtigstes Mittel zur Bestrafung von Menschen, die gegen soziale Normen

verstoßen, wurde.

Wie bereits angedeutet, sind die UrsprĂŒnge des GefĂ€ngnisses eng mit der

Amerikanischen Revolution und daher mit dem Widerstand gegen die

englische Kolonialmacht verknĂŒpft. Heute erscheint es ironisch, aber die

Inhaftierung in einem Zuchthaus galt als human - zumindest weitaus

humaner als die aus England anderen europĂ€ischen LĂ€ndern ĂŒbernommenen

Todes- und Körperstrafen. Foucault eröffnet seine Studie Überwachen und

Strafen: Die Geburt des GefÀngnisses[?], mit der Beschreibung einer

Hinrichtung im Jahr 1757 in Paris.

Der zum Tode Verurteilte wurde zunÀchst einer Reihe von schrecklichen

Folterungen unterworfen, die vom Gericht angeordnet wurden. Mit

glĂŒhenden Zangen wurde ihm das Fleisch von den Gliedern gebrannt, und

geschmolzenes Blei, kochendes Öl, brennendes Harz und andere Substanzen

wurden zusammengeschmolzen und auf die Wunden gegossen. Schließlich

wurde er gevierteilt, sein Körper verbrannt und die Asche in den Wind

gestreut.

Nach dem englischen Gewohnheitsrecht fĂŒhrte eine Verurteilung wegen

Sodomie zur Strafe, lebendig begraben zu werden. Verurteilte Ketzer

wurden ebenfalls lebendig verbrannt. Das Verbrechen des Ehebruchs durch

eine Frau wurde nach dem Gewohnheitsrecht zunÀchst mit der lebendigen

Verbrennung der Angeklagten bestraft. Im Jahr 1790 wurde diese Methode

jedoch eingestellt und die Strafe wurde durch Strangulation und

Verbrennung des Leichnams ersetzt. EuropÀische und amerikanische

Reformer machten sich daran, makabre Strafen und andere Formen der

körperlichen ZĂŒchtigung wie Pranger, Auspeitschen, Brandmarken und

Amputationen abzuschaffen. Vor dem Aufkommen der Strafhaft waren die

Körperstrafen darauf ausgerichtet, nicht so sehr auf die bestrafte

Person, sondern auf die Menge der Zuschauer einzuwirken. Bestrafung war

im Wesentlichen ein öffentliches Spektakel. Reformer wie John Howard in

England und Benjamin Rush in Pennsylvania vertraten die Ansicht, dass

die Bestrafung - wenn sie in der Isolation, hinter den Mauern des

GefÀngnisses vollzogen wird, nicht lÀnger eine Form der Rache ist,

sondern diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen haben, tatsĂ€chlich

reformiert. Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die

Bestrafung nicht ohne geschlechtsspezifische Dimensionen war. Frauen

wurden oft im hÀuslichen Bereich bestraft, und Folterinstrumente wurden

manchmal von der Obrigkeit in den Haushalt eingefĂŒhrt. Im Großbritannien

des siebzehnten Jahrhunderts wurden Frauen, von ihren EhemÀnnern als

streitsĂŒchtig und die mĂ€nnliche Dominanz herausfordernd denunziert und

mithilfe von Branks, einer Kopfbedeckung mit einer Kette und einem

Eisengebiss, das in den Mund der Frau gesetzt wurde bestraft. Obwohl das

Brankieren von Frauen oft mit einer öffentlichen Parade verbunden war,

wurde diese Vorrichtung manchmal auch an einer Hauswand befestigt, wo

die bestrafte Frau bleiben musste bis ihr Mann beschloss, sie

freizulassen. Ich erwÀhne diese Formen der Bestrafung von Frauen, weil

sie, wie die Bestrafung von Sklaven, nur selten von GefÀngnisreformern

aufgegriffen wurden. Andere Formen der Bestrafung, die der Entstehung

des GefÀngnisses vorausgingen, waren Verbannung, Zwangsarbeit auf

Galeeren, Transport und die Beschlagnahmung des Eigentums des

Angeklagten. Die strafende ÜberfĂŒhrung einer großen Zahl von Menschen

aus England beispielsweise erleichterte die anfÀngliche Kolonisierung

Australiens. Transportierte englische StrÀflinge besiedelten auch die

nordamerikanische Kolonie Georgia. In den frĂŒhen 1700er Jahren war ein

Achtel der transportierten StrÀflinge eine Frau, und die Arbeit, zu der

sie gezwungen wurden, war hÀufig die Prostitution. Das GefÀngnis wurde

in Europa erst im 18. Jahrhundert und in den Vereinigten Staaten im 19.

Jahrhundert als Hauptstrafart eingefĂŒhrt. EuropĂ€ische GefĂ€ngnissysteme

waren in Asien und Afrika wichtiger Bestandteil des Aufbaus der

Kolonialherrschaft. In Indien zum Beispiel wurde in der zweiten HĂ€lfte

des 18. Jahrhunderts mit der Erreichung von Haftanstalten in den

Regionen von Kakutta und Madras das englische GefÀngnissystem

eingefĂŒhrt. In Europa spiegelten die Bewegungen fĂŒr Freiheitsstrafen und

gegen die Todesstrafe und andere körperliche Bestrafungen neue

intellektuelle Tendenzen der AufklÀrung, aktivistische Interventionen

protestantischer Reformatoren und strukturelle VerÀnderungen im

Zusammenhang mit dem Aufstieg des Industriekapitalismus wieder.

In Mailand veröffentlichte 1764 Cesare Beccaria seinen Essay ĂŒber

Verbrechen und Strafen, das stark von den Gleichheitsvorstellungen der

Philosophen, insbesondere von Voltaire, Rousseau und Montesquieu,

beeinflusst war. Beccaria vertrat die Ansicht, dass Bestrafung niemals

eine private Angelegenheit sein und auch nicht willkĂŒrlich erfolgen

sollte. Vielmehr sollte sie öffentlich, schnell und so milde wie möglich

sein. Er enthĂŒllte die WidersprĂŒchlichkeit eines damals ein

charakteristischen Merkmals der Freiheitsstrafe: Der Tatsache, dass sie

im Allgemeinen verhĂ€ngt wurde, bevor ĂŒber Schuld oder Unschuld des/der

Angeklagten entschieden war.

Die Inhaftierung selbst wurde jedoch schließlich zur Strafe, wodurch

eine Unterscheidung zwischen Freiheitsentzug als Strafe oder Haft bis

zur VerhÀngung der Strafe (Untersuchungshaft) entstand. Die

Entwicklungen, durch die die Inhaftierung zur hÀufigsten Form der

staatlichen Strafe wurde, waren eng mit dem Aufstieg des Kapitalismus

und dem Auftreten neuer ideologischer Bedingungen verbunden. Diese neuen

Bedingungen spiegelten den Aufstieg der Bourgeoisie als die soziale

Klasse, deren Interessen und Bestrebungen neue wissenschaftliche,

philosophische, kulturelle und populÀre Ideen förderten. Es ist daher

wichtig, die Tatsache zu begreifen, dass das GefÀngnis, wie wir es heute

kennen auf der historischen BĂŒhne nicht als die ĂŒberlegene Form der

Bestrafung aller Zeiten auftrat. GefÀngnis war einfach das - auch wenn

wir die KomplexitÀt dieses Prozesses nicht unterschÀtzen sollten - was

zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte am sinnvollsten war. Es

ist daher mehr als fraglich, ob ein System das eng mit der historischen

Situation des 18. und 19. Jahrhunderts verbunden war, einen absoluten

Anspruch auf das einundzwanzigste Jahrhundert erheben kann.

An dieser Stelle unserer Untersuchung ist es vielleicht wichtig, den

radikalen Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Individuums,

der sich in den Ideen dieser Epoche abzeichnete, zu untersuchen. Mit dem

Aufstieg des des BĂŒrgertums wurde das Individuum als TrĂ€ger formaler

Rechte und Freiheiten betrachtet. Die ErklĂ€rung der unverĂ€ußerlichen

Rechte und Freiheiten des Individuums wurde schließlich in „Liberte,

Egalite, Fraternite“ aus der Französischen Revolution und „Wir halten

diese Wahrheiten fĂŒr offensichtlich: Alle Menschen sind gleich

geschaffen“ aus der Amerikanischen Revolution festgehalten. Dies waren

neue und radikale Ideen, auch wenn sie nicht auf Frauen, Arbeiter_innen,

Afrikaner_innen und Native Americans ausgedehnt wurden. Bevor die

Unantastbarkeit der individuellen Rechte anerkannt wurde, konnte die

Inhaftierung nicht als Bestrafung verstanden werden. Wenn das Individuum

keine unverĂ€ußerlichen Rechte und Freiheiten besitzt, dann hĂ€tte der

Entzug dieser Rechte und Freiheiten durch die Entfernung aus der

Gesellschaft in einen einen tyrannisch vom Staat regierten Raum keinen

Sinn gemacht. Die Verbannung ĂŒber die geografischen Grenzen der Stadt

hinaus mag sinnvoll gewesen sein, nicht aber die Änderung des

Rechtsstatus des Einzelnen durch die VerhÀngung einer GefÀngnisstrafe.

DarĂŒber hinaus ist die GefĂ€ngnisstrafe, die immer in Form von Zeit

berechnet wird, eine sehr abstrakte Art zu messen und geht einher mit

dem Aufstieg der Wissenschaft und dem, was oft als Zeitalter der

Vernunft bezeichnet wird. Wir sollten uns vor Augen halten, dass dies

genau die historische Periode war, in der begonnen wurde, den Wert der

Arbeit in Zeit zu berechnen und daher auf eine andere quantifizierbare

Weise zu entschÀdigen, nÀmlich durch Geld. Die Berechenbarkeit

staatlicher Strafen in Form von Monaten und Jahren entspricht genau der

Rolle der Arbeitszeit als Grundlage fĂŒr die Berechnung des Werts der

kapitalistischen Waren. Marxistische Theoretiker haben festgestellt,

dass genau die historische Periode, in der die Warenform entstanden ist,

auch die Epoche ist, in der sich das Zuchthaus als primÀre Form der

Bestrafung durchgesetzt hat.

Heute gibt es eine wachsende soziale Bewegung, die die Vorherrschaft des

Kapitalismus ĂŒber die Erde, ihre Menschen, Tiere und Pflanzen sowie die

Ausbeutung der natĂŒrlichen Ressourcen durch Konzerne, die in erster

Linie an der Steigerung der Produktion und Zirkulation von immer

profitableren Waren interessiert sind, direkt in Frage stellt. Dies ist

eine Herausforderung, an die Vorherrschaft der Warenform; ein

zunehmender Widerstand gegen die Tendenz, jeden Aspekt der Existenz auf

diesem Planeten in eine Ware zu verwandeln. Wir sollten uns fragen, ob

dieser neue Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung auch den

Widerstand gegen das GefĂ€ngnis einschließen sollte.

Bislang habe ich die historische Entwicklung des GefÀngnisses und seiner

Reformer_innen weitgehend geschlechtsneutral beschrieben. Aber die

Verurteilten, die in den entstehenden Justizsystemen mit GefÀngnis

bestraft wurden, waren ĂŒberwiegend mĂ€nnlich. Dies spiegelte die stark

geschlechtsspezifisch geprÀgte Struktur der rechtlichen, politischen und

wirtschaftlichen Rechte wider. Da Frauen der öffentliche Status als

rechtstragende Person weitgehend verwehrt war, konnten sie nicht ohne

Weiteres mit dem Entzug dieser Rechte durch Inhaftierung bestraft

werden. Dies galt insbesondere fĂŒr verheiratete Frauen, die vor dem

Gesetz keine Stellung hatten. GemĂ€ĂŸ englischen Gewohnheitsrecht fĂŒhrte

die Heirat zu einem Zustand des „zivilen Todes“, der dadurch

symbolisiert wurde, dass die Frau den Namen des Mannes annahm. Folglich

wurde sie eher fĂŒr die Auflehnung gegen ihre hĂ€uslichen Pflichten

bestraft und nicht fĂŒr das Versagen bei ihren bescheidenen öffentlichen

Pflichten. Der Abstieg der weißen Frauen auf die hĂ€usliche Wirtschaft

hinderte sie daran, eine wichtige Rolle in der entstehenden Warenwelt zu

spielen. Dies galt umso mehr, da die Lohnarbeit typischerweise als

mĂ€nnlich und rassisch als weiß eingestuft wurde. Es ist kein Zufall,

dass die hĂ€usliche ZĂŒchtigung von Frauen noch lange fortbestand, nachdem

diese Bestrafungsformen fĂŒr (weiße) MĂ€nner obsolet geworden waren. Das

Fortbestehen von hĂ€uslicher Gewalt ist ein schmerzhafter Beweis fĂŒr

diese historischen Formen der geschlechtsspezifischen Bestrafung.

Einige Wissenschaftler_innen argumentieren, das Wort „Penitentiary“ (von

engl. „penitent “ = reumĂŒtig) sei möglicherweise erstmals im

Zusammenhang mit PlĂ€nen verwendet worden, die 1758 in England fĂŒr die

Unterbringung von „reumĂŒtigen Prostituierten“ entworfen wurden. Im Jahr

1777 veröffentlichte John Howard, fĂŒhrender protestantischer BefĂŒrworter

der Strafrechtsreform in England, „The State of the Prisons“, in dem er

die Inhaftierung als Gelegenheit zur religiösen Selbstreflexion und

Selbstreform beschreibt. Zwischen 1787 und 1791 veröffentlichte der

utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham seine Briefe ĂŒber ein

GefÀngnismodell, das er das Panopticon nannte. Bentham behauptete, dass

Kriminelle nur dann produktive Arbeitsgewohnheiten verinnerlichen

könnten, wenn sie unter stĂ€ndiger Überwachung stĂŒnden. Nach seinem

Panopticon-Modell sollten die Gefangenen in Einzelzellen auf

kreisförmigen Etagen untergebracht werden, die alle zu einem

mehrstöckigen Wachturm ausgerichtet sind. Mit Hilfe von Jalousien und

einem komplizierten Spiel von Licht und Dunkelheit sollten sich die

Gefangenen die sich gegenseitig nicht sehen können, auch WÀrter_innen

nicht sehen können. Von seinem Aussichtspunkt aus könnten die

WĂ€rter_innen hingegen alle Gefangenen sehen. Allerdings - und das war

der wichtigste Aspekt von Benthams Panoptikum, kann jede_r einzelne

Gefangene niemals sicher sein, wohin der Blick des Aufsehers gerichtet

ist, und ist gezwungen so zu handeln, d. h. zu arbeiten, als ob er_sie

stĂ€ndig beobachtet wĂŒrde.

Wenn wir Howards Betonung auf disziplinierte Selbstreflexion mit

Benthams Ideen ĂŒber die Technologie zur Verinnerlichung von Überwachung

und Disziplinierung zur Aufgabe des einzelnen Gefangenen vereinen,

können wir erkennen, wie weitreichende Konsequenzen eine solche

Konzeption des GefĂ€ngnisses hatte. Die Bedingungen fĂŒr diese neue Form

der Bestrafung waren fest in einer historischen Epoche verankert, in der

die Arbeiterklasse als eine Armee von selbstdisziplinierten Individuen

konstituiert werden musste, die in der Lage waren, fĂŒr ein sich

entwickelndes kapitalistisches System erforderliche Industriearbeit zu

leisten.

Die Ideen von John Howard wurden in den Penitentiary Act von 1799

aufgenommen, der den Weg fĂŒr das moderne GefĂ€ngnis ebnete. WĂ€hrend

Jeremy Benthams Ideen die Entwicklung der 1816 eröffneten nationalen

englischen Strafvollzugsanstalt in Millbank beeinflusst haben, fand der

erste umfassende Versuch, ein Panopticon zu schaffen, in den Vereinigten

Staaten statt. Das Western State Penitentiary in Pittsburgh, das auf

einem ĂŒberarbeiteten architektonischen Modell des Panoptikums basierte,

wurde 1826 eröffnet. Aber das Zuchthaus hatte bereits in den Vereinigten

Staaten Einzug gehalten Das Walnut Street Jail in Pennsylvania

beherbergte das erste LandesgefÀngnis der Vereinigten Staaten, als ein

Teil des GebÀudes 1790 von einer Haftanstalt in eine Institution

umgewandelt wurde, wo Haftstrafen gleichzeitig als Strafe und als

Gelegenheit zur Buße und Reform fungierten.

Das strenge Regime der Walnut Street - totale Isolation in Einzelzellen,

in denen die Gefangenen lebten, aßen, arbeiteten, die Bibel lasen

(sofern sie ĂŒberhaupt lesen konnten) und angeblich nachdachten und Buße

taten, wurde als das Pennsylvania-System bekannt. Dieses System sollte

eines der beiden wichtigsten zwei Modelle der Inhaftierung der Epoche

werden. Obwohl das andere Modell, das in Auburn, New York, entwickelt

wurde als Konkurrent des Pennsylvania-Systems angesehen wurde,

unterschieden sich die philosophischen Grundlagen der beiden Modelle

nicht wesentlich. Das Modell von Pennsylvania, das sich schließlich in

der Eastern State Penitentiary in Cherry Hill herauskristallisierte -

dessen PlÀne 1821 genehmigt wurden - betonte die totale Isolation,

Stille und Einsamkeit, wÀhrend das Auburn-Modell Einzelzellen, aber

gemeinsame Arbeit vorsah. Diese als „congregate“ bezeichnete Form der

GefÀngnisarbeit sollte sich in völliger Stille entfalten. Die HÀftlinge

durften wÀhrend der Arbeit zusammen sein, aber nur unter der Bedingung

der Stille. Aufgrund der effizienteren Arbeitsmethoden wurde Auburn

schließlich zum vorherrschenden Modell, sowohl fĂŒr die Vereinigten

Staaten als auch fĂŒr Europa.

Warum sollten die Reformer_innen des 18. und 19. Jahrhundert so sehr in

die Schaffung von Strafbedingungen auf der Grundlage von Einzelhaft

investieren? Heute gilt die Einzelhaft - neben dem Tod - als die

schlimmste Form der Strafe, die man sich vorstellen kann. Damals wurde

ihr jedoch eine emanzipatorische Wirkung zugesprochen. Der Körper wurde

in die Einsamkeit gebracht, damit sich die Seele entfalten könne. Es ist

kein Zufall, dass die meisten Reformator_innen jener Zeit tief religiös

waren und daher die Architektur und das System des Zuchthauses eine

Nachahmung der Architektur und des Systems des klösterlichen Lebens war.

Dennoch erkannten die Beobachter_innen des neuen Strafvollzugs schon

frĂŒh die zerstörerische Auswirkung von Isolationshaft. In einer oft

zitierten Passage seiner American Notes stellte Charles Dickens in einer

Beschreibung seines Besuchs im Eastern Penitentiary im Jahr 1842 fest,

dass „das System hier eine starre, strenge und hoffnungslose Einzelhaft

ist. Ich halte es in seinen Auswirkungen fĂŒr grausam und falsch.“

Ich bin fest davon ĂŒberzeugt, dass es in seiner Absicht gĂŒtig und human

ist und der Besserung dient; aber ich bin ĂŒberzeugt, dass diejenigen,

die sich dieses System der GefÀngnisdisziplin ausgedacht haben, und die

wohlwollenden Herren, die es ausfĂŒhren, nicht wissen, was sie tun. Ich

glaube, dass nur sehr wenige Menschen in der Lage sind, das ungeheure

Ausmaß an Folter und Qualen zu ermessen, das diese furchtbare, jahre

dauernde Strafe den Leidenden zufĂŒgt. Ich bin nur umso mehr davon

ĂŒberzeugt, dass es eine Tiefe des schrecklichen Ertragens gibt, die

niemand außer den Leidenden selbst ergrĂŒnden kann, und zu dem kein

Mensch das Recht hat, seine Mitmenschen zu quÀlen. Ich halte diese

langsamen und tĂ€glichen Eingriffe in die Geheimnisse des Gehirns fĂŒr

unermesslich schlimmer als jede Folter des des Körpers, weil die Wunden

nicht an der OberflÀche liegen und sie nur wenige Schreie hervorruft,

die menschliche Ohren hören können; darum prangere ich sie um so mehr

an, als eine geheime Strafe, die nur von einer schlummernden Menschheit

geduldet wird.

Anders als andere EuropÀer_innen wie Alexis de Tocqueville und Gustave

de Beaumont, die glaubten, dass eine solche Bestrafung zu einer

moralischen Erneuerung fĂŒhren und damit die StrĂ€flinge zu besseren

BĂŒrger_innen zu machen, war Dickens der Meinung, dass „diejenigen, die

diese Strafe erlitten haben, moralisch ungesund und krank in die

Gesellschaft zurĂŒckkehren MÜSSEN“. Diese frĂŒhe Kritik des Zuchthauses

und seines Regimes der Einzelhaft stört die Vorstellung, dass die

Inhaftierung die am besten geeignete Form der Bestrafung fĂŒr eine

demokratische Gesellschaft ist.

