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Title: Are Prisons Obsolete? Author: Angela Davis Language: en Topics: prison, feminism, social sciences Notes: Translated by Bonny and Read!
Are Prisons Obsolete?
18. Januar 2022
Vorwort zur deutschen Ăbersetzung
1
Einleitung: Reform oder Abschaffung?
2
3
4
Geschlecht im GefÀngnissystem
5
Der industrielle GefÀngniskomplex
6
Angela Y. Davis veröffentlichte 2003 das Buch âAre Prisons obselete?â.
Seitdem wurde es in viele Sprachen ĂŒbersetzt, bisher haben wir aber noch
keine deutschsprachige Version gefunden. Deshalb haben wir das jetzt
eben selbst gemacht. Das heiĂt aber auch, dass wir uns zwar MĂŒhe gegeben
haben, aber keine Garantie geben können das keine Fehler drin sind,
insbesondere da viele Rassismus-bezogene Worte, sich nicht einfach
wörtlich aus dem Englischen ĂŒbersetzen lassen. AuĂerdem haben alle
Mitwirkende an dieser Ăbersetzung weiĂe Privilegien. Wenn euch beim
Lesen Formulierungen auffallen, die verletzend, falsch sind oder
Diskriminierung reproduzieren, dann sind wir froh ĂŒber RĂŒckmeldung (
Kontakt: angrybooks@riseup.net)
Bereits im Englischen ist das Buch von einem binÀren/ cisgender
Geschlechter-VerhÀltnis geprÀgt, im deutschen ist es sicherlich nicht
besser geworden. Wenn Menschen sich mehr mit trans-Themen und Knast
beschĂ€ftigen wollen/mĂŒssen, dann hier ein Tipp: Captive Genders - Trans
Embodiement and the Industrial Prison Complex, von Eric A. Stanley & Nat
Smith, AK Press (hat wer Zeit und Bock das zu ĂŒbersetzen?)
Und irgentwie sind wĂ€hrend des Ăbersetzens die FuĂnoten verloren
gegangen. Ups. Aber im Internet finden sich zahlreiche pdf-versionen des
englischen Originals, also wenn ihr die Quellen nachlesen wollt, findet
ihr sie dort.... Falls ihr die Ăbersetzung verbessern wollt, schreibt
uns gerne, dann schicken wir euch die Schreibdatei! Ansonsten: Bis es
keine KnĂ€ste mehr gibt â schreibt Briefe an Gefangene!
ACAB
In den meisten Teilen der Welt gilt es als selbstverstÀndlich, dass
jeder, der wegen eines schweren Verbrechens verurteilt wird ins
GefÀngnis geschickt wird. In einigen LÀndern - auch in den Vereinigten
Staaten - in denen die Todesstrafe noch nicht abgeschafft wurde, wird
eine kleine, aber bedeutende Anzahl von Menschen die als besonders
schwere Verbrecher_innen gelten zum Tode verurteilt.
Viele Menschen sind mit der Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe
vertraut und tatsÀchlich ist die Todesstrafe in den meisten LÀndern
bereits abgeschafft worden. Selbst BefĂŒrworter_innen der Todesstrafe
rÀumen ein, dass die Todesstrafe ernsthafte Problematiken mit sich
bringt. Nur wenigen Menschen fÀllt es schwer, sich ein Leben ohne die
Todesstrafe vorzustellen.
Das GefÀngnis hingegen wird als unvermeidlicher und dauerhafter
Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens akzeptiert. Die meisten
Menschen sind ziemlich ĂŒberrascht, wenn sie hören, dass die Bewegung zur
Abschaffung des GefÀngnisses ebenfalls eine lange Geschichte hat. Eine
Geschichte, die bis zum historischen Auftreten des GefÀngnisses als
Hauptform der Bestrafung zurĂŒckreicht. TatsĂ€chlich ist die natĂŒrlichste
Reaktion, anzunehmen, dass GefÀngnisaktivisten - selbst diejenigen, die
sich sich bewusst als âAnti-GefĂ€ngnis-Aktivistenâ bezeichnen - einfach
versuchen, die Haftbedingungen zu verbessern oder vielleicht das
GefÀngnis in grundlegenderer Weise zu reformieren.
In den meisten Kreisen ist die Abschaffung der GefÀngnisse schlichtweg
undenkbar und unplausibel. GefÀngnisabschaffer_innen werden als
Utopist_innen und Idealist_innen abgetan, deren Ideen bestenfalls
unrealistisch und undurchfĂŒhrbar sind; schlimmstenfalls mystifizierend
und töricht. Dies zeigt, wie schwierig es ist, sich eine
Gesellschaftsordnung vorzustellen, die nicht auf der Drohung beruht,
Menschen in schrecklichen MaĂnahmen einzusperren, um sie von ihren
Gemeinschaften und Familien zu trennen. Das GefÀngnis wird als so
ânatĂŒrlich â angesehen, dass man sich ein Leben ohne es nur schwer
vorstellen kann.
Ich hoffe, dass dieses Buch die Leser_innen dazu anregt, ihre eigenen
Annahmen ĂŒber das GefĂ€ngnis zu hinterfragen.
Viele Menschen sind bereits zu dem Schluss gekommen, dass die
Todesstrafe eine altmodische Form der Bestrafung ist, die gegen
grundlegende Prinzipien der Menschenrechte verstöĂt. Ich glaube, es ist
an der Zeit, Ă€hnliche GesprĂ€che ĂŒber das GefĂ€ngnis zu fĂŒhren. WĂ€hrend
meiner eigenen Karriere als Anti-GefÀngnis-Aktivistin habe ich gesehen,
wie die Zahl der GefÀngnisse in den USA so schnell anstieg, dass viele
Menschen in schwarzen, lateinamerikanischen und indianischen Gemeinden
nun eine weitaus gröĂere Chance haben, ins GefĂ€ngnis zu kommen, als eine
anstÀndige Ausbildung zu bekommen. Wenn viele junge Menschen
beschlieĂen, zum MilitĂ€r zu gehen um den unvermeidlichen
GefÀngnisaufenthalt zu vermeiden, sollten wir uns fragen, ob wir nicht
versuchen sollten, bessere Alternativen einzufĂŒhren.
Die Frage, ob das GefĂ€ngnis eine ĂŒberholte Institution ist, wird
besonders dringend angesichts der Tatsache, dass mehr als zwei Millionen
Menschen (von insgesamt neun Millionen weltweit) in GefÀngnissen,
Jugendeinrichtungen und Haftanstalten fĂŒr Einwander_innen der USA leben.
Sind wir bereit, eine immer gröĂere Anzahl von Menschen aus rassisch
unterdrĂŒckten Gemeinschaften in eine isolierte Existenz zu zwingen, die
von autoritÀren Regimen, Gewalt, Krankheiten und Technologien der
Abschottung geprÀgt ist, die zu schwerer psychischer InstabilitÀt
fĂŒhren? Einer aktuellen Studie zufolge gibt es möglicherweise doppelt so
viele psychisch kranke Menschen in GefÀngnissen wie in allen
psychiatrischen Kliniken der Vereinigten Staaten zusammen.
Als ich mich in den spÀten 1960er Jahren zum ersten Mal in der
Anti-GefÀngnis-Bewegung engagierte, war ich erstaunt zu erfahren dass
damals fast zweihunderttausend Menschen im GefĂ€ngnis saĂen. HĂ€tte mir
jemand gesagt, dass in drei Jahrzehnten zehnmal so viele Menschen in
KĂ€figen eingesperrt sein wĂŒrden, wĂ€re ich absolut unglĂ€ubig gewesen. Ich
stelle mir vor, dass ich in etwa so geantwortet hĂ€tte: âSo rassistisch
und undemokratisch dieses Land auch sein mag [zur damaligen Zeit waren
die Forderungen der BĂŒrgerrechtsbewegung noch nicht gefestigt], glaube
ich nicht, dass die US-Regierung in der Lage sein wird, so viele
Menschen einzusperren, ohne dass es zu einem starken öffentlichen
Widerstand kommt. Nein, das wird nie passieren, es sei denn, dieses Land
stĂŒrzt in den Faschismus. âVor dreiĂig Jahren wĂ€re das vielleicht meine
Reaktion gewesen.
Die RealitÀt ist, dass wir aufgerufen waren, das einundzwanzigste
Jahrhundert zu beginnen, indem wir die Tatsache akzeptieren, dass zwei
Millionen Menschen - mehr als die Bevölkerung vieler LÀnder - ihr Leben
an Orten wie Sing Sing, Leavenworth, San Quentin und Alderson Federal
Reformatory fĂŒr Frauen verbringen. Die Schwere dieser Zahlen wird noch
deutlicher, wenn wir bedenken, dass die US-Bevölkerung im Allgemeinen
weniger als fĂŒnf Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, wĂ€hrend mehr als
zwanzig Prozent der gesamten GefÀngnispopulation der Welt auf die
Vereinigten Staaten entfallen. In den Worten von Elliott Currie: âDas
GefÀngnis ist in unserer Gesellschaft in einem Ausmaà prÀsent wie es in
unserer Geschichte oder in der Geschichte einer anderen industriellen
Demokratie noch nie vorgekommen ist. Abgesehen von groĂen Kriegen ist
die Masseneinkerkerung das am grĂŒndlichsten umgesetzte staatliche
Sozialprogramm unserer Zeit.â
Wenn wir ĂŒber die mögliche ĂberflĂŒssigkeit des GefĂ€ngnisses nachdenken,
sollten wir uns fragen, wie es sein kann, dass so viele Menschen im
GefĂ€ngnis landen konnten, ohne dass es zu gröĂeren Debatten ĂŒber die
Wirksamkeit der Inhaftierung kam. In den 1980er Jahren, wÀhrend der
sogenannten Reagan-Ăra, argumentierten Politiker, dass nur âharte
VerbrechensbekĂ€mpfungâ - einschlieĂlich steigender Inhaftierungen und
lĂ€ngerer Haftstrafen - die Gemeinden von KriminalitĂ€t befreien wĂŒrde.
Die massenhafte Inhaftierung wÀhrend dieser Zeit hatte jedoch nur
geringe oder gar keine Auswirkungen auf die offiziellen
KriminalitÀtsraten. TatsÀchlich war das offensichtlichste Muster, dass
gröĂere GefĂ€ngnispopulationen nicht zu sichereren Gemeinden, sondern
vielmehr zu noch gröĂeren GefĂ€ngnispopulationen fĂŒhrte. Jedes neue
GefÀngnis erzeugte ein weiteres neues GefÀngnis. Und mit der Ausweitung
des US-GefÀngnissystems wuchs auch die Beteiligung von Unternehmen durch
den Bau, die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen und den
Einsatz von ArbeitskrĂ€ften. Aufgrund des AusmaĂes, in dem der Bau und
Betrieb von GefĂ€ngnissen groĂe Mengen an Kapital anzog - von der
Bauindustrie bis hin zur Bereitstellung von Lebensmitteln und
medizinischer Versorgung - und das in einer Weise, die an die Entstehung
des militÀrisch-industriellen Komplexes erinnerte, begannen wir, von
einem âindustriellen GefĂ€ngniskomplexâ zu sprechen.
Nehmen wir den Fall Kalifornien, dessen Landschaft in den letzten
zwanzig Jahren durch und durch von GefÀngnissen geprÀgt wurde. Das erste
StaatsgefÀngnis in Kalifornien war San Quentin, das 1852 eröffnet wurde.
Folsom, eine weitere bekannte Einrichtung, wurde 1880 eröffnet. Zwischen
1880 und 1933, als in Tehachapi eine Einrichtung fĂŒr Frauen eröffnet
wurde, wurde kein einziges neues GefÀngnis gebaut. Im Jahr 1952 wurde
die California Institution fĂŒr Frauen eröffnet und Tehachapi wurde zu
einem neuen GefĂ€ngnis fĂŒr MĂ€nner. Insgesamt wurden zwischen 1852 und
1955 neun GefÀngnisse in Kalifornien gebaut. Zwischen 1962 und 1965
wurden zwei Lager und das California Rehabilitation Center errichtet. In
der zweiten HÀlfte der sechziger Jahre wurde kein einziges GefÀngnis
eröffnet und auch nicht wÀhrend des gesamten Jahrzehnts der 1970er
Jahre.
In den 1980er Jahren - also wÀhrend der PrÀsidentschaft von Reagan -
wurde dann ein massives Projekt zum Bau von GefÀngnissen in Angriff
genommen. Neun GefÀngnisse, darunter die Northern California Facility
fĂŒr Frauen, wurden zwischen 1984 und 1989 eröffnet. Zur Erinnerung: Es
hatte mehr als hundert Jahre gedauert um die ersten neun kalifornischen
GefÀngnisse zu bauen. In weniger als einem Jahrzehnt hatte sich die Zahl
der kalifornishen GefÀngnisse verdoppelt. Und in den 1990er Jahren
wurden zwölf neue GefĂ€ngnisse eröffnet, darunter zwei weitere fĂŒr
Frauen. Im Jahr 1995 wurde das Valley State Prison for Women eröffnet.
Laut seiner Aufgabenbeschreibung stellt es â1.980 Frauenbetten fĂŒr das
ĂŒberfĂŒllte kalifornische GefĂ€ngnissystem zur VerfĂŒgungâ. Im Jahr 2002
waren jedoch bereits 3.570 Gefangene inhaftiert, und die beiden anderen
FrauengefĂ€ngnisse ebenfalls ĂŒberbelegt.
Inzwischen gibt es dreiunddreiĂig GefĂ€ngnisse, achtunddreiĂig Lager,
sechzehn kommunale Strafvollzugsanstalten und fĂŒnf winzige Einrichtungen
fĂŒr HĂ€ftlingsmĂŒtter in Kalifornien. Im Jahr 2002 waren 157.979 Menschen
in diesen Einrichtungen inhaftiert, darunter etwa zwanzigtausend
Menschen, die der Staat VerstöĂen gegen die Einwanderungsbestimmungen
beschuldigt. Die rassische Zusammensetzung dieser GefÀngnispopulation
ist aufschlussreich. Latinos, die jetzt in der Mehrheit sind, machen
35,2 Prozent aus, Afroamerikaner 30 Prozent, und weiĂe HĂ€ftlinge 29,2
Prozent. Im Bundesstaat Kalifornien sind heute mehr Frauen inhaftiert
als in den frĂŒhen 1970er Jahren in den ganzen USA. TatsĂ€chlich
beansprucht Kalifornien fĂŒr sich mit mehr als 3500 Insass_innen das
gröĂte FrauengefĂ€ngnis der Welt, das Valley State Prison for Women. In
der gleichen Stadt wie Valley State und buchstÀblich auf der anderen
StraĂenseite befindet sich das zweitgröĂte FrauengefĂ€ngnis der Welt, die
Central California Womenâs Facility, deren Insassenzahl 2002 ebenfalls
um die 3500 lag. Schaut man sich eine Karte von Kalifornien mit den
Standorten der dreiunddreiĂig StaatsgefĂ€ngnisse an, sieht man, dass das
einzige Gebiet, das nicht stark von GefÀngnissen bevölkert ist, die
Gegend nördlich von Sacramento ist. Dennoch gibt es zwei GefÀngnisse in
der Stadt Susanville, und eines der berĂŒchtigten
HochsicherheitsgefÀngnisse des Bundesstaates, Pelican Bay, befindet sich
in der NĂ€he der Grenze zu Oregon.
Der kalifornische KĂŒnstler Sandow Birle lieĂ sich von der Besiedlung der
Landschaft durch GefĂ€ngnisse zu einer Serie von dreiunddreiĂig
LandschaftsgemÀlden dieser Einrichtungen und ihrer Umgebung inspirieren.
Sie sind gesammelt in seinem Buch Incarcerated: Visions of California in
the Twenty-first Century. Ich prÀsentiere diese kurze Geschichte der
GefÀngnisisierung der kalifornischen Landschaft, um den Lesenden zu
verdeutlichen, wie einfach es war, mit der stillschweigenden Zustimmung
der Ăffentlichkeit ein massives System der Einsperrung aufzubauen.
Warum hat diese Gesellschaft so vorschnell angenommen, dass das
Wegsperren eines immer gröĂeren Teils der US-Bevölkerung dazu beitragen
wĂŒrde, dass sich die Menschen in Freiheit sicherer und geschĂŒtzter
fĂŒhlen? Diese Frage lĂ€sst sich auch allgemeiner formulieren. Warum
neigen GefÀngnisse dazu, Menschen glauben zu lassen, ihre eigenen Rechte
und Freiheiten wÀren gesicherter, als sie es ohne GefÀngnisse wÀren?
Welche anderen GrĂŒnde könnte es fĂŒr die Schnelligkeit geben, mit der
GefÀngnisse die kalifornische Landschaft zu kolonisieren begannen?
Die Geografin Ruth Gilmore beschreibt die Ausbreitung der GefÀngnisse in
Kalifornien als âeine geografische Lösung fĂŒr sozioökonomische
Problemeâ. Ihre Analyse des industriellen GefĂ€ngniskomplexes in
Kalifornien beschreibt diese Entwicklungen als Reaktion auf den
Ăberschuss an Kapital, Land, ArbeitskrĂ€ften und staatlichen KapazitĂ€ten.
Kaliforniens neue GefÀngnisse stehen auf entwertetem lÀndlichen Land,
die meisten sogar auf ehemals bewÀsserten landwirtschaftlich genutzten
FlĂ€chen [...] Der Staat kaufte Land von GroĂgrundbesitzern. Und der
Staat versicherte den kleinen, strukturschwachen StÀdten, die jetzt von
GefĂ€ngnissen ĂŒberschattet werden, die neue, rezessionssichere und
umweltfreundliche Industrie wĂŒrde die lokale Entwicklung ankurbeln.
Aber, wie Gilmore betont, kamen weder die ArbeitsplÀtze noch der von den
GefÀngnissen versprochene allgemeine wirtschaftliche Aufschwung.
Dennoch hilft uns dieses Fortschrittsversprechen zu verstehen, warum die
Legislative und die kalifornischen WÀhler dem Bau von GefÀngnissen
zugestimmt haben. Die Menschen wollten glauben, dass GefÀngnisse nicht
nur die KriminalitÀt reduzieren, sondern auch ArbeitsplÀtze schaffen und
die wirtschaftliche Entwicklung in abgelegenen Gegenden ankurbeln wĂŒrde.
Im Grunde geht es um die grundlegende Frage: Warum halten wir
GefĂ€ngnisse fĂŒr selbstverstĂ€ndlich? WĂ€hrend ein relativ kleiner Teil der
Gesamtbevölkerung ĂŒberhaupt direkt mit dem Leben im GefĂ€ngnis
konfrontiert war, ist dies in armen, schwarzen und Latino-Gemeinden
nicht der Fall. Es gilt auch nicht fĂŒr Native Americans oder fĂŒr
bestimmte asiatisch-amerikanische Gemeinschaften. Aber selbst unter den
Menschen, die GefÀngnisstrafen als alltÀgliche Dimension des
Gemeinschaftslebens hinnehmen mĂŒssen - vor allem junge Menschen - ist es
kaum akzeptabel, in der Ăffentlichkeit ernsthafte Diskussionen ĂŒber das
Leben im GefĂ€ngnis oder radikale Alternativen zum GefĂ€ngnis zu fĂŒhren.
Es ist, als wÀre das GefÀngnis eine unvermeidliche Tatsache des Lebens,
wie die Geburt und der Tod
Im GroĂen und Ganzen neigen die Menschen dazu, GefĂ€ngnisse als
selbstverstÀndlich hinzunehmen. Es ist schwierig, sich ein Leben ohne
sie vorzustellen. Gleichzeitig strÀuben sich die Menschen davor, sich
mit der RealitÀt auseinanderzusetzen, die sich in ihnen verbirgt, und
haben Angst davor darĂŒber nachzudenken, was in ihnen geschieht. So ist
das GefÀngnis in unserem Leben prÀsent und gleichzeitig in unserem Leben
abwesend. Ăber diese gleichzeitige Anwesenheit und Abwesenheit
nachzudenken, bedeutet, anzuerkennen, welch grundlegende Rolle
Ideologien fĂŒr unseren Umgang mit unserem sozialen Umfeld speielen. Wir
nehmen GefÀngnisse als selbstverstÀndlich hin, haben aber oft Angst, uns
ihrer RealitĂ€t zu stellen. SchlieĂlich will niemand ins GefĂ€ngnis gehen.
Weil es zu quÀlend wÀre, mit der Möglichkeit umzugehen dass
irgendjemand, auch wir selbst, zum Gefangenen werden könnte, neigen wir
dazu, das GefÀngnis als von unserem eigenen Leben abgekoppelt zu
betrachten. Dies gilt sogar fĂŒr einige, sowohl fĂŒr Frauen als auch fĂŒr
MĂ€nner, die bereits in Gefangenschaft waren. Wir betrachten also das
GefĂ€ngnis als ein Schicksal, das anderen , das den âĂbeltĂ€ter_innenâ
vorbehalten ist, um den kĂŒrzlich von George W. Busch popularisierten
Begriff zu verwenden. Aufgrund der anhaltenden Macht des Rassismus sind
âKriminelleâ und âĂbeltĂ€ter_innenâ in der kollektiven Vorstellungskraft
nicht-weiĂe Menschen. Das GefĂ€ngnis funktioniert daher ideologisch als
abstrakter Ort, an dem UnerwĂŒnschte deponiert werden, und entbindet uns
von der Verantwortung, ĂŒber die ĂŒber die wirklichen Probleme
nachzudenken, die die Gemeinschaften betreffen, aus denen
unverhĂ€ltnismĂ€Ăig viele Gefangene kommen. Dies ist die ideologische
Arbeit, die das GefÀngnis leistet - es entbindet uns von der
Verantwortung, uns ernsthaft mit den Problemen unserer Gesellschaft zu
befassen. Insbesondere mit denen die durch Rassismus und zunehmend durch
den globalen Kapitalismus verursacht werden.
Was ĂŒbersehen wir zum Beispiel, wenn wir versuchen, ĂŒber den Ausbau von
GefĂ€ngnissen nachzudenken, ohne uns mit gröĂeren wirtschaftlichen
Entwicklungen auseinanderzusetzen? Wir leben in einer Ăra global
agierender Konzerne. Um der organisierten Arbeit in diesem Land zu
entkommen - und damit höheren Löhnen, Sozialleistungen usw. zu entgehen,
durchstreifen die Unternehmen die Welt auf der Suche nach LĂ€ndern, die
billige ArbeitskrÀfte bieten. Diese Abwanderung der Unternehmen
hinterlÀsst ganze Gemeinden in Schutt und Asche. Enorm viele Menschen
verlieren ihre Jobs und ihre Aussichten auf zukĂŒnftige ArbeitsplĂ€tze. Da
die wirtschaftliche Basis dieser Gemeinden zerstört ist, sind das
Bildungswesen und andere ĂŒberlebenswichtige soziale Dienste hochgradig
betroffen. Dieser Prozess macht die Menschen , die in diesen betroffenen
Gemeinden leben, zu perfekten Kandidat_innen fĂŒr das GefĂ€ngnis.
In der Zwischenzeit ziehen Unternehmen die mit der Strafvollzugindustrie
verbundenen sind, Gewinne aus dem System zur Verwaltung von Gefangenen
und haben ein klares Interesse am Wachstum der GefÀngnispopulationen.
Einfach ausgedrĂŒckt: Dies ist das Zeitalter des
GefÀngnisindustrie-Komplexes. Das GefÀngnis ist zu einem schwarzen Loch
geworden, in dem derAbfall des heutigen Kapitalismus deponiert wird. Die
Masseninhaftierung generiert Profite, wÀhrend sie gesellschaftlichen
Wohlstand verschlingt, und neigt daher dazu die Bedingungen zu
reproduzieren, die Menschen ins GefÀngnis bringen. Es gibt also reale
und oft komplizierte ZusammenhÀnge zwischen der Deindustrialisierung der
Wirtschaft - ein Prozess, der in den den 1980er Jahren seinen Höhepunkt
erreichte - und der Zunahme der Masseninhaftierungen, die ebenfalls in
der Reagan-Bush-Ăra stattfand. Allerdings wurde die Forderung nach mehr
GefĂ€ngnissen in der Ăffentlichkeit vereinfacht dargestellt: Es wĂŒrden
mehr GefÀngnisse benötigt, weil es mehr KriminalitÀt gebe. Viele
Wissenschaftler_innen haben jedoch nachgewiesen, dass zu dem Zeitpunkt,
als der Boom des GefÀngnisbaus einsetzte, die offiziellen
KriminalitĂ€tsstatistiken bereits rĂŒcklĂ€ufig waren. AuĂerdem wurden
drakonische Drogengesetze erlassen, und âThree-Strikesâ-Bestimmungen
standen in vielen Staaten auf der Tagesordnung.
Um die Ausbreitung von GefÀngnissen und den Aufstieg des industriellen
GefĂ€ngniskomplexes zu verstehen, ist es hilfreich weiter ĂŒber die GrĂŒnde
nachzudenken, warum wir GefÀngnisse so leicht als selbstverstÀndlich
hinnehmen. In Kalifornien wurden, wie wir gesehen haben, fast zwei
Drittel der bestehenden GefÀngnisse in den achtziger und neunziger
Jahren eröffnet. Warum gab es keinen groĂen Aufschrei? Eine Teilantwort
auf diese Frage hat mit der Art und Weise zu tun, wie wir die Bilder des
GefÀngnisses in den Medien konsumieren, auch wenn die RealitÀt des
GefĂ€ngnisses fĂŒr fast alle verborgen ist, die nicht das Pech hatten, im
GefÀngnis zu sitzen. Die Kulturkritikerin Gina Dent hat darauf
hingewiesen, dass unser GefĂŒhl der Vertrautheit mit dem GefĂ€ngnis zum
Teil aus Darstellungen von GefÀngnissen in Film und anderen visuellen
Medien stammt. Die Geschichte der VisualitÀt, die mit dem GefÀngnis
verbunden ist, ist auch eine wesentliche VerstÀrkung der Institution des
GefÀngnisses als naturalisierter Teil unserer sozialen Landschaft.
Die Geschichte des Films ist seit jeher mit der Darstellung des
GefĂ€ngnisses verknĂŒpft. Die ersten Filme von Thomas Edison (zurĂŒckgehend
auf das 1901 als Wochenschau prÀsentierte Reenactment Execution of
Czolgosz) zeigte Aufnahmen aus den dunkelsten Winkeln des GefÀngnisses.
Somit ist das GefÀngnis fest mit unserer Erfahrung von VisualitÀt, die
auch ein GefĂŒhl der BestĂ€ndigkeit der Institution vermittelt, verbunden.
Ebenso gibt es einen stÀndigen Strom, tatsÀchlich ein ganzes Genre von
Hollywood-GefÀngnisfilmen.
Einige der bekanntesten GefÀngnisfilme sind: I want to live, Papillon,
Cool Hand Luke und Flucht aus Alcatraz. Auch wird das Fernsehprogramm
zunehmend mit Bildern von GefĂ€ngnissen durchtrĂ€nkt. Zu den jĂŒngsten
Dokumentarfilmen gehören die A& E-Serie The Big House, bestehend aus
Sendungen ĂŒber San Quentin, Alcatraz, Leavenworth, und das Alderson
Federal Reformatory for Women. Die seit langem laufende HBO-Sendung Oz
hat es geschafft, viele Zuschauer davon zu ĂŒberzeugen, dass sie genau
wissen, was in mÀnnlichen HochsicherheitsgefÀngnissen vor sich geht.
Aber auch wer sich nicht bewusst einen Dokumentarfilm oder eine
dramatische Sendung zum Thema GefÀngnisse ansieht, konsumiert
unweigerlich Bilder von GefÀngnissen, ob gewollt oder nicht. Es ist
praktisch unmöglich, den Konsum von Bildern aus dem GefÀngnis zu
vermeiden. Als ich 1997 Frauen in drei kubanischen GefÀngnissen
befragte, stellte ich zu meinem eigenen Erstaunen fest, dass die meisten
von ihnen erzÀhlten, dass sie die GefÀngnisse bereits kannten, bevor sie
eingesperrt wurden. Und zwar aus den vielen Hollywood-Filmen, die sie
gesehen hatten. Das GefÀngnis ist eines der wichtigsten Merkmale unserer
Bildwelt. Dies trÀgt dazu bei, dass wir die Existenz von GefÀngnissen
fĂŒr selbstverstĂ€ndlich halten. Das GefĂ€ngnis ist zu einem wichtigen
Bestandteil unseres gesunden Menschenverstands geworden. Es ist da,
ĂŒberall um uns herum. Und wir fragen uns nicht, ob es existieren sollte.
Es ist so sehr zu einem Teil unseres Lebens geworden, dass es eine groĂe
Vorstellungskraft erfordert, sich ein Leben ohne GefÀngnisses
vorzustellen.
Damit sollen die grundlegenden Ănderungen der Art, wie öffentliche
GesprĂ€che ĂŒber das GefĂ€ngnis gefĂŒhrt werden nicht heruntergespielt
werden. Noch vor zehn Jahren, als die Bestrebungen zur Ausweitung des
GefÀngnissystems ihren Höhepunkt erreichten, gab es in der
Ăffentlichkeit nur wenige kritische Stimmen zu diesem Prozess.
TatsÀchlichwar den meisten Menschen das Ausmaà dieses Prozesses
unbekannt. Dies war die Zeit, in der interne VerÀnderungen - zum Teil
durch den Einsatz neuer Technologien - das US-GefÀngnissystem in eine
wesentlich repressivere Richtung lenkten. WĂ€hrend frĂŒhere
Klassifizierungen sich auf Normale und HochsicherheitsgefÀngnisse
beschrÀnkte, wurde eine neue Kategorie erfunden: das
Super-Maximum-Security-GefÀngnis, das Supermax. Die Hinwendung zu
verstÀrkter Repression im GefÀngnissystem veranlasste einige
Journalist_innen, Intellektuelle und progressive Organisationen dazu,
sich gegen die wachsende AbhÀngigkeit von GefÀngnissen zur Lösung
sozialer Probleme, die durch die Masseninhaftierung sogar noch
verschÀrft werden, zu engagieren.