Der derzeitige Bau und Ausbau von HochsicherheitsgefÀngnissen auf

Bundes- und Landesebene, deren vermeintlicher Zweck es ist,

disziplinarische Probleme innerhalb des Strafvollzugs zu lösen, stĂŒtzt

sich auf die historische Konzeption des Strafvollzugs, der damals als

die fortschrittlichste Form der Bestrafung galt. Heute sind

Afroamerikaner_innen und Latinos in diesen HochsicherheitsgefÀngnissen

und Kontrollstellen stark ĂŒberreprĂ€sentiert. Sie sind entstanden, als

die Bundesvollzugsbehörden Inhaftierte von vielen Stellen, die sie fĂŒr

„gefĂ€hrlich“ hielten, in das BundesgefĂ€ngnis in Marion, Illinois,

schickten. Im Jahr 1983 wurde das gesamte GefĂ€ngnis „abgeriegelt“, was

bedeutete, dass die Gefangenen 23 Stunden am Tag in ihren Zellen

eingesperrt waren. Diese Schließung wurde irgendwann dauerhaft und das

allgemeine Modell fĂŒr das Kontrollzentrum und das

HochsicherheitsgefÀngnis war geschaffen. Heute gibt es 36 Bundes- und

StaatsgefÀngnisse mit höchster Sicherheitsstufe und viele weitere

HochsicherheitsgefÀngnisse in praktisch jedem Bundesstaat des Landes.

Eine Beschreibung der HochsicherheitsgefÀngnisse in einem Bericht von

Human Rights Watch aus dem Jahr 1997 klingt so erschreckend wie Dickens’

Beschreibung des Eastern State Penitentiary. Der Unterschied ist jedoch,

dass alle Hinweise auf individuelle Rehabilitation verschwunden sind.

Die Insassen der HochsicherheitsgefÀngnisse sind in der Regel in

Einzelzellen untergebracht.Gemeinsame AktivitÀten mit anderen Gefangenen

sind sind in der Regel verboten; andere Gefangene können von der Zelle

eines Insassen aus nicht einmal gesehen werden; die Kommunikation mit

anderen Gefangenen ist verboten oder erschwert (sie besteht z. B. darin,

von Zelle zu Zelle zu schreien); Besuchs- und Telefonrechte sind

eingeschrÀnkt.

Die neue Generation von HochsicherheitsgefÀngnissen setzt auch auf

modernste Technik zur Überwachung und Kontrolle des Verhaltens und der

Bewegung der Gefangenen z. B. mit Hilfe von VideoĂŒberwachungsanlagen und

ferngesteuerten elektronischen TĂŒren. „Diese GefĂ€ngnisse stehen fĂŒr die

Anwendung hochentwickelter, moderner Technologie, die der sozialen

Kontrolle dient. Sie isolieren, regulieren und ĂŒberwachen effektiver als

alles, was ihnen vorausgegangen ist“.

Ich habe die Ähnlichkeiten zwischen dem frĂŒhen US-Strafvollzug - mit

seinem Bestreben nach der individuellen Rehabilitation - und den

repressiven HochsicherheitsgefÀngnissen unserer Zeit hervorgehoben, um

die Beliebigkeit der Geschichte darzustellen. Was einst als

fortschrittlich und sogar revolutionÀr galt, stellt heute die Verbindung

von technologischer Überlegenheit und politischer RĂŒckstĂ€ndigkeit da.

Niemand - nicht einmal die glĂŒhendsten Verfechter des

HochsicherheitsgefĂ€ngnisses - wĂŒrden heute versuchen zu behaupten, dass

absolute Isolation, einschließlich Reizentzug, erholsam und heilend ist.

Die vorherrschende Rechtfertigung fĂŒr die Schrecken des

HochsicherheitsgefÀngnisses ist, dass die Schrecken, die es erzeugt, die

perfekte ErgĂ€nzung fĂŒr die schrecklichen Persönlichkeiten sind die vom

GefÀngnissystem als die Schlimmsten der Schlimmen angesehen werden. Mit

anderen Worten: Es wird nicht vorgegaukelt, dass Rechte geachtet werden,

es gibt keine RĂŒcksicht auf das Individuum, es gibt kein GefĂŒhl dafĂŒr,

dass Menschen die in den HochsicherheitsgefÀngnissen inhaftiert sind,

auch nur annÀhernd Respekt und Komfort verdienen. Laut einem 1999 vom

National Institute of Corrections herausgegebenen Bericht

ist die allgemeine VerfassungsmĂ€ĂŸigkeit der [Supermax-]Programme unklar.

Seit eine grĂ¶ĂŸere Anzahl von Gefangenen mit einer grĂ¶ĂŸeren Bandbreite

von Merkmalen, HintergrĂŒnde und Verhaltensweisen in diesen Einrichtungen

inhaftiert sind, steigt die Wahrscheinlichkeit einer rechtlichen

Anfechtung.

Im 18. und 19. Jahrhundert galten die absolute Einsamkeit und die

strenge Reglementierung aller Handlungen des Gefangenen als Strategien

zur VerÀnderung von Gewohnheiten und Moral. Die Idee, dass das GefÀngnis

die wichtigste Form der Bestrafung sein sollte, spiegelte den Glauben an

das Potenzial der weißen Menschen fĂŒr den Fortschritt, nicht nur in

Wissenschaft und Industrie, sondern auch auf der Ebene jedes einzelnen

Mitglieds der Gesellschaft. Die GefÀngnisreformer spiegelten die

Annahmen der AufklĂ€rung ĂŒber den Fortschritt in jedem Aspekt der

menschlichen - genauer gesagt der weißen westlichen - Gesellschaft. In

seiner 1987 erschienenen Studie „Fiction and the Architecture of

England“ stellt John Bender die sehr interessante These auf, dass die

aufkommende literarische Gattung des Romans einen Diskurs des

Fortschritts und der individuellen VerÀnderung förderte. Diese

Einstellungen, so Bender, kĂŒndigten die Konzeptionierung und Errichtung

von Strafanstalten an, die zugeschnitten auf die FĂ€higkeiten derjenigen

waren, die dem zugrundeliegen Menschenbild entsprachen.

Die Reformer_innen, die die Einrichtung neuer GebÀude und Strukturen im

Strafvollzug forderten, richteten ihre Kritik auf die GefÀngnisse, die

hauptsĂ€chlich fĂŒr Untersuchungshaft oder als alternative Strafe fĂŒr

diejenigen dienten, die nicht in der Lage waren, Geldstrafen zu

bezahlen. John Howard, der bekannteste unter diesen Reformern, war das

was man heute einen GefĂ€ngnisaktivisten nennen wĂŒrde. Ab 1773, im Alter

von siebenundvierzig Jahren, initiierte er eine Reihe von Besuchen, die

ihn „zu jeder Armenanstalt in Europa fĂŒhrten [...] ,[eine Kampagne], die

ihn sein Vermögen und 1791 in einem Typhuskrieg der russischen Armee in

Cherson schließlich sein Leben kostete.“Am Ende seiner ersten

Auslandsreise kandidierte er erfolgreich fĂŒr das Amt des Sheriffs in

Bedfordshire. Als Sheriff untersuchte er die GefÀngnisse in seinem

ZustĂ€ndigkeitsbereich und machte sich spĂ€ter „auf den Weg, jedes

GefÀngnis in England und Wales zu besuchen, um die MissstÀnde zu

dokumentieren, die er zuerst in Bedford beobachtet hatte“.

Bender argumentiert, dass der Roman dazu beitrug, diese Kampagnen zur

Umgestaltung der alten GefÀngnisse - die schmutzig und verwahrlost waren

und von der Bestechung der WĂ€rter lebten, in geordnete, rehabilitierende

Strafanstalten zu verwandeln. Er zeigt, dass Romane wie Moll Flanders

und Robinson Crusoe „die Macht der Gefangenschaft zur Umformung der

Persönlichkeit“ betonten und einige Ideen popularisierten, die die

Reformer zum Handeln bewegten. Wie Bender hervorhebt, kritisierten die

Reformer des achtzehnten Jahrhunderts die alten GefĂ€ngnisse fĂŒr ihr

Chaos, ihre fehlende Organisation und Klassifizierung, fĂŒr die leichte

VerfĂŒgbarkeit von Alkohol und Prostitution, die sie erlaubten, sowie die

Verbreitung von Krankheiten.

Die ĂŒberwiegend protestantischen Reformer, unter denen die QuĂ€ker

besonders stark vertreten waren, formulierten ihre Ideen grĂ¶ĂŸtenteils in

einem religiösen Rahmen. John Howard war zwar selbst kein QuÀker war -

er war ein unabhÀngiger Protestant -,

fĂŒhlte er sich dennoch zur Askese der QuĂ€ker hingezogen und nahm die

Kleidung „eines einfachen Freundes“ an. Seine eigene Art der Frömmigkeit

erinnerte stark an die QuÀkertraditionen des stillen Gebets, der

„leidenden“ Selbstbeobachtung und des Glaubens an die erleuchtende Kraft

des Lichts Gottes. Die QuÀker sahen die Idee der Gefangenschaft als

Fegefeuer, als erzwungener RĂŒckzug von den Ablenkungen der Sinne in die

stille und einsame Konfrontation mit dem eigenen Ich. Howard stellte

sich den Prozess der Reformation eines StrÀflings Àhnlich wie das

spirituelle Erwachen eines GlÀubigen in einer QuÀkerversammlung vor.

Michael Ignatieff zufolge lag Howards Beitrag jedoch nicht so sehr in

der ReligiösitĂ€t seiner ReformbemĂŒhungen.

Die OriginalitÀt von Howards Anklageschrift liegt in ihrem

„wissenschaftlichen“, nicht in ihrem moralischen Charakter. Er wurde

1756 zum Fellow der Royal Society gewÀhlt und verfasste mehrere

wissenschaftliche Abhandlungen ĂŒber klimatische Schwankungen in

Bedfordshire. Howard war einer der ersten Philanthropen, der eine

systematische statistische Beschreibung eines sozialen Problems

versuchte.

Auch Benders Analyse des VerhÀltnisses zwischen dem Roman und dem

Strafvollzug unterstreicht, inwieweit die philosophischen Grundlagen der

Kampagnen des GefÀngnisreformers den Materialismus und Utilitarismus der

englischen AufklÀrung widerspiegeln. Die Kampagne zur Umgestaltung der

GefÀngnisse war ein Projekt zur Durchsetzung von Ordnung,

Klassifizierung, Sauberkeit, guten Arbeitsgewohnheiten und

Selbstbewußtsein. Er argumentiert, dass die in den alten GefĂ€ngnissen

inhaftierten Personen nicht streng eingeschrÀnkt waren. Manchmal konnten

sie sich sogar frei im GefÀngnis bewegen und es verlassen. Sie mussten

nicht arbeiten und konnten, je nach ihren eigenen Mitteln, essen und

trinken, wie sie wollten. Sogar Sex war manchmal möglich, denn

Prostituierte durften zeitweise in die GefÀngnisse. Howard und andere

Reformer forderten die EinfĂŒhrung strenger Regeln, die „Einsamkeit und

Buße, Sauberkeit und Arbeit erzwingen“ wĂŒrden. Bender zufolge „lösten

die neuen ZuchthÀuser sowohl die alten GefÀngnisse als auch die

Besserungsanstalten ab und richteten sich ausdrĂŒcklich an drei Ziele:

Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb einer weitgehend stÀdtischen

Arbeiterschaft, Erlösung der Seele und rationalisierung der

PersonalitĂ€t.“Er argumentiert, dass dies genau das ist, was der Roman

erzÀhlerisch erreicht hat. Er ordnete und klassifizierte das soziale

Leben, er stellte die Individuen als bewusst, selbstreflektiert und

selbstgestaltend dar. Bender sieht also eine Verwandtschaft zwischen

zwei wichtigen kulturellen Entwickungen - dem Aufstieg des Romans in der

kulturellen SphÀre und dem Aufstieg des Strafvollzugs in der

sozio-juristischen SphÀre.

Wenn der Roman als kulturelle Form zur Entstehung des Strafvollzugs

beigetragen hat, dann mĂŒssen die GefĂ€ngnisreformer von den Ideen

beeinflusst worden sein, die durch den Roman des achtzehnten

Jahrhunderts verbreitet wurden. Die Literatur hat bei den Kampagnen rund

um das GefÀngnis weiterhin eine Rolle gespielt. Im zwanzigsten

Jahrhundert erlebte vor allem die GefÀngnisliteratur periodische Wellen

der PopularitÀt.

Die öffentliche Anerkennung von GefÀngnisliteratur in den Vereinigten

Staaten entwickelte sich gemeinsam mit dem Einfluss von sozialen

Bewegungen, die Reformen und/oder die Abschaffung der GefÀngnisse

forderten. Robert Burns’ I Am a Fugitive from a Georgia Chain Gang und

der darauf basierende Hollywood-Film von 1932 spielten eine zentrale

Rolle bei der Kampagne zur Abschaffung der Arbeit in zusammengekÀtteten

Gruppen von StrÀflingen. In den 1970er Jahren, die von einer intensiven

Organisierung innerhalb und ĂŒber die GefĂ€ngnismauern hinweg geprĂ€gt

waren, folgten mehr Veröffentlichungen durch Gefangene, wie George

Jacksons Soledad Brother im Jahr 1970 und der von Bettina Aptheker mir

mit herausgegebenen Textsammlung If They Come in the Morning. Viele

GefÀngnisautor_innen entdeckten in jener Zeit das emanzipatorische

Potenzial des Schreibens fĂŒr sich und bauten entweder auf die

Ausbildung, die sie vor ihrer Inhaftierung erhalten hatten auf, bemĂŒhten

sich hartnÀckig um Selbst-Bildung oder begannen ihre schriftstellerische

TĂ€tigkeit als direkte Folge der Ausweitung der Bildungsprogramme dieser

Zeit. Mumia Abu-Jamal, der sich gegen den gegenwÀrtigen Abbau von

Bildungsprogrammen in GefÀngnissen wendet, fragt in Live from Death Row

Welchem gesellschaftlichen Interesse dienen analphabetische Gefangene?

Welcher gesellschaftliche Nutzen liegt in Ungebildetheit? Wie werden die

Menschen in der Haft korrigiert wenn ihnen Bildung verwehrt ist? Wer

profitiert (außer dem GefĂ€ngnisbetrieb selbst) von dummen Gefangenen?

Vor seiner Verhaftung im Jahr 1982 wegen des Mordes an dem Polizisten

Daniel Faulkner aus Philadelphia war Abu Jamal als Journalist tÀtig und

hat regelmĂ€ĂŸig Artikel ĂŒber die Todesstrafe verfasst. Er wies

insbesondere auf rassistische und klassistische Ungleichheit hin. Seine

Ideen haben dazu beigetragen, die Kritik an der Todesstrafe mit den

allgemeinen Herausforderungen an das expandierende US-GefÀngnissystem zu

verknĂŒpfen und sind besonders hilfreich fĂŒr Aktivist_innen, die

versuchen, die Abschaffung der Todesstrafe mit der Abschaffung der

GefĂ€ngnisse zu verknĂŒpfen. Seine Schriften zum Thema GefĂ€ngnis wurden

sowohl in populÀren als auch in wissenschaftlichen Zeitschriften

veröffentlicht (z.B. The Nation und Yale Law Journal) sowie in drei

Sammlungen, Live from Death Row, Death Blossoms, und All Things

Censored.

Abu-Jamal und viele andere GefÀngnisautoren haben haben das Verbot von

Pell Grants (staatliche UnterstĂŒtzung fĂŒr Studierende) fĂŒr Gefangene,

das im KriminalitÀtsgesetz von 1994 verankert wurde, scharf kritisiert.

Es ist bezeichnend fĂŒr den gegenwĂ€rtigen Abbau von Bildungsprogrammen

hinter Gittern. Genau so wie Kurse fĂŒr kreatives Schreiben fĂŒr Gefangene

gestrichen wurden, ist praktisch jede Literaturzeitschrift, die

Schreiben von Gefangenen veröffentlicht, zusammengebrochen. Von den

zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen, die hinter Gittern produziert

wurden, sind nur noch die Angolite im Angola-GefÀngnis in Louisiana und

die Prison Legal News im Washington State Prison geblieben. Dies

bedeutet, dass gerade in einer Zeit, in der sich eine bedeutende

Schreibkultur hinter Gittern entwickelte, repressive Strategien

eingesetzt werden, um die Gefangenen davon abzuhalten sich

weiterzubilden.

Wenn die Veröffentlichung der Autobiografie von Malcolm X einen

SchlĂŒsselmoment in der Entwicklung der GefĂ€ngnisliteratur und ein

vielversprechender Moment fĂŒr Gefangene, die versuchen, Bildung zu einem

wichtigen Bestandteil ihrer Zeit hinter Gittern zu machen war, werden

diese Hoffnungen durch die gegenwÀrtigen EinschrÀnkungen zunichte

gemacht. In den 1950er Jahren war Malcolms GefÀngnisbildung ein

dramatisches Beispiel fĂŒr die FĂ€higkeit der Gefangenen, ihre

Inhaftierung in eine transformative Erfahrung zu verwandeln. Da er keine

Möglichkeit hatte, Wissen zu organisieren, las er ein Wörterbuch und

schrieb jedes Wort mit der Hand ab. Als er sich in andere die LektĂŒre

vertiefen konnte, vergingen Monate, “ ohne dass ich auch nur daran

dachte, inhaftiert zu sein. In der Tat war ich bis dahin noch nie in

meinem Leben so frei gewesen.„Damals, so Malcolm, wurde bei Gefangenen,

die ein ungewöhnliches Interesse am Lesen zeigten, davon ausgegangen

dass sie Selbstrehabilitation betrieben und erhielten hÀufig besondere

Privilegien, wie z.B. die Möglichkeit, mehr als die maximale Anzahl von

BĂŒchern auszuleihen. Um diese Selbst-Bildung fortzusetzen, musste

Malcolm trotzdem gegen das GefÀngnisregime ankÀmpfen. Er las oft auf dem

Boden seiner Zelle, lange nachdem die Lichter ausgingen, im Schein des

Flurlichts, wobei er darauf achtete, jede Stunde fĂŒr die zwei Minuten,

in denen die Wache an seiner Zelle vorbeimarschierte, ins Bett

zurĂŒckzukehren.

Die aktuelle EinschrÀnkung des Schreibens und anderer Bildungsprogramme

im GefĂ€ngnis ist bezeichnend fĂŒr die offizielle VernachlĂ€ssigung

rehabilitativer Strategien, insbesondere solcher, die den Gefangenen

ermutigen, geistige Autonomie zu erlangen. Der Dokumentarfilm The Last

Graduation beschreibt die Rolle, die Gefangene bei der Einrichtung eines

vierjÀhrigen College-Programms im New Yorker Greenhaven Prison gespielt

haben und, zweiundzwanzig Jahre spÀter, die offizielle Entscheidung,

dieses Programm abzuschaffen. Laut Eddie Ellis, der fĂŒnfundzwanzig Jahre

im GefÀngnis verbracht hat und heute ein bekannter Sprecher der

Anti-GefĂ€ngnis-Bewegung ist: “ Als Folge von Attica kamen

College-Programme in die GefĂ€ngnisse.“

Nach dem Aufstand der Gefangenen in Attica 1971 und dem von der

Regierung angeordneten Massaker begann die öffentliche Meinung eine

GefĂ€ngnisreform zu befĂŒrworten. Dreiundvierzig Attica-Gefangene, elf

WÀrter und Zivilisten wurden von der Nationalgarde getötet, die von

Gouverneur Nelson Rockefeller den Befehl zur RĂŒckeroberung des

GefĂ€ngnisses erhalten hatte. Die AnfĂŒhrer der GefĂ€ngnisrebellion hatten

ihre Forderungen sehr genau kommuniziert. In ihren „praktischen

Forderungen“ Ă€ußerten sie Bedenken hinsichtlich der ErnĂ€hrung, der

Verbesserung des Verhaltens der WĂ€rter, realistischere

Rehabilitationsprogramme und bessere Bildungsprogramme. Sie forderten

außerdem Religionsfreiheit, die Freiheit, sich politisch zu betĂ€tigen,

und ein Ende der Zensur. All dies hielten sie fĂŒr ihre

BildungsbedĂŒrfnisse fĂŒr unerlĂ€sslich.

Wie Eddie Ellis in The Last Graduation beschreibt:

Die Gefangenen erkannten sehr frĂŒh, dass sie eine bessere Bildung

brauchten, dass sie, je mehr Bildung sie hatten, besser in der Lage

wÀren, mit sich selbst und den Problemen in den GefÀngnissen und den

Problemen der Gemeinschaften, aus denen die meisten von ihnen kamen,

umzugehen.

Lateef Islam, ein weiterer ehemaliger HĂ€ftling, der in diesem

Dokumentarfilm zu sehen ist, sagte: „Wir hielten Unterricht bevor das

College kam. Wir haben uns gegenseitig unterrichtet, manchmal unter

Androhung von PrĂŒgel.“Nach dem Attica-Aufstand wurden mehr als

fĂŒnfhundert Gefangene nach Greenhaven verlegt, darunter auch einige der

AnfĂŒhrer, die sich weiterhin fĂŒr Bildungsprogramme einsetzten. Als

direkte Folge der Forderungen begann das Marist College, ein staatliches

College in New York in der NĂ€he von Greenhaven, 1973 mit dem Angebot von

Kursen auf College-Niveau und schuf schließlich die Infrastruktur fĂŒr

ein vierjÀhriges College-Programm vor Ort. Das Programm florierte

zweiundzwanzig Jahre lang. Einige der vielen Gefangenen die in

Greenhaven ihren Abschluss gemacht haben, absolvierten nach ihrer

Entlassung ein Aufbaustudium. Wie der Dokumentarfilm eindrĂŒcklich zeigt,

brachte das Programm engagierte MÀnner hervor, die das GefÀngnis

verließen und ihr neu erworbenes Wissen und ihre FĂ€higkeiten ihren

Gemeinschaften draußen zur VerfĂŒgung stellten.

1994 befasste sich der Kongress entsprechend der allgemeinen Tendenz zu

mehr GefÀngnissen und Repression der Zeit mit der Frage der Streichung

der College-Finanzierung fĂŒr HĂ€ftlinge. Die Kongressdebatte endete mit

dem Beschluss eines Zusatzes zum KriminalitÀtsgesetz von 1994, der die

Streichung aller Pell Grants fĂŒr Gefangene vorsah und damit die

Streichung aller Hochschulbildungsprogramme. Nach zweiundzwanzig Jahren

war das Marist College gezwungen, sein Programm im Greenhaven-GefÀngnis

einzustellen. Der Dokumentarfilm dreht sich daher um die allerletzte

Abschlussfeier am 15. Juli 1995, und den ergreifenden Prozess des

AusrĂ€umens der BĂŒcher, die in vielerlei Hinsicht die Möglichkeiten der

Freiheit symbolisierten. Oder, wie einer der Marist-Professoren sagte:

„Sie sehen BĂŒcher als voller Gold“. Der Gefangene, der viele Jahre lang

als Angestellter des Colleges gearbeitet hatte, bemerkte traurig, dass

nun da die BĂŒcher entfernt wurden, es im GefĂ€ngnis nichts mehr zu tun

gĂ€be - außer vielleicht Bodybuilding. Aber, so fragte er, „was nĂŒtzt es,

seinen Körper zu trainieren, wenn man seinen Geist nicht trainieren

kann?“Ironischerweise wurden nicht lange nach der Abschaffung der

Bildungsprogramme auch Gewichte und Bodybuilding-GerÀte aus den meisten

U.S.-GefÀngnissen entfernt.

Kapitel 4 Wie Geschlecht das GefÀngnissystem strukturiert

Man hat mir gesagt, dass ich das GefÀngnis nie verlassen werde, wenn ich

weiterhin gegen das System kÀmpfe. Meine Antwort ist, dass man am Leben

sein muss, um das GefÀngnis zu verlassen und unser derzeitiger Standard

der medizinischen Versorgung ist gleichbedeutend mit einem Todesurteil.

Deshalb habe ich keine andere Wahl, als weiterzumachen. [...] Die

Bedingungen in der Anstalt rufen immer wieder Erinnerungen an Gewalt und

UnterdrĂŒckung wach, oft mit verheerenden Folgen. Im Gegensatz zu anderen

inhaftierten Frauen, die ihre EindrĂŒcke aus dem GefĂ€ngnis schildern,

fĂŒhle ich mich hier nicht ‚sicherer‘, weil der Missbrauch aufgehört hat.

Er hat nicht aufgehört. Er hat seine Form und seinen Rhythmus geÀndert,

aber er ist im GefĂ€ngnis genauso heimtĂŒckisch und allgegenwĂ€rtig wie in

der Welt, die ich außerhalb dieser Mauern kenne. Was aufgehört hat, ist

meine Ignoranz gegenĂŒber den Fakten ĂŒber den Missbrauch und meine

Bereitschaft, ihn schweigend zu tolerieren. - Marcia Bunny

In den letzten fĂŒnf Jahren hat das GefĂ€ngnissystem in den Medien so viel

Aufmerksamkeit erhalten, wie seit der Zeit nach dem Attica-Aufstand 1971

nicht mehr. Doch mit einigen wichtigen Ausnahmen: Frauen sind von der

öffentlichen Diskussion ĂŒber die Ausweitung des US-amerikanischen

GefÀngnissystems augeschlossen. Ich behaupte nicht, dass Frauen in die

bestehenden GesprĂ€che ĂŒber GefĂ€ngnisse einzubeziehen, automatisch unsere

Analyse staatlicher Strafen vertieft und das Projekt der Abschaffung der

GefÀngnisse weiterbringt. Es ist zwar von entscheidender Bedeutung, sich

mit frauenspezifischen Fragen zu befassen, aber es ist ebenso wichtig,

die Art und Weise, wie wir ĂŒber das GefĂ€ngnissystem als Ganzes denken,

zu verÀndern. Gewiss sind die Praktiken von FrauengefÀngnissen

geschlechtsspezifisch, aber das gilt auch fĂŒr die Praktiken von

MÀnnergefÀngnissen. Die Annahme, dass MÀnnerinstitutionen die Norm

darstellen und Fraueninstitutionen marginal sind, bedeutet in gewissem

Sinne, an genau der Normalisierung der GefÀngnisse teilzuhaben, die ein

abschaffungsorrientierter Ansatz bekÀmpfen will. Daher lautet der Titel

dieses Kapitels nicht „Frauen und das GefĂ€ngnissystem“, sondern „Wie das

Geschlecht das GefĂ€ngnissystem strukturiert“. Außerdem sollten

Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen, die an feministischen

Projekten beteiligt sind, die Struktur des staatlichen Strafvollzugs

nicht als nebensĂ€chlich fĂŒr ihre Arbeit betrachten. Vorausschauende

Forschung und Organisationsstrategien sollten anerkennen, dass der

zutiefst geschlechtsspezifische Charakter der Strafe die gegenderte

Struktur der Gesellschaft widerspiegelt und weiter verfestigt. Weibliche

Gefangene haben eine kleine, aber beeindruckende Menge an Literatur

hervorgebracht, die Aspekte der Organisation der Bestrafung beleuchtet,

die sonst unerkannt geblieben wÀren. Die Memoiren von Assata Shakur zum

Beispiel zeigen die gefĂ€hrlichen Überschneidungen von Rassismus,

mÀnnlicher Vorherrschaft und staatlichen Strategien der politischen

UnterdrĂŒckung. Im Jahr 1977 wurde sie wegen Mordes und Körperverletzung

im Zusammenhang mit einem Vorfall aus dem Jahr 1973 verurteilt, bei dem

ein Polizist aus New Jersey getötet und ein weiterer verwundet wurde.

Sie und ihr Begleiter, Zayd Shakur, der bei der Schießerei getötet

wurde, waren das Ziel von „Racial Profiling“, wie wir es heute nennen,

und wurden von von Polizist_innen unter dem Vorwand eines defekten

RĂŒcklichts angehalten. Zu dieser Zeit war Assata Shakur, damals bekannt

als Joanne Chesimard, im Untergrund und wurde von der Polizei und den

Medien als die „Seele der Schwarzen Befreiungsarmee“ bezeichnet. Bis zu

ihrer Verurteilung 1977 war sie in sechs anderen FĂ€llen entweder

freigesprochen oder die Anklagen aufgrund derer sie ĂŒberhaupt zur

Fahndung ausgeschrieben wurde, waren abgewiesen worden. Ihr Anwalt,

Lennox Hinds, wies darauf hin, dass, da bewiesen wurde, dass Assata

Shakur nicht mit der Waffe hantiert habe, mit der die Polizisten

erschossen wurden, ihre bloße Anwesenheit vor dem Hintergrund der

DĂ€monisierung durch die Medien, der sie ausgesetzt war, die Grundlage

fĂŒr ihre Verurteilung bildete. Im Vorwort zu Shakurs Autobiografie

schreibt Hinds:

In der Geschichte von New Jersey ist noch nie ein weiblicher

UntersuchungshÀftling oder Gefangene so behandelt worden wie sie, die

stÀndig in einem MÀnnergefÀngnis eingesperrt war, unter

vierundzwanzigstĂŒndiger Überwachung ihrer intimsten Funktionen, ohne

geistige Nahrung, angemessene medizinische Versorgung und ohne geistige

Nahrung, ohne angemessene medizinische Versorgung, ohne Bewegung und

ohne die Gesellschaft anderer Frauen wÀhrend all der Jahre, die sie in

Gefangenschaft war.

Es besteht kein Zweifel, dass Assata Shakurs Status als schwarze

politische Gefangene, die des Mordes an einem Polizisten angeklagt war,

dazu fĂŒhrte, dass sie von den Behörden ungewöhnlich grausam behandelt

wurde. Ihr eigener Bericht unterstreicht jedoch, wie sehr ihre

individuellen Erfahrungen die anderer inhaftierter Frauen (insbesondere

schwarzer und puertoricanischer Frauen) widerspiegeln. Ihre Beschreibung

der Leibesvisitation, die sich auf die innere Untersuchung der

Körperhöhlen konzentriert, ist besonders aufschlussreich :

Joan Bird und Afeni Shakur [Mitglieder der Black Panther Party] hatten

mir davon erzÀhlt, nachdem sie im Panther-21-Prozess auf Kaution

freigelassen worden waren. Als sie mir davon erzÀhlten, war ich

entsetzt. ‚Du meinst, sie haben wirklich ihre HĂ€nde in dich gesteckt, um

dich zu durchsuchen?‘hatte ich gefragt. ‚Uh-huh‘, antworteten sie. Jede

Frau, die jemals in Schwierigkeiten oder im GefÀngnis war, kann das

bestĂ€tigen. Die Frauen nennen es ‚den Finger kriegen‘, oder vulgĂ€rer

‚gefingerfickt werden‘. ‚Was passiert, wenn du dich weigerst?‘hatte ich

Afeni gefragt. ‚Sie sperren dich in das Loch und lassen dich erst wieder

raus, wenn du zustimmst, innerlich durchsucht zu werden.‘Ich ĂŒberlegte,

ob ich mich weigern sollte, aber ich wollte auf keinen Fall in dem Loch

sein. Ich hatte genug von Einzelhaft. Die ‚innere Durchsuchung‘war so

demĂŒtigend und ekelhaft, wie sie sich anhört. Man sitzt auf der

Tischkante und die Krankenschwester hÀlt deine Beine offen und steckt

dir einen Finger in die Vagina und bewegt ihn herum. Sie hat einen

Plastikhandschuh an. Einige von ihnen versuchen, einen Finger in deine

Vagina und einen anderen gleichzeitig in dein Rektum zu stecken.

Ich habe diese Passage deshalb so ausfĂŒhrlich zitiert, weil sie eine

alltÀgliche Routine in FrauengefÀngnissen offenbart, der ebenso sexuell

ĂŒbergriffig ist, wie er als selbstverstĂ€ndlich angesehen wird. Nachdem

ich in dem FrauengefÀngnis inhaftiert war, auf das sich Joan Bird und

Afeni Shakur beziehen, kann ich persönlich den Wahrheitsgehalt ihrer

Behauptungen bestĂ€tigen. Über dreißig Jahre nach der Freilassung von

Bird und Afeni Shakur und nachdem ich selbst mehrere Monate im Women’s

House of Detention verbracht habe, ist die Leibesvisitation immer noch

ein wichtiges Thema im Aktivismus fĂŒr FrauengefĂ€ngnisse. Im Jahr 2001

hat Sisters Inside, eine australische UnterstĂŒtzungsorganisation fĂŒr

weibliche Gefangene, eine nationale Kampagne gegen die Leibesvisitation

mit dem Slogan „Stop State Sexual Assault“ begonnen. Die Autobiographie

von Assata Shakur bietet eine FĂŒlle von Einblicken in die Genderstuktur

staatlicher Strafen und zeigt, wie sehr die FrauengefÀngnisse an

unterdrĂŒckerischen patriarchalen Praktiken festhalten, die in der

„freien Welt“ als obsolet gelten. Sie verbrachte sechs Jahre in

verschiedenen GefÀngnissen und Haftanstalten, bevor sie 1979 frei kam

und 1984 politisches Asyl in der Republik Kuba erhielt, wo sie heute

lebt.

Elizabeth Gurley Flynn schrieb einen frĂŒheren Bericht ĂŒber das Leben in

einem FrauengefÀngnis, The Alderson Story: Mein Leben als politische

Gefangene. Auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära wurde Flyml, eine

Gewerkschaftsaktivistin und kommunistische AnfĂŒhrerein nach dem Smith

Act verurteilt und saß von 1955 bis 1957 zwei Jahre in der Alderson

Federal Besserungsanstalt fĂŒr Frauen. Nach dem damals vorherrschenden

Modell fĂŒr FrauengefĂ€ngnisse basierte das Regime von Alderson auf der

Annahme, dass „kriminelle“ Frauen rehabilitiert werden konnten, indem

sie sich korrekte weibliche Verhaltensweisen aneigneten, d.h. indem sie

zu Expertinnen im hÀuslichen Bereich, insbesondere im Kochen, Putzen und

NĂ€hen wurden. NatĂŒrlich sollte die Ausbildung zu besseren Ehefrauen und

MĂŒttern den weißen Frauen der Mittelschicht vorbehalten werden. Schwarze

und arme Frauen sollten zu Dienerinnen erzogen werden. Flynns Buch

liefert anschauliche Beschreibungen dieses alltÀglichen Regimes. Ihre

Autobiografie steht in der Tradition der GefÀngnisliteratur politischer

Gefangener, zu denen auch Frauen aus dieser Zeit gehören. Zu den

zeitgenössischen Schriften von weiblichen politischen Gefangenen zÀhlen

Gedichte und Kurzgeschichten von Ericka Huggins und Susan Rosenberg,

Analysen ĂŒber den GefĂ€ngniskomplexes von Linda Evans und LehrplĂ€ne fĂŒr

die HIV/AIDS-AufklÀrung in FrauengefÀngnissen von Kathy Boudin und den

Mitgliedern des Bedford Hills ACE-Kollektivs.[?]

Obwohl es mitreißende Darstellungen des Lebens in FrauengefĂ€ngnissen

gibt, war es Ă€ußerst schwierig die Öffentlichkeit - und gelegentlich

sogar GefÀngnisaktivisten, die sich in erster Linie mit der Notlage

mÀnnlicher Gefangener befassen - von der zentralen Bedeutung von

Geschlechts fĂŒr ein VerstĂ€ndnis von staatlicher Bestrafung zu

ĂŒberzeugen. Obwohl die ĂŒberwiegende Mehrheit der Gefangenen weltweit

MĂ€nner sind, werden wichtige Aspekte der Funktionsweise staatlicher

Strafen nicht berĂŒcksichtigt, wenn Frauen nur am Rande vorkommen und

daher keine Aufmerksamkeit erhalten. Die hĂ€ufigste Rechtfertigung fĂŒr

die Nichtbeachtung der weiblichen Gefangenen und der besonderen Probleme

im Zusammenhang mit dem Freiheitsentzug von Frauen ist der relativ

geringe Anteil von Frauen an der inhaftierten Bevölkerung in der Welt.

In den meisten LĂ€ndern liegt der prozentuale Anteil der Frauen an der

GefĂ€ngnispopulation bei etwa fĂŒnf Prozent. Doch die wirtschaftlichen und

politischen VerÀnderungen der 1980er Jahre - die Globalisierung der

WirtschaftsmÀrkte, die Deindustrialisierung der US-Wirtschaft, der Abbau

von Sozialleistungsprogrammen wie Hilfe fĂŒr Familien mit abhĂ€ngigen

Kindern und natĂŒrlich der Boom im GefĂ€ngnisbau - fĂŒhrten zu einer

erheblichen Beschleunigung der Inhaftierung von Frauen innerhalb und

außerhalb der Vereinigten Staaten. TatsĂ€chlich sind Frauen auch heute

noch der am schnellsten wachsende Teil der US-GefÀngnispopulation.

Dieser aktuelle Anstieg der Inhaftierungsrate von Frauen weist direkt

auf den wirtschaftlichen Kontext hin, der den industriellen

GefÀngniskomplex hervorgebracht hat und der verheerende Auswirkungen auf

MĂ€nner und Frauen gleichermaßen hat. Aus dieser Perspektive der

gegenwÀrtigen Ausbreitung der GefÀngnisse sowohl in den Vereinigten

Staaten als auch in der ganzen Welt, sollten wir einige der historischen

und ideologischen Aspekte der staatlichen Bestrafung von Frauen

untersuchen. Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als, wie wir

gesehen haben, die Haftstrafe zur vorherrschenden Form der Bestrafung

wurde, wurden verurteilte Frauen wesentlich anders als ihre mÀnnlichen

Kollegen dargestellt. Es ist wahr, dass MĂ€nner, die Taten begehen, die

vom Staat als strafbar angesehen werden, als soziale Abweichler

abgestempelt werden. Dennoch galt die mÀnnliche KriminalitÀt immer als

„normaler“ als weibliche KriminalitĂ€t. Seit jeher besteht die Tendenz,

jene Frauen, die vom Staat fĂŒr ihr Fehlverhalten öffentlich bestraft

wurden, als wesentlich abnormaler und weitaus bedrohlicher fĂŒr die

Gesellschaft zu betrachten als ihre zahlreichen mÀnnlichen Pendants.

Beim Versuch, diesen geschlechtsspezifischen Unterschied in der

Wahrnehmung von Gefangenen zu verstehen, ist zu bedenken, dass mit dem

Aufkommen und der Entwicklung des GefÀngnisses als Hauptform der

öffentlichen Bestrafung, Frauen weiterhin routinemĂ€ĂŸig Formen der

Bestrafung ausgesetzt waren, die nicht als solche anerkannt wurden.

Studien, die darauf hinweisen, dass Frauen sogar hÀufiger in

psychiatrischen Einrichtungen landen als MĂ€nner, deuten darauf hin, dass

GefÀngnisse und Haftanstalten in erster Linie der Kontrolle von MÀnnern

dienten, wĂ€hrend psychiatrische Einrichtungen fĂŒr Frauen einen Ă€hnlichen

Zweck erfĂŒllten. Abweichende MĂ€nner wurden als kriminell, abweichende

Frauen als geisteskrank abgestempelt. Regelungen, die diese Annahme

widerspiegeln, prÀgen auch weiterhin das FrauengefÀngnis. Psychopharmaka

werden nach wie vor in weitaus grĂ¶ĂŸerem Umfang an inhaftierte Frauen

verteilt als an ihre mÀnnlichen Mitgefangenen. Eine amerikanische

Indigene, die im Women’s Correctional Center in Montana inhaftiert ist,

erzÀhlte der Soziologin Luana Ross von ihren Erfahrungen mit

Psychopharmaka:

Haldol ist eine Droge, fĂŒr die, die den Knast nicht verkraften können.

Man fĂŒhlt sich tot, gelĂ€hmt. Und dann bekam ich Nebenwirkungenvon vom

Haldol. Ich wollte gegen jeden kÀmpfen, gegen alle WÀrter_innen. Ich

schrie sie an, sie sollten gehen. Der Arzt sagte: ‚Das können wir nicht

zulassen.‘Und sie gaben mir Tranxen. Ich nehme keine Pillen; ich hatte

nie Schlafprobleme, bis ich hierher kam. Jetzt soll ich wieder zum

Psychiater wegen meiner TrÀume. Wenn du ein Problem hast, werden sie

sich nicht darum kĂŒmmern. Sie werden dich auf Drogen setzen, damit sie

dich kontrollieren können.

Vor dem Aufkommen des Zuchthauses und damit der Vorstellung von Strafe

als „Zeit absitzen“ zur Kontrolle von Bettlern, Dieben und

Geisteskranken wurde nicht unbedingt zwischen diesen Kategorien der

Abweichung von Normen unterscheiden. In dieser Phase der Geschichte der

Bestrafung - vor der Amerikanischen und der Französischen Revolution -

wurde der Klassifizierungsprozess, durch den KriminalitÀt von Armut und

Geisteskrankheit unterschieden wird, noch nicht entwickelt. Als der

Diskurs ĂŒber KriminalitĂ€t und die entsprechenden Kontroll-Institutionen

begann, zwischen „Kriminellen“ und „Geisteskranken“ zu unterscheiden,

setzte sich die geschlechtsspezifische Unterscheidung durch und

strukturierte weiterhin die Strafrechtspolitik. Als weiblich

kategorisierter „Wahnsinn“ wurde außerdem stark sexualisiert.

Wenn wir die Auswirkungen von Klassismus und Rassismus betrachten, dient

diese Vereinfachung als ein Beweis fĂŒr emotionale und mentale Störungen,

wÀhrend sie bei schwarzen und armen Frauen auf KriminalitÀt hinweist.

Es sollte auch bedacht werden, dass bis zur Abschaffung der Sklaverei

die große Mehrheit der schwarzen Frauen Bestrafungsregelungen

unterworfen war, die sich deutlich von denen von weißen Frauen

unterschieden. Als Sklavinnen wurden sie direkt und oft brutal fĂŒr ein

Verhalten diszipliniert, das in der Freiheit als völlig normal angesehen

wurde. Die Bestrafung der Sklav_innen war sichtbar

geschlechtsspezifisch - besondere Strafen waren beispielsweise

schwangeren Frauen vorbehalten, die nicht in der Lage waren, die Quoten

zu erreichen, die festlegten, wie lange und wie schnell sie arbeiten

sollten. In der SklavenerzÀhlung von Moses Grandy wird eine besonders

brutale Form der Auspeitschung beschrieben, bei der sich die Frau auf

den Boden legen musste, wobei ihr Bauch in ein Loch gesteckt wurde, um

den Fötus (der als zukĂŒnftige Arbeitskraft galt) zu schĂŒtzen. Wenn wir

unsere Definition von Strafe in der Sklaverei erweitern, können wir

sagen, dass die erzwungenen sexuellen Beziehungen zwischen Sklavinnen

und Herr eine Strafe fĂŒr Frauen darstellten, und sei es nur aus dem

Grund, dass sie Sklavinnen waren. Mit anderen Worten, die Abweichung des

Sklavenhalters wurde auf die Sklavin ĂŒbertragen, die er zum Opfer

machte. In Àhnlicher Weise wird sexueller Missbrauch durch

GefÀngniswÀrter durch vermeintliche Hyper-SexualitÀt der weiblichen

Gefangenen gerechtfertigt. Die Vorstellung, dass „weibliches

Fehlverhalten“ immer eine sexuelle Dimension hat, besteht auch in der

heutigen Zeit fort, und diese Überschneidung von KriminalitĂ€t und

SexualitĂ€t wird weiterhin rassifiziert. So werden weiße Frauen, die als

“ Kriminelle“ bezeichnet werden, stĂ€rker mit Schwarzsein assoziiert als

ihre “ normalen“ Geschlechtsgenossinnen.