Im Jahr 1990 veröffentlichte das in Washington ansÀssige Sentencing
Project eine Studie ĂŒber die US-Populationen in GefĂ€ngnissen und auf
BewÀhrung, die zu dem Schluss kam, dass einer von vier schwarzen MÀnnern
zwischen zwanzig und neunundzwanzig Jahren zu dieser Gruppe gehörte.
FĂŒnf Jahre spĂ€ter ergab eine zweite Studie, dass der Anteil auf fast ein
Drittel (32,2%) angestiegen war. AuĂerdem war mehr als jeder zehnte
Latino-Mann in derselben Altersgruppe bereits im GefÀngnis oder auf
BewĂ€hrung. Die zweite Studie ergab auch, dass die Gruppe mit dem gröĂten
Anstieg (+78%) schwarze Frauen waren. Nach Angaben des Bureau of Justice
Statistics stellen Afroamerikaner_innen mit einer Gesamtzahl von 803.400
(18.600 mehr als die Gesamtzahl der weiĂen Gefangenen) inzwischen die
Mehrheit der Landes- und Bundesgefangenen. In den spÀten 1990er Jahren
erschienen in Newsweek, Harperâs, Emerge und Atlantic Monthly wichtige
Artikel ĂŒber die Ausweitung der GefĂ€ngnisse. Selbst Colin Powell warf
die Frage nach der steigenden Zahl der schwarzen MĂ€nner in den
GefÀngnissen auf, als er im Jahr 2000 auf dem Nationalkongress der
Republikaner, der George W. Bush zu seinem PrÀsidentschaftskandidaten
erklÀrte, sprach.
In den letzten Jahren ist das Fehlen kritischer Positionen zum Ausbau
der GefÀngnisse Forderungen nach einer GefÀngnisreform gewichen. Der
öffentliche Diskurs ist zwar flexibler geworden, aber der Schwerpunkt
liegt fast unwausweichlich auf der Schaffung von VerÀnderungen, hin zu
einem besseren GefĂ€ngnissystem. Mit anderen Worten: Die gröĂere
FlexibilitÀt, die eine kritische Diskussion der Probleme, die mit dem
Ausbau der GefÀngnisse verbunden sind, erlaubt, beschrÀnkt diese
Diskussion auch gleichzeitigauf die Frage der GefÀngnisreform.
So wichtig einige Reformen auch sein mögen - die Beseitigung von
sexuellem Missbrauch und medizinischer VernachlÀssigung in
FrauengefĂ€ngnissen, zum Beispiel: Ein Diskurs, der sich ausschlieĂlich
auf Reformen stĂŒtzt, trĂ€gt zu der lĂ€hmende Vorstellung bei, dass nichts
jenseits des GefĂ€ngnisses liegt. Debatten ĂŒber Strategien der
Haftentlassung, die im Mittelpunkt unserer GesprĂ€che ĂŒber die
GefÀngniskrise stehen sollten, werden tendenziell an den Rand gedrÀngt
wenn die Reform in den Mittelpunkt rĂŒckt. Die dringlichste Frage ist
heute, wie eine weitere Zunahme der Gefangenenpopulationen verhindert
werden kann und wie so viele inhaftierte Menschen wie möglich in die von
Gefangenen so genannte âfreie Weltâ zurĂŒckgefĂŒhrt werden können. Wie
können wir Drogenkonsum und den Handel mit sexuellen Dienstleistungen
entkriminalisieren?
Wie können wir ernsthaft Strategien der Wiedergutmachung statt einer
ausschlieĂlich strafenden Justiz etablieren? Wirksame Alternativen
beinhalten sowohl eine VerÀnderung der Techniken zur BekÀmpfung von
âVerbrechenâ als auch der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, die
so viele Kinder Kinder aus armen Gemeinden, insbesondere aus farbigen
Gemeinden, in das Jugendstrafsystem und dann weiter ins GefÀngnis
bringt. Die schwierigste und dringlichste Herausforderung besteht heute
darin, auf kreative Weise neue Wege der Justiz zu beschreiten, bei denen
das GefÀngnis nicht mehr als unser wichtigster Anker dient.
GefÀngnis
Die BefĂŒrworter der Inhaftierung [...] hofften, dass das Zuchthaus seine
Insassen rehabilitieren wĂŒrde. WĂ€hrend Philosophen einen unaufhörlichen
Kriegszustand zwischen Sklaven und ihren Herren sahen, hofften die
Kriminologen, innerhalb der GefÀngnismauern eine Art Friedensvertrag
aushandeln zu können. Doch hier lauerte ein Paradoxon: wenn das interne
Regime des Zuchthauses dem der Plantage so sehr Àhnelte, dass die beiden
oft locker gleichgesetzt wurden, wie konnte das GefĂ€ngnis dann ĂŒberhaupt
funktionieren, um Kriminelle zu rehabilitieren? -Adam Jay Hirsch
Das GefÀngnis ist nicht die Einzige Institution, die die Menschen die
sie erleben vor komplexe Herausforderungen stellt, weil sie sich so an
sie gewöhnt haben, dass sie sich ein Gesellscheft ohne nicht mehr
vorstellen können. Mit Blick auf die Geschichte der Vereinigten Staaten
sticht das System der Sklaverei heraus. Obwohl die Gegner_innen schon
wĂ€hrend der Amerikanischen Revolution fĂŒr die Abschaffung der Sklaverei
eintraten, dauerte es fast ein Jahrhundert, bis zum Ende der âPeculiar
Institutionâ (= engl. âBesondere Institution â als Bezeichnung fĂŒr die
Sklaverei in den SĂŒdstaaten).
WeiĂe Ablehner der Sklaverei wie John Brown und William Lloyd Garrison
wurden in den vorherrschenden Medien jener Zeit als Extremisten und
Fanatiker dargestellt. Als Fred Douglass seine Karriere als
Anti-Sklaverei-Redner begann, konnten WeiĂe - selbst leidenschaftliche
Abolitionist_innen - nicht glauben, dass ein schwarzer Sklave eine
solche Intelligenz an den Tag legen konnte. Der Glaube an den
Fortbestand der Sklaverei war so weit verbreitet, dass es selbst weiĂe
Abolitionist_innen es schwierig fanden, sich Schwarze als
gleichberechtigte Menschen vorzustellen. Es bedurfte eines langen und
gewaltsamen BĂŒrgerkriegs, um die Sklaverei rechtlich abzuschaffen.
Obwohl der dreizehnte Zusatzartikel zur US-Verfassung die unfreiwillige
Knechtschaft verbot, blieb die âweiĂe Vorherrschaftâ ein zentrales Bild
vieler Menschen und tief in etlichen Institutionen verankert. Unter
diesen Institutionen war die Lynchjustiz, die viele Jahrzehnte nach Ende
der Sklaverei noch weithin akzeptiert wurde. Dank der Arbeit von
Persönlichkeiten wie Ida B. Wells fĂŒhrten die Anti-Lynch-Kampagnen in
der ersten HĂ€lfte des zwanzigsten Jahrhunderts schrittweise zu
legislativen Ănderungen. Aus den BemĂŒhungen fĂŒr die Abschaffung des
Lynchmordsentwickelte sich unter anderem die NAACP, die heute noch auf
juristischem Weg gegen Diskriminierung kÀmpft.
Im SĂŒden herrschte die Segregation bis sie ein Jahrhundert nach der
Abschaffung der Sklaverei verboten wurde. Viele Menschen, die unter Jim
Crow lebten, konnten sich kein Rechtssystem vorstellen, in dem
Rassengleichheit herrscht. Als der Gouverneur von Alabama persönlich
versuchte, Arthurine Lucy an der Einschreibung an der UniversitÀt von
Alabama zu hindern, war seine Haltung Ausdruck der UnfÀhigkeit, sich
vorzustellen, dass Schwarze und WeiĂe Menschen jemals friedlich zusammen
leben und studieren wĂŒrden. âHeute Segregation, morgen Segregation,
Segregation fĂŒr immerâ sind die bekanntesten Worte dieses Politikers,
der einige Jahre spÀter gezwungen war, sie zu widerrufen als das System
der Segregation als weitaus verwundbarer erwiesen hatte, als er es sich
hÀtte vorstellen können.
Obwohl die Regierung, Unternehmen und die dominanten Medien versuchen,
Rassismus als eine Vergangenheit darzustellen, die auf den Friedhof der
US-Geschichte verbannt wurde, durchdringt er nach wie vor heutige
Strukturen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Dennoch wird heute
niemand ernst genommen, der es wagt, öffentlich die WiedereinfĂŒhrung der
Sklaverei, der Rassentrennung oder die Organisation von Lynchmobs zu
fordern. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass sich die Vorfahren
vieler der heutigen Liberalen ein Leben ohne Sklaverei, ohne Lynchjustiz
nicht hÀtten vorstellen können.
WĂ€hrend der Weltkonferenz 2001 gegen Rassismus, rassistische
Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhÀngende
Intoleranzen, die in Durban stattfand, wurde deutlich, wie groĂ die
Aufgabe ist, den Rassismus weltweit zu beseitigen. Es mag viele
Meinungsverschiedenheiten darĂŒber geben, was als Rassismus gilt und
welches die wirksamsten Strategien zu seiner Beseitigung sind. Doch
insbesondere seit dem Sturz des Apartheidregimes in SĂŒdafrika gibt es
einen weltweiten Konsens darĂŒber, dass Rassismus nicht die Zukunft des
Planeten bestimmen sollte.
Ich habe mich auf diese historischen Beispiele fĂŒr BemĂŒhungen zur
Beseitigung rassistischer Institutionen bezogen, weil sie fĂŒr unsere
Diskussion ĂŒber GefĂ€ngnisse und die Abschaffung von GefĂ€ngnissen von
groĂer Bedeutung sind. Es ist wahr, dass Sklaverei, Lynchjustiz und
Rassentrennung ideologisch so stark verankert waren, dass viele, wenn
nicht sogar die meisten, ihren Niedergang und Zusammenbruch nicht
vorhersehen konnten. Sklaverei, Lynchjustiz und Rassentrennung sind
sicherlich ĂŒberzeugende Beispiele fĂŒr soziale Institutionen, die, wie
das GefÀngnis, einst als so unvergÀnglich wie die Sonne galten wurden.
Doch bei allen dreien können wir auf Bewegungen verweisen die radikale
Haltungen einnahmen um die Ăberwindung dieser Institutionen zu
erkÀmpfen. Es kann helfen Perspektive auf das GefÀngnis zu gewinnen,
wenn wir versuchen, uns vorzustellen, wie seltsam und unangenehm die
Debatten ĂŒber die ĂberflĂŒssigkeit der Sklaverei fĂŒr diejenigen gewesen
sein mĂŒssen, die sie fĂŒr selbstverstĂ€ndlich hielten. Vor allem fĂŒr die,
die direkt von diesem System der rassistischen Ausbeutung profitierten.
Und obwohl der Widerstand unter den schwarzen Sklaven weit verbreitet
war, gab es sogar einige unter ihnen, die davon ausgingen, dass sie und
ihre Nachkommen fĂŒr immer unter der Tyrannei der Sklaverei leben wĂŒrden.
Ich habe drei letztendlich mehr oder weniger erfolgeiche Kampagnen zur
Abschaffung der Sklaverei vorgestellt,um deutlich zu machen, dass sich
die gesellschaftlichen VerhÀltnisse und die Einstellung der Bevölkerung
als Reaktion auf organisierte soziale Bewegungen Àndern. Ich habe diese
historischen Kampagnen aber auch deshalb aufgegriffen, weil sie sich
alle gegen einen Ausdruck von Rassismus richteten. Die US-amerikanische
Sklaverei war ein System der Zwangsarbeit, das sich auf rassistische
Ideen und Ăberzeugungen stĂŒtzte, um die Degradierung von Menschen
afrikanischer Abstammung auf den rechtlichen Status des Eigentums zu
rechtfertigen. Das Lynchen war eine extralegale Institution, die
Tausende von Leben von Afroamerikaner_innen der Gewalt rĂŒcksichtsloser
rassistischer Mobs auslieferte. Im Rahmen der Rassentrennung wurden
Schwarze rechtlich zu BĂŒrgern zweiter Klasse erklĂ€rt, fĂŒr die das Wahl-,
Arbeits-, Bildungs- und Wohnungsrecht drastisch beschnitten wurden.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesen historischen
Ausdrucksformen des Rassismus und der Rolle des GefÀngnissystems heute?
Die Erkundung solcher ZusammenhÀnge kann uns eine andere Perspektive auf
den aktuellen Zustand der Strafvollzugsindustrie eröffnen. Wenn wir
erfolgreich argumentieren können, dass GefÀngnisse rassistische
Institutionen sind, könnte dies dazu fĂŒhren, dass wir die Aussicht,
GefĂ€ngnisse fĂŒr obsolet zu erklĂ€ren, ernst nehmen.
Ich konzentriere mich vorerst auf die Geschichte des antischwarzen
Rassismus, um deutlich zu machen, dass das GefÀngnis erstarrte Formen
des antischwarzen Rassismus offenbart, die im Verborgenen wirken. Mit
anderen Worten: Sie werden selten als rassistisch erkannt. Aber es gibt
noch andere rassistische Geschichten, die die Entwicklung des
amerikanischen Strafvollzugssystems beeinflusst haben - die Geschichte
der Latinos, amerikanischen Ureinwohnern und asiatischen Amerikanern.
Diese Rassismen verfestigen und verbinden sich auch im GefÀngnis. Da wir
so daran gewöhnt sind, ĂŒber Rasse in Form von Schwarz und WeiĂ zu
sprechen, versÀumen wir es oft zu erkennen und zu bekÀmpfen, wenn sich
der Rassismus gegen Menschen richtet, die nicht schwarz sind. Denken Sie
an die Massenverhaftungen und Inhaftierungen von Menschen aus dem Nahen
Osten, aus SĂŒdasien oder von Muslimen nach den AnschlĂ€gen auf das
Pentagon und das World Trade Center am 11. September 2001.
Dies fĂŒhrt uns zu zwei wichtigen Fragen: Sind GefĂ€ngnisse rassistische
Einrichtungen? Ist der Rassismus so tief in der Institution GefÀngnis
verwurzelt, dass es nicht möglich ist, das eine zu beseitigen, ohne das
andere zu beseitigen? Diese Fragen sollten wir im Hinterkopf behalten,
wenn wir uns mit den historischen ZusammenhÀngen zwischen der Sklaverei
in den USA und dem frĂŒhen Strafvollzugssystem untersuchen. Das Zuchthaus
als eine Institution, die gleichzeitig bestrafte und rehabilitierte, war
ein neues Strafsystem, das in den Vereinigten Staaten zum ersten Mal zur
Zeit der Amerikanischen Revolution auftrat. Dieses neue System beruhte
auf der Ersetzung der Todesstrafe und der PrĂŒgelstrafe durch die
Inhaftierung.
Die Inhaftierung an sich war weder in den Vereinigten Staaten noch in
der Welt neu, aber bis zur Schaffung dieser neuen Institution, des
Zuchthauses, diente sie als Vorstufe zur Bestrafung. Die Menschen, die
einer körperlichen Bestrafung unterworfen werden sollten, wurden im
GefÀngnis bis zur Vollstreckung der Strafe festgehalten. Mit dem
Zuchthaus wurde die Inhaftierung zur Strafe selbst.
Wie aus der Bezeichnung âZuchthausâ hervorgeht, wurde die Inhaftierung
als rehabilitierend angesehen und das Zuchthaus wurde entwickelt ĂŒber
ihre Verbrechen nachzudenken und durch BuĂe ihre Gewohnheiten und sogar
ihre Seele umzugestalten. Obwohl einige Sklavereigegner_innen wÀhrend
der Revolutionszeit gegen dieses neue System der Bestrafung aussprachen,
wurde das Zuchthaus im Allgemeinen als eine fortschrittliche Reform
angesehen, das in eine Kampagne fĂŒr die Rechte der BĂŒrger eingebettet
war. In vielerlei Hinsicht war das Zuchthaus eine enorme Verbesserung
gegenĂŒber den vielen Formen der Kapital- und Körperstrafen, die von den
EnglĂ€ndern ĂŒbernommen worden waren. Doch die Behauptung, dass sich die
Gefangenen selbst neu gestalten wĂŒrden, wenn man ihnen nur die
Möglichkeit gÀbe, in Einsamkeit und Stille nachzudenken und zu arbeiten
lieà die Auswirkungen der autoritÀren Lebens- und Arbeitsbedingungen
auĂer Acht. In der Tat gab es erhebliche Ăhnlichkeiten zwischen der
Sklaverei und dem Zuchthaus. Der Historiker Adam Jay Hirsch hat
aufgezeigt:
Man kann im Zuchthaus viele Spiegelungen der Sklaverei erkennen, wie sie
im SĂŒden praktiziert wurde. Beide Institutionen ordneten ihre Untertanen
dem Willen anderer unter. Wie die Sklaven des SĂŒdens folgten die
GefÀngnisinsassen einem von ihren Vorgesetzten vorgegebenen Tagesablauf.
Beide Einrichtungen zwingen Insassen auf die AbhÀngigkeit von anderen in
Bezug auf die Versorgung mit grundlegenden menschlichen BedĂŒrfnissen wie
Nahrung und Unterkunft. Beide isolierten ihre Untertanen von der
allgemeinen Bevölkerung, indem sie ihnen nur eine bestimmten FlÀche zum
Leben und Bewegen erlauben . Und beide zwangen ihre Untertanen hÀufig
zur Arbeit, oft zu lĂ€ngeren Arbeitszeiten und fĂŒr eine geringere
Entlohnung als freie Arbeiter.
Wie Hirsch feststellt, wendeten beide Institutionen Àhnliche Formen der
Bestrafung an, und die Vorschriften fĂŒr GefĂ€ngnisse Ă€hnelten den
Sklavengesetzen, die den versklavten Menschen praktisch alle Rechte
entzogen. AuĂerdem unterstellte man sowohl Gefangenen als auch Sklaven
eine ausgeprÀgte Neigung zur KriminalitÀt. Die im Norden zum
Strafvollzug verurteilten Menschen, WeiĂe wie Schwarze wurden im
Volksmund so dargestellt, als seien sie eng mit den versklavten
Schwarzen verwandt.
Die Ideologien der Sklaverei und der Bestrafung waren eng miteinander
verbunden. WĂ€hrend freie Menschen rechtlich zu Strafarbeit verurteilt
werden konnten, Ànderte eine solche Strafe nichts an den
Existenzbedingungen die die Sklaven bereits erlebt hatten. Wie Hirsch
weiter ausfĂŒhrt, hat Thomas Jefferson, der die Verurteilung zu
Schwerstarbeit bei StraĂen- und Wasserbauprojekten befĂŒrwortete, auch
darauf hingewiesen, dass er Sklaven von dieser Art der Bestrafung
ausschlieĂen wĂŒrde. Da Sklaven bereits Schwerstarbeit leisteten, wĂŒrde
die Verurteilung zu Strafarbeit keinen Unterschied in ihrem Zustand
bedeuten. Jefferson schlug stattdessen die Verbannung in andere LĂ€nder
vor.
Besonders in den Vereinigten Staaten spielte Race schon immer eine
zentrale Rolle bei der Konstruktion von KriminalitÀt. Nach der
Abschaffung der Sklaverei verabschiedeten die ehemaligen Sklavenstaaten
neue Gesetze zur Ăberarbeitung der Sklavengesetze, um das Verhalten
freier Schwarzer in Àhnlicher Weise zu regeln, wie wÀhrend der
Sklaverei. Die neuen Black Codes verboten eine Reihe von Handlungen, wie
etwa Landstreicherei, das Fernbleiben von der Arbeit, der Bruch von
ArbeitsvertrÀgen, der Besitz von Schusswaffen und beleidigende Gesten
oder Handlungen, die nur dann unter Strafe gestellt wurden, wenn die
beschuldigte Person schwarz war. Mit der Verabschiedung des
Verfassungszusatzes wurden Sklaverei und unfreiwillige Knechtschaft
vermeintlich abgeschafft. Allerdings gab es eine wichtige Ausnahme. Nach
dem Wortlaut des Zusatzartikels wurden Sklaverei und unfreiwillige
Knechtschaft abgeschafft, âauĂer als Strafe fĂŒr ein Verbrechen, fĂŒr das
die betreffende Person ordnungsgemÀà verurteilt worden ist.âNach den
Black Codes gab es durch Landesgesetze definierte Verbrechen, fĂŒr die
nur Schwarze âordnungsgemÀà verurteiltâ werden konnten. So wurden
ehemalige Sklaven, die vor kurzem aus einer lebenslangen Zwangsarbeit
befreit worden waren, rechtmĂ€Ăig zu Strafknechtschaft verurteilt.
Unmittelbar nach der Abschaffung der Sklaverei beeilten sich die
SĂŒdstaaten, ein Strafrechtssystem zu entwickeln, das die Möglichkeiten
der Freiheit fĂŒr neu entlassene Sklaven rechtlich einschrĂ€nken konnte.
Schwarze Menschen wurden zur Hauptzielscheibe eines sich entwickelnden
StrÀflingsleasingsystems, das von vielen als eine Reinkarnation der
Sklaverei bezeichnet wurde. Die Black Codes von Mississippi
beispielsweise erklÀrten jeden zum Landstreicher, der sich des
Diebstahls schuldig gemacht hatte, [offenbar von einem Arbeitsplatz]
weggelaufen war, betrunken war, sich rĂŒcksichtslos verhielt, Job oder
seine Familie vernachlÀssigt hatte, unvorsichtig mit Geld umging und
[...] alle anderen mĂŒĂigen und unordentlichen Personen. So wurde
Landstreicherei als schwarzes Verbrechen eingestuft, das mit GefÀngnis
und Zwangsarbeit bestraft wurde, manchmal auf genau den Plantagen, die
zuvor von der Sklavenarbeit profitiert hatten.
Mary Ellen Curtins Studie ĂŒber Gefangene in Alabama in den Jahrzehnten
nach der Emanzipation offenbart, dass vor der Freilassung der
vierhunderttausend schwarzen Sklaven in diesem Staat neunundneunzig
Prozent der Gefangenen in den ZuchthÀusern Alabamas weià waren. Als
Folge der Verschiebungen die durch die EinfĂŒhrung der Black Codes, war
innerhalb kurzer Zeit die ĂŒberwĂ€ltigende Mehrheit der StrĂ€flinge in
Alabama schwarz. Sie stellt weiter fest:
Obwohl die ĂŒberwiegende Mehrheit der Menschen in Alabama in der
Vorkriegszeit weiĂ war, herrschte die Meinung vor dass die wahren
Verbrecher des SĂŒdens seine schwarzen Sklaven waren.
In den 1870er Jahren untermauerte die wachsende Zahl schwarzer
Gefangener im SĂŒden die Ăberzeugung, dass Afroamerikaner von Natur aus
kriminell waren und insbesondere zu DiebstÀhlen neigten. Bereits 1883
hatte Frederick Douglass ĂŒber die Tendenz der SĂŒdstaaten geschrieben,
âVerbrechen der Hautfarbe zuzuschreibenâ. Wann immer ein besonders
schweres Verbrechen begangen wurde, stellte er fest, wurde nicht nur die
Schuld unabhÀngig von der Rasse des TÀters hÀufig einer schwarzen Person
zugeschrieben, sondern weiĂe MĂ€nner versuchten bisweilen der Strafe zu
entgehen, indem sie sich als Schwarze verkleideten. Douglass erzÀhlte
spÀter einen solchen Vorfall, der sich in Granger County, Tennessee,
ereignete:
Ein offenbar schwarzer Mann wurde bei einem RaubĂŒberfall erschossen. Der
verwundete Mann entpuppte sich jedoch als respektabler weiĂer BĂŒrger,
der sein Gesicht schwarz gefÀrbt hatte.
Das obige Beispiel von Douglass zeigt, wie WeiĂsein nach den Worten der
Rechtswissenschaftlerin Cheryl Harris als Eigentum funktioniert. Harris
zufolge bedeutete die Tatsache, dass die weiĂe IdentitĂ€t als Eigentum
besessen wurde bedeutete, dass Rechte, Freiheit und SelbstidentitĂ€t fĂŒr
WeiĂe bekrĂ€ftigt wurden, wĂ€hrend sie Schwarze verweigert wurden.
Letztere hatten nur durch das âPassingâ Zugang zum WeiĂsein. Douglassâ
Kommentare zeigen, wie dieses Eigentumsinteresse am WeiĂsein leicht in
Schemata umgedreht werden konnte, um schwarzen Menschen ihr Recht auf
ein ordentliches Verfahren zu verweigern. Interessanterweise gab es in
den Vereinigten Staaten in den 1990er Jahren Àhnliche FÀlle wie den von
Douglass geschilderten: In Boston ermordete Charles Stuart seine
schwangere Frau und versuchte, einen anonymen schwarzen Mann dafĂŒr
verantwortlich zu machen, und in Union, South Carolina, tötete Susan
Smith ihre Kinder und behauptete, sie seien von einem schwarzen Autodieb
entfĂŒhrt worden. Die Rationalisierung von Verbrechen - die Tendenz,
âVerbrechen der Hautfarbe zuzuschreibenâ, um es mit den Worten von
Frederick Douglass zu sagen - verschwand nicht als sich das Land immer
weiter von der Sklaverei entfernte. Der Beweis dafĂŒr, dass Verbrechen
nach wie vor der Hautfarbe zugeschrieben werden, zeigt sich an den
vielen Beschwörungen des âRacial Profilingâ in unserer Zeit.
Dass es möglich ist, von der Polizei aus keinem anderen Grund als der
eigenen Hautfarbe ins Visier genommen zu werden ist keine bloĂe
Spekulation. Polizeidienststellen in GroĂstĂ€dten haben zugegeben, dass
es formelle Verfahren gibt, die darauf abzielen, die Zahl der
festgenommenen Afroamerikaner und Latinos zu maximieren, selbst wenn
kein hinreichender Verdacht besteht. Nach den AnschlÀgen vom 11.
September wurden zahlreiche Menschen aus dem Nahen Osten und SĂŒdasien
von den Immigration and Naturalization Services (INS) festgenommen. Die
INS ist die Bundesbehörde, die die meisten bewaffneten Agenten
beschÀftigt, sogar mehr als das FBI.
WĂ€hrend der Ăra nach der Sklaverei, als Schwarze in die
Strafvollzugsanstalten der SĂŒdstaaten integriert wurden - und als der
Strafvollzug zu einem System der Strafknechtschaft wurde, wurden auch
die mit der Sklaverei verbundenen Bestrafungen in den Strafvollzug
integriert. âDie Auspeitschungâ, so hat Matthew Mancini beobachtet, âwar
die Form der Bestrafung in der Sklaverei, und die Peitsche wurde
zusammen mit der Kette fĂŒr Sklaven und Gefangene zum Sinnbild der
Knechtschaft.âWie bereits erwĂ€hnt, waren Schwarze unter den die in den
verschiedenen Black Codes der SĂŒdstaaten zusammengefassten Gesetze
inhaftiert, die, da es sich dabei um Wiederauflagen der Sklavengesetze
handelte, dazu tendierten, die Strafe zu rassifizieren und eng mit
frĂŒheren Sklavereiregimes verknĂŒpften.
Die Ausweitung des StrÀflingsleasingsystems und der County Chain
bedeutete, dass das Strafrechtssystem der SĂŒdstaaten der Vorkriegszeit,
das sich viel stĂ€rker auf Schwarze Menschen als auf WeiĂe konzentrierte,
weitgehend ein Mittel zur Kontrolle der von schwarzen Menschen
geleisteten Arbeit wurde. Laut Mancini:
Zu den vielfÀltigen Hinterlassenschaften der Sklaverei gehörte die
Ăberzeugung, dass Schwarze nur auf eine bestimmte Art und Weise arbeiten
konnten - auf eine Art und Weise, wie sie in der Vergangenheit
gearbeitet hatten: in Gruppen, unter stÀndiger Aufsicht und unter der
Disziplin der Peitsche. Da dies die Voraussetzungen fĂŒr die Sklaverei
waren und die Sklaven Schwarze waren, kamen die WeiĂen des SĂŒdens fast
durchgÀngig zu dem Schluss, dass Schwarze nicht arbeiten konnten, wenn
sie nicht einer so intensiven Ăberwachung und Disziplin unterworfen
waren.[?]
Wissenschaftler, die sich mit dem StrÀflingsleasing befasst haben,
weisen darauf hin, dass das StrÀflingsleasing in vielen wichtigen
Aspekten in vielerlei Hinsicht weitaus schlimmer war als die Sklaverei -
eine Erkenntnis, die sich aus Titeln wie One Dies, Get Another 0 (von
Mancini), Worse Than Slavery0 (David Oshinskys Arbeit ĂŒber das Parchman
Prison) und Twice the Work of Free Labor 0 (Alex Lichtensteins
Untersuchung der politischen Ä6konomie des StrĂ€flingsleasings). Die
Sklavenhalter mögen um das Ăberleben der einzelnen Sklaven besorgt
gewesen sein, die immerhin eine bedeutende Investition darstellten.
StrÀflinge hingegen wurden nicht als Einzelpersonen, sondern als Gruppe
geleast und konnten buchstÀblich zu Tode gearbeitet werden, ohne die
RentabilitÀt einer StrÀflingsmannschaft zu beeintrÀchtigen.