Vor dem Aufkommen des GefÀngnisses als Hauptform der öffentlichen

Bestrafung war es selbstverstĂ€ndlich, dass VerstĂ¶ĂŸe gegen das Gesetz mit

körperlichen Strafen und hÀufig mit der Todesstrafe geahndet wurden. Was

nicht allgemein anerkannt wird, ist der Zusammenhang zwischen

staatlicher PrĂŒgelstrafe und den körperlichen Übergriffen auf Frauen im

hÀuslichen Bereich. Diese Form der körperlichen Disziplinierung von

Frauen wird weiterhin hÀufig im Rahmen von intimen Beziehungen

angewandt, aber sie wird nur selten im Zusammenhang mit staatlicher

Bestrafung verstanden. Die QuÀker-Reformer in den Vereinigten Staaten -

vor allem die Philadelphia Society for Alleviating the Miseries of

Public Prisons, die 1787 gegrĂŒndet wurde - spielten eine zentrale Rolle

bei Kampagnen zur Einsetzung von GefÀngnisstrafen anstelle körperlicher

ZĂŒchtigung. Der Tradition folgend, die von Elizabeth Fry in England

begrĂŒndet wurde, waren die QuĂ€ker auch fĂŒr ausgedehnte Kampagnen zur

Einrichtung separater GefĂ€ngnisse fĂŒr Frauen veranwortlich. Angesichts

der Praxis, kriminalisierte Frauen in MÀnnergefÀngnissen zu inhaftieren,

wurde die Forderung nach separaten FrauengefÀngnissen in dieser Zeit als

ziemlich radikal angesehen. Fry formulierte in ihrem Werk Observations

in Visiting, Superintendence and Government of Women aus dem Jahr 1827

GrundsĂ€tze fĂŒr eine GefĂ€ngnisreform fĂŒr Frauen, die in den Vereinigten

Staaten von Frauen wie Josephine Shaw Lowell und Abby Hopper Gibbons

aufgegriffen wurden.

In den 1870er Jahren halfen Lowell und Gibbons, die Kampagne in New York

fĂŒr separate GefĂ€ngnisse fĂŒr Frauen anzufĂŒhren. Die vorherrschende

Haltung gegenĂŒber weiblichen StrĂ€flingen unterschied sich von derjenigen

gegenĂŒber mĂ€nnlichen StrĂ€flingen. Man ging davon aus, dass MĂ€nner Rechte

und Freiheiten verwirkt hatten, die Frauen ohnehin nicht in Anspruch

nehmen konnten, auch nicht in der „freien Welt“. Obwohl einige Frauen in

ZuchthÀusern untergebracht waren, war die Institution selbst mÀnnlich

geprĂ€gt, denn im Großen und Ganzen wurden keine besonderen Vorkehrungen

fĂŒr die Unterbringung verurteilter Frauen getroffen. Die Frauen, die

zwischen 1820 und 1870 in den Strafanstalten saßen waren nicht der

GefÀngnisreform unterworfen, die die mÀnnlichen Insassen erlebten. Die

Beamten setzten Isolation, Schweigen und harte Arbeit ein, um mÀnnliche

Gefangene zu rehabilitieren. Aufgrund des Mangels an UnterkĂŒnften fĂŒr

weibliche Gefangene waren Isolation und Stille unmöglich. Produktive

Arbeit wurde nicht als wichtiger Teil ihrer Routine angesehen. Die

NachlĂ€ssigkeit gegenĂŒber weiblichen Gefangenen war jedoch selten

wohlwollend. Vielmehr wiederholte sich das Muster von Überbelegung,

harter Behandlung und sexuellem Missbrauch in den GefÀngnisgeschichten.

Die mĂ€nnliche Bestrafung war ideologisch mit Buße und Reform verbunden.

Die Verwirkung von Rechten und Freiheiten bedeutete, dass mÀnnliche

StrÀflinge durch Selbstreflexion, religiöse Studien und Arbeit Erlösung

erlangen und diese Rechte und Freiheiten wiedererlangen konnten. Da

jedoch Frauen nicht als Besitzerinnen dieser Rechte anerkannt wurden,

waren sie nicht berechtigt, an diesem Erlösungsprozess teilzunehmen.

Nach der vorherrschenden Meinung waren verurteilte Frauen unwiderruflich

gescheiterte Frauen, die nicht gerettet werden konnten. WĂ€hrend

mÀnnliche StraftÀter als öffentliche Individuen betrachtet wurden, die

einfach gegen den den Gesellschaftsvertrag verletzt hatten, wurden

weibliche StraftĂ€terinnen als Übertreterinnen grundlegender moralischer

Prinzipien der Weiblichkeit eingestuft. Selbst diejenigen, die in

Anlehnung an Elizabeth Fry argumentierten, dass Frauen zur Erlösung

fĂ€hig seien bestritten diese ideologischen Annahmen ĂŒber den Platz der

Frau nicht wirklich. Mit anderen Worten, sie stellten nicht den Begriff

der „gescheiterten Frau“ in Frage. Vielmehr widersetzten sie sich

einfach die Vorstellung, dass „gescheiterte Frauen“ nicht gerettet

werden könnten. Sie könnten gerettet werden, behaupteten die

Reformator_innen, und zu diesem Zweck traten sie fĂŒr getrennte

Strafvollzugsanstalten und einen spezifisch weiblichen Ansatz zur

Bestrafung ein. Ihr Ansatz sah architektonische Modelle vor, die die

Zellen durch HĂŒtten und und „Zimmern“ ersetzt wurden, um dem

GefÀngnisleben eine hÀusliche AtmosphÀre zu verleihen. Dieses Modell

erleichterte ein Regime, das kriminalisierte Frauen in das hÀusliche

Leben als Ehefrau und Mutter reintegrieren sollte. Sie erkannten jedoch

nicht die klassistischen und rassistischen HintergrĂŒnde dieses Regimes

an. Eine Ausbildung, die vordergrĂŒndig darauf abzielte, gute Ehefrauen

und MĂŒtter hervorzubringen, fĂŒhrte in Wirklichkeit dazu, dass arme

Frauen (und vor allem schwarze Frauen) in Jobs in der „freien Welt“ im

hÀuslichen Dienst eingesetzt wurden. Anstatt als qualifizierte Ehefrauen

und MĂŒtter zu Hause zu bleiben, wurden viele weibliche HĂ€ftlinge

DienstmĂ€dchen, Köchinnen und WĂ€scherinnen fĂŒr wohlhabendere Frauen. Ein

weibliches Aufsichtspersonal, so argumentierten die Reformer, wĂŒrde die

sexuellen Versuchungen minimieren, die ihrer Meinung nach oft die

Ursache fĂŒr weibliche KriminalitĂ€t war. Als im neunzehnten Jahrhundert

in England und den Vereinigten Staaten die Reformbewegung entstand, die

getrennte GefĂ€ngnisse fĂŒr Frauen forderte, argumentierten Elizabeth Fry,

Josephine Shaw und andere gegen die gÀngige Vorstellung, dass kriminelle

Frauen nicht durch moralische Rehabilitierung zu erreichen seien. Wie

mÀnnliche StrÀflinge, die durch strenge GefÀngnisaufenthalte

„korrigiert“ werden sollten, könnten auch weibliche StrĂ€flinge durch

unterschiedlich geschlechtsspezifische Haftbedingungen zu moralischen

Wesen geformt werden. Bauliche VerÀnderungen, hÀusliche Regelungen und

ein ausschließlich weibliches Aufsichtspersonal wurden im Rahmen des von

den Reformern vorgeschlagenen Reformationsprogramms umgesetzt, und

schließlich wurden die FrauengefĂ€ngnisse genauso stark in der sozialen

Landschaft verankert wie die MÀnnergefÀngnisse, aber noch unsichtbarer.

Ihre grĂ¶ĂŸere Unsichtbarkeit spiegelte ebenso sehr die Art und Weise

wider, wie die hÀuslichen Pflichten von Frauen im Patriarchat als normal

und natĂŒrlich angesehen wurden, sowie der relativ geringen Anzahl von

Frauen, die in diesen neuen Einrichtungen inhaftiert waren.

Einundzwanzig Jahre nach der GrĂŒndung der ersten englischen

Besserungsanstalt fĂŒr Frauen in London wurde 1853 in Indiana die erste

US-amerikanische Besserungsanstalt fĂŒr Frauen eröffnet. Das Ziel war es,

die Gefangenen in der „wahren“ weiblichen Rolle der HĂ€uslichkeit zu

schulen. Eine wichtige Rolle der Reformbewegung in den

FrauengefĂ€ngnissen bestand darin, „angemessene“ Geschlechterrollen zu

fördern und zu verankern, wie Berufsausbildung in den Bereichen Kochen,

NĂ€hen und Putzen. Um diesen Zielen gerecht zu werden, wurden die HĂŒtten

in der Regel mit KĂŒchen, WohnrĂ€umen und sogar einigen Kinderzimmern fĂŒr

HÀftlinge mit Kleinkindern eingerichet. Diese feminisierte öffentliche

Bestrafung betraf jedoch nicht alle Frauen auf die gleiche Weise. Wenn

schwarze und native-american Frauen in den Besserungsanstalten

inhaftiert waren, wurden sie oft von weißen Frauen getrennt. Außerdem

wurden sie ĂŒberproportional hĂ€ufig in MĂ€nnergefĂ€ngnissen inhaftiert. In

den SĂŒdstaaten mussten schwarze Frauen nach dem BĂŒrgerkrieg die

Grausamkeiten des StrÀflingspachtsystem ertragen, die durch die

Feminisierung der Strafe nicht gemildert wurden. Weder ihre Strafen noch

die Arbeit, die sie verrichten mussten, wurden durch ihr Geschlecht

gemildert. Als sich das U.S. GefÀngnis wÀhrend des 20. Jahrhundert

entwickelte, wurden feminisierte Formen der Bestrafung - das

HĂŒttensystem,die hĂ€usliche Ausbildung usw. - ideologisch darauf

ausgelegt, weiße Frauen zu reformieren, wĂ€hrend Frauen of color zum

großen Teil öffentlich bestraft wurden, den Anschein zu erweckten, ihnen

Weiblichkeit zu bieten.

DarĂŒber hinaus hat Lucia Zedner darauf hingewiesen, dass das

reformatorische Strafsystem Frauen fĂŒr Ă€hnliche Vergehen oft zu mehr

Zeit verurteilte als MĂ€nner. Dieser Unterschied wurde damit

gerechtfertigt, dass Frauen die in den Strafvollzug geschickt wurden,

nicht anhand der Schwere ihres Vergehens bestraft, sondern reformiert

und umgeschult werden sollten. Ein Prozess, der, so wurde argumentiert,

Zeit brauche. Gleichzeitig, so Zedner, sei diese Tendenz, Frauen fĂŒr

lÀngere Zeit ins GefÀngnis zu schicken als MÀnner, durch die

Eugenik-Bewegung verstĂ€rkt “ die darauf abzielte, ’genetisch

minderwertige’ Frauen so lange aus dem gesellschaftlichen Verkehr zu

ziehen, wie sie gebĂ€hrfĂ€hig waren.“Zu Beginn des einundzwanzigsten

Jahrhunderts, haben die FrauengefÀngnisse begonnen, ihren mÀnnlichen

GegenstĂŒcken, die im Zeitalter des industriellen GefĂ€ngniskomplexes

entstanden sind, Àhnlicher zu werden. Da die Beteiligung von Unternehmen

an der Bestrafung in einer Weise ausweitet wurde , die noch vor zwei

Jahrzehnten unvorstellbar gewesen wÀre, wird das vorgeschobene Ziel der

GefÀngnisse, die Resozialisierung, durch die ArbeitsunfÀhigkeit als

Hauptgrund der Inhaftierung abgelöst. Wie ich bereits dargelegt habe,

ĂŒbersteigt die Zahl der Inhaftierten in den USA inzwischen die

Zwei-Millionen-Grenze und die Zahl der weiblichen Gefangenen ist

schneller gestiegen als die der MĂ€nner. Der Kriminologe Elliot Currie

hat darauf hingewiesen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die

Inhaftierungsrate von Frauen bei etwa 8 pro 100.OOO lag und erreichte

erst 1977 eine zweistellige Zahl. Heute liegt sie bei 51 pro 100.000.

Bei den derzeitigen Raten wird es im Jahr 2010 mehr Frauen in

amerikanischen GefÀngnissen geben als Insassen beiderlei Geschlechts im

Jahr 1970. Wenn wir die Auswirkungen von Rassismus und Geschlecht

kombinieren, wird die Art dieser Verschiebungen in der

GefÀngniss-Bevölkerung noch deutlicher. Die Inhaftierungsrate schwarzer

Frauen ist heute höher als die von weißen MĂ€nnern noch im Jahr 1980. Die

Studie von Luana Ross ĂŒber native-american Frauen, die im Women’s

Correctional Cen ter in Montana inhaftiert sind, zeigt, dass

„GefĂ€ngnisse, wie sie das euro-amerikanische System einsetzt, dazu

dienen, die Indigenen Völker Amerikas in einer kolonialen Situation zu

halten.“Sie weist darauf hin, dass Native-Americans in den Bundes- und

StaatsgefĂ€ngnissen des Landes ĂŒberreprĂ€sentiert sind. In Montana, wo sie

ihre Forschung durchfĂŒhrte, machen sie 6 Prozent der

Allgemeinbevölkerung, aber 7,3 Prozent der inhaftierten Bevölkerung aus.

Native-American Frauen sind im GefÀngnissystem von Montana sogar noch

ĂŒberproportionaler vertreten: Sie machen 25 Prozent aller vom Staat

inhaftierten Frauen aus.

Vor dreißig Jahren, etwa zur Zeit des Attica-Aufstandes und der

Ermordung von George Jackson in San Quentin, hat die radikale Opposition

gegen das GefÀngnissystem dieses als einen Hauptort staatlicher Gewalt

und UnterdrĂŒckung bezeichnet. In Reaktion auf die Unsichtbarkeit der

weiblichen Gefangenen in dieser Bewegung und als Folge der aufkommenden

Frauenbefreiungsbewegung entwickelten sich spezifische Kampagnen zur

Verteidigung der Rechte von weiblichen Gefangenen. Viele dieser

Kampagnen ĂŒbten und ĂŒben weiterhin radikale Kritik an staatlicher

ReprÀsentation und Gewalt. Innerhalb des Strafvollzugs wurde der

Feminismus jedoch von liberalen Konstruktionen der Gleichberechtigung

der Geschlechter beeinflusst. Im Gegensatz zur Reformbewegung des

neunzehnten Jahrhunderts, die auf einer Ideologie der

Geschlechterdifferenz beruhte, stĂŒtzten sich die „Reformen“ des spĂ€ten

zwanzigsten Jahrhunderts auf ein „getrennt aber gleich“-Modell. Dies

fĂŒhrte ironischerweise zu Forderungen nach repressiveren Bedingungen, um

die Einrichtungen fĂŒr Frauen denjenigen fĂŒr MĂ€nner „gleichzustellen“.

Ein deutliches Beispiel dafĂŒr sind die Memoiren The Warden Wore Pink,

geschrieben von einer Aufseherin des Huron Valley FrauengefÀngnisses in

Michigan. Die Autorin Tekla Miller setzte sich in den 1980er Jahren fĂŒr

eine Änderung der Politik im Strafvollzug von Michigan ein, die dazu

fĂŒhren sollte dass weibliche Gefangene genauso behandelt werden wie

mÀnnliche Gefangene. Ohne eine Spur von Ironie bezeichnet sie ihren

eigenen Kampf fĂŒr die „Gleichstellung der Geschlechter“ zwischen

mĂ€nnlichen und weiblichen Gefangenen als „feministisch“. Eine dieser

Kampagnen konzentriert sich auf die ungleiche Verteilung von Waffen, die

sie zu beseitigen suchte: Arsenale in MĂ€nnergefĂ€ngnissen sind große

RĂ€ume mit Regalen voller Schrotflinten, Gewehre, Handfeuerwaffen,

Munition, Gaskanistern und AusrĂŒstung gegen AufstĂ€nde . . . Das Arsenal

der Frauen von Huron Valley war ein kleiner, fĂŒnf Fuß mal zwei Fuß

großer Schrank, in dem zwei Gewehre, acht Schrotflinten, zwei

Signalhörner, fĂŒnf Handfeuerwaffen, vier Gaskanister. Es kommt ihr nicht

in den Sinn, dass eine konstruktivere Version Feminismus auch die

Organisation der staatlichen Bestrafung von MĂ€nnern in Frage stellen

wĂŒrde. Und meiner Meinung nach ernsthaft in Betracht ziehen wĂŒrde, dass

die Institution in ihrer Gesamtheit geschlechtsspezifisch ist - und die

Art von Kritik erfordert, die uns dazu bringen könnte, ihre Abschaffung

in Betracht zu ziehen. Miller beschreibt auch den Fall eines

Fluchtversuchs einer weiblichen Gefangenen. Die Gefangene kletterte ĂŒber

das Rasiermesserband, wurde aber gefangen, nachdem sie auf der anderen

Seite zu Boden sprang. Dieser Fluchtversuch löste eine Debatte ĂŒber die

ungleiche Behandlung von mÀnnlichen und weiblichen Ausbrecher*innen.

Miller vertrat den Standpunkt, dass die WĂ€rter angewiesen werden

sollten, auf Frauen zu schießen, genauso wie sie auf MĂ€nner schießen.

Sie argumentierte, dass die Gleichbehandlung von weiblichen und

mÀnnlichen Gefangenen darin bestehen sollte, dass sie das gleiche Recht

haben, von den WĂ€rtern beschossen zu werden. Das Ergebnis der Debatte

war , so Miller, dass flĂŒchtende weibliche Gefangene in Mittel-, und

Hochsicherheits-GefÀngnissen die gleiche Behandlung wie MÀnner erhalten.

Es wird ein Warnschuss abgefeuert. Wenn der Gefangene nicht anhÀlt und

ĂŒber den Zaun steigt, darf ein Beamter schießen, um zu verletzen. Wenn

das Leben des Beamten in Gefahr ist, kann der Beamte schießen, um zu

töten. Paradoxerweise haben die Forderungen nach Gleichstellung mit den

MÀnnergefÀngnissen, anstatt bessere Bildungs-, Berufs- und

Gesundheitschancen fĂŒr weibliche Gefangene zu schaffen, oft zu

repressiveren Bedingungen fĂŒr Frauen gefĂŒhrt. Dies ist nicht nur eine

Folge der Anwendung liberaler - d. h. formalistischer -

Gleichheitsvorstellungen , sondern - was noch gefÀhrlicher ist - weil

sie zulassen, dass mÀnnliche GefÀngnisse als Strafnorm fungieren. Miller

weist darauf hin, dass sie versucht hat zu verhindern, dass eine

weiblicher Gefangene, die sie als „Mörderin“ bezeichnete und eine lange

Haftstrafe verbĂŒĂŸte, an den Abschlussfeiern an der UniversitĂ€t von

Michigan teilnimmt, weil mÀnnlichen Mördern solche Privilegien nicht

gewĂ€hrt wurden. (NatĂŒrlich erwĂ€hnt sie nicht die Art der Mordanklage der

Frau - ob sie zum Beispiel wegen der Tötung eines misshandelnden

Partners verurteilt wurde, wie es bei einer betrÀchtlichen Anzahl von

wegen Mordes verurteilten Frauen der Fall ist) Obwohl es Miller nicht

gelang, die Insassin an der Teilnahme zu hindern, musste die Gefangene

wĂ€hrend der Zeremonie zusĂ€tzlich zu ihrer Kappe und Robe Fuß- und

Handschellen tragen. Dies ist in der Tat ein bizarres Beispiel fĂŒr

feministische Forderungen nach Gleichberechtigung im GefÀngnissystem.

Ein weithin bekanntes Beispiel fĂŒr die Verwendung von repressiven

Methoden, die historisch mit der Behandlung mÀnnlicher Gefangener

verbunden sind, um „Gleichheit“ fĂŒr weibliche Gefangene zu schaffen, war

die Entscheidung des GefÀngnisdirektors von Alabama, Frauen-Kettenbanden

einzurichten. Nachdem Alabama 1995 der erste Staat war, der Kettenbanden

wieder einfĂŒhrte, kĂŒndigte der damalige Strafvollzugskommissar Ron Jones

im darauffolgenden Jahr an, dass auch Frauen gefesselt werden, wÀhrend

sie Gras mĂ€hen, MĂŒll aufsammeln oder den GemĂŒsegarten im Julia Tutwiler

StaatsgefĂ€ngnis fĂŒr Frauen bearbeiteten. Dieser Versuch, Kettenbanden

fĂŒr Frauen einzufĂŒhren, war zum Teil eine Reaktion auf Klagen mĂ€nnlicher

Gefangener, die behaupteten, dass mÀnnliche Chain Gangs sie aufgrund

ihres Geschlechts diskriminierten. Unmittelbar nach Jones’ AnkĂŒndigung

entließ ihn Gouverneur Fob James, der offensichtlich unter Druck stand,

um zu verhindern, dass Alabama die zweifelhafte Ehre zuteil wird, der

einzige US-Bundesstaat zu sein, in dem es „gleichberechtigte“

Kettenbanden gab. Kurz nach dem peinlichen Flirt von Alabama mit der

Möglichkeit von Kettenbanden fĂŒr Frauen, hielt Sheriff Joe Arpaio von

Maricopo County (Arizona) der in den Medien als „der hĂ€rteste Sheriff in

Amerika“ bezeichnet wurde - eine Pressekonferenz ab, um zu verkĂŒnden,

dass er, weil er „fĂŒr Chancengleichheit“ sei, die erste weibliche

Kettenbande des Landes grĂŒnden werde. Als der Plan umgesetzt wurde,

brachten die Zeitungen im ganzen Land ein Foto von angeketteten Frauen,

die die Straßen von Phoenix sĂ€uberten. Auch wenn es sich dabei um einen

PR-Spektakel gehandelt haben mag, mit dem sich Sheriff Arpaio

profilieren wollte, ist die Tatsache, dass diese Frauenkettenbande vor

dem Hintergrund einer allgemeinen Zunahme der Repression gegen

weiblichen Gefangenen entstanden ist, sicherlich ein Grund zur Sorge. In

den FrauengefÀngnissen des Landes gibt es immer mehr so genannte

Sicherheitsabteilungen. Die Einzelhaft und der Reizentzug in diesen

Abteilungen der FrauengefÀngnisse sind kleinere Versionen der sich rasch

ausbreitenden HochsicherheitsgefÀngnissen. Da die Population der

inhaftierten Frauen heute mehrheitlich aus Frauen of colour besteht,

sollten die historischen KontinuitÀten von Sklaverei, Kolonialisierung

und Völkermord in diesen Bildern von Frauen in Ketten und Fesseln nicht

ĂŒbersehen werden.

In dem Maße, wie die Repression in FrauengefĂ€ngnissen zunimmt und

paradoxerweise der Einfluss von hĂ€uslicher Bestrafung zurĂŒckgeht, ist

der sexuelle Missbrauch - der ebenso wie die hÀusliche Gewalt eine

weitere Dimension der privatisierten Bestrafung von Frauen ist, zu einem

institutionalisierten Bestandteil der Bestrafung hinter GefÀngnismauern

geworden. Obwohl der sexuelle Missbrauch durch WĂ€rter an Gefangenen

nicht als solcher sanktioniert wird, deutet die weit verbreitete Milde,

mit der straffÀllige Beamte behandelt werden, darauf hin, dass das

GefĂ€ngnis fĂŒr Frauen ein Ort ist, an dem die Bedrohung durch

sexualisierte Gewalt, die in der gesamten Gesellschaft verbreitet ist,

als Routineaspekt der Straflandschaft hinter GefÀngnismauern behandelt

wird. Einem Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 1996 ĂŒber den

sexuellen Missbrauch von Frauen in US-GefÀngnissen zufolge: Unsere

Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Aufenthalt einer Frau in den

GefÀngnissen der US-Bundesstaaten ein schreckliches Erlebnis sein kann.

Wenn Sie sexuell missbraucht werden, können Sie Ihrem Peiniger nicht

entkommen. Beschwerde- oder Untersuchungsverfahren, sofern es sie gibt,

sind oft unwirksam. Justizvollzugsbedienstete missbrauchen weiter, weil

sie wissen, dass sie nur selten zur Rechenschaft gezogen werden. Nur

wenige Menschen außerhalb der GefĂ€ngnismauern wissen, was vor sich geht,

oder interessieren sich dafĂŒr, wenn sie es wissen. Und noch weniger tun

etwas, um das Problem zu lösen. Der folgende Auszug aus der

Zusammenfassung dieses Berichts mit dem Titel „All too Familiar:

Sexueller Missbrauch von Frauen in staatlichen US-GefĂ€ngnissen“, zeigt

das Ausmaß, in dem der Umgang gewalttĂ€tig sexualisiert ist und damit die

bekannte Gewalt, die das Privatleben vieler Frauen prÀgt, wiederholt:

„Wir haben festgestellt, dass mĂ€nnliche Justizvollzugsbedienstete

weibliche Gefangene vaginal, anal und oral vergewaltigt, sexuell

missbraucht und misshandelt haben. Wir haben festgestellt, dass

mÀnnliche Beamte nicht nur physische Gewalt angewendet oder angedroht

haben, sondern auch ihre nahezu uneingeschrÀnkte AutoritÀt, Gefangenen

GĂŒter und Privilegien zu gewĂ€hren oder zu verweigern, genutzt haben, um

sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, oder in anderen FĂ€llen, um sie

dafĂŒr zu belohnen. In anderen FĂ€llen haben mĂ€nnliche Beamte ihre

grundlegendste Berufspflicht verletzt und hatten sexuelle Kontakte mit

weiblichen Gefangenen ohne Androhung von Gewalt oder materiellem

Austausch. ZusÀtzlich zu sexuellen Beziehungen mit Gefangenen haben

mÀnnliche Beamte die obligatorischen Abtastungen oder Raumdurchsuchungen

genutzt, um die BrĂŒste, das GesĂ€ĂŸ und den Vaginalbereich von Frauen zu

befummeln und sie in unangemessener Weise zu betrachten, wÀhrend diese

sich in den UnterkĂŒnften oder Badezimmern entkleiden. MĂ€nnliche

Justizvollzugsbeamte und Bedienstete haben weibliche Gefangene auch

regelmĂ€ĂŸig verbal erniedrigt und belĂ€stigt, und trugen so zu einem

Haftumfeld in den staatlichen GefĂ€ngnissen fĂŒr Frauen bei, das hĂ€ufig

stark sexualisiert und ĂŒbermĂ€ĂŸig feindselig ist.“ Die gewalttĂ€tige

Sexualisierung des GefÀngnislebens in Fraueneinrichtungen wirft eine

Reihe von Fragen auf, die uns helfen können, unsere Kritik am

GefÀngnissystem weiterzuentwickeln. Ideologien der SexualitÀt - und

insbesondere die Überschneidung von Rassismus und SexualitĂ€t - haben

einen tiefgreifenden Einfluss auf die Darstellung und Behandlung von

Frauen of colour sowohl innerhalb als auch außerhalb des GefĂ€ngnisses.

NatĂŒrlich erleben auch schwarze und Latino-MĂ€nner eine gefĂ€hrliche

KontinuitÀt in der Art und Weise, wie sie in der Schule behandelt

werden, wo sie als potenzielle Kriminelle diszipliniert werden, auf der

Straße, wo sie rassistischen Profilen der Polizei unterworfen sind, und

im GefÀngnis, wo sie inhaftiert und praktisch aller ihrer Rechte beraubt

sind. FĂŒr Frauen ist die KontinuitĂ€t der Behandlung in der freien Welt

und in der Welt des GefÀngnisses noch komplizierter, da sie auch im

GefÀngnis mit Formen der Gewalt konfrontiert sind, mit denen sie bereits

zu Hause und in ihren intimen Beziehungen konfrontiert waren. Die

Kriminalisierung von Schwarzen und Latina Frauen beinhaltet das Bild der

HypersexualitĂ€t, das dazu dient, sexuelle Übergriffe gegen sie

(innerhalb und außerhalb des GefĂ€ngnisses) zu rechtfertigen. Solche

Bilder wurden in einer Nightline-Fernsehserie anschaulich dargestellt,

die im November 1999 im kalifornischen Valley State Prison for Women

gedreht wurde. Viele der von Ted Kappel interviewten Frauen beklagten

sich, dass sie hÀufig und unnötig Unterleibsuntersuchungen erhielten,

auch wenn sie mit Routinekrankheiten wie ErkÀltungen den Arzt

aufsuchten. Um diese Untersuchungen zu rechtfertigen, erklÀrte der

Chefarzt, dass die weiblichen Gefangenen nur selten Gelegenheit zu

„mĂ€nnlichen Kontakten“ hĂ€tten und sie daher diese ĂŒberflĂŒssigen

gynĂ€kologischen Untersuchungen begrĂŒĂŸen wĂŒrden. Obwohl dieser Offizier

aufgrund dieser Äußerungen von seinem Posten entfernt wurde, Ă€nderte

seine Versetzung wenig an der weit verbreiteten GefÀhrdung inhaftierter

Frauen durch sexuellen Missbrauch. Untersuchungen in FrauengefÀngnissen

auf der ganzen Welt zeigen, dass sexueller Missbrauch eine stÀndige,

wenn auch inoffizielle Form der Bestrafung ist, der Frauen, die das Pech

haben, ins GefÀngnis zu kommen, ausgesetzt sind. Dies ist ein Aspekt des

Lebens im GefÀngnis, mit dem Frauen direkt oder indirekt konfrontiert

werden können, unabhÀngig davon, welche schriftlichen Richtlinien, die

die Institution regeln. Im Juni 1998 besuchte Radhika Coomaraswamy, die

UN-Sonderberichterstatterin fĂŒr Gewalt gegen Frauen, Bundes- und

StaatsgefÀngnisse sowie GefÀngnisse auf Bundes- und Landesebene sowie

Haftanstalten der Einwanderungs- und EinbĂŒrgerungsbehörde in New York,

Connecticut, New Jersey, Minnesota, Georgia und Kalifornien. Ihr wurde

die Erlaubnis verweigert, FrauengefÀngnisse in Michigan zu besuchen, wo

schwere VorwĂŒrfe des sexuellen Missbrauchs im Raum standen. Im Anschluss

an ihre Besuche erklÀrte Coomaraswamy, dass sexuelles Fehlverhalten von

GefÀngnispersonal in amerikanischen FrauengefÀngnissen weit verbreitet

ist. Diese heimliche Institutionalisierung des sexuellen Missbrauchs

verstĂ¶ĂŸt gegen einen der Prinzipien der Standard-Mindestregeln der

Vereinten Nationen fĂŒr die Behandlung von Gefangenen. Dieses

UN-Instrument, das 1955 zum ersten Mal verabschiedet wurde und wird von

vielen Regierungen als Leitlinie fĂŒr die Erreichung dessen verwendet,

was als „gute GefĂ€ngnispraxis“ bekannt ist. Diese Regeln werden jedoch

von der US-Regierung kaum bekannt gemacht, und wahrscheinlich hat das

meiste Personal im Strafvollzug noch nie etwas von diesen UN-Normen

gehört haben. Nach den Standard-Mindestvorschriften sind

Freiheitsstrafen und andere Maßnahmen die dazu fĂŒhren, dass ein

StraftĂ€ter von der Außenwelt abgeschnitten wird, allein schon Strafe

durch die Tatsache der Person das Recht auf Selbstbestimmung zu nehmen

und ihr die Freiheit zu entziehen. Deshalb darf der Strafvollzug das

Leiden des Verurteilten nicht verschlimmern, es sei denn, dies geschieht

im Zusammenhang mit einer gerechtfertigten Absonderung oder der

Aufrechterhaltung der Ordnung. Der sexuelle Missbrauch wird heimlich in

einen der routinemĂ€ĂŸigen Aspekten der Inhaftierung von Frauen, der

Leibesvisitation, integriert. Wie Aktivistinnen und Gefangene selbst

dargelegt haben, ist der Staat selbst direkt in diese Routine des

sexuellen Missbrauchs verwickelt, indem er solche Bedingungen zulÀsst,

die Frauen fĂŒr explizite sexuelle Nötigung durch WĂ€rter und anderes

Personal anfÀllig machen. Die australische AnwÀltin und Aktivistin

Amanda George hat darauf hingewiesen, dass sexueller Missbrauch, der in

Einrichtungen fĂŒr Menschen mit geistiger Behinderung, GefĂ€ngnissen,

psychiatrischen KrankenhÀusern, Jugendstrafanstalten und

Polizeistationen stattfindet, in der Regel Vergewaltigung und sexuelle

Nötigung durch Personen ist, die in diesen Einrichtungen arbeiten. Diese

Straftaten werden zwar selten angezeigt, aber sie werden eindeutig als

„Verbrechen“ verstanden, fĂŒr die das Individuum und nicht der Staat

verantwortlich ist. WĂ€hrend der Staat „rechtswidrige“ sexuelle

Übergriffe durch seine Mitarbeiter beklagt, setzt er selbst sexuelle

Übergriffe als Mittel der Kontrolle ein. In Victoria sind GefĂ€ngnis- und

Polizeibeamte mit der Befugnis und Verantwortung ausgestattet,

Handlungen vorzunehmen die, wenn sie außerhalb der Arbeitszeit begangen

wĂŒrden, den Straftatbestand der sexuellen Nötigung erfĂŒllen wĂŒrden. Wenn

eine Person nicht damit einverstanden ist, von diesen Beamten nackt

ausgezogen zu werden, kann dazu rechtmĂ€ĂŸig Gewalt angewendet werden.

Diese legalen Leibesvisitationen sind nach Ansicht des Autors sexuelle

Übergriffe im Sinne der Definition von unanstĂ€ndigen Angriffs (Vic) in

der Fassung von Abschnitt 39. Auf einer Konferenz ĂŒber Frauen im

GefÀngnis im November 2001, die von der in Brisbane ansÀssigen

Organisation „Sisters Inside“ stattfand, beschrieb Amanda George eine

Aktion, die vor einer nationalen Versammlung von Personal, das in

FrauengefĂ€ngnissen arbeitet. Mehrere Frauen stĂŒrmten die BĂŒhne, einige

in der Rolle von WĂ€rterinnen, andere in der Rolle von Gefangenen,

dramatisierten eine Leibesvisitation. Laut George zufolge waren die

Anwesenden von dieser Inszenierung einer Praxis, die in allen

FrauengefĂ€ngnissen routinemĂ€ĂŸig angewandt wird, so abgestoßen, dass sich

viele der Teilnehmerinnen gezwungen sahen, sich von solchen Praktiken zu

distanzieren und darauf zu bestehen, dass sie so etwas nicht tun wĂŒrden.

Einige der WĂ€rterinnen weinten, so sagte George, als sie Darstellungen

ihrer eigenen Handlungen außerhalb des GefĂ€ngniskontextes sahen. Sie

mĂŒssen erkannt haben, dass „ohne die Uniform, ohne die Macht des

Staates, [die Leibesvisitation] ein sexueller Übergriff wĂ€re“. Aber

warum ist das VerstĂ€ndnis fĂŒr die Verbreitung von sexuellem Missbrauch

in FrauengefÀngnissen ein wichtiger Bestandteil einer radikalen Analyse

desGefÀngnissystems und insbesondere der zukunftsweisenden Analysen, die

uns in Richtung Abschaffung fĂŒhren? Die Forderung nach Abschaffung des

GefÀngnisses als vorherrschende Form der Bestrafung kann nicht

ignorieren, in welchem Ausmaß die Institution des GefĂ€ngnisses Ideen und

Praktiken aufrecht erhÀlt, die in der Gesellschaft hoffentlich bald

ĂŒberholt sind. Die zerstörerische Kombination von Rassismus und

Frauenfeindlichkeit, so sehr sie in den letzten drei Jahrzehnten auch

von sozialen Bewegungen, Wissenschaft und Kunst in Frage gestellt wurde,

hat in FrauengefÀngnissen nach wie vor ihre schrecklichen Folgen. Die

relativ unbestrittene PrÀsenz von sexuellem Missbrauch in

FrauengefÀngnissen ist eines von vielen Beispielen. Die zunehmenden

Beweise fĂŒr einen US-GefĂ€ngnisindustriekomplex mit globaler Auswirkung

veranlassen uns, darĂŒber nachzudenken, inwieweit die vielen Unternehmen,

die in den Ausbau des GefÀngnissystems investiert haben und ebenso wie

der Staat direkt in eine Institution verwickelt sind, die Gewalt gegen

Frauen aufrecht erhÀlt.

Kapitel 5 Der industrielle GefÀngniskomplex

FĂŒr die Privatwirtschaft ist GefĂ€ngnisarbeit wie ein Goldtopf. Keine

Streiks. Keine gewerkschaftliche Organisierung. Keine

Gesundheitsleistungen, keine Arbeitslosenversicherung, keine

Arbeitsunfallversicherung. Keine Sprachbarrieren wie in anderen LĂ€ndern.

In neuen leviathanische GefÀngnisse werden Tausenden von Fabriken gebaut

innerhalb von Mauern. Gefangene geben Daten fĂŒr Chevron ein, machen

Telefonreservierungen fĂŒr TWA, zĂŒchten Schweine, schaufeln Dung und

stellen Leiterplatten, Limousinen, Wasserbetten und Dessous fĂŒr

Victoria’s Secret her und das alles zu einem Bruchteil der Kosten von

‚freier Arbeit‘. -Linda Evans und Eve Goldberg.

Die Ausbeutung von GefÀngnisarbeit durch private Unternehmen ist nur ein

Aspekt in einer Reihe von Beziehungen zwischen Unternehmen, Regierung,

Strafvollzug und Medien. Diese Beziehungen bilden das, was wir heute

einen industriellen GefĂ€ngniskomplex nennen. Der Begriff „industrieller

GefĂ€ngniskomplex“ wurde von Aktivisten und Wissenschaftlern eingefĂŒhrt,

um die vorherrschende Überzeugung die Verbrechensrate sei Hauptursache

fĂŒr die steigende Zahl der GefĂ€ngnisse sei, anzufechten. Stattdessen, so

argumentierten sie, sei der Bau von GefÀngnissen und der damit

einhergehende Drang, diese neuen Strukturen mit Menschen zu fĂŒllen, von

Ideologien des Rassismus und des Profitstrebens angetrieben. Der

Sozialhistoriker Mike Davis verwendete den Begriff erstmals im

Zusammenhang mit dem kalifornischen Strafvollzug, der seiner Beobachtung

nach bereits in den 1990er Jahren mit der Agrarindustrie und der

Landerschließung als wichtigste wirtschaftliche und politische Kraft

konkurrierte. Um die heutige soziale Bedeutung des GefÀngnisses im

Kontext eines sich entwickelnden industriellen Komplexes zu verstehen,

muss die Bestrafung getrennt von ihrer scheinbar unlösbaren Verbindung

mit dem Verbrechen betrachtet werdem. Wie oft begegnet uns die

Formulierung „Verbrechen und Strafe“? Inwieweit hat die stĂ€ndige

Wiederholung des Begriffs „Verbrechen und Strafe“ in der Literatur, als

Titel von Fernsehsendungen, sowohl fiktiven als auch dokumentarischen,

und in alltĂ€glichen GesprĂ€chen dazu gefĂŒhrt, dass es extrem schwierig

ist, ĂŒber Strafe jenseits dieses Zusammenhangs nachzudenken? Wie haben

diese Darstellungen das GefÀngnis in einen logischen Zusammenhang mit

KriminalitĂ€t als ihre natĂŒrliche, notwendige und dauerhafte Konsequenz

gebracht? Und damit ernsthafte Debatten ĂŒber die FunktionsfĂ€higkeit des

GefĂ€ngnis bis heute verhindert? Der Begriff „industrieller

GefĂ€ngniskomplex“ besteht auf einem VerstĂ€ndnis des

Strafvollzugsprozesses das wirtschaftliche und politische Strukturen und

Ideologien berĂŒcksichtigt, anstatt sich auf individuelles kriminelles

Verhalten und BemĂŒhungen zur „EindĂ€mmung der KriminalitĂ€t“ zu

konzentrieren. Die Tatsache, dass viele Unternehmen mit globalen MĂ€rkten

heute auf GefÀngnisse als wichtige Profitquelle angewiesen sind, hilft

uns zu verstehen, wie schnell sich GefÀngnisse ausbreiten, gerade zu

einer Zeit als offizielle Studien einen RĂŒckgang der KriminalitĂ€tsrate

anzeigten. Die Vorstellung eines GefÀngnisindustrie-Komplexes besagt

auch, dass die Zusammensetzung der GefÀngnispopulationen - und dies gilt

nicht nur fĂŒr die Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa,

SĂŒdamerika und Australien - kein zufĂ€lliges Merkmal ist. So ist die

Kritik von Abolitionist_innen und Wissenschaftler_innen am industriellen

GefÀngniskomplex sehr stark mit der Kritik an der weltweiten Fortdauer

des Rassismus verbunden. Antirassistische und andere soziale Bewegungen

fĂŒr soziale Gerechtigkeit sind unvollstĂ€ndig, wenn sie sich nicht mit

der Politik der Inhaftierung befassen. Auf der 2001 abgehaltenen

Weltkonferenz der Vereinten Nationen gegen Rassismus in Durban,

SĂŒdafrika, sprachen einige Einzelpersonen, die in Abschaffungskampagnen

in verschiedenen LĂ€ndern aktiv sind, ĂŒber diesen Zusammenhang und

versuchten die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft darauf zu

lenken. Sie wiesen darauf hin, dass das expandierende System der

GefÀngnisse weltweit auf rassistischen Strukturen beruhen und diese

weiter fördern, auch wenn ihre BefĂŒrworter beharrlich behaupten, es sei

neutral. Einige Kritiker_innen des GefÀngnissystems haben den Begriff

„industrieller Justizvollzugskomplex“ und andere den Begriff

„industrieller Strafvollzugskomplex“ verwendet.