Den Beschreibungen von Zeitgenossen zufolge waren die Bedingungen, unter
denen die geleasten StrÀflinge und County Chain Gangs lebten, waren
weitaus schlimmer als die, unter denen Schwarze als Sklaven gelebt
hatten.
Aus den Aufzeichnungen von Mississippi-Plantagen im Yazoo-Delta in den
spÀten 1880er Jahren geht hervor, dass
die Gefangenen auf dem nackten Boden aĂen und schliefen, ohne Decken
oder Matratzen und oft ohne Kleidung. Sie wurden bestraft fĂŒr âlangsames
Hackenâ (zehn Peitschenhiebe), âschlechtes Pflanzenâ (fĂŒnf
Peitschenhiebe) und âfahrlĂ€ssigen Umgang mit der Baumwolleâ (fĂŒnf
Peitschenhiebe). Einige, die versuchten zu fliehen, wurden
ausgepeitscht, âbis das Blut an den Beinen herunterliefâ; anderen wurde
ein Metallsporn an die FĂŒĂe genietet. StrĂ€flinge starben an Erschöpfung,
LungenentzĂŒndung, Malaria, Erfrierungen, Schwindsucht, Sonnenstich,
Ruhr, Schusswunden und Vergiftungen (durch das stÀndige Reiben der
Ketten und FuĂeisen am nackten Fleisch).
Die entsetzliche Behandlung, der die StrÀflinge im Pachtsystem
ausgesetzt waren, wiederholte und verlÀngerte die Sklaverei. Wenn, wie
Adam Tay Hirsch behauptet, die frĂŒhen Formen des US-Strafvollzugs im
Norden die Institution der Sklaverei in vielen Aspekten spiegelten, war
die Entwicklung des Strafvollzugs nach dem BĂŒrgerkrieg im wahrsten Sinne
des Wortes die FortfĂŒhrung eines Sklavensystems, das in der âfreienâ
Welt nicht mehr legal war. Die Bevölkerung der StrÀflinge, deren
rassische Zusammensetzung sich durch die Abschaffung der Sklaverei
dramatisch verÀndert hatte, konnte so intensiv ausgebeutet und auf so
grausame Weise bestraft werden, gerade weil sie weiterhin als Sklaven
angesehen wurden. Die Historikerin Mary Ann Curtin hat festgestellt,
dass viele Wissenschaftler, die den tief verwurzelten Rassismus in den
Strafstrukturen des SĂŒdens nach dem BĂŒrgerkrieg anerkannt haben,
versÀumt haben zu erkennen, inwieweit der Rassismus die Kriminalisierung
schwarzer Gemeinschaften geprÀgt hat. Selbst antirassistische
Historiker, behauptet sie, gehen bei der Untersuchung der Art und Weise,
in der Schwarze zu Kriminellen gemacht wurden, nicht weit genug. Sie
weisen darauf hin - laut Curtin teilweise richtig -, dass in der Zeit
nach der Emanzipation viele Schwarze durch ihre neue soziale Situation
gezwungen waren, zu stehlen, um zu ĂŒberleben. Es war jedoch die
Umwandlung von Bagatelldiebstahl in ein Verbrechen, das eine
betrĂ€chtliche Anzahl in die âunfreiwillige Knechtschaftâ zwang, die
durch den dreizehnten Verfassungszusatz legalisiert wurde.
Curtin weist darauf hin, dass diese Anklagen wegen Diebstahls hÀufig
frei erfunden waren. âSie dienten auch als Vorwand fĂŒr politische Rache.
Nach der Emanzipation wurde der Gerichtssaal ein idealer Ort, um
rassistische Vergeltung zu ĂŒbenâ. In diesem Sinne war die Arbeit des
Strafrechtssystems eng mit der extralegalen Arbeit der Lynchjustiz
verbunden. Alex Lichtenstein, dessen Studie sich mit der die Rolle des
Leasingsystems fĂŒr StrĂ€flinge bei der Gewinnung neuer ArbeitskrĂ€fte fĂŒr
den SĂŒden konzentriert, stellt fest, dass das Leasingsystem zusammen mit
den neuen Jim-Crow-Gesetzen eine zentrale Institution bei der
Entwicklung eines rassistischen Staates war.
Die Kapitalist_innen des Neuen SĂŒdens in Georgia und anderswo konnten
den Staat nutzen, um StrÀflinge zu rekrutieren und zu disziplinieren.
Dadurch konnten sie die Ressourcen ihrer Staaten erschlieĂen, ohne
LohnarbeitskrĂ€fte zu bezahlen und ohne die Kontrolle der Pflanzer ĂŒber
die schwarzen ArbeitskrÀfte zu untergraben. Im Gegenteil: Der
Strafvollzug konnte als wirksame Sanktion gegen Schwarze auf dem Lande
eingesetzt werden, die die rassistische Ordnung, auf die sich die
Kontrolle der landwirtschaftlichen Arbeit stĂŒtzte, in Frage stellten.
Lichtenstein zeigt zum Beispiel auf, in welchem AusmaĂ der Bau von
Eisenbahnlinien in Georgia im 19. Jahrhundert auf die Arbeit schwarzer
StrÀflinge angewiesen war. Er erinnert uns auch daran, dass wir auf der
Peachtree Street, die berĂŒhmteste StraĂe in Atlanta, auf dem RĂŒcken von
StrĂ€flingen fahren: âDie berĂŒhmte Peachtree Street und der Rest von
Atlantas gut gepflasterten StraĂen und moderner Verkehrsinfrastruktur
die dazu beitrugen, Atlantas Platz als Handelszentrum des modernen
SĂŒdens zu festigen, wurden ursprĂŒnglich von StrĂ€flingen
angelegt.âLichtensteins Hauptargument ist, dass das StrĂ€flingsleasing
keine irrationale Regression war; es war nicht in erster Linie ein
RĂŒckfall in vorkapitalistische Produktionsweisen. Vielmehr war es ein
höchst effizienter und rationaler Einsatz rassistischer Strategien zur
raschen Industrialisierung des SĂŒdens.
In diesem Sinne, so argumentiert er, war die StrÀflingsarbeit in
vielerlei Hinsicht die Vorhut der ersten zaghaften, ambivalenten
Schritte in Richtung Moderne. Diejenigen von uns, die Gelegenheit
hatten, HerrenhÀuser aus dem neunzehnten Jahrhundert zu besichtigen, die
ursprĂŒnglich auf Sklavenplantagen errichtet wurden, begnĂŒgen sich selten
mit einer Àsthetischen Bewertung dieser Strukturen, so schön sie auch
sein mögen. In unserem Umfeld kursieren genĂŒgend visuelle Bilder von
schuftenden schwarzen Sklaven, die sich abrackern mussten, um uns die
BrutalitÀt vorzustellen, die sich unter der OberflÀche dieser
wundervollen Villen verbirgt. Wir haben gelernt, die Rolle der
Sklavenarbeit zu erkennen, ebenso wie den Rassismus, den sie
verkörperte. Aber die Arbeit der schwarzen StrÀflinge bleibt eine
verborgene Dimension unserer Geschichte. Es ist Ă€uĂerst beunruhigend,
wenn man sich vorstellt, dass moderne, industrialisierte Stadtgebiete
durch rassistischen Arbeitsbedingungen der Strafknechtschaft entstanden
sind, die von Historikern oft als noch schlimmer als die Sklaverei
beschrieben werden.
Ich bin in der Stadt Birmingham, Alabama, aufgewachsen. Wegen ihrer
Minen - Kohle und Eisenerz - und ihrer Stahlwerke, die bis zur
Deindustrialisierung in den 1980er Jahren in Betrieb blieben, war die
Stadt weithin als âdas Pittsburgh des SĂŒdensâ genannt. Die VĂ€ter vieler
meiner Freunde arbeiteten in diesen Minen und MĂŒhlen. Erst vor kurzem
habe ich erfahren, dass die schwarzen Bergleute und Stahlarbeiter, die
ich in meiner Kindheit kannte ihren Platz in der industriellen
Entwicklung Birminghams von schwarzen StrĂ€flingen ĂŒbernommen hatten, die
im Rahmen des Pachtsystems zu dieser Arbeit gezwungen wurden.
Wie Curtin feststellt:
Viele ehemalige Strafgefangene wurden Bergarbeiter, weil Alabama in
seinen Kohleminen in groĂem Umfang GefĂ€ngnisarbeiter einsetzte. Bis 1888
waren alle arbeitsfĂ€higen mĂ€nnlichen Gefangenen Alabamas an zwei groĂe
Bergbauunternehmen verpachtet: die Tennessee Coal and Iron Company (TCI)
und die Sloss Iron and Steel Company. Gegen eine GebĂŒhr von bis zu 18,50
Dollar pro Monat und Mann mieteten diese Unternehmen GefÀngnisarbeiter
und lieĂen sie in Kohleminen arbeiten.
Das Wissen um diese wenig beachtete Dimension der Geschichte der
Schwarzen und der Arbeiterschaft hat mich veranlasst meine eigenen
Kindheitserfahrungen neu zu bewerten. Einer der vielen Tricks, die der
Rassismus anwendet, besteht darin, dass er die historischen BeitrÀge von
farbigen Menschen praktisch auslöscht. Wir haben hier ein
Strafvollzugssystem, das in vielerlei Hinsicht rassistisch war -
diskriminierende Verhaftungen und Verurteilungen, Arbeitsbedingungen,
Art der Bestrafung - zusammen mit der rassistischen Auslöschung der
bedeutenden BeitrÀge, die schwarze StrÀflinge aufgrund von rassistischem
Zwang geleistet haben. So wie es schwierig ist, sich vorzustellen, wie
viel den StrÀflingen zu verdanken ist, die im neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhundert in die Strafkolonie verbannt wurden, fÀllt es
uns heute schwer, eine Verbindung zu den Gefangenen zu spĂŒren, die eine
wachsende Zahl von GĂŒtern produzieren, die wir in unserem tĂ€glichen
Leben als selbstverstÀndlich ansehen. Im Staat Kalifornien werden
öffentliche Colleges und UniversitÀten mit Möbeln ausgestattet, die von
Gefangenen hergestellt wurden. Die groĂe Mehrheit von ihnen sind Latinos
und Schwarze.
Es gibt Aspekte unserer Geschichte, die wir hinterfragen und ĂŒberdenken
mĂŒssen, deren Anerkennung dabei helfen kann, eine komplexere und
kritischere Haltung gegenĂŒber der Gegenwart und der Zukunft einzunehmen.
Ich habe mich auf die Arbeit einiger Wissenschaftler konzentriert, deren
Arbeit uns dazu anregt, Fragen ĂŒber die Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft zu stellen. Curtin zum Beispiel begnĂŒgt sich nicht damit, den
Stellenwert des Bergbaus und der Stahlindustrie im Leben der Schwarzen
in Alabama neu zu untersuchen. Sie nutzt ihre Recherchen auch, um uns
dazu anzuregen, ĂŒber die unheimlichen Parallelen zwischen dem
StrÀflingspachtsystem im 20.Jahrhundert und der GefÀngnisprivatisierung
im 21. Jahrhundert nachzudenken.
Im spÀten neunzehnten Jahrhundert wollten die Kohleunternehmen ihre
qualifizierten GefÀngnisarbeiter so lange wie möglich behalten, was zu
Verweigerungen von âKurzarbeitâ fĂŒhrte. Heute ist die wirtschaftliche
Situation etwas anders, dennnoch kann ein wirtschaftlicher Anreiz zu
Ă€hnlichen Konsequenzen fĂŒhren. Die CCA [Corrections Corporation of
America] wird pro HĂ€ftling bezahlt. Wenn der Nachschub versiegt oder zu
viele Gefangene zu frĂŒh entlassen werden, wirkt sich das auf ihre
Gewinne aus. LÀngere Haftzeiten bedeuten höhere Gewinne, aber der
springende Punkt ist, dass das Profitmotiv mehr Inhaftierung fordert.
Das Fortbestehen des GefÀngnisses als Hauptform der Bestrafung, mit
seinen rassistischen und sexistischen Aspekten hat zu dieser
historischen KontinuitÀt zwischen dem StrÀflingspachtsystem des
neunzehnten und frĂŒhen zwanzigsten Jahrhunderts und dem heutigen
privatisierten GefĂ€ngnisbetrieb gefĂŒhrt. WĂ€hrend das
StrÀflingspachtsystem rechtlich abgeschafft wurde, sind seine
Ausbeutungsstrukturen in den Privatisierungsmustern und allgemeiner im
industiellen GefÀngniskomplex wieder aufgetaucht.
Wenn das GefÀngnis weiterhin die Landschaft der Bestrafung in diesem und
im nÀchsten Jahrhundert dominiert, was könnte dann auf die kommenden
Generationen verarmter Afroamerikaner, Latinos, amerikanischer
Ureinwohner_innen und asiatischer Amerikaner_innen zukommen? Angesichts
der Parallelen zwischen dem GefÀngnis und der Sklaverei könnte eine
produktive Ăbung darin bestehen, darĂŒber zu spekulieren, wie die
Gegenwart aussehen könnte, wenn die Sklaverei oder ihr Nachfolger, das
StrÀflingspachtsystem, nicht abgeschafft worden wÀre.
NatĂŒrlich will ich nicht behaupten, dass die Abschaffung der Sklaverei
und des Pachtsystems ein Zeitalter der Gleichheit und Gerechtigkeit
gebracht hat. Im Gegenteil, Rassismus definiert soziale und
wirtschaftliche Strukturen auf eine Art und Weise, die schwer zu
erkennen ist und daher viel mehr Schaden anrichtet. In einigen Staaten
sind zum Beispiel mehr als ein Drittel der schwarzen MĂ€nner als
Schwerverbrecher eingestuft worden.
In Alabama und Florida gilt: einmal ein Verbrecher, immer Verbrecher,
was den Verlust von BĂŒrgerrechten zur Folge hat. Eine der
schwerwiegenden Folgen der mÀchtigen Reichweite des GefÀngnisses war im
Jahr 2000 die Wahl von George W. Bush zum PrÀsidenten. Wenn die
schwarzen MĂ€nner und Frauen, denen aufgrund einer Verurteilung oder
mutmaĂlicher Straftaten das Wahlrecht verweigert wurde, hĂ€tten wĂ€hlen
können, hĂ€tte Bush nie im WeiĂen Haus gesessen. Vielleicht wĂ€ren die
schrecklichen Konsequenzen des Krieges gegen den Terrorismus, der im
ersten Jahr seiner Amtszeit erklÀrt wurde, der Welt erspart geblieben.
WÀre er nicht gewÀhlt worden, hÀtten die Menschen im Irak nicht Tod,
Zerstörung und Umweltvergiftung durch das US-MilitĂ€r erleiden mĂŒssen. So
entsetzlich die derzeitige politische Situation auch sein mag, stellen
Sie sich vor, wie unser Leben verlaufen wÀre, wenn wir immer noch mit
der Institution der Sklaverei zu kÀmpfen hÀtten - oder mit dem
StrĂ€flingsleasing oder der Rassentrennung. Aber wir mĂŒssen nicht darĂŒber
spekulieren, wie wir mit den Folgen des GefÀngnisses leben. Es gibt mehr
als genug Beweise im Leben von Menschen , die von immer repressiveren
Institutionen in Anspruch genommen werden und denen der Zugang zu ihren
Familien, ihren Gemeinschaften, zu Bildungsmöglichkeiten, zu produktiver
und kreativer Arbeit, zu körperlicher und geistiger Erholung verwehrt
wird. Und es gibt sogar noch zwingendere Beweise fĂŒr den Schaden, den
die Ausweitung des GefÀngnissystems in den Schulen in armen farbigen
Gemeinden, die die Strukturen und Regime des GefÀngnisses reproduzieren.
Wenn Kinder Schulen besuchen, in denen mehr Wert auf Disziplin und
Sicherheit gelegt wird, als auf Wissen und intellektuelle Entwicklung,
besuchen sie Vorbereitungsschulen fĂŒr das GefĂ€ngnis. Wenn dies die
Situation ist, in der wir uns heute befinden, was könnte dann die
Zukunft bringen, wenn das GefĂ€ngnissystem eine noch gröĂere PrĂ€senz in
unserer Gesellschaft erlangt? Im neunzehnten Jahrhundert bestanden
Antisklaverei-Aktivist_innen darauf, dass die Zukunft der Demokratie in
der Tat dĂŒster sei, solange die Sklaverei fortbestehe. Im 21.
Jahrhundert beharren GefÀngnisgegner_innen darauf, dass eine
grundlegende Voraussetzung fĂŒr die Wiederbelebung der Demokratie die
lĂ€ngst ĂŒberfĂ€llige Abschaffung des GefĂ€ngnissystems ist.
Man sollte sich daran erinnern, dass die Bewegung zur Reformierung der
GefÀngnisse, zur Kontrolle ihrer Funktion kein neues PhÀnomen ist. Sie
scheint nicht einmal der Erkenntnis des Scheiterns zu entspringen.Die
âReformâ der GefĂ€ngnisse ist praktisch gleichbedeutend mit dem GefĂ€ngnis
selbst: Sie konsituiert es, als wÀre sie sein Programm - Michel Foucault
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das GefÀngnis selbst ein Produkt
der konzertierten BemĂŒhungen von Reformern war, ein besseres System der
Bestrafung zu schaffen. Wenn uns die Worte âGefĂ€ngnisreformâ so leicht
ĂŒber die Lippen kommen, dann deshalb weil âGefĂ€ngnisâ und âReformâ
untrennbar miteinander verbunden sind, seitdem das die Haft das
wichtigstes Mittel zur Bestrafung von Menschen, die gegen soziale Normen
verstoĂen, wurde.
Wie bereits angedeutet, sind die UrsprĂŒnge des GefĂ€ngnisses eng mit der
Amerikanischen Revolution und daher mit dem Widerstand gegen die
englische Kolonialmacht verknĂŒpft. Heute erscheint es ironisch, aber die
Inhaftierung in einem Zuchthaus galt als human - zumindest weitaus
humaner als die aus England anderen europĂ€ischen LĂ€ndern ĂŒbernommenen
Todes- und Körperstrafen. Foucault eröffnet seine Studie Ăberwachen und
Strafen: Die Geburt des GefÀngnisses[?], mit der Beschreibung einer
Hinrichtung im Jahr 1757 in Paris.
Der zum Tode Verurteilte wurde zunÀchst einer Reihe von schrecklichen
Folterungen unterworfen, die vom Gericht angeordnet wurden. Mit
glĂŒhenden Zangen wurde ihm das Fleisch von den Gliedern gebrannt, und
geschmolzenes Blei, kochendes Ăl, brennendes Harz und andere Substanzen
wurden zusammengeschmolzen und auf die Wunden gegossen. SchlieĂlich
wurde er gevierteilt, sein Körper verbrannt und die Asche in den Wind
gestreut.
Nach dem englischen Gewohnheitsrecht fĂŒhrte eine Verurteilung wegen
Sodomie zur Strafe, lebendig begraben zu werden. Verurteilte Ketzer
wurden ebenfalls lebendig verbrannt. Das Verbrechen des Ehebruchs durch
eine Frau wurde nach dem Gewohnheitsrecht zunÀchst mit der lebendigen
Verbrennung der Angeklagten bestraft. Im Jahr 1790 wurde diese Methode
jedoch eingestellt und die Strafe wurde durch Strangulation und
Verbrennung des Leichnams ersetzt. EuropÀische und amerikanische
Reformer machten sich daran, makabre Strafen und andere Formen der
körperlichen ZĂŒchtigung wie Pranger, Auspeitschen, Brandmarken und
Amputationen abzuschaffen. Vor dem Aufkommen der Strafhaft waren die
Körperstrafen darauf ausgerichtet, nicht so sehr auf die bestrafte
Person, sondern auf die Menge der Zuschauer einzuwirken. Bestrafung war
im Wesentlichen ein öffentliches Spektakel. Reformer wie John Howard in
England und Benjamin Rush in Pennsylvania vertraten die Ansicht, dass
die Bestrafung - wenn sie in der Isolation, hinter den Mauern des
GefÀngnisses vollzogen wird, nicht lÀnger eine Form der Rache ist,
sondern diejenigen, die gegen das Gesetz verstoĂen haben, tatsĂ€chlich
reformiert. Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die
Bestrafung nicht ohne geschlechtsspezifische Dimensionen war. Frauen
wurden oft im hÀuslichen Bereich bestraft, und Folterinstrumente wurden
manchmal von der Obrigkeit in den Haushalt eingefĂŒhrt. Im GroĂbritannien
des siebzehnten Jahrhunderts wurden Frauen, von ihren EhemÀnnern als
streitsĂŒchtig und die mĂ€nnliche Dominanz herausfordernd denunziert und
mithilfe von Branks, einer Kopfbedeckung mit einer Kette und einem
Eisengebiss, das in den Mund der Frau gesetzt wurde bestraft. Obwohl das
Brankieren von Frauen oft mit einer öffentlichen Parade verbunden war,
wurde diese Vorrichtung manchmal auch an einer Hauswand befestigt, wo
die bestrafte Frau bleiben musste bis ihr Mann beschloss, sie
freizulassen. Ich erwÀhne diese Formen der Bestrafung von Frauen, weil
sie, wie die Bestrafung von Sklaven, nur selten von GefÀngnisreformern
aufgegriffen wurden. Andere Formen der Bestrafung, die der Entstehung
des GefÀngnisses vorausgingen, waren Verbannung, Zwangsarbeit auf
Galeeren, Transport und die Beschlagnahmung des Eigentums des
Angeklagten. Die strafende ĂberfĂŒhrung einer groĂen Zahl von Menschen
aus England beispielsweise erleichterte die anfÀngliche Kolonisierung
Australiens. Transportierte englische StrÀflinge besiedelten auch die
nordamerikanische Kolonie Georgia. In den frĂŒhen 1700er Jahren war ein
Achtel der transportierten StrÀflinge eine Frau, und die Arbeit, zu der
sie gezwungen wurden, war hÀufig die Prostitution. Das GefÀngnis wurde
in Europa erst im 18. Jahrhundert und in den Vereinigten Staaten im 19.
Jahrhundert als Hauptstrafart eingefĂŒhrt. EuropĂ€ische GefĂ€ngnissysteme
waren in Asien und Afrika wichtiger Bestandteil des Aufbaus der
Kolonialherrschaft. In Indien zum Beispiel wurde in der zweiten HĂ€lfte
des 18. Jahrhunderts mit der Erreichung von Haftanstalten in den
Regionen von Kakutta und Madras das englische GefÀngnissystem
eingefĂŒhrt. In Europa spiegelten die Bewegungen fĂŒr Freiheitsstrafen und
gegen die Todesstrafe und andere körperliche Bestrafungen neue
intellektuelle Tendenzen der AufklÀrung, aktivistische Interventionen
protestantischer Reformatoren und strukturelle VerÀnderungen im
Zusammenhang mit dem Aufstieg des Industriekapitalismus wieder.
In Mailand veröffentlichte 1764 Cesare Beccaria seinen Essay ĂŒber
Verbrechen und Strafen, das stark von den Gleichheitsvorstellungen der
Philosophen, insbesondere von Voltaire, Rousseau und Montesquieu,
beeinflusst war. Beccaria vertrat die Ansicht, dass Bestrafung niemals
eine private Angelegenheit sein und auch nicht willkĂŒrlich erfolgen
sollte. Vielmehr sollte sie öffentlich, schnell und so milde wie möglich
sein. Er enthĂŒllte die WidersprĂŒchlichkeit eines damals ein
charakteristischen Merkmals der Freiheitsstrafe: Der Tatsache, dass sie
im Allgemeinen verhĂ€ngt wurde, bevor ĂŒber Schuld oder Unschuld des/der
Angeklagten entschieden war.
Die Inhaftierung selbst wurde jedoch schlieĂlich zur Strafe, wodurch
eine Unterscheidung zwischen Freiheitsentzug als Strafe oder Haft bis
zur VerhÀngung der Strafe (Untersuchungshaft) entstand. Die
Entwicklungen, durch die die Inhaftierung zur hÀufigsten Form der
staatlichen Strafe wurde, waren eng mit dem Aufstieg des Kapitalismus
und dem Auftreten neuer ideologischer Bedingungen verbunden. Diese neuen
Bedingungen spiegelten den Aufstieg der Bourgeoisie als die soziale
Klasse, deren Interessen und Bestrebungen neue wissenschaftliche,
philosophische, kulturelle und populÀre Ideen förderten. Es ist daher
wichtig, die Tatsache zu begreifen, dass das GefÀngnis, wie wir es heute
kennen auf der historischen BĂŒhne nicht als die ĂŒberlegene Form der
Bestrafung aller Zeiten auftrat. GefÀngnis war einfach das - auch wenn
wir die KomplexitÀt dieses Prozesses nicht unterschÀtzen sollten - was
zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte am sinnvollsten war. Es
ist daher mehr als fraglich, ob ein System das eng mit der historischen
Situation des 18. und 19. Jahrhunderts verbunden war, einen absoluten
Anspruch auf das einundzwanzigste Jahrhundert erheben kann.
An dieser Stelle unserer Untersuchung ist es vielleicht wichtig, den
radikalen Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Individuums,
der sich in den Ideen dieser Epoche abzeichnete, zu untersuchen. Mit dem
Aufstieg des des BĂŒrgertums wurde das Individuum als TrĂ€ger formaler
Rechte und Freiheiten betrachtet. Die ErklĂ€rung der unverĂ€uĂerlichen
Rechte und Freiheiten des Individuums wurde schlieĂlich in âLiberte,
Egalite, Fraterniteâ aus der Französischen Revolution und âWir halten
diese Wahrheiten fĂŒr offensichtlich: Alle Menschen sind gleich
geschaffenâ aus der Amerikanischen Revolution festgehalten. Dies waren
neue und radikale Ideen, auch wenn sie nicht auf Frauen, Arbeiter_innen,
Afrikaner_innen und Native Americans ausgedehnt wurden. Bevor die
Unantastbarkeit der individuellen Rechte anerkannt wurde, konnte die
Inhaftierung nicht als Bestrafung verstanden werden. Wenn das Individuum
keine unverĂ€uĂerlichen Rechte und Freiheiten besitzt, dann hĂ€tte der
Entzug dieser Rechte und Freiheiten durch die Entfernung aus der
Gesellschaft in einen einen tyrannisch vom Staat regierten Raum keinen
Sinn gemacht. Die Verbannung ĂŒber die geografischen Grenzen der Stadt
hinaus mag sinnvoll gewesen sein, nicht aber die Ănderung des
Rechtsstatus des Einzelnen durch die VerhÀngung einer GefÀngnisstrafe.
DarĂŒber hinaus ist die GefĂ€ngnisstrafe, die immer in Form von Zeit
berechnet wird, eine sehr abstrakte Art zu messen und geht einher mit
dem Aufstieg der Wissenschaft und dem, was oft als Zeitalter der
Vernunft bezeichnet wird. Wir sollten uns vor Augen halten, dass dies
genau die historische Periode war, in der begonnen wurde, den Wert der
Arbeit in Zeit zu berechnen und daher auf eine andere quantifizierbare
Weise zu entschÀdigen, nÀmlich durch Geld. Die Berechenbarkeit
staatlicher Strafen in Form von Monaten und Jahren entspricht genau der
Rolle der Arbeitszeit als Grundlage fĂŒr die Berechnung des Werts der
kapitalistischen Waren. Marxistische Theoretiker haben festgestellt,
dass genau die historische Periode, in der die Warenform entstanden ist,
auch die Epoche ist, in der sich das Zuchthaus als primÀre Form der
Bestrafung durchgesetzt hat.
Heute gibt es eine wachsende soziale Bewegung, die die Vorherrschaft des
Kapitalismus ĂŒber die Erde, ihre Menschen, Tiere und Pflanzen sowie die
Ausbeutung der natĂŒrlichen Ressourcen durch Konzerne, die in erster
Linie an der Steigerung der Produktion und Zirkulation von immer
profitableren Waren interessiert sind, direkt in Frage stellt. Dies ist
eine Herausforderung, an die Vorherrschaft der Warenform; ein
zunehmender Widerstand gegen die Tendenz, jeden Aspekt der Existenz auf
diesem Planeten in eine Ware zu verwandeln. Wir sollten uns fragen, ob
dieser neue Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung auch den
Widerstand gegen das GefĂ€ngnis einschlieĂen sollte.
Bislang habe ich die historische Entwicklung des GefÀngnisses und seiner
Reformer_innen weitgehend geschlechtsneutral beschrieben. Aber die
Verurteilten, die in den entstehenden Justizsystemen mit GefÀngnis
bestraft wurden, waren ĂŒberwiegend mĂ€nnlich. Dies spiegelte die stark
geschlechtsspezifisch geprÀgte Struktur der rechtlichen, politischen und
wirtschaftlichen Rechte wider. Da Frauen der öffentliche Status als
rechtstragende Person weitgehend verwehrt war, konnten sie nicht ohne
Weiteres mit dem Entzug dieser Rechte durch Inhaftierung bestraft
werden. Dies galt insbesondere fĂŒr verheiratete Frauen, die vor dem
Gesetz keine Stellung hatten. GemÀà englischen Gewohnheitsrecht fĂŒhrte
die Heirat zu einem Zustand des âzivilen Todesâ, der dadurch
symbolisiert wurde, dass die Frau den Namen des Mannes annahm. Folglich
wurde sie eher fĂŒr die Auflehnung gegen ihre hĂ€uslichen Pflichten
bestraft und nicht fĂŒr das Versagen bei ihren bescheidenen öffentlichen
Pflichten. Der Abstieg der weiĂen Frauen auf die hĂ€usliche Wirtschaft
hinderte sie daran, eine wichtige Rolle in der entstehenden Warenwelt zu
spielen. Dies galt umso mehr, da die Lohnarbeit typischerweise als
mÀnnlich und rassisch als weià eingestuft wurde. Es ist kein Zufall,
dass die hĂ€usliche ZĂŒchtigung von Frauen noch lange fortbestand, nachdem
diese Bestrafungsformen fĂŒr (weiĂe) MĂ€nner obsolet geworden waren. Das
Fortbestehen von hĂ€uslicher Gewalt ist ein schmerzhafter Beweis fĂŒr
diese historischen Formen der geschlechtsspezifischen Bestrafung.
Einige Wissenschaftler_innen argumentieren, das Wort âPenitentiaryâ (von
engl. âpenitent â = reumĂŒtig) sei möglicherweise erstmals im
Zusammenhang mit PlĂ€nen verwendet worden, die 1758 in England fĂŒr die
Unterbringung von âreumĂŒtigen Prostituiertenâ entworfen wurden. Im Jahr
1777 veröffentlichte John Howard, fĂŒhrender protestantischer BefĂŒrworter
der Strafrechtsreform in England, âThe State of the Prisonsâ, in dem er
die Inhaftierung als Gelegenheit zur religiösen Selbstreflexion und
Selbstreform beschreibt. Zwischen 1787 und 1791 veröffentlichte der
utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham seine Briefe ĂŒber ein
GefÀngnismodell, das er das Panopticon nannte. Bentham behauptete, dass
Kriminelle nur dann produktive Arbeitsgewohnheiten verinnerlichen
könnten, wenn sie unter stĂ€ndiger Ăberwachung stĂŒnden. Nach seinem
Panopticon-Modell sollten die Gefangenen in Einzelzellen auf
kreisförmigen Etagen untergebracht werden, die alle zu einem
mehrstöckigen Wachturm ausgerichtet sind. Mit Hilfe von Jalousien und
einem komplizierten Spiel von Licht und Dunkelheit sollten sich die
Gefangenen die sich gegenseitig nicht sehen können, auch WÀrter_innen
nicht sehen können. Von seinem Aussichtspunkt aus könnten die
WĂ€rter_innen hingegen alle Gefangenen sehen. Allerdings - und das war
der wichtigste Aspekt von Benthams Panoptikum, kann jede_r einzelne
Gefangene niemals sicher sein, wohin der Blick des Aufsehers gerichtet
ist, und ist gezwungen so zu handeln, d. h. zu arbeiten, als ob er_sie
stĂ€ndig beobachtet wĂŒrde.
Wenn wir Howards Betonung auf disziplinierte Selbstreflexion mit
Benthams Ideen ĂŒber die Technologie zur Verinnerlichung von Ăberwachung
und Disziplinierung zur Aufgabe des einzelnen Gefangenen vereinen,
können wir erkennen, wie weitreichende Konsequenzen eine solche
Konzeption des GefĂ€ngnisses hatte. Die Bedingungen fĂŒr diese neue Form
der Bestrafung waren fest in einer historischen Epoche verankert, in der
die Arbeiterklasse als eine Armee von selbstdisziplinierten Individuen
konstituiert werden musste, die in der Lage waren, fĂŒr ein sich
entwickelndes kapitalistisches System erforderliche Industriearbeit zu
leisten.
Die Ideen von John Howard wurden in den Penitentiary Act von 1799
aufgenommen, der den Weg fĂŒr das moderne GefĂ€ngnis ebnete. WĂ€hrend
Jeremy Benthams Ideen die Entwicklung der 1816 eröffneten nationalen
englischen Strafvollzugsanstalt in Millbank beeinflusst haben, fand der
erste umfassende Versuch, ein Panopticon zu schaffen, in den Vereinigten
Staaten statt. Das Western State Penitentiary in Pittsburgh, das auf
einem ĂŒberarbeiteten architektonischen Modell des Panoptikums basierte,
wurde 1826 eröffnet. Aber das Zuchthaus hatte bereits in den Vereinigten
Staaten Einzug gehalten Das Walnut Street Jail in Pennsylvania
beherbergte das erste LandesgefÀngnis der Vereinigten Staaten, als ein
Teil des GebÀudes 1790 von einer Haftanstalt in eine Institution
umgewandelt wurde, wo Haftstrafen gleichzeitig als Strafe und als
Gelegenheit zur BuĂe und Reform fungierten.
Das strenge Regime der Walnut Street - totale Isolation in Einzelzellen,
in denen die Gefangenen lebten, aĂen, arbeiteten, die Bibel lasen
(sofern sie ĂŒberhaupt lesen konnten) und angeblich nachdachten und BuĂe
taten, wurde als das Pennsylvania-System bekannt. Dieses System sollte
eines der beiden wichtigsten zwei Modelle der Inhaftierung der Epoche
werden. Obwohl das andere Modell, das in Auburn, New York, entwickelt
wurde als Konkurrent des Pennsylvania-Systems angesehen wurde,
unterschieden sich die philosophischen Grundlagen der beiden Modelle
nicht wesentlich. Das Modell von Pennsylvania, das sich schlieĂlich in
der Eastern State Penitentiary in Cherry Hill herauskristallisierte -
dessen PlÀne 1821 genehmigt wurden - betonte die totale Isolation,
Stille und Einsamkeit, wÀhrend das Auburn-Modell Einzelzellen, aber
gemeinsame Arbeit vorsah. Diese als âcongregateâ bezeichnete Form der
GefÀngnisarbeit sollte sich in völliger Stille entfalten. Die HÀftlinge
durften wÀhrend der Arbeit zusammen sein, aber nur unter der Bedingung
der Stille. Aufgrund der effizienteren Arbeitsmethoden wurde Auburn
schlieĂlich zum vorherrschenden Modell, sowohl fĂŒr die Vereinigten
Staaten als auch fĂŒr Europa.
Warum sollten die Reformer_innen des 18. und 19. Jahrhundert so sehr in
die Schaffung von Strafbedingungen auf der Grundlage von Einzelhaft
investieren? Heute gilt die Einzelhaft - neben dem Tod - als die
schlimmste Form der Strafe, die man sich vorstellen kann. Damals wurde
ihr jedoch eine emanzipatorische Wirkung zugesprochen. Der Körper wurde
in die Einsamkeit gebracht, damit sich die Seele entfalten könne. Es ist
kein Zufall, dass die meisten Reformator_innen jener Zeit tief religiös
waren und daher die Architektur und das System des Zuchthauses eine
Nachahmung der Architektur und des Systems des klösterlichen Lebens war.
Dennoch erkannten die Beobachter_innen des neuen Strafvollzugs schon
frĂŒh die zerstörerische Auswirkung von Isolationshaft. In einer oft
zitierten Passage seiner American Notes stellte Charles Dickens in einer
Beschreibung seines Besuchs im Eastern Penitentiary im Jahr 1842 fest,
dass âdas System hier eine starre, strenge und hoffnungslose Einzelhaft
ist. Ich halte es in seinen Auswirkungen fĂŒr grausam und falsch.â
Ich bin fest davon ĂŒberzeugt, dass es in seiner Absicht gĂŒtig und human
ist und der Besserung dient; aber ich bin ĂŒberzeugt, dass diejenigen,
die sich dieses System der GefÀngnisdisziplin ausgedacht haben, und die
wohlwollenden Herren, die es ausfĂŒhren, nicht wissen, was sie tun. Ich
glaube, dass nur sehr wenige Menschen in der Lage sind, das ungeheure
AusmaĂ an Folter und Qualen zu ermessen, das diese furchtbare, jahre
dauernde Strafe den Leidenden zufĂŒgt. Ich bin nur umso mehr davon
ĂŒberzeugt, dass es eine Tiefe des schrecklichen Ertragens gibt, die
niemand auĂer den Leidenden selbst ergrĂŒnden kann, und zu dem kein
Mensch das Recht hat, seine Mitmenschen zu quÀlen. Ich halte diese
langsamen und tĂ€glichen Eingriffe in die Geheimnisse des Gehirns fĂŒr
unermesslich schlimmer als jede Folter des des Körpers, weil die Wunden
nicht an der OberflÀche liegen und sie nur wenige Schreie hervorruft,
die menschliche Ohren hören können; darum prangere ich sie um so mehr
an, als eine geheime Strafe, die nur von einer schlummernden Menschheit
geduldet wird.
Anders als andere EuropÀer_innen wie Alexis de Tocqueville und Gustave
de Beaumont, die glaubten, dass eine solche Bestrafung zu einer
moralischen Erneuerung fĂŒhren und damit die StrĂ€flinge zu besseren
BĂŒrger_innen zu machen, war Dickens der Meinung, dass âdiejenigen, die
diese Strafe erlitten haben, moralisch ungesund und krank in die
Gesellschaft zurĂŒckkehren MĂSSENâ. Diese frĂŒhe Kritik des Zuchthauses
und seines Regimes der Einzelhaft stört die Vorstellung, dass die
Inhaftierung die am besten geeignete Form der Bestrafung fĂŒr eine
demokratische Gesellschaft ist.
Der derzeitige Bau und Ausbau von HochsicherheitsgefÀngnissen auf
Bundes- und Landesebene, deren vermeintlicher Zweck es ist,
disziplinarische Probleme innerhalb des Strafvollzugs zu lösen, stĂŒtzt
sich auf die historische Konzeption des Strafvollzugs, der damals als
die fortschrittlichste Form der Bestrafung galt. Heute sind
Afroamerikaner_innen und Latinos in diesen HochsicherheitsgefÀngnissen
und Kontrollstellen stark ĂŒberreprĂ€sentiert. Sie sind entstanden, als
die Bundesvollzugsbehörden Inhaftierte von vielen Stellen, die sie fĂŒr
âgefĂ€hrlichâ hielten, in das BundesgefĂ€ngnis in Marion, Illinois,
schickten. Im Jahr 1983 wurde das gesamte GefĂ€ngnis âabgeriegeltâ, was
bedeutete, dass die Gefangenen 23 Stunden am Tag in ihren Zellen
eingesperrt waren. Diese SchlieĂung wurde irgendwann dauerhaft und das
allgemeine Modell fĂŒr das Kontrollzentrum und das
HochsicherheitsgefÀngnis war geschaffen. Heute gibt es 36 Bundes- und
StaatsgefÀngnisse mit höchster Sicherheitsstufe und viele weitere
HochsicherheitsgefÀngnisse in praktisch jedem Bundesstaat des Landes.
Eine Beschreibung der HochsicherheitsgefÀngnisse in einem Bericht von
Human Rights Watch aus dem Jahr 1997 klingt so erschreckend wie Dickensâ
Beschreibung des Eastern State Penitentiary. Der Unterschied ist jedoch,
dass alle Hinweise auf individuelle Rehabilitation verschwunden sind.
Die Insassen der HochsicherheitsgefÀngnisse sind in der Regel in
Einzelzellen untergebracht.Gemeinsame AktivitÀten mit anderen Gefangenen
sind sind in der Regel verboten; andere Gefangene können von der Zelle
eines Insassen aus nicht einmal gesehen werden; die Kommunikation mit
anderen Gefangenen ist verboten oder erschwert (sie besteht z. B. darin,
von Zelle zu Zelle zu schreien); Besuchs- und Telefonrechte sind
eingeschrÀnkt.
Die neue Generation von HochsicherheitsgefÀngnissen setzt auch auf
modernste Technik zur Ăberwachung und Kontrolle des Verhaltens und der
Bewegung der Gefangenen z. B. mit Hilfe von VideoĂŒberwachungsanlagen und
ferngesteuerten elektronischen TĂŒren. âDiese GefĂ€ngnisse stehen fĂŒr die
Anwendung hochentwickelter, moderner Technologie, die der sozialen
Kontrolle dient. Sie isolieren, regulieren und ĂŒberwachen effektiver als
alles, was ihnen vorausgegangen istâ.
Ich habe die Ăhnlichkeiten zwischen dem frĂŒhen US-Strafvollzug - mit
seinem Bestreben nach der individuellen Rehabilitation - und den
repressiven HochsicherheitsgefÀngnissen unserer Zeit hervorgehoben, um
die Beliebigkeit der Geschichte darzustellen. Was einst als
fortschrittlich und sogar revolutionÀr galt, stellt heute die Verbindung
von technologischer Ăberlegenheit und politischer RĂŒckstĂ€ndigkeit da.
Niemand - nicht einmal die glĂŒhendsten Verfechter des
HochsicherheitsgefĂ€ngnisses - wĂŒrden heute versuchen zu behaupten, dass
absolute Isolation, einschlieĂlich Reizentzug, erholsam und heilend ist.
Die vorherrschende Rechtfertigung fĂŒr die Schrecken des
HochsicherheitsgefÀngnisses ist, dass die Schrecken, die es erzeugt, die
perfekte ErgĂ€nzung fĂŒr die schrecklichen Persönlichkeiten sind die vom
GefÀngnissystem als die Schlimmsten der Schlimmen angesehen werden. Mit
anderen Worten: Es wird nicht vorgegaukelt, dass Rechte geachtet werden,
es gibt keine RĂŒcksicht auf das Individuum, es gibt kein GefĂŒhl dafĂŒr,
dass Menschen die in den HochsicherheitsgefÀngnissen inhaftiert sind,
auch nur annÀhernd Respekt und Komfort verdienen. Laut einem 1999 vom
National Institute of Corrections herausgegebenen Bericht
ist die allgemeine VerfassungsmĂ€Ăigkeit der [Supermax-]Programme unklar.
Seit eine gröĂere Anzahl von Gefangenen mit einer gröĂeren Bandbreite
von Merkmalen, HintergrĂŒnde und Verhaltensweisen in diesen Einrichtungen
inhaftiert sind, steigt die Wahrscheinlichkeit einer rechtlichen
Anfechtung.
Im 18. und 19. Jahrhundert galten die absolute Einsamkeit und die
strenge Reglementierung aller Handlungen des Gefangenen als Strategien
zur VerÀnderung von Gewohnheiten und Moral. Die Idee, dass das GefÀngnis
die wichtigste Form der Bestrafung sein sollte, spiegelte den Glauben an
das Potenzial der weiĂen Menschen fĂŒr den Fortschritt, nicht nur in
Wissenschaft und Industrie, sondern auch auf der Ebene jedes einzelnen
Mitglieds der Gesellschaft. Die GefÀngnisreformer spiegelten die
Annahmen der AufklĂ€rung ĂŒber den Fortschritt in jedem Aspekt der
menschlichen - genauer gesagt der weiĂen westlichen - Gesellschaft. In
seiner 1987 erschienenen Studie âFiction and the Architecture of
Englandâ stellt John Bender die sehr interessante These auf, dass die
aufkommende literarische Gattung des Romans einen Diskurs des
Fortschritts und der individuellen VerÀnderung förderte. Diese
Einstellungen, so Bender, kĂŒndigten die Konzeptionierung und Errichtung
von Strafanstalten an, die zugeschnitten auf die FĂ€higkeiten derjenigen
waren, die dem zugrundeliegen Menschenbild entsprachen.
Die Reformer_innen, die die Einrichtung neuer GebÀude und Strukturen im
Strafvollzug forderten, richteten ihre Kritik auf die GefÀngnisse, die
hauptsĂ€chlich fĂŒr Untersuchungshaft oder als alternative Strafe fĂŒr
diejenigen dienten, die nicht in der Lage waren, Geldstrafen zu
bezahlen. John Howard, der bekannteste unter diesen Reformern, war das
was man heute einen GefĂ€ngnisaktivisten nennen wĂŒrde. Ab 1773, im Alter
von siebenundvierzig Jahren, initiierte er eine Reihe von Besuchen, die
ihn âzu jeder Armenanstalt in Europa fĂŒhrten [...] ,[eine Kampagne], die
ihn sein Vermögen und 1791 in einem Typhuskrieg der russischen Armee in
Cherson schlieĂlich sein Leben kostete.âAm Ende seiner ersten
Auslandsreise kandidierte er erfolgreich fĂŒr das Amt des Sheriffs in
Bedfordshire. Als Sheriff untersuchte er die GefÀngnisse in seinem
ZustĂ€ndigkeitsbereich und machte sich spĂ€ter âauf den Weg, jedes
GefÀngnis in England und Wales zu besuchen, um die MissstÀnde zu
dokumentieren, die er zuerst in Bedford beobachtet hatteâ.
Bender argumentiert, dass der Roman dazu beitrug, diese Kampagnen zur
Umgestaltung der alten GefÀngnisse - die schmutzig und verwahrlost waren
und von der Bestechung der WĂ€rter lebten, in geordnete, rehabilitierende
Strafanstalten zu verwandeln. Er zeigt, dass Romane wie Moll Flanders
und Robinson Crusoe âdie Macht der Gefangenschaft zur Umformung der
Persönlichkeitâ betonten und einige Ideen popularisierten, die die
Reformer zum Handeln bewegten. Wie Bender hervorhebt, kritisierten die
Reformer des achtzehnten Jahrhunderts die alten GefĂ€ngnisse fĂŒr ihr
Chaos, ihre fehlende Organisation und Klassifizierung, fĂŒr die leichte
VerfĂŒgbarkeit von Alkohol und Prostitution, die sie erlaubten, sowie die
Verbreitung von Krankheiten.
Die ĂŒberwiegend protestantischen Reformer, unter denen die QuĂ€ker
besonders stark vertreten waren, formulierten ihre Ideen gröĂtenteils in
einem religiösen Rahmen. John Howard war zwar selbst kein QuÀker war -
er war ein unabhÀngiger Protestant -,
fĂŒhlte er sich dennoch zur Askese der QuĂ€ker hingezogen und nahm die
Kleidung âeines einfachen Freundesâ an. Seine eigene Art der Frömmigkeit
erinnerte stark an die QuÀkertraditionen des stillen Gebets, der
âleidendenâ Selbstbeobachtung und des Glaubens an die erleuchtende Kraft
des Lichts Gottes. Die QuÀker sahen die Idee der Gefangenschaft als
Fegefeuer, als erzwungener RĂŒckzug von den Ablenkungen der Sinne in die
stille und einsame Konfrontation mit dem eigenen Ich. Howard stellte
sich den Prozess der Reformation eines StrÀflings Àhnlich wie das
spirituelle Erwachen eines GlÀubigen in einer QuÀkerversammlung vor.
Michael Ignatieff zufolge lag Howards Beitrag jedoch nicht so sehr in
der ReligiösitĂ€t seiner ReformbemĂŒhungen.
Die OriginalitÀt von Howards Anklageschrift liegt in ihrem
âwissenschaftlichenâ, nicht in ihrem moralischen Charakter. Er wurde
1756 zum Fellow der Royal Society gewÀhlt und verfasste mehrere
wissenschaftliche Abhandlungen ĂŒber klimatische Schwankungen in
Bedfordshire. Howard war einer der ersten Philanthropen, der eine
systematische statistische Beschreibung eines sozialen Problems
versuchte.
Auch Benders Analyse des VerhÀltnisses zwischen dem Roman und dem
Strafvollzug unterstreicht, inwieweit die philosophischen Grundlagen der
Kampagnen des GefÀngnisreformers den Materialismus und Utilitarismus der
englischen AufklÀrung widerspiegeln. Die Kampagne zur Umgestaltung der
GefÀngnisse war ein Projekt zur Durchsetzung von Ordnung,
Klassifizierung, Sauberkeit, guten Arbeitsgewohnheiten und
SelbstbewuĂtsein. Er argumentiert, dass die in den alten GefĂ€ngnissen
inhaftierten Personen nicht streng eingeschrÀnkt waren. Manchmal konnten
sie sich sogar frei im GefÀngnis bewegen und es verlassen. Sie mussten
nicht arbeiten und konnten, je nach ihren eigenen Mitteln, essen und
trinken, wie sie wollten. Sogar Sex war manchmal möglich, denn
Prostituierte durften zeitweise in die GefÀngnisse. Howard und andere
Reformer forderten die EinfĂŒhrung strenger Regeln, die âEinsamkeit und
BuĂe, Sauberkeit und Arbeit erzwingenâ wĂŒrden. Bender zufolge âlösten
die neuen ZuchthÀuser sowohl die alten GefÀngnisse als auch die
Besserungsanstalten ab und richteten sich ausdrĂŒcklich an drei Ziele:
Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb einer weitgehend stÀdtischen
Arbeiterschaft, Erlösung der Seele und rationalisierung der
PersonalitĂ€t.âEr argumentiert, dass dies genau das ist, was der Roman
erzÀhlerisch erreicht hat. Er ordnete und klassifizierte das soziale
Leben, er stellte die Individuen als bewusst, selbstreflektiert und
selbstgestaltend dar. Bender sieht also eine Verwandtschaft zwischen
zwei wichtigen kulturellen Entwickungen - dem Aufstieg des Romans in der
kulturellen SphÀre und dem Aufstieg des Strafvollzugs in der
sozio-juristischen SphÀre.
Wenn der Roman als kulturelle Form zur Entstehung des Strafvollzugs
beigetragen hat, dann mĂŒssen die GefĂ€ngnisreformer von den Ideen
beeinflusst worden sein, die durch den Roman des achtzehnten
Jahrhunderts verbreitet wurden. Die Literatur hat bei den Kampagnen rund
um das GefÀngnis weiterhin eine Rolle gespielt. Im zwanzigsten
Jahrhundert erlebte vor allem die GefÀngnisliteratur periodische Wellen
der PopularitÀt.
Die öffentliche Anerkennung von GefÀngnisliteratur in den Vereinigten
Staaten entwickelte sich gemeinsam mit dem Einfluss von sozialen
Bewegungen, die Reformen und/oder die Abschaffung der GefÀngnisse
forderten. Robert Burnsâ I Am a Fugitive from a Georgia Chain Gang und
der darauf basierende Hollywood-Film von 1932 spielten eine zentrale
Rolle bei der Kampagne zur Abschaffung der Arbeit in zusammengekÀtteten
Gruppen von StrÀflingen. In den 1970er Jahren, die von einer intensiven
Organisierung innerhalb und ĂŒber die GefĂ€ngnismauern hinweg geprĂ€gt
waren, folgten mehr Veröffentlichungen durch Gefangene, wie George
Jacksons Soledad Brother im Jahr 1970 und der von Bettina Aptheker mir
mit herausgegebenen Textsammlung If They Come in the Morning. Viele
GefÀngnisautor_innen entdeckten in jener Zeit das emanzipatorische
Potenzial des Schreibens fĂŒr sich und bauten entweder auf die
Ausbildung, die sie vor ihrer Inhaftierung erhalten hatten auf, bemĂŒhten
sich hartnÀckig um Selbst-Bildung oder begannen ihre schriftstellerische
TĂ€tigkeit als direkte Folge der Ausweitung der Bildungsprogramme dieser
Zeit. Mumia Abu-Jamal, der sich gegen den gegenwÀrtigen Abbau von
Bildungsprogrammen in GefÀngnissen wendet, fragt in Live from Death Row
Welchem gesellschaftlichen Interesse dienen analphabetische Gefangene?
Welcher gesellschaftliche Nutzen liegt in Ungebildetheit? Wie werden die
Menschen in der Haft korrigiert wenn ihnen Bildung verwehrt ist? Wer
profitiert (auĂer dem GefĂ€ngnisbetrieb selbst) von dummen Gefangenen?
Vor seiner Verhaftung im Jahr 1982 wegen des Mordes an dem Polizisten
Daniel Faulkner aus Philadelphia war Abu Jamal als Journalist tÀtig und
hat regelmĂ€Ăig Artikel ĂŒber die Todesstrafe verfasst. Er wies
insbesondere auf rassistische und klassistische Ungleichheit hin. Seine
Ideen haben dazu beigetragen, die Kritik an der Todesstrafe mit den
allgemeinen Herausforderungen an das expandierende US-GefÀngnissystem zu
verknĂŒpfen und sind besonders hilfreich fĂŒr Aktivist_innen, die
versuchen, die Abschaffung der Todesstrafe mit der Abschaffung der
GefĂ€ngnisse zu verknĂŒpfen. Seine Schriften zum Thema GefĂ€ngnis wurden
sowohl in populÀren als auch in wissenschaftlichen Zeitschriften
veröffentlicht (z.B. The Nation und Yale Law Journal) sowie in drei
Sammlungen, Live from Death Row, Death Blossoms, und All Things
Censored.
Abu-Jamal und viele andere GefÀngnisautoren haben haben das Verbot von
Pell Grants (staatliche UnterstĂŒtzung fĂŒr Studierende) fĂŒr Gefangene,
das im KriminalitÀtsgesetz von 1994 verankert wurde, scharf kritisiert.
Es ist bezeichnend fĂŒr den gegenwĂ€rtigen Abbau von Bildungsprogrammen
hinter Gittern. Genau so wie Kurse fĂŒr kreatives Schreiben fĂŒr Gefangene
gestrichen wurden, ist praktisch jede Literaturzeitschrift, die
Schreiben von Gefangenen veröffentlicht, zusammengebrochen. Von den
zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen, die hinter Gittern produziert
wurden, sind nur noch die Angolite im Angola-GefÀngnis in Louisiana und
die Prison Legal News im Washington State Prison geblieben. Dies
bedeutet, dass gerade in einer Zeit, in der sich eine bedeutende
Schreibkultur hinter Gittern entwickelte, repressive Strategien
eingesetzt werden, um die Gefangenen davon abzuhalten sich
weiterzubilden.
Wenn die Veröffentlichung der Autobiografie von Malcolm X einen
SchlĂŒsselmoment in der Entwicklung der GefĂ€ngnisliteratur und ein
vielversprechender Moment fĂŒr Gefangene, die versuchen, Bildung zu einem
wichtigen Bestandteil ihrer Zeit hinter Gittern zu machen war, werden
diese Hoffnungen durch die gegenwÀrtigen EinschrÀnkungen zunichte
gemacht. In den 1950er Jahren war Malcolms GefÀngnisbildung ein
dramatisches Beispiel fĂŒr die FĂ€higkeit der Gefangenen, ihre
Inhaftierung in eine transformative Erfahrung zu verwandeln. Da er keine
Möglichkeit hatte, Wissen zu organisieren, las er ein Wörterbuch und
schrieb jedes Wort mit der Hand ab. Als er sich in andere die LektĂŒre
vertiefen konnte, vergingen Monate, â ohne dass ich auch nur daran
dachte, inhaftiert zu sein. In der Tat war ich bis dahin noch nie in
meinem Leben so frei gewesen.âDamals, so Malcolm, wurde bei Gefangenen,
die ein ungewöhnliches Interesse am Lesen zeigten, davon ausgegangen
dass sie Selbstrehabilitation betrieben und erhielten hÀufig besondere
Privilegien, wie z.B. die Möglichkeit, mehr als die maximale Anzahl von
BĂŒchern auszuleihen. Um diese Selbst-Bildung fortzusetzen, musste
Malcolm trotzdem gegen das GefÀngnisregime ankÀmpfen. Er las oft auf dem
Boden seiner Zelle, lange nachdem die Lichter ausgingen, im Schein des
Flurlichts, wobei er darauf achtete, jede Stunde fĂŒr die zwei Minuten,
in denen die Wache an seiner Zelle vorbeimarschierte, ins Bett
zurĂŒckzukehren.
Die aktuelle EinschrÀnkung des Schreibens und anderer Bildungsprogramme
im GefĂ€ngnis ist bezeichnend fĂŒr die offizielle VernachlĂ€ssigung
rehabilitativer Strategien, insbesondere solcher, die den Gefangenen
ermutigen, geistige Autonomie zu erlangen. Der Dokumentarfilm The Last
Graduation beschreibt die Rolle, die Gefangene bei der Einrichtung eines
vierjÀhrigen College-Programms im New Yorker Greenhaven Prison gespielt
haben und, zweiundzwanzig Jahre spÀter, die offizielle Entscheidung,
dieses Programm abzuschaffen. Laut Eddie Ellis, der fĂŒnfundzwanzig Jahre
im GefÀngnis verbracht hat und heute ein bekannter Sprecher der
Anti-GefĂ€ngnis-Bewegung ist: â Als Folge von Attica kamen
College-Programme in die GefĂ€ngnisse.â
Nach dem Aufstand der Gefangenen in Attica 1971 und dem von der
Regierung angeordneten Massaker begann die öffentliche Meinung eine
GefĂ€ngnisreform zu befĂŒrworten. Dreiundvierzig Attica-Gefangene, elf
WÀrter und Zivilisten wurden von der Nationalgarde getötet, die von
Gouverneur Nelson Rockefeller den Befehl zur RĂŒckeroberung des
GefĂ€ngnisses erhalten hatte. Die AnfĂŒhrer der GefĂ€ngnisrebellion hatten
ihre Forderungen sehr genau kommuniziert. In ihren âpraktischen
Forderungenâ Ă€uĂerten sie Bedenken hinsichtlich der ErnĂ€hrung, der
Verbesserung des Verhaltens der WĂ€rter, realistischere
Rehabilitationsprogramme und bessere Bildungsprogramme. Sie forderten
auĂerdem Religionsfreiheit, die Freiheit, sich politisch zu betĂ€tigen,
und ein Ende der Zensur. All dies hielten sie fĂŒr ihre
BildungsbedĂŒrfnisse fĂŒr unerlĂ€sslich.
Wie Eddie Ellis in The Last Graduation beschreibt:
Die Gefangenen erkannten sehr frĂŒh, dass sie eine bessere Bildung
brauchten, dass sie, je mehr Bildung sie hatten, besser in der Lage
wÀren, mit sich selbst und den Problemen in den GefÀngnissen und den
Problemen der Gemeinschaften, aus denen die meisten von ihnen kamen,
umzugehen.