Diese und der von mir gewĂ€hlte Begriff „industrieller GefĂ€ngniskomplex“

haben einen klaren Bezug zu dem historischen Konzept des

„militĂ€risch-industriellen Komplexes“, dessen Verwendung auf die

PrĂ€sidentschaft von Dwight Eisenhower zurĂŒckgeht. Es mag ironisch

erscheinen, dass ein republikanischer PrÀsident der erste war, der eine

wachsende und gefÀhrliche Allianz zwischen der Welt des MilitÀrs und der

Wirtschaft betonte, aber in der Ära des Vietnamkriegs erschien diese

Beschreibung den Kriegsgegner_innenn und Wissenschaftler_innen sinnvoll.

Heute argumentieren einige Aktivisten fÀlschlicherweise, dass der

industrielle GefÀngniskomplex den Platz einnimmt, den der

militÀrisch-industrielle Komplex frei gemacht hat. Der so genannte Krieg

gegen den Terrorismus von der Bush-Regierung nach den AnschlÀgen auf das

World Trade Center im Jahr 2002 hat deutlich gemacht, dass die

Verbindungen zwischen MilitÀr, Unternehmen und Regierung stÀrker werden,

nicht schwÀcher. Eine bessere Beschreibung der Beziehung zwischen dem

militÀrisch-industriellen Komplex und dem industriellen GefÀngniskomplex

zu definieren, wÀre, sie als symbiotisch zu bezeichnen. Diese beiden

Komplexe unterstĂŒtzen und fördern sich gegenseitig und teilen sich sogar

oft Technologien. In den frĂŒhen neunziger Jahren, als die

RĂŒstungsproduktion vorĂŒbergehend rĂŒcklĂ€ufig war, wurde diese Verbindung

zwischen der RĂŒstungsindustrie und der

Strafrechts-/Strafverfolgungsindustrie in einem Artikel des Wall Street

Journal von 1994 mit dem Titel „Making Crime Pay: Der Kalte Krieg der

90er Jahre“ festgestellt: Teile des Verteidigungsapparats machen

ebenfalls Kasse, da sie einen neuen GeschÀftszweig einsteigen, der ihnen

hilft KĂŒrzungen beim MilitĂ€r auszugleichen. Westinghouse Electric Corp.,

Minnesota Mining and Manufactur Co, GDE Systems (eine Abteilung der

alten General Dynamics) und Alliant Techsystems Inc. konzentrieren sich

beispielsweise auf AusrĂŒstungen zur VerbrechensbekĂ€mpfung und haben

spezielle Abteilungen zur UmrĂŒstung ihrer Verteidigungstechnologie. Der

Artikel beschreibt eine vom National Institute of Justice, dem

Forschungszweig des Justizministeriums, gesponserten Konferenz mit dem

Titel „Law Enforcement Technology in the 21st Century“. Der

Verteidigungsminister war einer der Hauptredner auf dieser Konferenz,

die Themen wie die Rolle der Verteidigungsindustrie, insbesondere im

Hinblick auf die doppelte Verwendbarkeit und Umstellung, diskutierte.

Ein heißes Thema: Technologien der Verteidigungsindustrie, die das

Gewaltniveau bei der VerbrechensbekÀmpfung senken könnten. Die Sandia

National Laboratories zum Beispiel experimentieren mit einem dichten

Schaum, der auf VerdĂ€chtige gesprĂŒht werden kann und sie unter atembaren

Luftblasen vorĂŒbergehend blind und taub macht. Stinger Corporation

arbeitet an „intelligenten Waffen“, die nur fĂŒr den Besitzer feuern, und

an einziehbaren, mit Stacheln versehenen Hindernissen die sich vor

flĂŒchtenden Fahrzeugen entfalten. Westinghouse wirbt fĂŒr das

„intelligente Auto“, in dem sich Minicomputer mit Hauptrechnern bei der

Polizei vernetzt werden können! Dies ermöglicht die rasche Einlieferung

von Gefangenen und den schnellen Austausch von Informationen. Bei einer

Analyse der Beziehungen zwischen dem militÀrischen und dem industriellen

GefĂ€ngniskomplex geht es jedoch nicht nur um die Übertragung von

MilitĂ€r-Technologie auf die Strafverfolgungs-Industrie. Was fĂŒr unsere

Diskussion vielleicht noch wichtiger ist, ist das Ausmaß, in dem beide

wichtige strukturelle Merkmale teilen. Beide Systeme erwirtschaften

enorme Profite aus den Prozessen des Sozialabbaus. Jene Unternehmen,

gewÀhlten Beamten und Regierungsvertreter, die offensichtlich an der

Ausweitung dieser Systeme beteiligt sind, profitieren von der Zerstörung

armer und rassistisch diskrimminierten Gemeinschaften in den Vereinigten

Staaten und ĂŒberall auf der Welt. Die Verwandlung von inhaftierten

Körpern - und das sind in ihrer Mehrheit nicht weiße Körper - in

Profitquellen, die alle Arten von Waren konsumieren und oft auch

produzieren, verschlingt öffentliche Gelder, die sonst fĂŒr

Sozialprogramme wie Bildung, Unterbringung, Kinderbetreuung,

Freizeitgestaltung, Programme fĂŒr Drogenkonsument_innen usw. zur

VerfĂŒgung stehen könnten. Die Bestrafung ist nicht mehr nur ein

Randbereich der Gesamtwirtschaft. Unternehmen, die alle Arten von

GĂŒtern - von GebĂ€uden ĂŒber elektronische GerĂ€te bis hin zu

Hygieneprodukten - herstellen und Dienstleistungen - von Mahlzeiten bis

hin zu Therapien und GesundheitsfĂŒrsorge - anbieten sind heute direkt am

Strafvollzug beteiligt. Das heißt, dass Unternehmen, von denen man nicht

annehmen wĂŒrde, dass sie dem staatlichen Strafvollzug nah stehen, einen

großen In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg trieben zum Beispiel

medizinische Experimente an Gefangenen die Entwicklung der

pharmazeutischen Industrie vorran. Allen Hornblum zufolge

nahm die Zahl der amerikanischen medizinischen Forschungsprogramme, die

Gefangene als Probanden einsetzten zu, als eifrige Ärzte und Forscher,

subventionsgebende UniversitÀten und eine aufkeimende Pharmaindustrie um

einen grĂ¶ĂŸeren Marktanteil kĂ€mpften. Die Menschen am Rande der

Gesellschaft waren, wie schon immer, das Mahlgut fĂŒr die

medizinisch-pharmazeutische Industrie, und insbesondere

GefĂ€ngnisinsassen wurden zum Rohmaterial fĂŒr die Profitmacherei und den

akademischen Fortschritt der Nachkriegszeit.

Hornblums Buch „Acres of Skin: Human Experiments at Holmesburg Prison“,

beleuchtet die Karriere des Forschungsdermatologen Albert Kligman, der

Professor an der UniversitĂ€t von Pennsylvania war. Kligman fĂŒhrte

Hunderte von Experimenten an den im Holmesburg-GefÀngnis untergebrachten

MĂ€nnern durch, und bildete dabei viele Forscher in der Anwendung von

spÀter als unethisch anerkannten Forschungsmethoden aus.

Als Dr. Kligman das alternde GefÀngnis betrat, war er beeindruckt von

dem Potenzial, das es fĂŒr seine Forschung bot. Im Jahr 1966 erinnerte er

sich in einem Zeitungsinterview: „Alles, was ich vor mir sah, waren

riesige FlÀchen von Haut. Es war wie ein Bauer, der zum ersten Mal ein

fruchtbares Feld sieht.“ Die Hunderte von HĂ€ftlingen, die ziellos vor

ihm umherliefen boten eine einzigartige Gelegenheit fĂŒr unbegrenzte und

ungestörte medizinische Forschung. Er beschrieb sie in diesem Interview

als „eine anthropoide (menschenĂ€hnlich) Kolonie, hauptsĂ€chlich gesund“

unter perfekten Kontrollbedingungen.

Als das Versuchsprogramm 1974 eingestellt wurde und neue

Bundesvorschriften die Verwendung von Gefangenen als Versuchspersonen in

der akademischen und unternehmerischen Forschung untersagten, waren

bereits zahlreiche Kosmetikprodukte und Hautcremes getestet worden.

Einige von ihnen hatten den Probanden großen Schaden zugefĂŒgt und

durften in ihrer ursprĂŒnglichen Form nicht vermarktet werden. Johnson

and Johnson, Ortho Pharma und Dow Chemical sind nur einige der

Unternehmen, die von diesen Experimenten materiell profitiert haben. Die

Folgen der Beteiligung von Unternehmen an der Bestrafung ließen sich

bereits bei den Kligman-Experimenten im Holmesburg-GefÀngnis bereits in

den 1950er und 1960er Jahren erahnen. Jedoch kam es erst in den 1980er

Jahren und mit der zunehmenden Globalisierung des Kapitalismus zu einer

massiven Welle der Beteiligung von Unternehmen in der Strafökonomie. Die

Deindustrialisierungsprozesse, die zu Werksschließungen im ganzen Land

fĂŒhrten, schufen eine riesige Menge an gefĂ€hrdeten Menschen, fĂŒr die es

keine ArbeitsplÀtze mehr gab. Dies brachte auch mehr Menschen in Kontakt

mit sozialen Diensten, wie AFDC (Aid to Families with Dependent

Children) und anderen Agenturen. Gleichzeitig erlebten wir die

Privatisierung und Kommerzialisierung von Dienstleistungen, die zuvor

von der Regierung betrieben wurden. Das offensichtlichste Beispiel fĂŒr

diesen Privatisierungsprozess war die Umwandlung der staatlich

betriebenen KrankenhÀuser und Gesundheitsdienste in einen gigantischen

Komplex, welcher euphemistisch als Health Maintenance Organisations

bezeichnet werden. In diesem Sinne könnte man auch von einem

„medizinisch-industriellen Komplex“ sprechen. TatsĂ€chlich gibt es eine

Verbindung zwischen einem der ersten privaten Krankenhausunternehmen,

der Hospital Corporation of America, heute bekannt als HCA, und der

Corrections Corporation of America (ein Unternehmen das sich auf den

Betrieb und die Leitung von privaten GefÀngnissen spezialisiert hat;

Anm. d.Ü.) . Vorstandsmitglieder der HCA, die heute ĂŒber zweihundert

KrankenhÀuser und siebzig ambulante Operationszentren in vierundzwanzig

Staaten, England und der Schweiz betreiben, halfen bei der GrĂŒndung der

Correctional Corporations of America im Jahr 1983. Im Kontext einer

Wirtschaft, die von einem beispiellosen Profitstreben angetrieben wurde,

ohne RĂŒcksicht auf die menschlichen Kosten, und dem damit einhergehenden

Abbau des Sozialstaates wurde die ÜberlebensfĂ€higkeit armer Menschen

zunehmend von der drohende PrÀsenz des GefÀngnisses eingeengt. Das

massive GefÀngnisbauprojekt, das in den 1980er Jahren begann, schuf die

Möglichkeit, diejenigen zu konzentrieren und zu verwalten, die das

kapitalistische System implizit zum menschlichen Überschuss erklĂ€rt

hatte. In der Zwischenzeit rechtfertigten gewÀhlte Vertreter und

herrschende Medien die neuen drakonischen Verurteilungspraktiken und

schickten immer mehr Menschen ins GefÀngnis , mit dem Argument, dass

dies der einzige Weg sei, um unsere Gemeinden vor Mördern,

Vergewaltigern und RĂ€ubern zu schĂŒtzen.

Die Medien, insbesondere das Fernsehen, haben ein ureigenes Interesse

daran, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, dass die KriminalitĂ€t außer

Kontrolle geraten ist. Mit der neuen Konkurrenz durch Kabelnetze und

24-Stunden-NachrichtenkanÀle, haben die Fernsehnachrichten und

-sendungen ĂŒber Verbrechen stark zugenommen. Nach Angaben des Center for

Media and Public Affairs war die Berichterstattung ĂŒber Verbrechen das

Thema Nr.1 in den Abendnachrichten wÀhrend des letzten Jahrzehnts. Von

1990 bis 1998 sank die Mordrate landesweit um die HĂ€lfte, aber die

Mordberichte in den drei großen Sendern stiegen fast um das Vierfache.

In der gleichen Zeit, in der die KriminalitĂ€tsrate zurĂŒckging, stieg die

Zahl der GefĂ€ngnisse stark an. Laut einem kĂŒrzlich erschienenen Bericht

des US-Justizministeriums waren Ende 2001 2.100.146 Menschen in den

Vereinigten Staaten inhaftiert. Die Begriffe und Zahlen, die in diesem

Regierungsbericht erscheinen, bedĂŒrfen einer Bemerkung. Ich zögere,

solche statistischen Daten unkommentiert zu verwenden, weil sie das

kritische Denken bremsen, das durch ein VerstÀndnis des industriellen

GefÀngniskomplexes hervorgerufen werden sollte. Es ist gerade die

Abstraktion von Zahlen, die eine so zentrale Rolle bei der

Kriminalisierung derjenigen spielt, die das UnglĂŒck der Inhaftierung

erfahren. Es gibt viele verschiedene Arten von MĂ€nnern und Frauen in den

GefÀngnissen, KnÀsten, INS und MilitÀrgefÀngnissen, deren Leben in den

Zahlen des Bureau of Justice Statistics untergeht. Die Zahlen machen

keinen Unterschied zwischen der Frau, die wegen einer DrogenabhÀngigkeit

inhaftiert ist, und dem Mann, der wegen Mordes an seiner Frau inhaftiert

ist. Am Ende wird der Mann vielleicht sogar weniger Zeit hinter Gittern

verbringen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die folgende statistische

AufschlĂŒsselung: Es waren 1.324.465 Menschen in „Bundes- und

StaatsgefĂ€ngnissen“, 15.852 in „TerritorialgefĂ€ngnissen “, 631.240 in

„lokalen GefĂ€ngnissen“, 8.761 in „Haftanstalten der Einwanderungs- und

EinbĂŒrgerungsbehörde“, 2.436 in „MilitĂ€reinrichtungen“, 1.912 in „Jails

in Indian country“ und 108.965 in „Jugendeinrichtungen“. In den zehn

Jahren zwischen 1990 und 2000, wurden 351 neue Haftanstalten von den

Bundesstaaten eröffnet und mehr als 528.000 Betten hinzugefĂŒgt, das sind

insgesamt 1.320 staatliche Einrichtungen, was einer Steigerung von 81%

entspricht. Außerdem gibt es gibt es derzeit 84 Bundeseinrichtungen und

264 private Einrichtungen. Aus den Regierungsberichten, denen diese

Zahlen entnommen sind, geht hervor, inwieweit die Inhaftierungsraten

zurĂŒckgehen. Der Bericht des Bureau of Justice Statistics mit dem Titel

„Prisoners in 2001“ stellt einleitend fest, dass die Zahl der Gefangenen

in den USA um 1,1% gestiegen ist, was weniger ist als das

durchschnittliche jÀhrliche Wachstum von 3,8% seit Ende 1995. Im Jahr

2001 stieg die GefÀngnispopulation mit der niedrigsten Rate seit 1972

und hatte den geringsten absoluten Anstieg seit 1979. Wie gering der

Anstieg auch sein mag, diese Zahlen wĂŒrden die Vorstellungskraft

ĂŒberfordern, wenn sie nicht so sauber geordnet und rational organisiert

wÀren. Um diese Zahlen in eine historische Perspektive zu setzen,

versuchen Sie sich vorzustellen, wie die Menschen die im 18. und 19.

Jahrhundert - und in der Tat fĂŒr den grĂ¶ĂŸten Teil des Jahrhundert - das

neue und damals ganz außergewöhnliche System der Bestrafung, das

GefĂ€ngnis, begrĂŒĂŸt haben, reagiert hĂ€tten wenn sie gewusst hĂ€tten, dass

eine so kolossale Zahl von Leben fĂŒr immer von dieser Institution

gefordert werden wĂŒrde. Ich habe bereits meine eigenen Erinnerungen an

eine Zeit vor 30 Jahren dargestellt, als die Zahl der Gefangenen noch 1

Zehntel der heutigen Zahl betrug.

Der industrielle GefÀngniskomplex wird von Privatisierungsmustern

angeheizt, die, wie Sie sich erinnern werden, auch das Gesundheitswesen,

das Bildungswesen und andere Bereiche unseres Lebens drastisch verÀndert

haben. DarĂŒber hinaus knĂŒpft die GefĂ€ngnisprivatisierung - die

zunehmende PrÀsenz von Unternehmen in der GefÀngniswirtschaft und die

Einrichtung privater GefĂ€ngnisse - an die historischen BemĂŒhungen zur

Schaffung einer profitablen Bestrafungsindustrie zu schaffen an , die

auf dem neuen Angebot an „freien“ schwarzen mĂ€nnlichen ArbeitskrĂ€ften in

den den Nachwehen des BĂŒrgerkriegs basieren. Steven, der sich auf die

Arbeit des norwegischen Kriminologen Nils Christie stĂŒtzt, argumentiert:

Unternehmen, die das Strafsystem bedienen, brauchen ausreichende Mengen

an Rohstoffen, um ein langfristiges Wachstum zu gewÀhrleisten. . . Im

Bereich der Strafjustiz sind Menschen der Rohstoff und die Industrie

wird alles Notwendige tun, um eine stetige Versorgung zu gewÀhrleisten.

Damit das Angebot an Gefangenen wÀchst, muss die Strafverfolgungspolitik

eine ausreichende Zahl von inhaftierten Amerikaner_innen sicherstellen

unabhÀngig davon, ob die KriminalitÀt steigt oder die Inhaftierung

notwendig ist.