Lateef Islam, ein weiterer ehemaliger HĂ€ftling, der in diesem
Dokumentarfilm zu sehen ist, sagte: âWir hielten Unterricht bevor das
College kam. Wir haben uns gegenseitig unterrichtet, manchmal unter
Androhung von PrĂŒgel.âNach dem Attica-Aufstand wurden mehr als
fĂŒnfhundert Gefangene nach Greenhaven verlegt, darunter auch einige der
AnfĂŒhrer, die sich weiterhin fĂŒr Bildungsprogramme einsetzten. Als
direkte Folge der Forderungen begann das Marist College, ein staatliches
College in New York in der NĂ€he von Greenhaven, 1973 mit dem Angebot von
Kursen auf College-Niveau und schuf schlieĂlich die Infrastruktur fĂŒr
ein vierjÀhriges College-Programm vor Ort. Das Programm florierte
zweiundzwanzig Jahre lang. Einige der vielen Gefangenen die in
Greenhaven ihren Abschluss gemacht haben, absolvierten nach ihrer
Entlassung ein Aufbaustudium. Wie der Dokumentarfilm eindrĂŒcklich zeigt,
brachte das Programm engagierte MÀnner hervor, die das GefÀngnis
verlieĂen und ihr neu erworbenes Wissen und ihre FĂ€higkeiten ihren
Gemeinschaften drauĂen zur VerfĂŒgung stellten.
1994 befasste sich der Kongress entsprechend der allgemeinen Tendenz zu
mehr GefÀngnissen und Repression der Zeit mit der Frage der Streichung
der College-Finanzierung fĂŒr HĂ€ftlinge. Die Kongressdebatte endete mit
dem Beschluss eines Zusatzes zum KriminalitÀtsgesetz von 1994, der die
Streichung aller Pell Grants fĂŒr Gefangene vorsah und damit die
Streichung aller Hochschulbildungsprogramme. Nach zweiundzwanzig Jahren
war das Marist College gezwungen, sein Programm im Greenhaven-GefÀngnis
einzustellen. Der Dokumentarfilm dreht sich daher um die allerletzte
Abschlussfeier am 15. Juli 1995, und den ergreifenden Prozess des
AusrĂ€umens der BĂŒcher, die in vielerlei Hinsicht die Möglichkeiten der
Freiheit symbolisierten. Oder, wie einer der Marist-Professoren sagte:
âSie sehen BĂŒcher als voller Goldâ. Der Gefangene, der viele Jahre lang
als Angestellter des Colleges gearbeitet hatte, bemerkte traurig, dass
nun da die BĂŒcher entfernt wurden, es im GefĂ€ngnis nichts mehr zu tun
gĂ€be - auĂer vielleicht Bodybuilding. Aber, so fragte er, âwas nĂŒtzt es,
seinen Körper zu trainieren, wenn man seinen Geist nicht trainieren
kann?âIronischerweise wurden nicht lange nach der Abschaffung der
Bildungsprogramme auch Gewichte und Bodybuilding-GerÀte aus den meisten
U.S.-GefÀngnissen entfernt.
Man hat mir gesagt, dass ich das GefÀngnis nie verlassen werde, wenn ich
weiterhin gegen das System kÀmpfe. Meine Antwort ist, dass man am Leben
sein muss, um das GefÀngnis zu verlassen und unser derzeitiger Standard
der medizinischen Versorgung ist gleichbedeutend mit einem Todesurteil.
Deshalb habe ich keine andere Wahl, als weiterzumachen. [...] Die
Bedingungen in der Anstalt rufen immer wieder Erinnerungen an Gewalt und
UnterdrĂŒckung wach, oft mit verheerenden Folgen. Im Gegensatz zu anderen
inhaftierten Frauen, die ihre EindrĂŒcke aus dem GefĂ€ngnis schildern,
fĂŒhle ich mich hier nicht âsichererâ, weil der Missbrauch aufgehört hat.
Er hat nicht aufgehört. Er hat seine Form und seinen Rhythmus geÀndert,
aber er ist im GefĂ€ngnis genauso heimtĂŒckisch und allgegenwĂ€rtig wie in
der Welt, die ich auĂerhalb dieser Mauern kenne. Was aufgehört hat, ist
meine Ignoranz gegenĂŒber den Fakten ĂŒber den Missbrauch und meine
Bereitschaft, ihn schweigend zu tolerieren. - Marcia Bunny
In den letzten fĂŒnf Jahren hat das GefĂ€ngnissystem in den Medien so viel
Aufmerksamkeit erhalten, wie seit der Zeit nach dem Attica-Aufstand 1971
nicht mehr. Doch mit einigen wichtigen Ausnahmen: Frauen sind von der
öffentlichen Diskussion ĂŒber die Ausweitung des US-amerikanischen
GefÀngnissystems augeschlossen. Ich behaupte nicht, dass Frauen in die
bestehenden GesprĂ€che ĂŒber GefĂ€ngnisse einzubeziehen, automatisch unsere
Analyse staatlicher Strafen vertieft und das Projekt der Abschaffung der
GefÀngnisse weiterbringt. Es ist zwar von entscheidender Bedeutung, sich
mit frauenspezifischen Fragen zu befassen, aber es ist ebenso wichtig,
die Art und Weise, wie wir ĂŒber das GefĂ€ngnissystem als Ganzes denken,
zu verÀndern. Gewiss sind die Praktiken von FrauengefÀngnissen
geschlechtsspezifisch, aber das gilt auch fĂŒr die Praktiken von
MÀnnergefÀngnissen. Die Annahme, dass MÀnnerinstitutionen die Norm
darstellen und Fraueninstitutionen marginal sind, bedeutet in gewissem
Sinne, an genau der Normalisierung der GefÀngnisse teilzuhaben, die ein
abschaffungsorrientierter Ansatz bekÀmpfen will. Daher lautet der Titel
dieses Kapitels nicht âFrauen und das GefĂ€ngnissystemâ, sondern âWie das
Geschlecht das GefĂ€ngnissystem strukturiertâ. AuĂerdem sollten
Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen, die an feministischen
Projekten beteiligt sind, die Struktur des staatlichen Strafvollzugs
nicht als nebensĂ€chlich fĂŒr ihre Arbeit betrachten. Vorausschauende
Forschung und Organisationsstrategien sollten anerkennen, dass der
zutiefst geschlechtsspezifische Charakter der Strafe die gegenderte
Struktur der Gesellschaft widerspiegelt und weiter verfestigt. Weibliche
Gefangene haben eine kleine, aber beeindruckende Menge an Literatur
hervorgebracht, die Aspekte der Organisation der Bestrafung beleuchtet,
die sonst unerkannt geblieben wÀren. Die Memoiren von Assata Shakur zum
Beispiel zeigen die gefĂ€hrlichen Ăberschneidungen von Rassismus,
mÀnnlicher Vorherrschaft und staatlichen Strategien der politischen
UnterdrĂŒckung. Im Jahr 1977 wurde sie wegen Mordes und Körperverletzung
im Zusammenhang mit einem Vorfall aus dem Jahr 1973 verurteilt, bei dem
ein Polizist aus New Jersey getötet und ein weiterer verwundet wurde.
Sie und ihr Begleiter, Zayd Shakur, der bei der SchieĂerei getötet
wurde, waren das Ziel von âRacial Profilingâ, wie wir es heute nennen,
und wurden von von Polizist_innen unter dem Vorwand eines defekten
RĂŒcklichts angehalten. Zu dieser Zeit war Assata Shakur, damals bekannt
als Joanne Chesimard, im Untergrund und wurde von der Polizei und den
Medien als die âSeele der Schwarzen Befreiungsarmeeâ bezeichnet. Bis zu
ihrer Verurteilung 1977 war sie in sechs anderen FĂ€llen entweder
freigesprochen oder die Anklagen aufgrund derer sie ĂŒberhaupt zur
Fahndung ausgeschrieben wurde, waren abgewiesen worden. Ihr Anwalt,
Lennox Hinds, wies darauf hin, dass, da bewiesen wurde, dass Assata
Shakur nicht mit der Waffe hantiert habe, mit der die Polizisten
erschossen wurden, ihre bloĂe Anwesenheit vor dem Hintergrund der
DĂ€monisierung durch die Medien, der sie ausgesetzt war, die Grundlage
fĂŒr ihre Verurteilung bildete. Im Vorwort zu Shakurs Autobiografie
schreibt Hinds:
In der Geschichte von New Jersey ist noch nie ein weiblicher
UntersuchungshÀftling oder Gefangene so behandelt worden wie sie, die
stÀndig in einem MÀnnergefÀngnis eingesperrt war, unter
vierundzwanzigstĂŒndiger Ăberwachung ihrer intimsten Funktionen, ohne
geistige Nahrung, angemessene medizinische Versorgung und ohne geistige
Nahrung, ohne angemessene medizinische Versorgung, ohne Bewegung und
ohne die Gesellschaft anderer Frauen wÀhrend all der Jahre, die sie in
Gefangenschaft war.
Es besteht kein Zweifel, dass Assata Shakurs Status als schwarze
politische Gefangene, die des Mordes an einem Polizisten angeklagt war,
dazu fĂŒhrte, dass sie von den Behörden ungewöhnlich grausam behandelt
wurde. Ihr eigener Bericht unterstreicht jedoch, wie sehr ihre
individuellen Erfahrungen die anderer inhaftierter Frauen (insbesondere
schwarzer und puertoricanischer Frauen) widerspiegeln. Ihre Beschreibung
der Leibesvisitation, die sich auf die innere Untersuchung der
Körperhöhlen konzentriert, ist besonders aufschlussreich :
Joan Bird und Afeni Shakur [Mitglieder der Black Panther Party] hatten
mir davon erzÀhlt, nachdem sie im Panther-21-Prozess auf Kaution
freigelassen worden waren. Als sie mir davon erzÀhlten, war ich
entsetzt. âDu meinst, sie haben wirklich ihre HĂ€nde in dich gesteckt, um
dich zu durchsuchen?âhatte ich gefragt. âUh-huhâ, antworteten sie. Jede
Frau, die jemals in Schwierigkeiten oder im GefÀngnis war, kann das
bestĂ€tigen. Die Frauen nennen es âden Finger kriegenâ, oder vulgĂ€rer
âgefingerfickt werdenâ. âWas passiert, wenn du dich weigerst?âhatte ich
Afeni gefragt. âSie sperren dich in das Loch und lassen dich erst wieder
raus, wenn du zustimmst, innerlich durchsucht zu werden.âIch ĂŒberlegte,
ob ich mich weigern sollte, aber ich wollte auf keinen Fall in dem Loch
sein. Ich hatte genug von Einzelhaft. Die âinnere Durchsuchungâwar so
demĂŒtigend und ekelhaft, wie sie sich anhört. Man sitzt auf der
Tischkante und die Krankenschwester hÀlt deine Beine offen und steckt
dir einen Finger in die Vagina und bewegt ihn herum. Sie hat einen
Plastikhandschuh an. Einige von ihnen versuchen, einen Finger in deine
Vagina und einen anderen gleichzeitig in dein Rektum zu stecken.
Ich habe diese Passage deshalb so ausfĂŒhrlich zitiert, weil sie eine
alltÀgliche Routine in FrauengefÀngnissen offenbart, der ebenso sexuell
ĂŒbergriffig ist, wie er als selbstverstĂ€ndlich angesehen wird. Nachdem
ich in dem FrauengefÀngnis inhaftiert war, auf das sich Joan Bird und
Afeni Shakur beziehen, kann ich persönlich den Wahrheitsgehalt ihrer
Behauptungen bestĂ€tigen. Ăber dreiĂig Jahre nach der Freilassung von
Bird und Afeni Shakur und nachdem ich selbst mehrere Monate im Womenâs
House of Detention verbracht habe, ist die Leibesvisitation immer noch
ein wichtiges Thema im Aktivismus fĂŒr FrauengefĂ€ngnisse. Im Jahr 2001
hat Sisters Inside, eine australische UnterstĂŒtzungsorganisation fĂŒr
weibliche Gefangene, eine nationale Kampagne gegen die Leibesvisitation
mit dem Slogan âStop State Sexual Assaultâ begonnen. Die Autobiographie
von Assata Shakur bietet eine FĂŒlle von Einblicken in die Genderstuktur
staatlicher Strafen und zeigt, wie sehr die FrauengefÀngnisse an
unterdrĂŒckerischen patriarchalen Praktiken festhalten, die in der
âfreien Weltâ als obsolet gelten. Sie verbrachte sechs Jahre in
verschiedenen GefÀngnissen und Haftanstalten, bevor sie 1979 frei kam
und 1984 politisches Asyl in der Republik Kuba erhielt, wo sie heute
lebt.
Elizabeth Gurley Flynn schrieb einen frĂŒheren Bericht ĂŒber das Leben in
einem FrauengefÀngnis, The Alderson Story: Mein Leben als politische
Gefangene. Auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ăra wurde Flyml, eine
Gewerkschaftsaktivistin und kommunistische AnfĂŒhrerein nach dem Smith
Act verurteilt und saĂ von 1955 bis 1957 zwei Jahre in der Alderson
Federal Besserungsanstalt fĂŒr Frauen. Nach dem damals vorherrschenden
Modell fĂŒr FrauengefĂ€ngnisse basierte das Regime von Alderson auf der
Annahme, dass âkriminelleâ Frauen rehabilitiert werden konnten, indem
sie sich korrekte weibliche Verhaltensweisen aneigneten, d.h. indem sie
zu Expertinnen im hÀuslichen Bereich, insbesondere im Kochen, Putzen und
NĂ€hen wurden. NatĂŒrlich sollte die Ausbildung zu besseren Ehefrauen und
MĂŒttern den weiĂen Frauen der Mittelschicht vorbehalten werden. Schwarze
und arme Frauen sollten zu Dienerinnen erzogen werden. Flynns Buch
liefert anschauliche Beschreibungen dieses alltÀglichen Regimes. Ihre
Autobiografie steht in der Tradition der GefÀngnisliteratur politischer
Gefangener, zu denen auch Frauen aus dieser Zeit gehören. Zu den
zeitgenössischen Schriften von weiblichen politischen Gefangenen zÀhlen
Gedichte und Kurzgeschichten von Ericka Huggins und Susan Rosenberg,
Analysen ĂŒber den GefĂ€ngniskomplexes von Linda Evans und LehrplĂ€ne fĂŒr
die HIV/AIDS-AufklÀrung in FrauengefÀngnissen von Kathy Boudin und den
Mitgliedern des Bedford Hills ACE-Kollektivs.[?]
Obwohl es mitreiĂende Darstellungen des Lebens in FrauengefĂ€ngnissen
gibt, war es Ă€uĂerst schwierig die Ăffentlichkeit - und gelegentlich
sogar GefÀngnisaktivisten, die sich in erster Linie mit der Notlage
mÀnnlicher Gefangener befassen - von der zentralen Bedeutung von
Geschlechts fĂŒr ein VerstĂ€ndnis von staatlicher Bestrafung zu
ĂŒberzeugen. Obwohl die ĂŒberwiegende Mehrheit der Gefangenen weltweit
MĂ€nner sind, werden wichtige Aspekte der Funktionsweise staatlicher
Strafen nicht berĂŒcksichtigt, wenn Frauen nur am Rande vorkommen und
daher keine Aufmerksamkeit erhalten. Die hĂ€ufigste Rechtfertigung fĂŒr
die Nichtbeachtung der weiblichen Gefangenen und der besonderen Probleme
im Zusammenhang mit dem Freiheitsentzug von Frauen ist der relativ
geringe Anteil von Frauen an der inhaftierten Bevölkerung in der Welt.
In den meisten LĂ€ndern liegt der prozentuale Anteil der Frauen an der
GefĂ€ngnispopulation bei etwa fĂŒnf Prozent. Doch die wirtschaftlichen und
politischen VerÀnderungen der 1980er Jahre - die Globalisierung der
WirtschaftsmÀrkte, die Deindustrialisierung der US-Wirtschaft, der Abbau
von Sozialleistungsprogrammen wie Hilfe fĂŒr Familien mit abhĂ€ngigen
Kindern und natĂŒrlich der Boom im GefĂ€ngnisbau - fĂŒhrten zu einer
erheblichen Beschleunigung der Inhaftierung von Frauen innerhalb und
auĂerhalb der Vereinigten Staaten. TatsĂ€chlich sind Frauen auch heute
noch der am schnellsten wachsende Teil der US-GefÀngnispopulation.
Dieser aktuelle Anstieg der Inhaftierungsrate von Frauen weist direkt
auf den wirtschaftlichen Kontext hin, der den industriellen
GefÀngniskomplex hervorgebracht hat und der verheerende Auswirkungen auf
MĂ€nner und Frauen gleichermaĂen hat. Aus dieser Perspektive der
gegenwÀrtigen Ausbreitung der GefÀngnisse sowohl in den Vereinigten
Staaten als auch in der ganzen Welt, sollten wir einige der historischen
und ideologischen Aspekte der staatlichen Bestrafung von Frauen
untersuchen. Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als, wie wir
gesehen haben, die Haftstrafe zur vorherrschenden Form der Bestrafung
wurde, wurden verurteilte Frauen wesentlich anders als ihre mÀnnlichen
Kollegen dargestellt. Es ist wahr, dass MĂ€nner, die Taten begehen, die
vom Staat als strafbar angesehen werden, als soziale Abweichler
abgestempelt werden. Dennoch galt die mÀnnliche KriminalitÀt immer als
ânormalerâ als weibliche KriminalitĂ€t. Seit jeher besteht die Tendenz,
jene Frauen, die vom Staat fĂŒr ihr Fehlverhalten öffentlich bestraft
wurden, als wesentlich abnormaler und weitaus bedrohlicher fĂŒr die
Gesellschaft zu betrachten als ihre zahlreichen mÀnnlichen Pendants.
Beim Versuch, diesen geschlechtsspezifischen Unterschied in der
Wahrnehmung von Gefangenen zu verstehen, ist zu bedenken, dass mit dem
Aufkommen und der Entwicklung des GefÀngnisses als Hauptform der
öffentlichen Bestrafung, Frauen weiterhin routinemĂ€Ăig Formen der
Bestrafung ausgesetzt waren, die nicht als solche anerkannt wurden.
Studien, die darauf hinweisen, dass Frauen sogar hÀufiger in
psychiatrischen Einrichtungen landen als MĂ€nner, deuten darauf hin, dass
GefÀngnisse und Haftanstalten in erster Linie der Kontrolle von MÀnnern
dienten, wĂ€hrend psychiatrische Einrichtungen fĂŒr Frauen einen Ă€hnlichen
Zweck erfĂŒllten. Abweichende MĂ€nner wurden als kriminell, abweichende
Frauen als geisteskrank abgestempelt. Regelungen, die diese Annahme
widerspiegeln, prÀgen auch weiterhin das FrauengefÀngnis. Psychopharmaka
werden nach wie vor in weitaus gröĂerem Umfang an inhaftierte Frauen
verteilt als an ihre mÀnnlichen Mitgefangenen. Eine amerikanische
Indigene, die im Womenâs Correctional Center in Montana inhaftiert ist,
erzÀhlte der Soziologin Luana Ross von ihren Erfahrungen mit
Psychopharmaka:
Haldol ist eine Droge, fĂŒr die, die den Knast nicht verkraften können.
Man fĂŒhlt sich tot, gelĂ€hmt. Und dann bekam ich Nebenwirkungenvon vom
Haldol. Ich wollte gegen jeden kÀmpfen, gegen alle WÀrter_innen. Ich
schrie sie an, sie sollten gehen. Der Arzt sagte: âDas können wir nicht
zulassen.âUnd sie gaben mir Tranxen. Ich nehme keine Pillen; ich hatte
nie Schlafprobleme, bis ich hierher kam. Jetzt soll ich wieder zum
Psychiater wegen meiner TrÀume. Wenn du ein Problem hast, werden sie
sich nicht darum kĂŒmmern. Sie werden dich auf Drogen setzen, damit sie
dich kontrollieren können.
Vor dem Aufkommen des Zuchthauses und damit der Vorstellung von Strafe
als âZeit absitzenâ zur Kontrolle von Bettlern, Dieben und
Geisteskranken wurde nicht unbedingt zwischen diesen Kategorien der
Abweichung von Normen unterscheiden. In dieser Phase der Geschichte der
Bestrafung - vor der Amerikanischen und der Französischen Revolution -
wurde der Klassifizierungsprozess, durch den KriminalitÀt von Armut und
Geisteskrankheit unterschieden wird, noch nicht entwickelt. Als der
Diskurs ĂŒber KriminalitĂ€t und die entsprechenden Kontroll-Institutionen
begann, zwischen âKriminellenâ und âGeisteskrankenâ zu unterscheiden,
setzte sich die geschlechtsspezifische Unterscheidung durch und
strukturierte weiterhin die Strafrechtspolitik. Als weiblich
kategorisierter âWahnsinnâ wurde auĂerdem stark sexualisiert.
Wenn wir die Auswirkungen von Klassismus und Rassismus betrachten, dient
diese Vereinfachung als ein Beweis fĂŒr emotionale und mentale Störungen,
wÀhrend sie bei schwarzen und armen Frauen auf KriminalitÀt hinweist.
Es sollte auch bedacht werden, dass bis zur Abschaffung der Sklaverei
die groĂe Mehrheit der schwarzen Frauen Bestrafungsregelungen
unterworfen war, die sich deutlich von denen von weiĂen Frauen
unterschieden. Als Sklavinnen wurden sie direkt und oft brutal fĂŒr ein
Verhalten diszipliniert, das in der Freiheit als völlig normal angesehen
wurde. Die Bestrafung der Sklav_innen war sichtbar
geschlechtsspezifisch - besondere Strafen waren beispielsweise
schwangeren Frauen vorbehalten, die nicht in der Lage waren, die Quoten
zu erreichen, die festlegten, wie lange und wie schnell sie arbeiten
sollten. In der SklavenerzÀhlung von Moses Grandy wird eine besonders
brutale Form der Auspeitschung beschrieben, bei der sich die Frau auf
den Boden legen musste, wobei ihr Bauch in ein Loch gesteckt wurde, um
den Fötus (der als zukĂŒnftige Arbeitskraft galt) zu schĂŒtzen. Wenn wir
unsere Definition von Strafe in der Sklaverei erweitern, können wir
sagen, dass die erzwungenen sexuellen Beziehungen zwischen Sklavinnen
und Herr eine Strafe fĂŒr Frauen darstellten, und sei es nur aus dem
Grund, dass sie Sklavinnen waren. Mit anderen Worten, die Abweichung des
Sklavenhalters wurde auf die Sklavin ĂŒbertragen, die er zum Opfer
machte. In Àhnlicher Weise wird sexueller Missbrauch durch
GefÀngniswÀrter durch vermeintliche Hyper-SexualitÀt der weiblichen
Gefangenen gerechtfertigt. Die Vorstellung, dass âweibliches
Fehlverhaltenâ immer eine sexuelle Dimension hat, besteht auch in der
heutigen Zeit fort, und diese Ăberschneidung von KriminalitĂ€t und
SexualitĂ€t wird weiterhin rassifiziert. So werden weiĂe Frauen, die als
â Kriminelleâ bezeichnet werden, stĂ€rker mit Schwarzsein assoziiert als
ihre â normalenâ Geschlechtsgenossinnen.
Vor dem Aufkommen des GefÀngnisses als Hauptform der öffentlichen
Bestrafung war es selbstverstĂ€ndlich, dass VerstöĂe gegen das Gesetz mit
körperlichen Strafen und hÀufig mit der Todesstrafe geahndet wurden. Was
nicht allgemein anerkannt wird, ist der Zusammenhang zwischen
staatlicher PrĂŒgelstrafe und den körperlichen Ăbergriffen auf Frauen im
hÀuslichen Bereich. Diese Form der körperlichen Disziplinierung von
Frauen wird weiterhin hÀufig im Rahmen von intimen Beziehungen
angewandt, aber sie wird nur selten im Zusammenhang mit staatlicher
Bestrafung verstanden. Die QuÀker-Reformer in den Vereinigten Staaten -
vor allem die Philadelphia Society for Alleviating the Miseries of
Public Prisons, die 1787 gegrĂŒndet wurde - spielten eine zentrale Rolle
bei Kampagnen zur Einsetzung von GefÀngnisstrafen anstelle körperlicher
ZĂŒchtigung. Der Tradition folgend, die von Elizabeth Fry in England
begrĂŒndet wurde, waren die QuĂ€ker auch fĂŒr ausgedehnte Kampagnen zur
Einrichtung separater GefĂ€ngnisse fĂŒr Frauen veranwortlich. Angesichts
der Praxis, kriminalisierte Frauen in MÀnnergefÀngnissen zu inhaftieren,
wurde die Forderung nach separaten FrauengefÀngnissen in dieser Zeit als
ziemlich radikal angesehen. Fry formulierte in ihrem Werk Observations
in Visiting, Superintendence and Government of Women aus dem Jahr 1827
GrundsĂ€tze fĂŒr eine GefĂ€ngnisreform fĂŒr Frauen, die in den Vereinigten
Staaten von Frauen wie Josephine Shaw Lowell und Abby Hopper Gibbons
aufgegriffen wurden.
In den 1870er Jahren halfen Lowell und Gibbons, die Kampagne in New York
fĂŒr separate GefĂ€ngnisse fĂŒr Frauen anzufĂŒhren. Die vorherrschende
Haltung gegenĂŒber weiblichen StrĂ€flingen unterschied sich von derjenigen
gegenĂŒber mĂ€nnlichen StrĂ€flingen. Man ging davon aus, dass MĂ€nner Rechte
und Freiheiten verwirkt hatten, die Frauen ohnehin nicht in Anspruch
nehmen konnten, auch nicht in der âfreien Weltâ. Obwohl einige Frauen in
ZuchthÀusern untergebracht waren, war die Institution selbst mÀnnlich
geprĂ€gt, denn im GroĂen und Ganzen wurden keine besonderen Vorkehrungen
fĂŒr die Unterbringung verurteilter Frauen getroffen. Die Frauen, die
zwischen 1820 und 1870 in den Strafanstalten saĂen waren nicht der
GefÀngnisreform unterworfen, die die mÀnnlichen Insassen erlebten. Die
Beamten setzten Isolation, Schweigen und harte Arbeit ein, um mÀnnliche
Gefangene zu rehabilitieren. Aufgrund des Mangels an UnterkĂŒnften fĂŒr
weibliche Gefangene waren Isolation und Stille unmöglich. Produktive
Arbeit wurde nicht als wichtiger Teil ihrer Routine angesehen. Die
NachlĂ€ssigkeit gegenĂŒber weiblichen Gefangenen war jedoch selten
wohlwollend. Vielmehr wiederholte sich das Muster von Ăberbelegung,
harter Behandlung und sexuellem Missbrauch in den GefÀngnisgeschichten.
Die mĂ€nnliche Bestrafung war ideologisch mit BuĂe und Reform verbunden.
Die Verwirkung von Rechten und Freiheiten bedeutete, dass mÀnnliche
StrÀflinge durch Selbstreflexion, religiöse Studien und Arbeit Erlösung
erlangen und diese Rechte und Freiheiten wiedererlangen konnten. Da
jedoch Frauen nicht als Besitzerinnen dieser Rechte anerkannt wurden,
waren sie nicht berechtigt, an diesem Erlösungsprozess teilzunehmen.
Nach der vorherrschenden Meinung waren verurteilte Frauen unwiderruflich
gescheiterte Frauen, die nicht gerettet werden konnten. WĂ€hrend
mÀnnliche StraftÀter als öffentliche Individuen betrachtet wurden, die
einfach gegen den den Gesellschaftsvertrag verletzt hatten, wurden
weibliche StraftĂ€terinnen als Ăbertreterinnen grundlegender moralischer
Prinzipien der Weiblichkeit eingestuft. Selbst diejenigen, die in
Anlehnung an Elizabeth Fry argumentierten, dass Frauen zur Erlösung
fĂ€hig seien bestritten diese ideologischen Annahmen ĂŒber den Platz der
Frau nicht wirklich. Mit anderen Worten, sie stellten nicht den Begriff
der âgescheiterten Frauâ in Frage. Vielmehr widersetzten sie sich
einfach die Vorstellung, dass âgescheiterte Frauenâ nicht gerettet
werden könnten. Sie könnten gerettet werden, behaupteten die
Reformator_innen, und zu diesem Zweck traten sie fĂŒr getrennte
Strafvollzugsanstalten und einen spezifisch weiblichen Ansatz zur
Bestrafung ein. Ihr Ansatz sah architektonische Modelle vor, die die
Zellen durch HĂŒtten und und âZimmernâ ersetzt wurden, um dem
GefÀngnisleben eine hÀusliche AtmosphÀre zu verleihen. Dieses Modell
erleichterte ein Regime, das kriminalisierte Frauen in das hÀusliche
Leben als Ehefrau und Mutter reintegrieren sollte. Sie erkannten jedoch
nicht die klassistischen und rassistischen HintergrĂŒnde dieses Regimes
an. Eine Ausbildung, die vordergrĂŒndig darauf abzielte, gute Ehefrauen
und MĂŒtter hervorzubringen, fĂŒhrte in Wirklichkeit dazu, dass arme
Frauen (und vor allem schwarze Frauen) in Jobs in der âfreien Weltâ im
hÀuslichen Dienst eingesetzt wurden. Anstatt als qualifizierte Ehefrauen
und MĂŒtter zu Hause zu bleiben, wurden viele weibliche HĂ€ftlinge
DienstmĂ€dchen, Köchinnen und WĂ€scherinnen fĂŒr wohlhabendere Frauen. Ein
weibliches Aufsichtspersonal, so argumentierten die Reformer, wĂŒrde die
sexuellen Versuchungen minimieren, die ihrer Meinung nach oft die
Ursache fĂŒr weibliche KriminalitĂ€t war. Als im neunzehnten Jahrhundert
in England und den Vereinigten Staaten die Reformbewegung entstand, die
getrennte GefĂ€ngnisse fĂŒr Frauen forderte, argumentierten Elizabeth Fry,
Josephine Shaw und andere gegen die gÀngige Vorstellung, dass kriminelle
Frauen nicht durch moralische Rehabilitierung zu erreichen seien. Wie
mÀnnliche StrÀflinge, die durch strenge GefÀngnisaufenthalte
âkorrigiertâ werden sollten, könnten auch weibliche StrĂ€flinge durch
unterschiedlich geschlechtsspezifische Haftbedingungen zu moralischen
Wesen geformt werden. Bauliche VerÀnderungen, hÀusliche Regelungen und
ein ausschlieĂlich weibliches Aufsichtspersonal wurden im Rahmen des von
den Reformern vorgeschlagenen Reformationsprogramms umgesetzt, und
schlieĂlich wurden die FrauengefĂ€ngnisse genauso stark in der sozialen
Landschaft verankert wie die MÀnnergefÀngnisse, aber noch unsichtbarer.
Ihre gröĂere Unsichtbarkeit spiegelte ebenso sehr die Art und Weise
wider, wie die hÀuslichen Pflichten von Frauen im Patriarchat als normal
und natĂŒrlich angesehen wurden, sowie der relativ geringen Anzahl von
Frauen, die in diesen neuen Einrichtungen inhaftiert waren.
Einundzwanzig Jahre nach der GrĂŒndung der ersten englischen
Besserungsanstalt fĂŒr Frauen in London wurde 1853 in Indiana die erste
US-amerikanische Besserungsanstalt fĂŒr Frauen eröffnet. Das Ziel war es,
die Gefangenen in der âwahrenâ weiblichen Rolle der HĂ€uslichkeit zu
schulen. Eine wichtige Rolle der Reformbewegung in den
FrauengefĂ€ngnissen bestand darin, âangemesseneâ Geschlechterrollen zu
fördern und zu verankern, wie Berufsausbildung in den Bereichen Kochen,
NĂ€hen und Putzen. Um diesen Zielen gerecht zu werden, wurden die HĂŒtten
in der Regel mit KĂŒchen, WohnrĂ€umen und sogar einigen Kinderzimmern fĂŒr
HÀftlinge mit Kleinkindern eingerichet. Diese feminisierte öffentliche
Bestrafung betraf jedoch nicht alle Frauen auf die gleiche Weise. Wenn
schwarze und native-american Frauen in den Besserungsanstalten
inhaftiert waren, wurden sie oft von weiĂen Frauen getrennt. AuĂerdem
wurden sie ĂŒberproportional hĂ€ufig in MĂ€nnergefĂ€ngnissen inhaftiert. In
den SĂŒdstaaten mussten schwarze Frauen nach dem BĂŒrgerkrieg die
Grausamkeiten des StrÀflingspachtsystem ertragen, die durch die
Feminisierung der Strafe nicht gemildert wurden. Weder ihre Strafen noch
die Arbeit, die sie verrichten mussten, wurden durch ihr Geschlecht
gemildert. Als sich das U.S. GefÀngnis wÀhrend des 20. Jahrhundert
entwickelte, wurden feminisierte Formen der Bestrafung - das
HĂŒttensystem,die hĂ€usliche Ausbildung usw. - ideologisch darauf
ausgelegt, weiĂe Frauen zu reformieren, wĂ€hrend Frauen of color zum
groĂen Teil öffentlich bestraft wurden, den Anschein zu erweckten, ihnen
Weiblichkeit zu bieten.
DarĂŒber hinaus hat Lucia Zedner darauf hingewiesen, dass das
reformatorische Strafsystem Frauen fĂŒr Ă€hnliche Vergehen oft zu mehr
Zeit verurteilte als MĂ€nner. Dieser Unterschied wurde damit
gerechtfertigt, dass Frauen die in den Strafvollzug geschickt wurden,
nicht anhand der Schwere ihres Vergehens bestraft, sondern reformiert
und umgeschult werden sollten. Ein Prozess, der, so wurde argumentiert,
Zeit brauche. Gleichzeitig, so Zedner, sei diese Tendenz, Frauen fĂŒr
lÀngere Zeit ins GefÀngnis zu schicken als MÀnner, durch die
Eugenik-Bewegung verstĂ€rkt â die darauf abzielte, âgenetisch
minderwertigeâ Frauen so lange aus dem gesellschaftlichen Verkehr zu
ziehen, wie sie gebĂ€hrfĂ€hig waren.âZu Beginn des einundzwanzigsten
Jahrhunderts, haben die FrauengefÀngnisse begonnen, ihren mÀnnlichen
GegenstĂŒcken, die im Zeitalter des industriellen GefĂ€ngniskomplexes
entstanden sind, Àhnlicher zu werden. Da die Beteiligung von Unternehmen
an der Bestrafung in einer Weise ausweitet wurde , die noch vor zwei
Jahrzehnten unvorstellbar gewesen wÀre, wird das vorgeschobene Ziel der
GefÀngnisse, die Resozialisierung, durch die ArbeitsunfÀhigkeit als
Hauptgrund der Inhaftierung abgelöst. Wie ich bereits dargelegt habe,
ĂŒbersteigt die Zahl der Inhaftierten in den USA inzwischen die
Zwei-Millionen-Grenze und die Zahl der weiblichen Gefangenen ist
schneller gestiegen als die der MĂ€nner. Der Kriminologe Elliot Currie
hat darauf hingewiesen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die
Inhaftierungsrate von Frauen bei etwa 8 pro 100.OOO lag und erreichte
erst 1977 eine zweistellige Zahl. Heute liegt sie bei 51 pro 100.000.
Bei den derzeitigen Raten wird es im Jahr 2010 mehr Frauen in
amerikanischen GefÀngnissen geben als Insassen beiderlei Geschlechts im
Jahr 1970. Wenn wir die Auswirkungen von Rassismus und Geschlecht
kombinieren, wird die Art dieser Verschiebungen in der
GefÀngniss-Bevölkerung noch deutlicher. Die Inhaftierungsrate schwarzer
Frauen ist heute höher als die von weiĂen MĂ€nnern noch im Jahr 1980. Die
Studie von Luana Ross ĂŒber native-american Frauen, die im Womenâs
Correctional Cen ter in Montana inhaftiert sind, zeigt, dass
âGefĂ€ngnisse, wie sie das euro-amerikanische System einsetzt, dazu
dienen, die Indigenen Völker Amerikas in einer kolonialen Situation zu
halten.âSie weist darauf hin, dass Native-Americans in den Bundes- und
StaatsgefĂ€ngnissen des Landes ĂŒberreprĂ€sentiert sind. In Montana, wo sie
ihre Forschung durchfĂŒhrte, machen sie 6 Prozent der
Allgemeinbevölkerung, aber 7,3 Prozent der inhaftierten Bevölkerung aus.
Native-American Frauen sind im GefÀngnissystem von Montana sogar noch
ĂŒberproportionaler vertreten: Sie machen 25 Prozent aller vom Staat
inhaftierten Frauen aus.
Vor dreiĂig Jahren, etwa zur Zeit des Attica-Aufstandes und der
Ermordung von George Jackson in San Quentin, hat die radikale Opposition
gegen das GefÀngnissystem dieses als einen Hauptort staatlicher Gewalt
und UnterdrĂŒckung bezeichnet. In Reaktion auf die Unsichtbarkeit der
weiblichen Gefangenen in dieser Bewegung und als Folge der aufkommenden
Frauenbefreiungsbewegung entwickelten sich spezifische Kampagnen zur
Verteidigung der Rechte von weiblichen Gefangenen. Viele dieser
Kampagnen ĂŒbten und ĂŒben weiterhin radikale Kritik an staatlicher
ReprÀsentation und Gewalt. Innerhalb des Strafvollzugs wurde der
Feminismus jedoch von liberalen Konstruktionen der Gleichberechtigung
der Geschlechter beeinflusst. Im Gegensatz zur Reformbewegung des
neunzehnten Jahrhunderts, die auf einer Ideologie der
Geschlechterdifferenz beruhte, stĂŒtzten sich die âReformenâ des spĂ€ten
zwanzigsten Jahrhunderts auf ein âgetrennt aber gleichâ-Modell. Dies
fĂŒhrte ironischerweise zu Forderungen nach repressiveren Bedingungen, um
die Einrichtungen fĂŒr Frauen denjenigen fĂŒr MĂ€nner âgleichzustellenâ.
Ein deutliches Beispiel dafĂŒr sind die Memoiren The Warden Wore Pink,
geschrieben von einer Aufseherin des Huron Valley FrauengefÀngnisses in
Michigan. Die Autorin Tekla Miller setzte sich in den 1980er Jahren fĂŒr
eine Ănderung der Politik im Strafvollzug von Michigan ein, die dazu
fĂŒhren sollte dass weibliche Gefangene genauso behandelt werden wie
mÀnnliche Gefangene. Ohne eine Spur von Ironie bezeichnet sie ihren
eigenen Kampf fĂŒr die âGleichstellung der Geschlechterâ zwischen
mĂ€nnlichen und weiblichen Gefangenen als âfeministischâ. Eine dieser
Kampagnen konzentriert sich auf die ungleiche Verteilung von Waffen, die
sie zu beseitigen suchte: Arsenale in MĂ€nnergefĂ€ngnissen sind groĂe
RĂ€ume mit Regalen voller Schrotflinten, Gewehre, Handfeuerwaffen,
Munition, Gaskanistern und AusrĂŒstung gegen AufstĂ€nde . . . Das Arsenal
der Frauen von Huron Valley war ein kleiner, fĂŒnf FuĂ mal zwei FuĂ
groĂer Schrank, in dem zwei Gewehre, acht Schrotflinten, zwei
Signalhörner, fĂŒnf Handfeuerwaffen, vier Gaskanister. Es kommt ihr nicht
in den Sinn, dass eine konstruktivere Version Feminismus auch die
Organisation der staatlichen Bestrafung von MĂ€nnern in Frage stellen
wĂŒrde. Und meiner Meinung nach ernsthaft in Betracht ziehen wĂŒrde, dass
die Institution in ihrer Gesamtheit geschlechtsspezifisch ist - und die
Art von Kritik erfordert, die uns dazu bringen könnte, ihre Abschaffung
in Betracht zu ziehen. Miller beschreibt auch den Fall eines
Fluchtversuchs einer weiblichen Gefangenen. Die Gefangene kletterte ĂŒber
das Rasiermesserband, wurde aber gefangen, nachdem sie auf der anderen
Seite zu Boden sprang. Dieser Fluchtversuch löste eine Debatte ĂŒber die
ungleiche Behandlung von mÀnnlichen und weiblichen Ausbrecher*innen.
Miller vertrat den Standpunkt, dass die WĂ€rter angewiesen werden
sollten, auf Frauen zu schieĂen, genauso wie sie auf MĂ€nner schieĂen.
Sie argumentierte, dass die Gleichbehandlung von weiblichen und
mÀnnlichen Gefangenen darin bestehen sollte, dass sie das gleiche Recht
haben, von den WĂ€rtern beschossen zu werden. Das Ergebnis der Debatte
war , so Miller, dass flĂŒchtende weibliche Gefangene in Mittel-, und
Hochsicherheits-GefÀngnissen die gleiche Behandlung wie MÀnner erhalten.
Es wird ein Warnschuss abgefeuert. Wenn der Gefangene nicht anhÀlt und
ĂŒber den Zaun steigt, darf ein Beamter schieĂen, um zu verletzen. Wenn
das Leben des Beamten in Gefahr ist, kann der Beamte schieĂen, um zu
töten. Paradoxerweise haben die Forderungen nach Gleichstellung mit den
MÀnnergefÀngnissen, anstatt bessere Bildungs-, Berufs- und
Gesundheitschancen fĂŒr weibliche Gefangene zu schaffen, oft zu
repressiveren Bedingungen fĂŒr Frauen gefĂŒhrt. Dies ist nicht nur eine
Folge der Anwendung liberaler - d. h. formalistischer -
Gleichheitsvorstellungen , sondern - was noch gefÀhrlicher ist - weil
sie zulassen, dass mÀnnliche GefÀngnisse als Strafnorm fungieren. Miller
weist darauf hin, dass sie versucht hat zu verhindern, dass eine
weiblicher Gefangene, die sie als âMörderinâ bezeichnete und eine lange
Haftstrafe verbĂŒĂte, an den Abschlussfeiern an der UniversitĂ€t von
Michigan teilnimmt, weil mÀnnlichen Mördern solche Privilegien nicht
gewĂ€hrt wurden. (NatĂŒrlich erwĂ€hnt sie nicht die Art der Mordanklage der
Frau - ob sie zum Beispiel wegen der Tötung eines misshandelnden
Partners verurteilt wurde, wie es bei einer betrÀchtlichen Anzahl von
wegen Mordes verurteilten Frauen der Fall ist) Obwohl es Miller nicht
gelang, die Insassin an der Teilnahme zu hindern, musste die Gefangene
wĂ€hrend der Zeremonie zusĂ€tzlich zu ihrer Kappe und Robe FuĂ- und
Handschellen tragen. Dies ist in der Tat ein bizarres Beispiel fĂŒr
feministische Forderungen nach Gleichberechtigung im GefÀngnissystem.
Ein weithin bekanntes Beispiel fĂŒr die Verwendung von repressiven
Methoden, die historisch mit der Behandlung mÀnnlicher Gefangener
verbunden sind, um âGleichheitâ fĂŒr weibliche Gefangene zu schaffen, war
die Entscheidung des GefÀngnisdirektors von Alabama, Frauen-Kettenbanden
einzurichten. Nachdem Alabama 1995 der erste Staat war, der Kettenbanden
wieder einfĂŒhrte, kĂŒndigte der damalige Strafvollzugskommissar Ron Jones
im darauffolgenden Jahr an, dass auch Frauen gefesselt werden, wÀhrend
sie Gras mĂ€hen, MĂŒll aufsammeln oder den GemĂŒsegarten im Julia Tutwiler
StaatsgefĂ€ngnis fĂŒr Frauen bearbeiteten. Dieser Versuch, Kettenbanden
fĂŒr Frauen einzufĂŒhren, war zum Teil eine Reaktion auf Klagen mĂ€nnlicher
Gefangener, die behaupteten, dass mÀnnliche Chain Gangs sie aufgrund
ihres Geschlechts diskriminierten. Unmittelbar nach Jonesâ AnkĂŒndigung
entlieĂ ihn Gouverneur Fob James, der offensichtlich unter Druck stand,
um zu verhindern, dass Alabama die zweifelhafte Ehre zuteil wird, der
einzige US-Bundesstaat zu sein, in dem es âgleichberechtigteâ
Kettenbanden gab. Kurz nach dem peinlichen Flirt von Alabama mit der
Möglichkeit von Kettenbanden fĂŒr Frauen, hielt Sheriff Joe Arpaio von
Maricopo County (Arizona) der in den Medien als âder hĂ€rteste Sheriff in
Amerikaâ bezeichnet wurde - eine Pressekonferenz ab, um zu verkĂŒnden,
dass er, weil er âfĂŒr Chancengleichheitâ sei, die erste weibliche
Kettenbande des Landes grĂŒnden werde. Als der Plan umgesetzt wurde,
brachten die Zeitungen im ganzen Land ein Foto von angeketteten Frauen,
die die StraĂen von Phoenix sĂ€uberten. Auch wenn es sich dabei um einen
PR-Spektakel gehandelt haben mag, mit dem sich Sheriff Arpaio
profilieren wollte, ist die Tatsache, dass diese Frauenkettenbande vor
dem Hintergrund einer allgemeinen Zunahme der Repression gegen
weiblichen Gefangenen entstanden ist, sicherlich ein Grund zur Sorge. In
den FrauengefÀngnissen des Landes gibt es immer mehr so genannte
Sicherheitsabteilungen. Die Einzelhaft und der Reizentzug in diesen
Abteilungen der FrauengefÀngnisse sind kleinere Versionen der sich rasch
ausbreitenden HochsicherheitsgefÀngnissen. Da die Population der
inhaftierten Frauen heute mehrheitlich aus Frauen of colour besteht,
sollten die historischen KontinuitÀten von Sklaverei, Kolonialisierung
und Völkermord in diesen Bildern von Frauen in Ketten und Fesseln nicht
ĂŒbersehen werden.
In dem MaĂe, wie die Repression in FrauengefĂ€ngnissen zunimmt und
paradoxerweise der Einfluss von hĂ€uslicher Bestrafung zurĂŒckgeht, ist
der sexuelle Missbrauch - der ebenso wie die hÀusliche Gewalt eine
weitere Dimension der privatisierten Bestrafung von Frauen ist, zu einem
institutionalisierten Bestandteil der Bestrafung hinter GefÀngnismauern
geworden. Obwohl der sexuelle Missbrauch durch WĂ€rter an Gefangenen
nicht als solcher sanktioniert wird, deutet die weit verbreitete Milde,
mit der straffÀllige Beamte behandelt werden, darauf hin, dass das
GefĂ€ngnis fĂŒr Frauen ein Ort ist, an dem die Bedrohung durch
sexualisierte Gewalt, die in der gesamten Gesellschaft verbreitet ist,
als Routineaspekt der Straflandschaft hinter GefÀngnismauern behandelt
wird. Einem Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 1996 ĂŒber den
sexuellen Missbrauch von Frauen in US-GefÀngnissen zufolge: Unsere
Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Aufenthalt einer Frau in den
GefÀngnissen der US-Bundesstaaten ein schreckliches Erlebnis sein kann.
Wenn Sie sexuell missbraucht werden, können Sie Ihrem Peiniger nicht
entkommen. Beschwerde- oder Untersuchungsverfahren, sofern es sie gibt,
sind oft unwirksam. Justizvollzugsbedienstete missbrauchen weiter, weil
sie wissen, dass sie nur selten zur Rechenschaft gezogen werden. Nur
wenige Menschen auĂerhalb der GefĂ€ngnismauern wissen, was vor sich geht,
oder interessieren sich dafĂŒr, wenn sie es wissen. Und noch weniger tun
etwas, um das Problem zu lösen. Der folgende Auszug aus der
Zusammenfassung dieses Berichts mit dem Titel âAll too Familiar:
Sexueller Missbrauch von Frauen in staatlichen US-GefĂ€ngnissenâ, zeigt
das AusmaĂ, in dem der Umgang gewalttĂ€tig sexualisiert ist und damit die
bekannte Gewalt, die das Privatleben vieler Frauen prÀgt, wiederholt:
âWir haben festgestellt, dass mĂ€nnliche Justizvollzugsbedienstete
weibliche Gefangene vaginal, anal und oral vergewaltigt, sexuell
missbraucht und misshandelt haben. Wir haben festgestellt, dass
mÀnnliche Beamte nicht nur physische Gewalt angewendet oder angedroht
haben, sondern auch ihre nahezu uneingeschrÀnkte AutoritÀt, Gefangenen
GĂŒter und Privilegien zu gewĂ€hren oder zu verweigern, genutzt haben, um
sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, oder in anderen FĂ€llen, um sie
dafĂŒr zu belohnen. In anderen FĂ€llen haben mĂ€nnliche Beamte ihre
grundlegendste Berufspflicht verletzt und hatten sexuelle Kontakte mit
weiblichen Gefangenen ohne Androhung von Gewalt oder materiellem
Austausch. ZusÀtzlich zu sexuellen Beziehungen mit Gefangenen haben
mÀnnliche Beamte die obligatorischen Abtastungen oder Raumdurchsuchungen
genutzt, um die BrĂŒste, das GesÀà und den Vaginalbereich von Frauen zu
befummeln und sie in unangemessener Weise zu betrachten, wÀhrend diese
sich in den UnterkĂŒnften oder Badezimmern entkleiden. MĂ€nnliche
Justizvollzugsbeamte und Bedienstete haben weibliche Gefangene auch
regelmĂ€Ăig verbal erniedrigt und belĂ€stigt, und trugen so zu einem
Haftumfeld in den staatlichen GefĂ€ngnissen fĂŒr Frauen bei, das hĂ€ufig
stark sexualisiert und ĂŒbermĂ€Ăig feindselig ist.â Die gewalttĂ€tige
Sexualisierung des GefÀngnislebens in Fraueneinrichtungen wirft eine
Reihe von Fragen auf, die uns helfen können, unsere Kritik am
GefÀngnissystem weiterzuentwickeln. Ideologien der SexualitÀt - und
insbesondere die Ăberschneidung von Rassismus und SexualitĂ€t - haben
einen tiefgreifenden Einfluss auf die Darstellung und Behandlung von
Frauen of colour sowohl innerhalb als auch auĂerhalb des GefĂ€ngnisses.
NatĂŒrlich erleben auch schwarze und Latino-MĂ€nner eine gefĂ€hrliche
KontinuitÀt in der Art und Weise, wie sie in der Schule behandelt
werden, wo sie als potenzielle Kriminelle diszipliniert werden, auf der
StraĂe, wo sie rassistischen Profilen der Polizei unterworfen sind, und
im GefÀngnis, wo sie inhaftiert und praktisch aller ihrer Rechte beraubt
sind. FĂŒr Frauen ist die KontinuitĂ€t der Behandlung in der freien Welt
und in der Welt des GefÀngnisses noch komplizierter, da sie auch im
GefÀngnis mit Formen der Gewalt konfrontiert sind, mit denen sie bereits
zu Hause und in ihren intimen Beziehungen konfrontiert waren. Die
Kriminalisierung von Schwarzen und Latina Frauen beinhaltet das Bild der
HypersexualitĂ€t, das dazu dient, sexuelle Ăbergriffe gegen sie
(innerhalb und auĂerhalb des GefĂ€ngnisses) zu rechtfertigen. Solche
Bilder wurden in einer Nightline-Fernsehserie anschaulich dargestellt,
die im November 1999 im kalifornischen Valley State Prison for Women
gedreht wurde. Viele der von Ted Kappel interviewten Frauen beklagten
sich, dass sie hÀufig und unnötig Unterleibsuntersuchungen erhielten,
auch wenn sie mit Routinekrankheiten wie ErkÀltungen den Arzt
aufsuchten. Um diese Untersuchungen zu rechtfertigen, erklÀrte der
Chefarzt, dass die weiblichen Gefangenen nur selten Gelegenheit zu
âmĂ€nnlichen Kontaktenâ hĂ€tten und sie daher diese ĂŒberflĂŒssigen
gynĂ€kologischen Untersuchungen begrĂŒĂen wĂŒrden. Obwohl dieser Offizier
aufgrund dieser ĂuĂerungen von seinem Posten entfernt wurde, Ă€nderte
seine Versetzung wenig an der weit verbreiteten GefÀhrdung inhaftierter
Frauen durch sexuellen Missbrauch. Untersuchungen in FrauengefÀngnissen
auf der ganzen Welt zeigen, dass sexueller Missbrauch eine stÀndige,
wenn auch inoffizielle Form der Bestrafung ist, der Frauen, die das Pech
haben, ins GefÀngnis zu kommen, ausgesetzt sind. Dies ist ein Aspekt des
Lebens im GefÀngnis, mit dem Frauen direkt oder indirekt konfrontiert
werden können, unabhÀngig davon, welche schriftlichen Richtlinien, die
die Institution regeln. Im Juni 1998 besuchte Radhika Coomaraswamy, die
UN-Sonderberichterstatterin fĂŒr Gewalt gegen Frauen, Bundes- und
StaatsgefÀngnisse sowie GefÀngnisse auf Bundes- und Landesebene sowie
Haftanstalten der Einwanderungs- und EinbĂŒrgerungsbehörde in New York,
Connecticut, New Jersey, Minnesota, Georgia und Kalifornien. Ihr wurde
die Erlaubnis verweigert, FrauengefÀngnisse in Michigan zu besuchen, wo
schwere VorwĂŒrfe des sexuellen Missbrauchs im Raum standen. Im Anschluss
an ihre Besuche erklÀrte Coomaraswamy, dass sexuelles Fehlverhalten von
GefÀngnispersonal in amerikanischen FrauengefÀngnissen weit verbreitet
ist. Diese heimliche Institutionalisierung des sexuellen Missbrauchs
verstöĂt gegen einen der Prinzipien der Standard-Mindestregeln der
Vereinten Nationen fĂŒr die Behandlung von Gefangenen. Dieses
UN-Instrument, das 1955 zum ersten Mal verabschiedet wurde und wird von
vielen Regierungen als Leitlinie fĂŒr die Erreichung dessen verwendet,
was als âgute GefĂ€ngnispraxisâ bekannt ist. Diese Regeln werden jedoch
von der US-Regierung kaum bekannt gemacht, und wahrscheinlich hat das
meiste Personal im Strafvollzug noch nie etwas von diesen UN-Normen
gehört haben. Nach den Standard-Mindestvorschriften sind
Freiheitsstrafen und andere MaĂnahmen die dazu fĂŒhren, dass ein
StraftĂ€ter von der AuĂenwelt abgeschnitten wird, allein schon Strafe
durch die Tatsache der Person das Recht auf Selbstbestimmung zu nehmen
und ihr die Freiheit zu entziehen. Deshalb darf der Strafvollzug das
Leiden des Verurteilten nicht verschlimmern, es sei denn, dies geschieht
im Zusammenhang mit einer gerechtfertigten Absonderung oder der
Aufrechterhaltung der Ordnung. Der sexuelle Missbrauch wird heimlich in
einen der routinemĂ€Ăigen Aspekten der Inhaftierung von Frauen, der
Leibesvisitation, integriert. Wie Aktivistinnen und Gefangene selbst
dargelegt haben, ist der Staat selbst direkt in diese Routine des
sexuellen Missbrauchs verwickelt, indem er solche Bedingungen zulÀsst,
die Frauen fĂŒr explizite sexuelle Nötigung durch WĂ€rter und anderes
Personal anfÀllig machen. Die australische AnwÀltin und Aktivistin
Amanda George hat darauf hingewiesen, dass sexueller Missbrauch, der in
Einrichtungen fĂŒr Menschen mit geistiger Behinderung, GefĂ€ngnissen,
psychiatrischen KrankenhÀusern, Jugendstrafanstalten und
Polizeistationen stattfindet, in der Regel Vergewaltigung und sexuelle
Nötigung durch Personen ist, die in diesen Einrichtungen arbeiten. Diese
Straftaten werden zwar selten angezeigt, aber sie werden eindeutig als
âVerbrechenâ verstanden, fĂŒr die das Individuum und nicht der Staat
verantwortlich ist. WĂ€hrend der Staat ârechtswidrigeâ sexuelle
Ăbergriffe durch seine Mitarbeiter beklagt, setzt er selbst sexuelle
Ăbergriffe als Mittel der Kontrolle ein. In Victoria sind GefĂ€ngnis- und
Polizeibeamte mit der Befugnis und Verantwortung ausgestattet,
Handlungen vorzunehmen die, wenn sie auĂerhalb der Arbeitszeit begangen
wĂŒrden, den Straftatbestand der sexuellen Nötigung erfĂŒllen wĂŒrden. Wenn
eine Person nicht damit einverstanden ist, von diesen Beamten nackt
ausgezogen zu werden, kann dazu rechtmĂ€Ăig Gewalt angewendet werden.
Diese legalen Leibesvisitationen sind nach Ansicht des Autors sexuelle
Ăbergriffe im Sinne der Definition von unanstĂ€ndigen Angriffs (Vic) in
der Fassung von Abschnitt 39. Auf einer Konferenz ĂŒber Frauen im
GefÀngnis im November 2001, die von der in Brisbane ansÀssigen
Organisation âSisters Insideâ stattfand, beschrieb Amanda George eine
Aktion, die vor einer nationalen Versammlung von Personal, das in
FrauengefĂ€ngnissen arbeitet. Mehrere Frauen stĂŒrmten die BĂŒhne, einige
in der Rolle von WĂ€rterinnen, andere in der Rolle von Gefangenen,
dramatisierten eine Leibesvisitation. Laut George zufolge waren die
Anwesenden von dieser Inszenierung einer Praxis, die in allen
FrauengefĂ€ngnissen routinemĂ€Ăig angewandt wird, so abgestoĂen, dass sich
viele der Teilnehmerinnen gezwungen sahen, sich von solchen Praktiken zu
distanzieren und darauf zu bestehen, dass sie so etwas nicht tun wĂŒrden.
Einige der WĂ€rterinnen weinten, so sagte George, als sie Darstellungen
ihrer eigenen Handlungen auĂerhalb des GefĂ€ngniskontextes sahen. Sie
mĂŒssen erkannt haben, dass âohne die Uniform, ohne die Macht des
Staates, [die Leibesvisitation] ein sexueller Ăbergriff wĂ€reâ. Aber
warum ist das VerstĂ€ndnis fĂŒr die Verbreitung von sexuellem Missbrauch
in FrauengefÀngnissen ein wichtiger Bestandteil einer radikalen Analyse
desGefÀngnissystems und insbesondere der zukunftsweisenden Analysen, die
uns in Richtung Abschaffung fĂŒhren? Die Forderung nach Abschaffung des
GefÀngnisses als vorherrschende Form der Bestrafung kann nicht
ignorieren, in welchem Ausmaà die Institution des GefÀngnisses Ideen und
Praktiken aufrecht erhÀlt, die in der Gesellschaft hoffentlich bald
ĂŒberholt sind. Die zerstörerische Kombination von Rassismus und
Frauenfeindlichkeit, so sehr sie in den letzten drei Jahrzehnten auch
von sozialen Bewegungen, Wissenschaft und Kunst in Frage gestellt wurde,
hat in FrauengefÀngnissen nach wie vor ihre schrecklichen Folgen. Die
relativ unbestrittene PrÀsenz von sexuellem Missbrauch in
FrauengefÀngnissen ist eines von vielen Beispielen. Die zunehmenden
Beweise fĂŒr einen US-GefĂ€ngnisindustriekomplex mit globaler Auswirkung
veranlassen uns, darĂŒber nachzudenken, inwieweit die vielen Unternehmen,
die in den Ausbau des GefÀngnissystems investiert haben und ebenso wie
der Staat direkt in eine Institution verwickelt sind, die Gewalt gegen
Frauen aufrecht erhÀlt.