In der Zeit nach dem BĂŒrgerkrieg bildeten die emanzipierten schwarzen

MÀnner und Frauen ein enormes Reservoir an ArbeitskrÀften. Zeitgleich

konnten die Pflanzer und Industriellen nicht mehr wie frĂŒher auf die

Sklaverei setzen, wie sie es in der Vergangenheit getan hatten. Diese

ArbeitskrĂ€fte wurden in zunehmendem Maße fĂŒr private Akteure verfĂŒgbar,

und zwar durch das bereits erwĂ€hnte Pachtsystem fĂŒr StrĂ€flinge und

verwandte Systeme wie die Schuldknechtschaft. Es sei daran erinnert,

dass die Zahl der Strafgefangenen nach der Abschaffung der Sklaverei

drastisch anstieg, so dass schwarze Menschen im SĂŒden schnell einen

unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig hohen Anteil ausmachten. Dieser Übergang bildete die

historische Grundlage fĂŒr die leichte Akzeptanz unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig hoher

schwarzer GefÀngnispopulationen heute. Nach Angaben des Bureau of

Justice Statistics von 2002 stellen Afroamerikaner heute die Mehrheit

der Gefangenen auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene, mit insgesamt

803.400 schwarzen Insassen, mehr als die Gesamtzahl der weißen

HĂ€ftlinge. Bezieht man die Latinos mit ein, mĂŒssen wir weitere 283.000

PoCs hinzufĂŒgen. Da die Inhaftierungsrate schwarzer Gefangener weiter

ansteigt, nÀhert sich die Zusammensetzung der inhaftierten Bevölkerung

dem VerhĂ€ltnis von schwarzen Gefangenen zu weißen Gefangenen in der Ära

der StrÀflingsvermietung und der Bezirkskettenbanden. Dass diese

menschliche „Ressourcen“ von einer Reihe von Konzernen, die direkt in

den industriellen GefÀngniskomplex involviert sind als Arbeitskraft oder

fĂŒr den Konsum von Waren verwendet wird, zeigt dass schwarze Körper in

der „freien Welt“ als entbehrlich gelten, in der GefĂ€ngniswelt jedoch

eine wichtige Profitquelle sind. Die fĂŒr den Strafvollzug

charakteristische Privatisierung weist Parallelen zur Sklaverei auf,

denn Unternehmen wie CCA und Wackenhut betreiben GefÀngnisse

buchstĂ€blich aus ProfitgrĂŒnden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts betreiben

die zahlreichen privaten GefÀngnisunternehmen in den Vereinigten Staaten

Einrichtungen, in denen sie 91.828 Bundes- und Staatsgefangene

unterbringen. [...] New Mexico hÀlt vierundvierzig Prozent seiner

Gefangenen in privaten Einrichtungen gefangen und Staaten wie Montana,

Alaska und Wyoming haben mehr als fĂŒnfundzwanzig Prozent ihrer

GefĂ€ngnisinsassen an private Unternehmen ĂŒbergeben. In Vereinbarungen,

die an das System der StrÀflingsvermietung erinnern, zahlen Bund, LÀnder

und Bezirke privaten Unternehmen eine GebĂŒhr pro Gefangener. Dies

bedeutet, dass die privaten Unternehmen ein Interesse daran haben, die

Gefangenen so lange wie möglich zu behalten und ihre Einrichtungen zu

fĂŒllen. In diesem Bundesstaat gibt es vierunddreißig staatseigene,

privat gefĂŒhrte GefĂ€ngnisse, in denen etwa 5 500 HĂ€ftlinge aus anderen

Bundesstaaten inhaftiert sind. Diese Einrichtungen erwirtschaften

jĂ€hrlich etwa achtzig Millionen Dollar fĂŒr Texas. Ein dramatisches

Beispiel ist die Capital Corrections Resources, Inc. die das Brazoria

Detention Center betreibt, eine staatliche Einrichtung, die sich vierzig

Meilen außerhalb von Houston, Texas, befindet. Brazoria erlangte

öffentliche Aufmerksamkeit als im August 1997 ein im nationalen

Fernsehen ausgestrahltes Video zeigte, wie Gefangene von HĂ€ftlinge von

Polizeihunden gebissen und von WĂ€rtern brutal in die Leiste getreten

wurden. Die HĂ€ftlinge, die gezwungen waren, auf dem Boden zu kriechen,

wurden außerdem mit Elektroschockern geschockt, wĂ€hrend WĂ€rter - die

einen schwarzen Gefangenen als „Junge“ bezeichneten - riefen: „Kriech

schneller!“ Nach der Veröffentlichung dieses Videos zog der Bundesstaat

Missouri die 415 Gefangenen ab, die er im Brazoria Detention Center

untergebracht hatte. In den begleitenden Nachrichtenberichten wurde nur

selten auf den unbestreitbar rassistischen Charakter des abscheulichen

Verhaltens der WĂ€rter hingewiesen, obwohl in dem Abschnitt des

Videobandes aus Brazoria, das im nationalen Fernsehen ausgestrahlt

wurde, schwarze mÀnnliche Gefangene die primÀren Ziele der Angriffe des

Wachpersonals waren. Das zweiunddreißigminĂŒtige Band aus Brazoria, wird

von den GefÀngnisbehörden als Schulungsband dargestellt - als

„not-to-do“-Beispiel. Es wurde im September 1996 aufgenommen, nachdem

ein WÀrter angeblich Marihuana im GefÀngnis gerochen hatte. Wichtige

Beweise fĂŒr die Misshandlungen, die sich hinter den Mauern und Toren

privater GefÀngnisse stattfindet, kam im Zusammenhang mit einer Klage

eines Gefangenen ans Licht, der von einem Hund gebissen worden war; er

verklagte Brazoria County auf hunderttausend Dollar Schadensersatz. Die

Handlungen der GefÀngniswÀrter von Brazoria - die nach Aussage der

Gefangenen dort, weitaus schlimmer waren, als auf dem Band zu sehen ist,

sind nicht nur bezeichnend fĂŒr die Art und Weise, wie viele Gefangene im

ganzen Land behandelt werden, sondern auch fĂŒr die allgemeine Haltung

gegenĂŒber Menschen, die in GefĂ€ngnissen eingesperrt sind. Einem Bericht

der Associated Press zufolge sagten die Insassen aus Missouri, nachdem

sie von Brazoria in ihren Heimatstaat zurĂŒckverlegt worden waren

gegenĂŒber dem Kansas City Star:

Die WĂ€rter im Brazoria County Detention Center setzten Viehtreiber und

andere Formen der EinschĂŒchterung ein um sich Respekt zu verschaffen und

die Gefangenen zu zwingen, zu sagen: ‚Ich liebe Texas.‘ ‚Was Sie auf dem

Band gesehen haben, war nicht ein Bruchteil dessen, was an diesem Tag

geschah‘, sagte der HĂ€ftling Louis Watkins und bezog sich dabei auf die

auf Video aufgenommene Razzia im Zellenblock am 18. September 1996. ‚Ich

habe so etwas noch nie in einem Film gesehen‚.

Im Jahr 2000 gab es in den Vereinigten Staaten sechsundzwanzig

gewinnorientierte GefÀngnisgesellschaften, die etwa 150 Einrichtungen in

achtundzwanzig Bundesstaaten betrieben. Die grĂ¶ĂŸten dieser Unternehmen,

CCA und Wackenhut, kontrollieren weltweit 76,4 Prozent des privaten

GefÀngnismarktes. Der Hauptsitz von CCA befindet sich Nashville,

Tennessee. Bis 2001 war der grĂ¶ĂŸte Anteilseigner das multinationale

Unternehmen Sodexho Alliance! mit Sitz in Paris, die ĂŒber ihre

US-amerikanische Tochtergesellschaft Sodexho Marriott

Verpflegungsdienste an neunhundert amerikanischen Colleges und

UniversitÀten anbietet. Das Prison Moratorium Project, eine Organisation

zur UnterstĂŒtzung von Jugendaktivismus, fĂŒhrte eine Protestkampagne

gegen Sodexho Marriott in UniversitÀten im ganzen Land durch. Eine

Schlussfolgerung, die hier gezogen werden muss, ist, dass selbst bei

einem Verbot privater GefÀngnisunternehmen - was in der Tat

unwahrscheinlich ist - der industrielle GefÀngniskomplex und seine

zahlreichen Profitstrategien relativ intakt bleiben wĂŒrden. Private

GefĂ€ngnisse sind unmittelbare Profitquellen fĂŒr die Unternehmen, die sie

betreiben, aber auch die öffentlichen GefÀngnisse sind so stark mit den

gewinnbringenden Produkten und Dienstleistungen privater Unternehmen

durchdrungen, dass der Unterschied nicht so bedeutsam ist, wie man

vermuten könnte. Kampagnen gegen die Privatisierung, die öffentliche

GefÀngnisse als angemessene Alternative zu darstellen, können

irrefĂŒhrend sein. Ein wichtiger Grund fĂŒr die RentabilitĂ€t privater

GefÀngnisse liegt in den nicht gewerkschaftlich organisierten

ArbeitskrÀften, die sie beschÀftigen, und dieser wichtige Unterschied

sollte hervorgehoben werden. Dennoch sind die öffentlichen GefÀngnisse

heute ebenso mit der Unternehmensökonomie verbunden und stellen eine

stÀndig wachsende Quelle kapitalistischen Profits dar. Umfangreiche

Unternehmensinvestitionen in GefĂ€ngnisse haben die Anforderungen fĂŒr die

Anti-GefÀngnisarbeit deutlich erhöht. Das bedeutet, dass ernsthafte

Anti-GefĂ€ngnis-Aktivistinnen bereit sein mĂŒssen, in ihren Analysen und

Organisationsstrategien ĂŒber die eigentliche Institution des

GefÀngnisses hinauszugehen. Die Rhetorik der GefÀngnisreform, die die

Kritik am GefĂ€ngnissystem gestĂŒtzt hat, wird in dieser neuen Situation

nicht funktionieren. Wenn ReformansÀtze in der Vergangenheit eher dazu

beigetragen haben, die Dauerhaftigkeit des GefÀngnisses zu stÀrken, so

werden sie sicherlich nicht ausreichen, um die wirtschaftlichen und

politischen VerhÀltnisse, die das GefÀngnis heute tragen, in Frage zu

stellen. Das bedeutet, dass Aktivist_innen in Zeiten des industriellen

GefÀngniskomplexes die Beziehung zwischen dem globalen Kapitalismus und

der Verbreitung von GefÀngnissen nach amerikanischem Vorbild in der

ganzen Welt ernsthaft in Frage stellen mĂŒssen. Die globale

GefÀngniswirtschaft wird unbestreitbar von den Vereinigten Staaten

dominiert. Diese Wirtschaft besteht nicht nur aus den Produkten,

Dienstleistungen und Ideen, die direkt an andere Regierungen vermarktet

werden, sondern sie ĂŒbt auch einen enormen Einfluss auf die Entwicklung

der Art der staatlichen Bestrafung in der ganzen Welt aus. Ein

dramatisches Beispiel dafĂŒr, ist der Widerstand gegen die Versuche des

tĂŒrkischen Staats, seine GefĂ€ngnisse umzugestalten. Im Oktober 2000

begannen die Gefangenen in der TĂŒrkei, von denen viele politischen

Bewegungen angehören, ein „Todesfasten“, um ihren Widerstand gegen die

Entscheidung der tĂŒrkischen Regierung, „IF-Type“-GefĂ€ngnisse nach

amerikanischem Vorbild einzufĂŒhren, zu verstĂ€rken. Im Unterschied zu den

bisher ĂŒblichen schlafsaalĂ€hnlichen Einrichtungen bestehen diese neuen

GefÀngnisse aus Ein- bis Dreipersonenzellen. Dies wird von den

Gefangenen abgelehnt , weil sie die Isolation erleichtern und

Misshandlungen und Folter in der Isolation viel wahrscheinlicher sind.

Im Dezember 2000 wurden dreißig Gefangene bei ZusammenstĂ¶ĂŸen mit

SicherheitskrÀften in zwanzig GefÀngnissen getötet. Seit September 2002

sind mehr als fĂŒnfzig HĂ€ftlinge an Hunger gestorben, darunter zwei

Frauen, Gulnihal Yilmaz und Birsen Hosver, die zu den letzten Gefangenen

gehörten, die dem Todesfasten erlagen. Die „IF-Type“-GefĂ€ngnisse in der

TĂŒrkei wurden durch das jĂŒngste Aufkommen der Super-Maximum

HochsicherheitsgefÀngnisses in den Vereinigten Staaten inspiriert, das

sich anmaßt, unangepasste Gefangene zu kontrollieren, indem man sie in

stÀndiger Einzelhaft hÀlt und sie unterschiedlichen Graden von

Reizentzug unterworfen werden. In seinem Weltbericht 2002 lenkte Human

Rights Watch besondere Aufmerksamkeit auf die Ausbreitung der

hochmodernen Super-Hochstsicherheits-GefĂ€ngnissen. UrsprĂŒnglich in den

Vereinigten Staaten verbreitet, wurde das Supermax-Modell zunehmend auch

in anderen LĂ€ndern nachgeahmt. Die Gefangenen in solchen Einrichtungen

verbrachten durchschnittlich dreiundzwanzig Stunden pro Tag in ihren

Zellen und sind extremer sozialer Isolation, erzwungener Tatenlosigkeit

und außerordentlich eingeschrĂ€nkte Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung

und Bildung ausgesetzt. Die GefÀngnisbehörden verteidigten den Einsatz

vonHöchstsicherheitseinrichtungen damit, dass dort „nur“ gefĂ€hrliche,

auffĂ€llige, aufmĂŒpfige oder ausbruchsgefĂ€hrdete HĂ€ftlinge untergebracht

seien, jedoch gab es nur wenige Sicherheitsvorkehrungen, um zu

verhindern, dass Gefangene willkĂŒrlich oder diskriminierend in solche

Einrichtungen verlegt werden. In Australien stellte der Inspektor fĂŒr

Haftanstalten fest, dass einige Gefangene auf unbestimmte Zeit in

speziellen Hochsicherheitseinrichtungen festgehalten wurden, ohne zu

wissen, warum oder wann ihre Isolation enden wĂŒrde. Zu den vielen

LÀndern, die in letzter Zeit HochsicherheitsgefÀngnisse gebaut haben,

gehört SĂŒdafrika. Der Bau fĂŒr das HochsicherheitsgefĂ€ngnis in Kokstad,

KwaZulu-Natal, wurde im August 2000 abgeschlossen, es wurde jedoch erst

im Mai 2002 eröffnet. Der Grund fĂŒr die Verzögerung war ironischerweise

der Wettbewerb um Wasser zwischen dem GefÀngnis und einer neuen,

preisgĂŒnstigen Wohnsiedlung. Ich hebe SĂŒdafrikas BefĂŒrwortung der

Supermax-GefÀngnis hervor, weil es offensichtlich so einfach ist, diese

repressivste Version des US-GefÀngnisses in einem Land zu etabliert, das

erst vor kurzem mit dem Aufbau einer demokratischen , nicht

rassistischen und nicht sexistischen Gesellschaft begonnen hat.

SĂŒdafrika war das erste Land der Welt, das die Rechte von Homosexuellen

in der Verfassung verankert und die Todesstrafe nach der Abschaffung der

Apartheid sofort aufhob. Dennoch wird das sĂŒdafrikanische

GefÀngnissystem nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten immer

repressiver. Das US-amerikanische private GefÀngnis Unternehmen

Wackenhut hat mehrere VertrĂ€ge mit der sĂŒdafrikanischen Regierung

geschlossen und durch den Bau privater GefÀngnisse den Trend zur

Privatisierung insgesamt weiter verstÀrkt (was sich auf die

VerfĂŒgbarkeit grundlegender Dienstleistungen von der Energieversorgung

bis zur Bildung auswirkt). Die Beteiligung SĂŒdafrikas am industriellen

GefĂ€ngniskomplex stellt ein großes Hindernis fĂŒr die Schaffung einer

demokratischen Gesellschaft dar. In den Vereinigten Staaten haben wir

bereits die heimtĂŒckischen und sozial schĂ€dlichen Auswirkungen der

Ausweitung der GefĂ€ngnisse zu spĂŒren bekommen. Die vorherrschende

gesellschaftliche Erwartung ist, dass junge schwarze,

lateinamerikanische, native-american und sĂŒdostasiatische MĂ€nner und

zunehmend auch Frauen auf „natĂŒrliche“ Weise aus der freien Welt ins

GefÀngnis kommen, wo sie, so wird angenommen, hingehören. Trotz der

großen Bedeutung der antirassistischen sozialen Bewegungen im letzten

halben Jahrhundert versteckt sich der Rassismus in den institutionellen

Strukturen, und sein zuverlÀssigster Zufluchtsort ist das

GefĂ€ngniswesen. Die rassistisch motivierten Verhaftungen einer großen

Zahl von Einwanderern aus dem Nahen Osten nach den AnschlÀgen vom 11.

September 2001 und die anschließende ZurĂŒckhaltung von Informationen

ĂŒber die Namen und die Anzahl der Menschen, die in den Haftanstalten der

INS festgehalten werden (von denen einige im Besitz privater Unternehmen

sind und von diesen betrieben werden) lassen keine demokratische Zukunft

erwarten. Die unbestrittene Inhaftierung einer wachsenden Zahl von

Einwanderern ohne Papiere aus dem globalen SĂŒden wurde von Strukturen

und Ideologien vereinfacht , die mit dem industriellen GefÀngniskomplex

verbunden sind. Wir können uns im einundzwanzigsten Jahrhundert kaum in

Richtung Gerechtigkeit und Gleichheit bewegen, wenn wir nicht bereit

sind, die enorme Rolle anzuerkennen, die Rassismus und

Fremdenfeindlichkeit bei der Ausweitung dieses Systems gespielt hat. Die

radikale Opposition gegen den globalen industriellen GefÀngniskomplex

sieht die Anti-GefÀngnis-Bewegung als ein wichtiges Mittel zur

Erweiterung des Terrains, auf dem sich das Streben nach Demokratie

entfalten wird. Diese Bewegung ist also antirassistisch,

antikapitalistisch, antisexistisch und antihomophob. Sie fordert die

Abschaffung des GefÀngnisses als vorherrschende Form der Bestrafung,

erkennt aber gleichzeitig die Notwendigkeit echter SolidaritÀt mit den

Millionen von MĂ€nnern, Frauen und Kindern, die hinter Gittern sitzen.

Eine große Herausforderung dieser Bewegung ist es, die Arbeit zu

leisten, die zu einer humaneren, lebenswerteren Umgebung fĂŒr

menschenwĂŒrdige Lebensbedingungen fĂŒr Menschen im GefĂ€ngnis zu schaffen,

ohne die Dauerhaftigkeit des GefÀngnissystems zu stÀrken. Wie also

schaffen wir den Spagat, uns leidenschaftlich fĂŒr die BedĂŒrfnisse der

Gefangenen einzusetzen und weniger Gewalt, ein Ende der staatlichen

sexuellen Übergriffe, eine bessere physische und psychische

Gesundheitsversorgung, besseren Zugang zu Drogenprogrammen, bessere

Bildungsmöglichkeiten, gewerkschaftliche Organisierung der

GefĂ€ngnisarbeit, mehr Verbindungen zu Familien und Gemeinden, kĂŒrzere

oder alternative Haftstrafen und fordern gleichzeitig Alternativen zum

Strafvollzug insgesamt, keinen weiteren GefÀngnisbau und

abolitionistische Strategien, die den Platz des GefÀngnisses in unserer

Zukunft in Frage stellen?

Kapitel 6 Mögliche Abschaffung

Vergessen Sie die Reform, es ist an der Zeit, ĂŒber die Abschaffung der

GefÀngnisse in der amerikanischen Gesellschaft zu sprechen. Dennoch -

Abschaffung? Wo sollen die Gefangenen hin? Die ’Kriminellen’? Was ist

die Alternative? Erstens, ĂŒberhaupt keine Alternative zu haben, wĂŒrde

weniger KriminalitÀt erzeugen als es die derzeitigen Ausbildungszentren

fĂŒr Kriminelle tun. Zweitens besteht die einzige vollstĂ€ndige

Alternative darin, eine Gesellschaft aufzubauen, die keine GefÀngnisse

braucht: anstÀndige Umverteilung von Macht und Einkommen, um das

versteckte Feuer des brennenden Neides zu löschen, das sich heute in

Eigentumsdelikten entlĂ€dt - sowohl in EinbrĂŒchen durch die Armen als

auch in Veruntreuungen durch die Wohlhabenden. Und ein anstÀndiges

GemeinschaftsgefĂŒhl, das diejenigen unterstĂŒtzen, wieder eingliedern und

wirklich rehabilitieren kann, die plötzlich von Wut oder Verzweiflung

erfĂŒllt sind. Und ihnen nicht als Objekte - ‚Kriminelle‘ -

gegenĂŒbertreten, sondern als Menschen, die illegale Handlungen begangen

haben, wie fast alle von uns. -Arthur Waskow, Institut fĂŒr politische

Studien

Wenn GefÀngnisse und Haftanstalten abgeschafft werden, was soll dann an

ihre Stelle treten? Dies ist die verwirrende Frage die weitere

Überlegungen zur Abschaffung hĂ€ufig unterbricht. Warum sollte es so

schwierig sein, sich Alternativen zu unserem derzeitigen System der

Inhaftierung vorzustellen? Es gibt eine Reihe von GrĂŒnden, warum wir vor

der Vorstellung zurĂŒckschrecken, dass es möglich sein könnte, ein völlig

anderes anderes - und vielleicht egalitÀreres - Justizsystem zu

schaffen. Erstens betrachten wir das gegenwÀrtige System mit seiner

ĂŒbertriebenen AbhĂ€ngigkeit von Haftstrafen als unbedingten Standard und

können uns daher nur schwer einen anderen Umgang mit den mehr als zwei

Millionen Menschen vorstellen die derzeit in den GefÀngnissen,

Jugendstrafanstalten und EinwanderungsgefÀngnissen des Landes

festgehalten werden. Ironischerweise stĂŒtzt sich sogar die

Anti-Todesstrafen-Kampagne auf die Annahme, dass eine lebenslange

Freiheitsstrafe die vernĂŒnftigste Alternative zur Todesstrafe ist. So

wichtig die Abschaffung der Todesstrafe auch sein mag, sollten wir uns

darĂŒber im Klaren sein, dass die gegenwĂ€rtige Kampagne gegen die

Todesstrafe die Tendenz hat, genau die historischen Muster zu

wiederholen, die zur Entstehung des GefÀngnisses als vorherrschende Form

der Bestrafung gefĂŒhrt haben. Die Todesstrafe hat mit dem GefĂ€ngnis

koexistiert, obwohl die Inhaftierung als Alternative zur körperlichen

Bestrafung und zur Todesstrafe dienen sollte . Eine kritische

Auseinandersetzung mit dieser ZwiespĂ€ltigkeit wĂŒrde bedeuten, das Ziel

der Abschaffung der Todesstrafe mit Strategien zur Abschaffung der

GefÀngnisse zu verbinden. Wenn wir uns kurzsichtig auf das existierende

System fokussieren, fĂŒhrt dies zu der Annahme dass Inhaftierung die

einzige Alternative zur Todesstrafe sei -und genau das ist das Problem.

Es ist sehr schwer, sich ein strukturell Àhnliches System vorzustellen,

das in der Lage ist, mit einer so großen Zahl von Gesetzesbrechern

umzugehen. Wenn wir jedoch unsere Aufmerksamkeit vom GefÀngnis, das als

isolierte Institution wahrgenommen wird, auf das Beziehungsgeflecht

lenken, das den industriellen GefÀngniskomplex ausmacht, ist es

vielleicht einfacher, ĂŒber Alternativen nachzudenken. Mit anderen

Worten, ein komplizierterer Rahmen kann mehr Optionen bieten, als wenn

wir einfach versuchen, einen einzigen Ersatz fĂŒr das GefĂ€ngnissystem zu

finden. Der erste Schritt bestĂŒnde also darin den Wunsch loszulassen,

ein einziges alternatives Strafsystem zu finden, das ebenso viele

Aspekte abdeckt wie das GefÀngnissystem.