FĂŒr die Privatwirtschaft ist GefĂ€ngnisarbeit wie ein Goldtopf. Keine
Streiks. Keine gewerkschaftliche Organisierung. Keine
Gesundheitsleistungen, keine Arbeitslosenversicherung, keine
Arbeitsunfallversicherung. Keine Sprachbarrieren wie in anderen LĂ€ndern.
In neuen leviathanische GefÀngnisse werden Tausenden von Fabriken gebaut
innerhalb von Mauern. Gefangene geben Daten fĂŒr Chevron ein, machen
Telefonreservierungen fĂŒr TWA, zĂŒchten Schweine, schaufeln Dung und
stellen Leiterplatten, Limousinen, Wasserbetten und Dessous fĂŒr
Victoriaâs Secret her und das alles zu einem Bruchteil der Kosten von
âfreier Arbeitâ. -Linda Evans und Eve Goldberg.
Die Ausbeutung von GefÀngnisarbeit durch private Unternehmen ist nur ein
Aspekt in einer Reihe von Beziehungen zwischen Unternehmen, Regierung,
Strafvollzug und Medien. Diese Beziehungen bilden das, was wir heute
einen industriellen GefĂ€ngniskomplex nennen. Der Begriff âindustrieller
GefĂ€ngniskomplexâ wurde von Aktivisten und Wissenschaftlern eingefĂŒhrt,
um die vorherrschende Ăberzeugung die Verbrechensrate sei Hauptursache
fĂŒr die steigende Zahl der GefĂ€ngnisse sei, anzufechten. Stattdessen, so
argumentierten sie, sei der Bau von GefÀngnissen und der damit
einhergehende Drang, diese neuen Strukturen mit Menschen zu fĂŒllen, von
Ideologien des Rassismus und des Profitstrebens angetrieben. Der
Sozialhistoriker Mike Davis verwendete den Begriff erstmals im
Zusammenhang mit dem kalifornischen Strafvollzug, der seiner Beobachtung
nach bereits in den 1990er Jahren mit der Agrarindustrie und der
LanderschlieĂung als wichtigste wirtschaftliche und politische Kraft
konkurrierte. Um die heutige soziale Bedeutung des GefÀngnisses im
Kontext eines sich entwickelnden industriellen Komplexes zu verstehen,
muss die Bestrafung getrennt von ihrer scheinbar unlösbaren Verbindung
mit dem Verbrechen betrachtet werdem. Wie oft begegnet uns die
Formulierung âVerbrechen und Strafeâ? Inwieweit hat die stĂ€ndige
Wiederholung des Begriffs âVerbrechen und Strafeâ in der Literatur, als
Titel von Fernsehsendungen, sowohl fiktiven als auch dokumentarischen,
und in alltĂ€glichen GesprĂ€chen dazu gefĂŒhrt, dass es extrem schwierig
ist, ĂŒber Strafe jenseits dieses Zusammenhangs nachzudenken? Wie haben
diese Darstellungen das GefÀngnis in einen logischen Zusammenhang mit
KriminalitĂ€t als ihre natĂŒrliche, notwendige und dauerhafte Konsequenz
gebracht? Und damit ernsthafte Debatten ĂŒber die FunktionsfĂ€higkeit des
GefĂ€ngnis bis heute verhindert? Der Begriff âindustrieller
GefĂ€ngniskomplexâ besteht auf einem VerstĂ€ndnis des
Strafvollzugsprozesses das wirtschaftliche und politische Strukturen und
Ideologien berĂŒcksichtigt, anstatt sich auf individuelles kriminelles
Verhalten und BemĂŒhungen zur âEindĂ€mmung der KriminalitĂ€tâ zu
konzentrieren. Die Tatsache, dass viele Unternehmen mit globalen MĂ€rkten
heute auf GefÀngnisse als wichtige Profitquelle angewiesen sind, hilft
uns zu verstehen, wie schnell sich GefÀngnisse ausbreiten, gerade zu
einer Zeit als offizielle Studien einen RĂŒckgang der KriminalitĂ€tsrate
anzeigten. Die Vorstellung eines GefÀngnisindustrie-Komplexes besagt
auch, dass die Zusammensetzung der GefÀngnispopulationen - und dies gilt
nicht nur fĂŒr die Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa,
SĂŒdamerika und Australien - kein zufĂ€lliges Merkmal ist. So ist die
Kritik von Abolitionist_innen und Wissenschaftler_innen am industriellen
GefÀngniskomplex sehr stark mit der Kritik an der weltweiten Fortdauer
des Rassismus verbunden. Antirassistische und andere soziale Bewegungen
fĂŒr soziale Gerechtigkeit sind unvollstĂ€ndig, wenn sie sich nicht mit
der Politik der Inhaftierung befassen. Auf der 2001 abgehaltenen
Weltkonferenz der Vereinten Nationen gegen Rassismus in Durban,
SĂŒdafrika, sprachen einige Einzelpersonen, die in Abschaffungskampagnen
in verschiedenen LĂ€ndern aktiv sind, ĂŒber diesen Zusammenhang und
versuchten die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft darauf zu
lenken. Sie wiesen darauf hin, dass das expandierende System der
GefÀngnisse weltweit auf rassistischen Strukturen beruhen und diese
weiter fördern, auch wenn ihre BefĂŒrworter beharrlich behaupten, es sei
neutral. Einige Kritiker_innen des GefÀngnissystems haben den Begriff
âindustrieller Justizvollzugskomplexâ und andere den Begriff
âindustrieller Strafvollzugskomplexâ verwendet.
Diese und der von mir gewĂ€hlte Begriff âindustrieller GefĂ€ngniskomplexâ
haben einen klaren Bezug zu dem historischen Konzept des
âmilitĂ€risch-industriellen Komplexesâ, dessen Verwendung auf die
PrĂ€sidentschaft von Dwight Eisenhower zurĂŒckgeht. Es mag ironisch
erscheinen, dass ein republikanischer PrÀsident der erste war, der eine
wachsende und gefÀhrliche Allianz zwischen der Welt des MilitÀrs und der
Wirtschaft betonte, aber in der Ăra des Vietnamkriegs erschien diese
Beschreibung den Kriegsgegner_innenn und Wissenschaftler_innen sinnvoll.
Heute argumentieren einige Aktivisten fÀlschlicherweise, dass der
industrielle GefÀngniskomplex den Platz einnimmt, den der
militÀrisch-industrielle Komplex frei gemacht hat. Der so genannte Krieg
gegen den Terrorismus von der Bush-Regierung nach den AnschlÀgen auf das
World Trade Center im Jahr 2002 hat deutlich gemacht, dass die
Verbindungen zwischen MilitÀr, Unternehmen und Regierung stÀrker werden,
nicht schwÀcher. Eine bessere Beschreibung der Beziehung zwischen dem
militÀrisch-industriellen Komplex und dem industriellen GefÀngniskomplex
zu definieren, wÀre, sie als symbiotisch zu bezeichnen. Diese beiden
Komplexe unterstĂŒtzen und fördern sich gegenseitig und teilen sich sogar
oft Technologien. In den frĂŒhen neunziger Jahren, als die
RĂŒstungsproduktion vorĂŒbergehend rĂŒcklĂ€ufig war, wurde diese Verbindung
zwischen der RĂŒstungsindustrie und der
Strafrechts-/Strafverfolgungsindustrie in einem Artikel des Wall Street
Journal von 1994 mit dem Titel âMaking Crime Pay: Der Kalte Krieg der
90er Jahreâ festgestellt: Teile des Verteidigungsapparats machen
ebenfalls Kasse, da sie einen neuen GeschÀftszweig einsteigen, der ihnen
hilft KĂŒrzungen beim MilitĂ€r auszugleichen. Westinghouse Electric Corp.,
Minnesota Mining and Manufactur Co, GDE Systems (eine Abteilung der
alten General Dynamics) und Alliant Techsystems Inc. konzentrieren sich
beispielsweise auf AusrĂŒstungen zur VerbrechensbekĂ€mpfung und haben
spezielle Abteilungen zur UmrĂŒstung ihrer Verteidigungstechnologie. Der
Artikel beschreibt eine vom National Institute of Justice, dem
Forschungszweig des Justizministeriums, gesponserten Konferenz mit dem
Titel âLaw Enforcement Technology in the 21st Centuryâ. Der
Verteidigungsminister war einer der Hauptredner auf dieser Konferenz,
die Themen wie die Rolle der Verteidigungsindustrie, insbesondere im
Hinblick auf die doppelte Verwendbarkeit und Umstellung, diskutierte.
Ein heiĂes Thema: Technologien der Verteidigungsindustrie, die das
Gewaltniveau bei der VerbrechensbekÀmpfung senken könnten. Die Sandia
National Laboratories zum Beispiel experimentieren mit einem dichten
Schaum, der auf VerdĂ€chtige gesprĂŒht werden kann und sie unter atembaren
Luftblasen vorĂŒbergehend blind und taub macht. Stinger Corporation
arbeitet an âintelligenten Waffenâ, die nur fĂŒr den Besitzer feuern, und
an einziehbaren, mit Stacheln versehenen Hindernissen die sich vor
flĂŒchtenden Fahrzeugen entfalten. Westinghouse wirbt fĂŒr das
âintelligente Autoâ, in dem sich Minicomputer mit Hauptrechnern bei der
Polizei vernetzt werden können! Dies ermöglicht die rasche Einlieferung
von Gefangenen und den schnellen Austausch von Informationen. Bei einer
Analyse der Beziehungen zwischen dem militÀrischen und dem industriellen
GefĂ€ngniskomplex geht es jedoch nicht nur um die Ăbertragung von
MilitĂ€r-Technologie auf die Strafverfolgungs-Industrie. Was fĂŒr unsere
Diskussion vielleicht noch wichtiger ist, ist das AusmaĂ, in dem beide
wichtige strukturelle Merkmale teilen. Beide Systeme erwirtschaften
enorme Profite aus den Prozessen des Sozialabbaus. Jene Unternehmen,
gewÀhlten Beamten und Regierungsvertreter, die offensichtlich an der
Ausweitung dieser Systeme beteiligt sind, profitieren von der Zerstörung
armer und rassistisch diskrimminierten Gemeinschaften in den Vereinigten
Staaten und ĂŒberall auf der Welt. Die Verwandlung von inhaftierten
Körpern - und das sind in ihrer Mehrheit nicht weiĂe Körper - in
Profitquellen, die alle Arten von Waren konsumieren und oft auch
produzieren, verschlingt öffentliche Gelder, die sonst fĂŒr
Sozialprogramme wie Bildung, Unterbringung, Kinderbetreuung,
Freizeitgestaltung, Programme fĂŒr Drogenkonsument_innen usw. zur
VerfĂŒgung stehen könnten. Die Bestrafung ist nicht mehr nur ein
Randbereich der Gesamtwirtschaft. Unternehmen, die alle Arten von
GĂŒtern - von GebĂ€uden ĂŒber elektronische GerĂ€te bis hin zu
Hygieneprodukten - herstellen und Dienstleistungen - von Mahlzeiten bis
hin zu Therapien und GesundheitsfĂŒrsorge - anbieten sind heute direkt am
Strafvollzug beteiligt. Das heiĂt, dass Unternehmen, von denen man nicht
annehmen wĂŒrde, dass sie dem staatlichen Strafvollzug nah stehen, einen
groĂen In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg trieben zum Beispiel
medizinische Experimente an Gefangenen die Entwicklung der
pharmazeutischen Industrie vorran. Allen Hornblum zufolge
nahm die Zahl der amerikanischen medizinischen Forschungsprogramme, die
Gefangene als Probanden einsetzten zu, als eifrige Ărzte und Forscher,
subventionsgebende UniversitÀten und eine aufkeimende Pharmaindustrie um
einen gröĂeren Marktanteil kĂ€mpften. Die Menschen am Rande der
Gesellschaft waren, wie schon immer, das Mahlgut fĂŒr die
medizinisch-pharmazeutische Industrie, und insbesondere
GefĂ€ngnisinsassen wurden zum Rohmaterial fĂŒr die Profitmacherei und den
akademischen Fortschritt der Nachkriegszeit.
Hornblums Buch âAcres of Skin: Human Experiments at Holmesburg Prisonâ,
beleuchtet die Karriere des Forschungsdermatologen Albert Kligman, der
Professor an der UniversitĂ€t von Pennsylvania war. Kligman fĂŒhrte
Hunderte von Experimenten an den im Holmesburg-GefÀngnis untergebrachten
MĂ€nnern durch, und bildete dabei viele Forscher in der Anwendung von
spÀter als unethisch anerkannten Forschungsmethoden aus.
Als Dr. Kligman das alternde GefÀngnis betrat, war er beeindruckt von
dem Potenzial, das es fĂŒr seine Forschung bot. Im Jahr 1966 erinnerte er
sich in einem Zeitungsinterview: âAlles, was ich vor mir sah, waren
riesige FlÀchen von Haut. Es war wie ein Bauer, der zum ersten Mal ein
fruchtbares Feld sieht.â Die Hunderte von HĂ€ftlingen, die ziellos vor
ihm umherliefen boten eine einzigartige Gelegenheit fĂŒr unbegrenzte und
ungestörte medizinische Forschung. Er beschrieb sie in diesem Interview
als âeine anthropoide (menschenĂ€hnlich) Kolonie, hauptsĂ€chlich gesundâ
unter perfekten Kontrollbedingungen.
Als das Versuchsprogramm 1974 eingestellt wurde und neue
Bundesvorschriften die Verwendung von Gefangenen als Versuchspersonen in
der akademischen und unternehmerischen Forschung untersagten, waren
bereits zahlreiche Kosmetikprodukte und Hautcremes getestet worden.
Einige von ihnen hatten den Probanden groĂen Schaden zugefĂŒgt und
durften in ihrer ursprĂŒnglichen Form nicht vermarktet werden. Johnson
and Johnson, Ortho Pharma und Dow Chemical sind nur einige der
Unternehmen, die von diesen Experimenten materiell profitiert haben. Die
Folgen der Beteiligung von Unternehmen an der Bestrafung lieĂen sich
bereits bei den Kligman-Experimenten im Holmesburg-GefÀngnis bereits in
den 1950er und 1960er Jahren erahnen. Jedoch kam es erst in den 1980er
Jahren und mit der zunehmenden Globalisierung des Kapitalismus zu einer
massiven Welle der Beteiligung von Unternehmen in der Strafökonomie. Die
Deindustrialisierungsprozesse, die zu WerksschlieĂungen im ganzen Land
fĂŒhrten, schufen eine riesige Menge an gefĂ€hrdeten Menschen, fĂŒr die es
keine ArbeitsplÀtze mehr gab. Dies brachte auch mehr Menschen in Kontakt
mit sozialen Diensten, wie AFDC (Aid to Families with Dependent
Children) und anderen Agenturen. Gleichzeitig erlebten wir die
Privatisierung und Kommerzialisierung von Dienstleistungen, die zuvor
von der Regierung betrieben wurden. Das offensichtlichste Beispiel fĂŒr
diesen Privatisierungsprozess war die Umwandlung der staatlich
betriebenen KrankenhÀuser und Gesundheitsdienste in einen gigantischen
Komplex, welcher euphemistisch als Health Maintenance Organisations
bezeichnet werden. In diesem Sinne könnte man auch von einem
âmedizinisch-industriellen Komplexâ sprechen. TatsĂ€chlich gibt es eine
Verbindung zwischen einem der ersten privaten Krankenhausunternehmen,
der Hospital Corporation of America, heute bekannt als HCA, und der
Corrections Corporation of America (ein Unternehmen das sich auf den
Betrieb und die Leitung von privaten GefÀngnissen spezialisiert hat;
Anm. d.Ă.) . Vorstandsmitglieder der HCA, die heute ĂŒber zweihundert
KrankenhÀuser und siebzig ambulante Operationszentren in vierundzwanzig
Staaten, England und der Schweiz betreiben, halfen bei der GrĂŒndung der
Correctional Corporations of America im Jahr 1983. Im Kontext einer
Wirtschaft, die von einem beispiellosen Profitstreben angetrieben wurde,
ohne RĂŒcksicht auf die menschlichen Kosten, und dem damit einhergehenden
Abbau des Sozialstaates wurde die ĂberlebensfĂ€higkeit armer Menschen
zunehmend von der drohende PrÀsenz des GefÀngnisses eingeengt. Das
massive GefÀngnisbauprojekt, das in den 1980er Jahren begann, schuf die
Möglichkeit, diejenigen zu konzentrieren und zu verwalten, die das
kapitalistische System implizit zum menschlichen Ăberschuss erklĂ€rt
hatte. In der Zwischenzeit rechtfertigten gewÀhlte Vertreter und
herrschende Medien die neuen drakonischen Verurteilungspraktiken und
schickten immer mehr Menschen ins GefÀngnis , mit dem Argument, dass
dies der einzige Weg sei, um unsere Gemeinden vor Mördern,
Vergewaltigern und RĂ€ubern zu schĂŒtzen.
Die Medien, insbesondere das Fernsehen, haben ein ureigenes Interesse
daran, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, dass die KriminalitĂ€t auĂer
Kontrolle geraten ist. Mit der neuen Konkurrenz durch Kabelnetze und
24-Stunden-NachrichtenkanÀle, haben die Fernsehnachrichten und
-sendungen ĂŒber Verbrechen stark zugenommen. Nach Angaben des Center for
Media and Public Affairs war die Berichterstattung ĂŒber Verbrechen das
Thema Nr.1 in den Abendnachrichten wÀhrend des letzten Jahrzehnts. Von
1990 bis 1998 sank die Mordrate landesweit um die HĂ€lfte, aber die
Mordberichte in den drei groĂen Sendern stiegen fast um das Vierfache.
In der gleichen Zeit, in der die KriminalitĂ€tsrate zurĂŒckging, stieg die
Zahl der GefĂ€ngnisse stark an. Laut einem kĂŒrzlich erschienenen Bericht
des US-Justizministeriums waren Ende 2001 2.100.146 Menschen in den
Vereinigten Staaten inhaftiert. Die Begriffe und Zahlen, die in diesem
Regierungsbericht erscheinen, bedĂŒrfen einer Bemerkung. Ich zögere,
solche statistischen Daten unkommentiert zu verwenden, weil sie das
kritische Denken bremsen, das durch ein VerstÀndnis des industriellen
GefÀngniskomplexes hervorgerufen werden sollte. Es ist gerade die
Abstraktion von Zahlen, die eine so zentrale Rolle bei der
Kriminalisierung derjenigen spielt, die das UnglĂŒck der Inhaftierung
erfahren. Es gibt viele verschiedene Arten von MĂ€nnern und Frauen in den
GefÀngnissen, KnÀsten, INS und MilitÀrgefÀngnissen, deren Leben in den
Zahlen des Bureau of Justice Statistics untergeht. Die Zahlen machen
keinen Unterschied zwischen der Frau, die wegen einer DrogenabhÀngigkeit
inhaftiert ist, und dem Mann, der wegen Mordes an seiner Frau inhaftiert
ist. Am Ende wird der Mann vielleicht sogar weniger Zeit hinter Gittern
verbringen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die folgende statistische
AufschlĂŒsselung: Es waren 1.324.465 Menschen in âBundes- und
StaatsgefĂ€ngnissenâ, 15.852 in âTerritorialgefĂ€ngnissen â, 631.240 in
âlokalen GefĂ€ngnissenâ, 8.761 in âHaftanstalten der Einwanderungs- und
EinbĂŒrgerungsbehördeâ, 2.436 in âMilitĂ€reinrichtungenâ, 1.912 in âJails
in Indian countryâ und 108.965 in âJugendeinrichtungenâ. In den zehn
Jahren zwischen 1990 und 2000, wurden 351 neue Haftanstalten von den
Bundesstaaten eröffnet und mehr als 528.000 Betten hinzugefĂŒgt, das sind
insgesamt 1.320 staatliche Einrichtungen, was einer Steigerung von 81%
entspricht. AuĂerdem gibt es gibt es derzeit 84 Bundeseinrichtungen und
264 private Einrichtungen. Aus den Regierungsberichten, denen diese
Zahlen entnommen sind, geht hervor, inwieweit die Inhaftierungsraten
zurĂŒckgehen. Der Bericht des Bureau of Justice Statistics mit dem Titel
âPrisoners in 2001â stellt einleitend fest, dass die Zahl der Gefangenen
in den USA um 1,1% gestiegen ist, was weniger ist als das
durchschnittliche jÀhrliche Wachstum von 3,8% seit Ende 1995. Im Jahr
2001 stieg die GefÀngnispopulation mit der niedrigsten Rate seit 1972
und hatte den geringsten absoluten Anstieg seit 1979. Wie gering der
Anstieg auch sein mag, diese Zahlen wĂŒrden die Vorstellungskraft
ĂŒberfordern, wenn sie nicht so sauber geordnet und rational organisiert
wÀren. Um diese Zahlen in eine historische Perspektive zu setzen,
versuchen Sie sich vorzustellen, wie die Menschen die im 18. und 19.
Jahrhundert - und in der Tat fĂŒr den gröĂten Teil des Jahrhundert - das
neue und damals ganz auĂergewöhnliche System der Bestrafung, das
GefĂ€ngnis, begrĂŒĂt haben, reagiert hĂ€tten wenn sie gewusst hĂ€tten, dass
eine so kolossale Zahl von Leben fĂŒr immer von dieser Institution
gefordert werden wĂŒrde. Ich habe bereits meine eigenen Erinnerungen an
eine Zeit vor 30 Jahren dargestellt, als die Zahl der Gefangenen noch 1
Zehntel der heutigen Zahl betrug.
Der industrielle GefÀngniskomplex wird von Privatisierungsmustern
angeheizt, die, wie Sie sich erinnern werden, auch das Gesundheitswesen,
das Bildungswesen und andere Bereiche unseres Lebens drastisch verÀndert
haben. DarĂŒber hinaus knĂŒpft die GefĂ€ngnisprivatisierung - die
zunehmende PrÀsenz von Unternehmen in der GefÀngniswirtschaft und die
Einrichtung privater GefĂ€ngnisse - an die historischen BemĂŒhungen zur
Schaffung einer profitablen Bestrafungsindustrie zu schaffen an , die
auf dem neuen Angebot an âfreienâ schwarzen mĂ€nnlichen ArbeitskrĂ€ften in
den den Nachwehen des BĂŒrgerkriegs basieren. Steven, der sich auf die
Arbeit des norwegischen Kriminologen Nils Christie stĂŒtzt, argumentiert:
Unternehmen, die das Strafsystem bedienen, brauchen ausreichende Mengen
an Rohstoffen, um ein langfristiges Wachstum zu gewÀhrleisten. . . Im
Bereich der Strafjustiz sind Menschen der Rohstoff und die Industrie
wird alles Notwendige tun, um eine stetige Versorgung zu gewÀhrleisten.
Damit das Angebot an Gefangenen wÀchst, muss die Strafverfolgungspolitik
eine ausreichende Zahl von inhaftierten Amerikaner_innen sicherstellen
unabhÀngig davon, ob die KriminalitÀt steigt oder die Inhaftierung
notwendig ist.
In der Zeit nach dem BĂŒrgerkrieg bildeten die emanzipierten schwarzen
MÀnner und Frauen ein enormes Reservoir an ArbeitskrÀften. Zeitgleich
konnten die Pflanzer und Industriellen nicht mehr wie frĂŒher auf die
Sklaverei setzen, wie sie es in der Vergangenheit getan hatten. Diese
ArbeitskrĂ€fte wurden in zunehmendem MaĂe fĂŒr private Akteure verfĂŒgbar,
und zwar durch das bereits erwĂ€hnte Pachtsystem fĂŒr StrĂ€flinge und
verwandte Systeme wie die Schuldknechtschaft. Es sei daran erinnert,
dass die Zahl der Strafgefangenen nach der Abschaffung der Sklaverei
drastisch anstieg, so dass schwarze Menschen im SĂŒden schnell einen
unverhĂ€ltnismĂ€Ăig hohen Anteil ausmachten. Dieser Ăbergang bildete die
historische Grundlage fĂŒr die leichte Akzeptanz unverhĂ€ltnismĂ€Ăig hoher
schwarzer GefÀngnispopulationen heute. Nach Angaben des Bureau of
Justice Statistics von 2002 stellen Afroamerikaner heute die Mehrheit
der Gefangenen auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene, mit insgesamt
803.400 schwarzen Insassen, mehr als die Gesamtzahl der weiĂen
HĂ€ftlinge. Bezieht man die Latinos mit ein, mĂŒssen wir weitere 283.000
PoCs hinzufĂŒgen. Da die Inhaftierungsrate schwarzer Gefangener weiter
ansteigt, nÀhert sich die Zusammensetzung der inhaftierten Bevölkerung
dem VerhĂ€ltnis von schwarzen Gefangenen zu weiĂen Gefangenen in der Ăra
der StrÀflingsvermietung und der Bezirkskettenbanden. Dass diese
menschliche âRessourcenâ von einer Reihe von Konzernen, die direkt in
den industriellen GefÀngniskomplex involviert sind als Arbeitskraft oder
fĂŒr den Konsum von Waren verwendet wird, zeigt dass schwarze Körper in
der âfreien Weltâ als entbehrlich gelten, in der GefĂ€ngniswelt jedoch
eine wichtige Profitquelle sind. Die fĂŒr den Strafvollzug
charakteristische Privatisierung weist Parallelen zur Sklaverei auf,
denn Unternehmen wie CCA und Wackenhut betreiben GefÀngnisse
buchstĂ€blich aus ProfitgrĂŒnden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts betreiben
die zahlreichen privaten GefÀngnisunternehmen in den Vereinigten Staaten
Einrichtungen, in denen sie 91.828 Bundes- und Staatsgefangene
unterbringen. [...] New Mexico hÀlt vierundvierzig Prozent seiner
Gefangenen in privaten Einrichtungen gefangen und Staaten wie Montana,
Alaska und Wyoming haben mehr als fĂŒnfundzwanzig Prozent ihrer
GefĂ€ngnisinsassen an private Unternehmen ĂŒbergeben. In Vereinbarungen,
die an das System der StrÀflingsvermietung erinnern, zahlen Bund, LÀnder
und Bezirke privaten Unternehmen eine GebĂŒhr pro Gefangener. Dies
bedeutet, dass die privaten Unternehmen ein Interesse daran haben, die
Gefangenen so lange wie möglich zu behalten und ihre Einrichtungen zu
fĂŒllen. In diesem Bundesstaat gibt es vierunddreiĂig staatseigene,
privat gefĂŒhrte GefĂ€ngnisse, in denen etwa 5 500 HĂ€ftlinge aus anderen
Bundesstaaten inhaftiert sind. Diese Einrichtungen erwirtschaften
jĂ€hrlich etwa achtzig Millionen Dollar fĂŒr Texas. Ein dramatisches
Beispiel ist die Capital Corrections Resources, Inc. die das Brazoria
Detention Center betreibt, eine staatliche Einrichtung, die sich vierzig
Meilen auĂerhalb von Houston, Texas, befindet. Brazoria erlangte
öffentliche Aufmerksamkeit als im August 1997 ein im nationalen
Fernsehen ausgestrahltes Video zeigte, wie Gefangene von HĂ€ftlinge von
Polizeihunden gebissen und von WĂ€rtern brutal in die Leiste getreten
wurden. Die HĂ€ftlinge, die gezwungen waren, auf dem Boden zu kriechen,
wurden auĂerdem mit Elektroschockern geschockt, wĂ€hrend WĂ€rter - die
einen schwarzen Gefangenen als âJungeâ bezeichneten - riefen: âKriech
schneller!â Nach der Veröffentlichung dieses Videos zog der Bundesstaat
Missouri die 415 Gefangenen ab, die er im Brazoria Detention Center
untergebracht hatte. In den begleitenden Nachrichtenberichten wurde nur
selten auf den unbestreitbar rassistischen Charakter des abscheulichen
Verhaltens der WĂ€rter hingewiesen, obwohl in dem Abschnitt des
Videobandes aus Brazoria, das im nationalen Fernsehen ausgestrahlt
wurde, schwarze mÀnnliche Gefangene die primÀren Ziele der Angriffe des
Wachpersonals waren. Das zweiunddreiĂigminĂŒtige Band aus Brazoria, wird
von den GefÀngnisbehörden als Schulungsband dargestellt - als
ânot-to-doâ-Beispiel. Es wurde im September 1996 aufgenommen, nachdem
ein WÀrter angeblich Marihuana im GefÀngnis gerochen hatte. Wichtige
Beweise fĂŒr die Misshandlungen, die sich hinter den Mauern und Toren
privater GefÀngnisse stattfindet, kam im Zusammenhang mit einer Klage
eines Gefangenen ans Licht, der von einem Hund gebissen worden war; er
verklagte Brazoria County auf hunderttausend Dollar Schadensersatz. Die
Handlungen der GefÀngniswÀrter von Brazoria - die nach Aussage der
Gefangenen dort, weitaus schlimmer waren, als auf dem Band zu sehen ist,
sind nicht nur bezeichnend fĂŒr die Art und Weise, wie viele Gefangene im
ganzen Land behandelt werden, sondern auch fĂŒr die allgemeine Haltung
gegenĂŒber Menschen, die in GefĂ€ngnissen eingesperrt sind. Einem Bericht
der Associated Press zufolge sagten die Insassen aus Missouri, nachdem
sie von Brazoria in ihren Heimatstaat zurĂŒckverlegt worden waren
gegenĂŒber dem Kansas City Star:
Die WĂ€rter im Brazoria County Detention Center setzten Viehtreiber und
andere Formen der EinschĂŒchterung ein um sich Respekt zu verschaffen und
die Gefangenen zu zwingen, zu sagen: âIch liebe Texas.â âWas Sie auf dem
Band gesehen haben, war nicht ein Bruchteil dessen, was an diesem Tag
geschahâ, sagte der HĂ€ftling Louis Watkins und bezog sich dabei auf die
auf Video aufgenommene Razzia im Zellenblock am 18. September 1996. âIch
habe so etwas noch nie in einem Film gesehenâ.