Seit den 1980er Jahren hat sich das GefÀngnissystem zunehmend in das

wirtschaftliche, politische und ideologische Leben der Vereinigten

Staaten eingebettet, sowie in den transnationalen Handel mit US-Waren,

Kultur und Ideen. Der industrielle GefÀngniskomplex ist also viel mehr

als die Summe aller GefÀngnisse in diesem Land. Es handelt sich um eine

Reihe von symbiotischen Beziehungen zwischen Strafvollzugsorganen,

transnationalen Unternehmen, Medienkonglomeraten, Gewerkschaften des

Wachpersonals sowie Gesetzgebung und Tagesordnungspunkten vor Gericht.

Wenn es stimmt, dass die zeitgenössische Bedeutung von Strafe durch

diese Beziehungen geprÀgt ist, dann werden die effektivsten

Abschaffungsstrategien diese Beziehungen anfechten und Alternativen

vorschlagen mĂŒssen. Was wĂŒrde es also bedeuten, sich ein System

vorzustellen, in dem Strafe nicht zur Quelle von Unternehmensgewinnen

werden darf? Wie können wir uns eine Gesellschaft vorstellen, in der

rassistische und klassistische Zuschreibungen keine primÀren

Bestimmungsfaktoren fĂŒr die Bestrafung sind? Oder eine, in der Strafe

selbst nicht mehr das zentrale Anliegen bei der Herstellung von

Gerechtigkeit ist? Ein abolitionistischer Ansatz, der Antworten auf

Fragen wie diese sucht, wĂŒrde von uns verlangen, dass wir uns eine

Zusammenstellung von alternativen Strategien und Institutionen

vorstellen, mit dem Ziel, dass das GefÀngnis aus der sozialen und

ideologischen Landschaft unserer Gesellschaft zu entfernen. Mit anderen

Worten, wir wĂŒrden nicht nach gefĂ€ngnisĂ€hnlichen Ersatzformen fĂŒr das

GefÀngnis suchen, wie etwa Hausarrest oder durch elektronische

ÜberwachungsarmbĂ€nder. Vielmehr wĂŒrden wir, indem wir die Freilassung

als unsere ĂŒbergreifende Strategie aufstellen und versuchen, ein

Kontinuum von Alternativen zur Inhaftierung zu schaffen: Die

Entmilitarisierung der Schulen, die Wiederbelebung des Bildungswesens

auf allen Ebenen, ein Gesundheitssystem, das kostenlose körperliche und

psychologische Versorgung und ein Justizsystem, das auf Wiedergutmachung

und Versöhnung und nicht auf Vergeltung und Rache beruht. Die Schaffung

neuer Einrichtungen, die den Raum ĂŒbernehmen, den das GefĂ€ngnis jetzt

einnimmt, kann das GefÀngnis verdrÀngen, so dass es einen immer

kleineren Teil unserer sozialen und psychischen Landschaft besetzt.

Schulen können daher als die stÀrkste Alternative zu GefÀngnissen und

Haftanstalten gesehen werden. Wenn die derzeitigen Gewaltstrukturen in

den Schulen in verarmten Gemeinden of Color- einschließlich der

Anwesenheit von bewaffnetem Sicherheitspersonal und Polizei - beseitigt

werden und wenn die Schulen zu Orten werden, die die Freude am Lernen

fördern, werden diese Schulen nicht weiterhin die Haupttransportwege zu

den GefÀngnissen sein. Im Bereich des Gesundheitswesens ist es wichtig,

auf die derzeitige Knappheit an Einrichtungen fĂŒr arme Menschen, die an

schweren psychischen und emotionalen Krankheiten leiden. Es gibt derzeit

mehr Menschen mit psychischen und emotionalen Störungen in GefÀngnissen

als in psychiatrischen Einrichtungen. Diese Forderung nach neuen

Einrichtungen zur UnterstĂŒtzung armer Menschen sollte nicht als Aufruf

zur Ausweitung des alten Systems der psychiatrischen Anstalten

verstanden werden, die in vielen FĂ€llen ebenso repressiv waren und sind

wie die GefÀngnisse. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass

die rassistischen und klassistischen Unterschiede in der Betreuung

zwischen den Wohlhabenden und den Benachteiligten beseitigt werden

mĂŒssen, wodurch ein weiteres Mittel zur Befreiung entstĂŒnde. Um es noch

einmal zu betonen: Anstatt zu versuchen, sich eine einzige Alternative

zum bestehenden System der Ungleichbehandlung vorzustellen, sondern eine

Reihe von Alternativen, die radikale Umgestaltungen vieler Aspekte

unserer Gesellschaft erfordern. Alternativen, die nicht gegen Rassismus,

mÀnnlicher Dominanz, Homophobie, Klassenunterschiedenund andere

Herrschaftsstrukturen kÀmpfen, werden letztlich nicht zur Abschaffung

der Haft fĂŒhren und das Ziel der Abschaffung von KnĂ€sten nicht

voranbringen. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, die

Entkriminalisierung des Drogenkonsums als eine der wichtigsten

Strategien zu betrachten, um gleichzeitig gegen die Strukturen des

Rassismus im Strafrechtssystems zu kÀmpfen und die

abschaffungsorientierte Agenda der Haftentlassung voranzutreiben. Mit

Blick auf die Rolle, die der so genannte Krieg gegen die Drogen dabei

spielt, eine große Zahl von People of Color in das GefĂ€ngnissystem zu

bringen, sollte die Entkriminalisierung des Drogenkonsums mit der

Entwickung kostenloser, gemeindebasierter Programme verknĂŒpft werden,

die fĂŒr alle Menschen zugĂ€nglich sind, die ihre Drogenprobleme in den

Griff bekommen wollen. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle

Menschen die Drogen konsumieren - oder dass nur Menschen, die illegale

Drogen konsumieren, diese Hilfe in Anspruch nehmen werden. Jedoch sollte

jeder, unabhÀngig vom wirtschaftlichen Status, der seine Drogensucht

besiegen will, die Möglichkeit haben, an Behandlungs-Programmen

teilnehmen können. Solche Einrichtungen gibt es in der Tat in

wohlhabenden Gemeinden. Das bekannteste Beispiel ist das „Betty

Ford“-Programm, das laut seiner Website „von Alkohol und anderen

stimmungsverĂ€ndernden Chemikalien abhĂ€ngige Patienten aufnimmt“. Die

Behandlungsangebote stehen allen MĂ€nnern und Frauen ab achtzehn Jahren

offen- unabhÀngig von Hautfarbe, Glaube, Geschlecht, nationaler

Herkunft, Religion oder Finanzierungsquellen. Die Kosten fĂŒr die ersten

sechs Tage betragen jedoch 1.175$ pro Tag, danach 525$ pro Tag. Wenn

eine Person dreißig Tage lang behandelt werden muss, belaufen sich die

Kosten auf 19.000 Dollar, fast das Doppelte des Jahresgehalt einer

Person mit einem Mindestlohnjob. Arme Menschen verdienen es, dass sie

Zugang zu wirksamen, freiwilligen Drogenbehandlungsprogrammen haben. Wie

das Betty-Ford-Programm, sollten diese dabei nicht unter der

Schirmherrschaft des Strafrechtssystems stehen. Wie im Ford Center

sollten auch Familienangehörige teilnehmen dĂŒrfen. Aber im Gegensatz zu

dem Betty-Ford-Programm sollten sie jedoch kostenlos sein. Damit solche

Programme als „abschaffungsorrientierte Alternativen“ gelten, wĂ€ren

sie - anders als die bestehenden Programme, zu denen die Betroffenen

„verurteilt“ werden - nicht mit einer Inhaftierung als letztes

Druckmittel verbunden. Die Kampagne zur Entkriminalisierung des

Drogenkonsums - von Marihuana bis Heroin - ist international angelegt

und hat LĂ€nder wie die Niederlande dazu gebracht, ihre Gesetze zu

ĂŒberarbeiten und den persönlichen Gebrauch von Drogen wie Marihuana und

Haschisch zu legalisieren. In den Niederlanden ist auch die Sexarbeit

legalisiert worden, ein weiterer Bereich, in dem es umfangreiche

Kampagnen fĂŒr die Entkriminalisierung gab. In den FĂ€llen von Drogen und

Sexarbeit wĂŒrde die Entkriminalisierung einfach die Aufhebung all jener

Gesetze erfordern, die Personen die Drogen konsumieren und in der

Sexindustrie arbeiten bedrohen. Die Entkriminalisierung des

Alkoholkonsums dient als historisches Beispiel. In diesen beiden FĂ€llen

wĂŒrde die Entkriminalisierung die konsequente Verringerung der Zahl der

Menschen, die ins GefÀngnis kommen bedeuten. Eine weitere

Herausforderung fĂŒr Abolitionisten besteht darin, andere Gesetze zu

identifizieren, die (als Vorstufe zur Abschaffung) angemessen

entkriminalisiert werden könnten. Ein offensichtlicher und sehr

dringender Aspekt der Entkriminalisierungsarbeit steht im Zusammenhang

mit der Verteidigung der Rechte von Einwanderern. Die wachsende Zahl von

Einwanderern - vor allem seit den AnschlÀgen am 1. September 2001 -, die

in Haftanstalten fĂŒr Einwanderer sowie GefĂ€ngnissen inhaftiert sind,

kann gestoppt werden, indem die Verfahren abgebaut werden, die Menschen

dafĂŒr bestrafen, dass sie ohne Papiere in dieses Land eingereist sind.

Aktuelle Kampagnen, die die Entkriminalisierung von undokumentierten

Einwanderern fordern, leisten einen wichtigen Beitrag zum allgemeinen

Kampf gegen den industriellen GefÀngniskomplex und bekÀmpfen die

weitreichenden Auswirkungen von Rassismus und mÀnnlicher Dominanz. Wenn

Frauen aus sĂŒdlichen LĂ€ndern hierher fliehen um sexualisierter Gewalt zu

entfliehen und dann eingesperrt werden, anstatt einen gesicherten

Aufenthaltsstatus zu erhalten, dann verstÀrkt dies die ideologische und

juristische Tendenz Menschen zu bestrafen, die massive Gewalt durch ihr

Umfeld erlitten haben. In den Vereinigten Staaten wird mit dem „battered

women’s syndrome“ versucht vor Gericht zu argumentieren, dass eine Frau,

die ihren misshandelnden Ehepartner tötet, nicht wegen Mordes verurteilt

werden sollte. Diese Verteidigung wurde sowohl von den Gegnern als auch

von den BefĂŒrwortern des Feminismus scharf kritisiert. Erstere wollen

die AllgegenwÀrtigkeit und die Gefahren von Gewalt gegen Frauen im

familiÀren/partnerschaftlichen Bereich nicht anerkennen. Die Letzteren

kritisieren, dass die LegitimitÀt dieser Verteidigung auf der Behauptung

beruht, dass diejenigen, die ihre SchlĂ€ger töten, nicht fĂŒr ihre

Handlung verantwortlich sind. Der Punkt, den feministische Bewegungen -

unabhĂ€ngig von ihren spezifischen Positionen zum „Syndrom der

misshandelten Frauen“ - versuchen zu vermitteln, ist dass Gewalt gegen

Frauen ein allgegenwÀrtiges und kompliziertes soziales Problem ist, das

nicht dadurch gelöst werden kann, dass man Frauen, die sich gegen ihre

Peiniger wehren, inhaftiert. Daher gibt es eine breite Palette

alternativer Strategien zur BekÀmpfung von Gewalt gegen Frauen - in

intimen Beziehungen und in Beziehungen zum Staat - die im Mittelpunkt

unseres Interesses stehen sollten. Alternativen, wie Programme fĂŒr

Arbeit und existenzsichernde Löhne, Wiederbelebung von UnterstĂŒtzungs-/

Anlaufstellen, gemeindebasierte Freizeitgestaltung und vieles mehr -

sind sowohl direkt als auch indirekt mit dem bestehenden System der

Strafjustiz verbunden. Doch wie vermittelnd ihre Beziehung zum

derzeitigen System der GefÀngnisse und Haftanstalten sein mag, versuchen

diese Alternativen, die Auswirkungen des industriellen

GefÀngniskomplexes auf unsere Welt abzuwenden. Da sie Rassismus und

andere Netzwerke sozialer Herrschaft anfechten, wird ihre Umsetzung

sicherlich die abschaffungsorientierte Anti-Knast Arbeit voranbringen.

Die Erstellung von PlÀnen zur Entlassung aus dem Strafvollzug und die

Ausweitung des Netzes von Alternativen hilft uns dabei, die gedankliche

Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe aufzulösen. Dieses

differenzierte VerstÀndnis der sozialen Rolle des Strafsystems

erfordert, dass wir unsere ĂŒbliche Denkweise ĂŒber Strafe als

unvermeidliche Folge von Verbrechen aufzugeben. Wir wĂŒrden erkennen,

dass „Strafe“ nicht in der sauberen und logischen Abfolge dem

„Verbrechen“ folgt. Diskurse, die auf der Gerechtigkeit der Inhaftierung

beharren, sind mit der Agenda von Politikern, dem Profitstreben von

Unternehmen und der Darstellung von KriminalitÀt in den Medien

verbunden. Die Inhaftierung ist verbunden mit der mit der Rassifizierung

derjenigen, die am ehesten bestraft werden können. Sie wird mit ihrer

Klasse in Verbindung gebracht und, wie wir gesehen haben, strukturiert

auch das Geschlecht das Bestrafungssystem. Wenn wir darauf bestehen,

dass abschaffungsorientierte Alternativen diese Verbindungen angreifen,

dass sie danach streben, Verbrechen und Strafe, Rassismus und Strafe,

Klasse und Strafe zu entkoppeln, dann darf unser Fokus nicht nur auf dem

GefÀngnissystem als isolierte Institution liegen, sondern auch auf allen

sozialen Beziehungen, die die Dauerhaftigkeit des GefÀngnisses

unterstĂŒtzen. Ein Versuch, ein neues konzeptionelles Terrain fĂŒr die

Vorstellung von Alternativen zur Inhaftierung zu schaffen beinhaltet die

ideologische Arbeit, zu hinterfragen, warum „Kriminelle“ als eine Klasse

konstituiert wurden, die die BĂŒrger- und Menschenrechte, die anderen

zugestanden werden, nicht verdienen. Radikale Kriminologen weisen seit

langem darauf hin, dass die Kategorie „Gesetzesbrecher“ weitaus grĂ¶ĂŸer

ist , als die Kategorie der Individuen, die als Kriminelle gelten, da,

wie viele betonen, fast alle von uns das eine oder andere Mal gegen das

Gesetz verstoßen haben. Selbst PrĂ€sident Bill Clinton gab zu, dass er

Marihuana geraucht hat, betonte aber, dass er es nicht inhaliert habe.

Allerdings sind anerkannte Ungleichheiten in der IntensitÀt der

polizeilichen Überwachung - wie die heutige Verbreitung des Begriffs

„Racial Profiling“ zeigt, zum Teil fĂŒr rassistische und klassistische

Unterschiede bei den Verhaftungs- und Inhaftierungsraten verantwortlich.

Wenn wir bereit sind, die Folgen eines rassistischen und

klassenorientierten Justizsystems ernst zu nehmen, werden wir zu dem

Schluss kommen, dass eine enorme Anzahl von Menschen im GefÀngnis sitzt,

nur weil sie z. B. Schwarz, Chicano, Vietnamese, Indigene oder arm sind,

unabhÀngig von ihrem ethnischen Hintergrund, sind. Sie werden ins

GefÀngnis geschickt, nicht so sehr wegen der Verbrechen, die sie

vielleicht begangen haben, sondern vor allem, weil ihre Gemeinschaften

kriminalisiert wurden. Deshalb mĂŒssen Programme zur Entkriminalisierung

nicht nur auf spezifische AktivitÀten abzielen, die kriminalisiert

wurden - wie Drogenkonsum und Sexarbeit -, sondern auch auf

kriminalisierte Bevölkerungsgruppen und Gemeinschaften. Vor dem

Hintergrund dieser breiter angelegten abschaffungsorrientierten

Alternativen macht es Sinn, die Frage nach radikalen VerÀnderungen

innerhalb des bestehenden Justizsystems aufzugreifen. Neben der

Minimierung der Verhaltensweisen, die Menschen in Kontakt mit Polizei

und Justiz bringen, stellt sich die Frage, wie diejenigen zu behandeln

sind, die die Rechte und den Körper anderer verletzen. Viele

Organisationen und Einzelpersonen sowohl in den Vereinigten Staaten und

in anderen LĂ€ndern bieten alternative Formen der Rechtsfindung an. In

seltenen FĂ€llen, haben einige Regierungen versucht, Alternativen

einzufĂŒhren, die von Konfliktlösung bis hin zu wiederherstellender oder

wiedergutmachender Gerechtigkeit. Gelehrte wie Herman Bianchi haben

vorgeschlagen, dass Verbrechen im Sinne des Deliktsrechts definiert

werden muss und anstelle des Strafrechts ein Wiedergutmachungsrecht

gelten sollte. „[Der Rechtsbrecher] ist also nicht lĂ€nger ein

böswilliger Mann oder eine böse Frau, sondern einfach ein Schuldner,

eine haftende Person, deren menschliche Pflicht es ist, die

Verantwortung fĂŒr ihre Taten zu ĂŒbernehmen und die Pflicht zur

Wiedergutmachung hat“.

Es gibt immer mehr Literatur ĂŒber die Neugestaltung von Rechtssystemen

mit Strategien der Wiedergutmachung anstelle von Vergeltung sowie eine

wachsende Zahl von Erfahrungsberichten ĂŒber die Vorteile dieser AnsĂ€tze

fĂŒr die Justiz und die demokratischen Möglichkeiten, die sie

versprechen. Anstatt die zahlreichen Debatten der letzten Jahrzehnte zu

wiederholen - einschließlich der Frage: „Was geschieht mit den Mördern

und Vergewaltigern?“ - werde ich mit der Geschichte eines der

dramatischsten Erfolge dieser Versöhnungsversuche abschließen. Ich

beziehe mich auf den Fall von Amy Biehl, der weißen

Fulbright-Stipendiatin aus Newport Beach, Kalifornien, die von jungen

sĂŒdafrikanischen MĂ€nnern in Guguletu, einem schwarzen Township in

Kapstadt, SĂŒdafrika, getötet wurde. Im Jahr 1993, als SĂŒdafrika an der

Schwelle zum Umbruch stand, widmete Amy Biehl als Auslandsstudentin

einen betrĂ€chtlichen Teil ihrer Zeit dem Wiederaufbau SĂŒdafrikas. Nelson

Mandela war 1990 freigelassen worden, aber noch nicht zum PrÀsidenten

gewÀhlt worden. Am 25. August fuhr Biehl mehrere schwarze Freunde zu

ihrem Haus in Guguletu, als sie von einer Menschenmenge, die anti-weiße

SprĂŒche rief konfrontiert wurde. Einige von ihnen steinigten sie und

stachen auf sie ein. Vier der MĂ€nner, die an dem Angriff beteiligt

waren, wurden des Mordes an ihr ĂŒberfĂŒhrt und zu achtzehn Jahren

GefÀngnis verurteilt. 1997 beschlossen Linda und Peter Biehl - Amys

Mutter und Vater -, die Amnestie-Petition zu unterstĂŒtzen, den die

MÀnner bei der Wahrheits- und Versöhnungskommission eingereicht hatten.

Die vier entschuldigten sich bei den Biehls und wurden im Juli 1998

freigelassen. Zwei von ihnen - Easy Nofemela und Ntobeko Peni - trafen

sich spÀter mit den Biehls, die sich trotz gegenteiligen Drucks bereit

erklÀrten, sie zu empfangen. Nach Angaben von Nofemela zufolge wollte er

mehr ĂŒber sein eigenes Bedauern ĂŒber den Mord an ihrer Tochter sagen,

als es wÀhrend der Wahrheits- und Versöhnungsanhörungen möglich gewesen

wĂ€re. „Ich weiß, dass ihr einen Menschen verloren habt, den ihr liebt“,

habe er ihnen bei diesem Treffen gesagt. „Ich möchte, dass ihr mir

vergebt und mich als euer Kind annehmt.“Die Biehls, die nach dem Tod

ihrer Tochter die Amy Biehl Foundation gegrĂŒndet hatten baten Nofemela

und Peni, in der Guguletu-Zweigstelle der Stiftung zu arbeiten. Nofemela

wurde Ausbilder in einem außerschulischen Sportprogramm und Peni

Verwaltungsangestellter. Im Juni 2002, begleiteten sie Linda Biehl nach

New York, wo sie vor der American Family Therapy Academy ĂŒber Versöhnung

und wiederherstellende Gerechtigkeit sprachen. In einem Interview mit

dem Boston Globe sagte Linda auf die Frage, wie sie heute zu den MĂ€nnern

stehe, die ihre Tochter getötet haben: „Ich habe viel Liebe fĂŒr sie.“

Nach dem Tod von Peter Biehl im Jahr 2002 kaufte sie zwei GrundstĂŒcke

fĂŒr die beiden in Gedenken an ihren Mann , damit Nofemela und Peni ihr

eigenes Haus bauen können. Ein paar Tage nach den AnschlÀgen vom 1.

September waren die Biehls gebeten worden, in einer Synagoge ihrer

Gemeinde zu sprechen. Peter Biehl: „Wir haben versucht zu erklĂ€ren, dass

es sich manchmal lohnt, die Klappe zu halten und zuzuhören was andere

Menschen zu sagen haben, zu fragen: ‚Warum geschehen diese schrecklichen

Dinge?‘ anstatt einfach nur zu reagieren.“