Im Jahr 2000 gab es in den Vereinigten Staaten sechsundzwanzig
gewinnorientierte GefÀngnisgesellschaften, die etwa 150 Einrichtungen in
achtundzwanzig Bundesstaaten betrieben. Die gröĂten dieser Unternehmen,
CCA und Wackenhut, kontrollieren weltweit 76,4 Prozent des privaten
GefÀngnismarktes. Der Hauptsitz von CCA befindet sich Nashville,
Tennessee. Bis 2001 war der gröĂte Anteilseigner das multinationale
Unternehmen Sodexho Alliance! mit Sitz in Paris, die ĂŒber ihre
US-amerikanische Tochtergesellschaft Sodexho Marriott
Verpflegungsdienste an neunhundert amerikanischen Colleges und
UniversitÀten anbietet. Das Prison Moratorium Project, eine Organisation
zur UnterstĂŒtzung von Jugendaktivismus, fĂŒhrte eine Protestkampagne
gegen Sodexho Marriott in UniversitÀten im ganzen Land durch. Eine
Schlussfolgerung, die hier gezogen werden muss, ist, dass selbst bei
einem Verbot privater GefÀngnisunternehmen - was in der Tat
unwahrscheinlich ist - der industrielle GefÀngniskomplex und seine
zahlreichen Profitstrategien relativ intakt bleiben wĂŒrden. Private
GefĂ€ngnisse sind unmittelbare Profitquellen fĂŒr die Unternehmen, die sie
betreiben, aber auch die öffentlichen GefÀngnisse sind so stark mit den
gewinnbringenden Produkten und Dienstleistungen privater Unternehmen
durchdrungen, dass der Unterschied nicht so bedeutsam ist, wie man
vermuten könnte. Kampagnen gegen die Privatisierung, die öffentliche
GefÀngnisse als angemessene Alternative zu darstellen, können
irrefĂŒhrend sein. Ein wichtiger Grund fĂŒr die RentabilitĂ€t privater
GefÀngnisse liegt in den nicht gewerkschaftlich organisierten
ArbeitskrÀften, die sie beschÀftigen, und dieser wichtige Unterschied
sollte hervorgehoben werden. Dennoch sind die öffentlichen GefÀngnisse
heute ebenso mit der Unternehmensökonomie verbunden und stellen eine
stÀndig wachsende Quelle kapitalistischen Profits dar. Umfangreiche
Unternehmensinvestitionen in GefĂ€ngnisse haben die Anforderungen fĂŒr die
Anti-GefÀngnisarbeit deutlich erhöht. Das bedeutet, dass ernsthafte
Anti-GefĂ€ngnis-Aktivistinnen bereit sein mĂŒssen, in ihren Analysen und
Organisationsstrategien ĂŒber die eigentliche Institution des
GefÀngnisses hinauszugehen. Die Rhetorik der GefÀngnisreform, die die
Kritik am GefĂ€ngnissystem gestĂŒtzt hat, wird in dieser neuen Situation
nicht funktionieren. Wenn ReformansÀtze in der Vergangenheit eher dazu
beigetragen haben, die Dauerhaftigkeit des GefÀngnisses zu stÀrken, so
werden sie sicherlich nicht ausreichen, um die wirtschaftlichen und
politischen VerhÀltnisse, die das GefÀngnis heute tragen, in Frage zu
stellen. Das bedeutet, dass Aktivist_innen in Zeiten des industriellen
GefÀngniskomplexes die Beziehung zwischen dem globalen Kapitalismus und
der Verbreitung von GefÀngnissen nach amerikanischem Vorbild in der
ganzen Welt ernsthaft in Frage stellen mĂŒssen. Die globale
GefÀngniswirtschaft wird unbestreitbar von den Vereinigten Staaten
dominiert. Diese Wirtschaft besteht nicht nur aus den Produkten,
Dienstleistungen und Ideen, die direkt an andere Regierungen vermarktet
werden, sondern sie ĂŒbt auch einen enormen Einfluss auf die Entwicklung
der Art der staatlichen Bestrafung in der ganzen Welt aus. Ein
dramatisches Beispiel dafĂŒr, ist der Widerstand gegen die Versuche des
tĂŒrkischen Staats, seine GefĂ€ngnisse umzugestalten. Im Oktober 2000
begannen die Gefangenen in der TĂŒrkei, von denen viele politischen
Bewegungen angehören, ein âTodesfastenâ, um ihren Widerstand gegen die
Entscheidung der tĂŒrkischen Regierung, âIF-Typeâ-GefĂ€ngnisse nach
amerikanischem Vorbild einzufĂŒhren, zu verstĂ€rken. Im Unterschied zu den
bisher ĂŒblichen schlafsaalĂ€hnlichen Einrichtungen bestehen diese neuen
GefÀngnisse aus Ein- bis Dreipersonenzellen. Dies wird von den
Gefangenen abgelehnt , weil sie die Isolation erleichtern und
Misshandlungen und Folter in der Isolation viel wahrscheinlicher sind.
Im Dezember 2000 wurden dreiĂig Gefangene bei ZusammenstöĂen mit
SicherheitskrÀften in zwanzig GefÀngnissen getötet. Seit September 2002
sind mehr als fĂŒnfzig HĂ€ftlinge an Hunger gestorben, darunter zwei
Frauen, Gulnihal Yilmaz und Birsen Hosver, die zu den letzten Gefangenen
gehörten, die dem Todesfasten erlagen. Die âIF-Typeâ-GefĂ€ngnisse in der
TĂŒrkei wurden durch das jĂŒngste Aufkommen der Super-Maximum
HochsicherheitsgefÀngnisses in den Vereinigten Staaten inspiriert, das
sich anmaĂt, unangepasste Gefangene zu kontrollieren, indem man sie in
stÀndiger Einzelhaft hÀlt und sie unterschiedlichen Graden von
Reizentzug unterworfen werden. In seinem Weltbericht 2002 lenkte Human
Rights Watch besondere Aufmerksamkeit auf die Ausbreitung der
hochmodernen Super-Hochstsicherheits-GefĂ€ngnissen. UrsprĂŒnglich in den
Vereinigten Staaten verbreitet, wurde das Supermax-Modell zunehmend auch
in anderen LĂ€ndern nachgeahmt. Die Gefangenen in solchen Einrichtungen
verbrachten durchschnittlich dreiundzwanzig Stunden pro Tag in ihren
Zellen und sind extremer sozialer Isolation, erzwungener Tatenlosigkeit
und auĂerordentlich eingeschrĂ€nkte Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung
und Bildung ausgesetzt. Die GefÀngnisbehörden verteidigten den Einsatz
vonHöchstsicherheitseinrichtungen damit, dass dort ânurâ gefĂ€hrliche,
auffĂ€llige, aufmĂŒpfige oder ausbruchsgefĂ€hrdete HĂ€ftlinge untergebracht
seien, jedoch gab es nur wenige Sicherheitsvorkehrungen, um zu
verhindern, dass Gefangene willkĂŒrlich oder diskriminierend in solche
Einrichtungen verlegt werden. In Australien stellte der Inspektor fĂŒr
Haftanstalten fest, dass einige Gefangene auf unbestimmte Zeit in
speziellen Hochsicherheitseinrichtungen festgehalten wurden, ohne zu
wissen, warum oder wann ihre Isolation enden wĂŒrde. Zu den vielen
LÀndern, die in letzter Zeit HochsicherheitsgefÀngnisse gebaut haben,
gehört SĂŒdafrika. Der Bau fĂŒr das HochsicherheitsgefĂ€ngnis in Kokstad,
KwaZulu-Natal, wurde im August 2000 abgeschlossen, es wurde jedoch erst
im Mai 2002 eröffnet. Der Grund fĂŒr die Verzögerung war ironischerweise
der Wettbewerb um Wasser zwischen dem GefÀngnis und einer neuen,
preisgĂŒnstigen Wohnsiedlung. Ich hebe SĂŒdafrikas BefĂŒrwortung der
Supermax-GefÀngnis hervor, weil es offensichtlich so einfach ist, diese
repressivste Version des US-GefÀngnisses in einem Land zu etabliert, das
erst vor kurzem mit dem Aufbau einer demokratischen , nicht
rassistischen und nicht sexistischen Gesellschaft begonnen hat.
SĂŒdafrika war das erste Land der Welt, das die Rechte von Homosexuellen
in der Verfassung verankert und die Todesstrafe nach der Abschaffung der
Apartheid sofort aufhob. Dennoch wird das sĂŒdafrikanische
GefÀngnissystem nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten immer
repressiver. Das US-amerikanische private GefÀngnis Unternehmen
Wackenhut hat mehrere VertrĂ€ge mit der sĂŒdafrikanischen Regierung
geschlossen und durch den Bau privater GefÀngnisse den Trend zur
Privatisierung insgesamt weiter verstÀrkt (was sich auf die
VerfĂŒgbarkeit grundlegender Dienstleistungen von der Energieversorgung
bis zur Bildung auswirkt). Die Beteiligung SĂŒdafrikas am industriellen
GefĂ€ngniskomplex stellt ein groĂes Hindernis fĂŒr die Schaffung einer
demokratischen Gesellschaft dar. In den Vereinigten Staaten haben wir
bereits die heimtĂŒckischen und sozial schĂ€dlichen Auswirkungen der
Ausweitung der GefĂ€ngnisse zu spĂŒren bekommen. Die vorherrschende
gesellschaftliche Erwartung ist, dass junge schwarze,
lateinamerikanische, native-american und sĂŒdostasiatische MĂ€nner und
zunehmend auch Frauen auf ânatĂŒrlicheâ Weise aus der freien Welt ins
GefÀngnis kommen, wo sie, so wird angenommen, hingehören. Trotz der
groĂen Bedeutung der antirassistischen sozialen Bewegungen im letzten
halben Jahrhundert versteckt sich der Rassismus in den institutionellen
Strukturen, und sein zuverlÀssigster Zufluchtsort ist das
GefĂ€ngniswesen. Die rassistisch motivierten Verhaftungen einer groĂen
Zahl von Einwanderern aus dem Nahen Osten nach den AnschlÀgen vom 11.
September 2001 und die anschlieĂende ZurĂŒckhaltung von Informationen
ĂŒber die Namen und die Anzahl der Menschen, die in den Haftanstalten der
INS festgehalten werden (von denen einige im Besitz privater Unternehmen
sind und von diesen betrieben werden) lassen keine demokratische Zukunft
erwarten. Die unbestrittene Inhaftierung einer wachsenden Zahl von
Einwanderern ohne Papiere aus dem globalen SĂŒden wurde von Strukturen
und Ideologien vereinfacht , die mit dem industriellen GefÀngniskomplex
verbunden sind. Wir können uns im einundzwanzigsten Jahrhundert kaum in
Richtung Gerechtigkeit und Gleichheit bewegen, wenn wir nicht bereit
sind, die enorme Rolle anzuerkennen, die Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit bei der Ausweitung dieses Systems gespielt hat. Die
radikale Opposition gegen den globalen industriellen GefÀngniskomplex
sieht die Anti-GefÀngnis-Bewegung als ein wichtiges Mittel zur
Erweiterung des Terrains, auf dem sich das Streben nach Demokratie
entfalten wird. Diese Bewegung ist also antirassistisch,
antikapitalistisch, antisexistisch und antihomophob. Sie fordert die
Abschaffung des GefÀngnisses als vorherrschende Form der Bestrafung,
erkennt aber gleichzeitig die Notwendigkeit echter SolidaritÀt mit den
Millionen von MĂ€nnern, Frauen und Kindern, die hinter Gittern sitzen.
Eine groĂe Herausforderung dieser Bewegung ist es, die Arbeit zu
leisten, die zu einer humaneren, lebenswerteren Umgebung fĂŒr
menschenwĂŒrdige Lebensbedingungen fĂŒr Menschen im GefĂ€ngnis zu schaffen,
ohne die Dauerhaftigkeit des GefÀngnissystems zu stÀrken. Wie also
schaffen wir den Spagat, uns leidenschaftlich fĂŒr die BedĂŒrfnisse der
Gefangenen einzusetzen und weniger Gewalt, ein Ende der staatlichen
sexuellen Ăbergriffe, eine bessere physische und psychische
Gesundheitsversorgung, besseren Zugang zu Drogenprogrammen, bessere
Bildungsmöglichkeiten, gewerkschaftliche Organisierung der
GefĂ€ngnisarbeit, mehr Verbindungen zu Familien und Gemeinden, kĂŒrzere
oder alternative Haftstrafen und fordern gleichzeitig Alternativen zum
Strafvollzug insgesamt, keinen weiteren GefÀngnisbau und
abolitionistische Strategien, die den Platz des GefÀngnisses in unserer
Zukunft in Frage stellen?
Vergessen Sie die Reform, es ist an der Zeit, ĂŒber die Abschaffung der
GefÀngnisse in der amerikanischen Gesellschaft zu sprechen. Dennoch -
Abschaffung? Wo sollen die Gefangenen hin? Die âKriminellenâ? Was ist
die Alternative? Erstens, ĂŒberhaupt keine Alternative zu haben, wĂŒrde
weniger KriminalitÀt erzeugen als es die derzeitigen Ausbildungszentren
fĂŒr Kriminelle tun. Zweitens besteht die einzige vollstĂ€ndige
Alternative darin, eine Gesellschaft aufzubauen, die keine GefÀngnisse
braucht: anstÀndige Umverteilung von Macht und Einkommen, um das
versteckte Feuer des brennenden Neides zu löschen, das sich heute in
Eigentumsdelikten entlĂ€dt - sowohl in EinbrĂŒchen durch die Armen als
auch in Veruntreuungen durch die Wohlhabenden. Und ein anstÀndiges
GemeinschaftsgefĂŒhl, das diejenigen unterstĂŒtzen, wieder eingliedern und
wirklich rehabilitieren kann, die plötzlich von Wut oder Verzweiflung
erfĂŒllt sind. Und ihnen nicht als Objekte - âKriminelleâ -
gegenĂŒbertreten, sondern als Menschen, die illegale Handlungen begangen
haben, wie fast alle von uns. -Arthur Waskow, Institut fĂŒr politische
Studien
Wenn GefÀngnisse und Haftanstalten abgeschafft werden, was soll dann an
ihre Stelle treten? Dies ist die verwirrende Frage die weitere
Ăberlegungen zur Abschaffung hĂ€ufig unterbricht. Warum sollte es so
schwierig sein, sich Alternativen zu unserem derzeitigen System der
Inhaftierung vorzustellen? Es gibt eine Reihe von GrĂŒnden, warum wir vor
der Vorstellung zurĂŒckschrecken, dass es möglich sein könnte, ein völlig
anderes anderes - und vielleicht egalitÀreres - Justizsystem zu
schaffen. Erstens betrachten wir das gegenwÀrtige System mit seiner
ĂŒbertriebenen AbhĂ€ngigkeit von Haftstrafen als unbedingten Standard und
können uns daher nur schwer einen anderen Umgang mit den mehr als zwei
Millionen Menschen vorstellen die derzeit in den GefÀngnissen,
Jugendstrafanstalten und EinwanderungsgefÀngnissen des Landes
festgehalten werden. Ironischerweise stĂŒtzt sich sogar die
Anti-Todesstrafen-Kampagne auf die Annahme, dass eine lebenslange
Freiheitsstrafe die vernĂŒnftigste Alternative zur Todesstrafe ist. So
wichtig die Abschaffung der Todesstrafe auch sein mag, sollten wir uns
darĂŒber im Klaren sein, dass die gegenwĂ€rtige Kampagne gegen die
Todesstrafe die Tendenz hat, genau die historischen Muster zu
wiederholen, die zur Entstehung des GefÀngnisses als vorherrschende Form
der Bestrafung gefĂŒhrt haben. Die Todesstrafe hat mit dem GefĂ€ngnis
koexistiert, obwohl die Inhaftierung als Alternative zur körperlichen
Bestrafung und zur Todesstrafe dienen sollte . Eine kritische
Auseinandersetzung mit dieser ZwiespĂ€ltigkeit wĂŒrde bedeuten, das Ziel
der Abschaffung der Todesstrafe mit Strategien zur Abschaffung der
GefÀngnisse zu verbinden. Wenn wir uns kurzsichtig auf das existierende
System fokussieren, fĂŒhrt dies zu der Annahme dass Inhaftierung die
einzige Alternative zur Todesstrafe sei -und genau das ist das Problem.
Es ist sehr schwer, sich ein strukturell Àhnliches System vorzustellen,
das in der Lage ist, mit einer so groĂen Zahl von Gesetzesbrechern
umzugehen. Wenn wir jedoch unsere Aufmerksamkeit vom GefÀngnis, das als
isolierte Institution wahrgenommen wird, auf das Beziehungsgeflecht
lenken, das den industriellen GefÀngniskomplex ausmacht, ist es
vielleicht einfacher, ĂŒber Alternativen nachzudenken. Mit anderen
Worten, ein komplizierterer Rahmen kann mehr Optionen bieten, als wenn
wir einfach versuchen, einen einzigen Ersatz fĂŒr das GefĂ€ngnissystem zu
finden. Der erste Schritt bestĂŒnde also darin den Wunsch loszulassen,
ein einziges alternatives Strafsystem zu finden, das ebenso viele
Aspekte abdeckt wie das GefÀngnissystem.
Seit den 1980er Jahren hat sich das GefÀngnissystem zunehmend in das
wirtschaftliche, politische und ideologische Leben der Vereinigten
Staaten eingebettet, sowie in den transnationalen Handel mit US-Waren,
Kultur und Ideen. Der industrielle GefÀngniskomplex ist also viel mehr
als die Summe aller GefÀngnisse in diesem Land. Es handelt sich um eine
Reihe von symbiotischen Beziehungen zwischen Strafvollzugsorganen,
transnationalen Unternehmen, Medienkonglomeraten, Gewerkschaften des
Wachpersonals sowie Gesetzgebung und Tagesordnungspunkten vor Gericht.
Wenn es stimmt, dass die zeitgenössische Bedeutung von Strafe durch
diese Beziehungen geprÀgt ist, dann werden die effektivsten
Abschaffungsstrategien diese Beziehungen anfechten und Alternativen
vorschlagen mĂŒssen. Was wĂŒrde es also bedeuten, sich ein System
vorzustellen, in dem Strafe nicht zur Quelle von Unternehmensgewinnen
werden darf? Wie können wir uns eine Gesellschaft vorstellen, in der
rassistische und klassistische Zuschreibungen keine primÀren
Bestimmungsfaktoren fĂŒr die Bestrafung sind? Oder eine, in der Strafe
selbst nicht mehr das zentrale Anliegen bei der Herstellung von
Gerechtigkeit ist? Ein abolitionistischer Ansatz, der Antworten auf
Fragen wie diese sucht, wĂŒrde von uns verlangen, dass wir uns eine
Zusammenstellung von alternativen Strategien und Institutionen
vorstellen, mit dem Ziel, dass das GefÀngnis aus der sozialen und
ideologischen Landschaft unserer Gesellschaft zu entfernen. Mit anderen
Worten, wir wĂŒrden nicht nach gefĂ€ngnisĂ€hnlichen Ersatzformen fĂŒr das
GefÀngnis suchen, wie etwa Hausarrest oder durch elektronische
ĂberwachungsarmbĂ€nder. Vielmehr wĂŒrden wir, indem wir die Freilassung
als unsere ĂŒbergreifende Strategie aufstellen und versuchen, ein
Kontinuum von Alternativen zur Inhaftierung zu schaffen: Die
Entmilitarisierung der Schulen, die Wiederbelebung des Bildungswesens
auf allen Ebenen, ein Gesundheitssystem, das kostenlose körperliche und
psychologische Versorgung und ein Justizsystem, das auf Wiedergutmachung
und Versöhnung und nicht auf Vergeltung und Rache beruht. Die Schaffung
neuer Einrichtungen, die den Raum ĂŒbernehmen, den das GefĂ€ngnis jetzt
einnimmt, kann das GefÀngnis verdrÀngen, so dass es einen immer
kleineren Teil unserer sozialen und psychischen Landschaft besetzt.
Schulen können daher als die stÀrkste Alternative zu GefÀngnissen und
Haftanstalten gesehen werden. Wenn die derzeitigen Gewaltstrukturen in
den Schulen in verarmten Gemeinden of Color- einschlieĂlich der
Anwesenheit von bewaffnetem Sicherheitspersonal und Polizei - beseitigt
werden und wenn die Schulen zu Orten werden, die die Freude am Lernen
fördern, werden diese Schulen nicht weiterhin die Haupttransportwege zu
den GefÀngnissen sein. Im Bereich des Gesundheitswesens ist es wichtig,
auf die derzeitige Knappheit an Einrichtungen fĂŒr arme Menschen, die an
schweren psychischen und emotionalen Krankheiten leiden. Es gibt derzeit
mehr Menschen mit psychischen und emotionalen Störungen in GefÀngnissen
als in psychiatrischen Einrichtungen. Diese Forderung nach neuen
Einrichtungen zur UnterstĂŒtzung armer Menschen sollte nicht als Aufruf
zur Ausweitung des alten Systems der psychiatrischen Anstalten
verstanden werden, die in vielen FĂ€llen ebenso repressiv waren und sind
wie die GefÀngnisse. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass
die rassistischen und klassistischen Unterschiede in der Betreuung
zwischen den Wohlhabenden und den Benachteiligten beseitigt werden
mĂŒssen, wodurch ein weiteres Mittel zur Befreiung entstĂŒnde. Um es noch
einmal zu betonen: Anstatt zu versuchen, sich eine einzige Alternative
zum bestehenden System der Ungleichbehandlung vorzustellen, sondern eine
Reihe von Alternativen, die radikale Umgestaltungen vieler Aspekte
unserer Gesellschaft erfordern. Alternativen, die nicht gegen Rassismus,
mÀnnlicher Dominanz, Homophobie, Klassenunterschiedenund andere
Herrschaftsstrukturen kÀmpfen, werden letztlich nicht zur Abschaffung
der Haft fĂŒhren und das Ziel der Abschaffung von KnĂ€sten nicht
voranbringen. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, die
Entkriminalisierung des Drogenkonsums als eine der wichtigsten
Strategien zu betrachten, um gleichzeitig gegen die Strukturen des
Rassismus im Strafrechtssystems zu kÀmpfen und die
abschaffungsorientierte Agenda der Haftentlassung voranzutreiben. Mit
Blick auf die Rolle, die der so genannte Krieg gegen die Drogen dabei
spielt, eine groĂe Zahl von People of Color in das GefĂ€ngnissystem zu
bringen, sollte die Entkriminalisierung des Drogenkonsums mit der
Entwickung kostenloser, gemeindebasierter Programme verknĂŒpft werden,
die fĂŒr alle Menschen zugĂ€nglich sind, die ihre Drogenprobleme in den
Griff bekommen wollen. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle
Menschen die Drogen konsumieren - oder dass nur Menschen, die illegale
Drogen konsumieren, diese Hilfe in Anspruch nehmen werden. Jedoch sollte
jeder, unabhÀngig vom wirtschaftlichen Status, der seine Drogensucht
besiegen will, die Möglichkeit haben, an Behandlungs-Programmen
teilnehmen können. Solche Einrichtungen gibt es in der Tat in
wohlhabenden Gemeinden. Das bekannteste Beispiel ist das âBetty
Fordâ-Programm, das laut seiner Website âvon Alkohol und anderen
stimmungsverĂ€ndernden Chemikalien abhĂ€ngige Patienten aufnimmtâ. Die
Behandlungsangebote stehen allen MĂ€nnern und Frauen ab achtzehn Jahren
offen- unabhÀngig von Hautfarbe, Glaube, Geschlecht, nationaler
Herkunft, Religion oder Finanzierungsquellen. Die Kosten fĂŒr die ersten
sechs Tage betragen jedoch 1.175$ pro Tag, danach 525$ pro Tag. Wenn
eine Person dreiĂig Tage lang behandelt werden muss, belaufen sich die
Kosten auf 19.000 Dollar, fast das Doppelte des Jahresgehalt einer
Person mit einem Mindestlohnjob. Arme Menschen verdienen es, dass sie
Zugang zu wirksamen, freiwilligen Drogenbehandlungsprogrammen haben. Wie
das Betty-Ford-Programm, sollten diese dabei nicht unter der
Schirmherrschaft des Strafrechtssystems stehen. Wie im Ford Center
sollten auch Familienangehörige teilnehmen dĂŒrfen. Aber im Gegensatz zu
dem Betty-Ford-Programm sollten sie jedoch kostenlos sein. Damit solche
Programme als âabschaffungsorrientierte Alternativenâ gelten, wĂ€ren
sie - anders als die bestehenden Programme, zu denen die Betroffenen
âverurteiltâ werden - nicht mit einer Inhaftierung als letztes
Druckmittel verbunden. Die Kampagne zur Entkriminalisierung des
Drogenkonsums - von Marihuana bis Heroin - ist international angelegt
und hat LĂ€nder wie die Niederlande dazu gebracht, ihre Gesetze zu
ĂŒberarbeiten und den persönlichen Gebrauch von Drogen wie Marihuana und
Haschisch zu legalisieren. In den Niederlanden ist auch die Sexarbeit
legalisiert worden, ein weiterer Bereich, in dem es umfangreiche
Kampagnen fĂŒr die Entkriminalisierung gab. In den FĂ€llen von Drogen und
Sexarbeit wĂŒrde die Entkriminalisierung einfach die Aufhebung all jener
Gesetze erfordern, die Personen die Drogen konsumieren und in der
Sexindustrie arbeiten bedrohen. Die Entkriminalisierung des
Alkoholkonsums dient als historisches Beispiel. In diesen beiden FĂ€llen
wĂŒrde die Entkriminalisierung die konsequente Verringerung der Zahl der
Menschen, die ins GefÀngnis kommen bedeuten. Eine weitere
Herausforderung fĂŒr Abolitionisten besteht darin, andere Gesetze zu
identifizieren, die (als Vorstufe zur Abschaffung) angemessen
entkriminalisiert werden könnten. Ein offensichtlicher und sehr
dringender Aspekt der Entkriminalisierungsarbeit steht im Zusammenhang
mit der Verteidigung der Rechte von Einwanderern. Die wachsende Zahl von
Einwanderern - vor allem seit den AnschlÀgen am 1. September 2001 -, die
in Haftanstalten fĂŒr Einwanderer sowie GefĂ€ngnissen inhaftiert sind,
kann gestoppt werden, indem die Verfahren abgebaut werden, die Menschen
dafĂŒr bestrafen, dass sie ohne Papiere in dieses Land eingereist sind.
Aktuelle Kampagnen, die die Entkriminalisierung von undokumentierten
Einwanderern fordern, leisten einen wichtigen Beitrag zum allgemeinen
Kampf gegen den industriellen GefÀngniskomplex und bekÀmpfen die
weitreichenden Auswirkungen von Rassismus und mÀnnlicher Dominanz. Wenn
Frauen aus sĂŒdlichen LĂ€ndern hierher fliehen um sexualisierter Gewalt zu
entfliehen und dann eingesperrt werden, anstatt einen gesicherten
Aufenthaltsstatus zu erhalten, dann verstÀrkt dies die ideologische und
juristische Tendenz Menschen zu bestrafen, die massive Gewalt durch ihr
Umfeld erlitten haben. In den Vereinigten Staaten wird mit dem âbattered
womenâs syndromeâ versucht vor Gericht zu argumentieren, dass eine Frau,
die ihren misshandelnden Ehepartner tötet, nicht wegen Mordes verurteilt
werden sollte. Diese Verteidigung wurde sowohl von den Gegnern als auch
von den BefĂŒrwortern des Feminismus scharf kritisiert. Erstere wollen
die AllgegenwÀrtigkeit und die Gefahren von Gewalt gegen Frauen im
familiÀren/partnerschaftlichen Bereich nicht anerkennen. Die Letzteren
kritisieren, dass die LegitimitÀt dieser Verteidigung auf der Behauptung
beruht, dass diejenigen, die ihre SchlĂ€ger töten, nicht fĂŒr ihre
Handlung verantwortlich sind. Der Punkt, den feministische Bewegungen -
unabhĂ€ngig von ihren spezifischen Positionen zum âSyndrom der
misshandelten Frauenâ - versuchen zu vermitteln, ist dass Gewalt gegen
Frauen ein allgegenwÀrtiges und kompliziertes soziales Problem ist, das
nicht dadurch gelöst werden kann, dass man Frauen, die sich gegen ihre
Peiniger wehren, inhaftiert. Daher gibt es eine breite Palette
alternativer Strategien zur BekÀmpfung von Gewalt gegen Frauen - in
intimen Beziehungen und in Beziehungen zum Staat - die im Mittelpunkt
unseres Interesses stehen sollten. Alternativen, wie Programme fĂŒr
Arbeit und existenzsichernde Löhne, Wiederbelebung von UnterstĂŒtzungs-/
Anlaufstellen, gemeindebasierte Freizeitgestaltung und vieles mehr -
sind sowohl direkt als auch indirekt mit dem bestehenden System der
Strafjustiz verbunden. Doch wie vermittelnd ihre Beziehung zum
derzeitigen System der GefÀngnisse und Haftanstalten sein mag, versuchen
diese Alternativen, die Auswirkungen des industriellen
GefÀngniskomplexes auf unsere Welt abzuwenden. Da sie Rassismus und
andere Netzwerke sozialer Herrschaft anfechten, wird ihre Umsetzung
sicherlich die abschaffungsorientierte Anti-Knast Arbeit voranbringen.
Die Erstellung von PlÀnen zur Entlassung aus dem Strafvollzug und die
Ausweitung des Netzes von Alternativen hilft uns dabei, die gedankliche
Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe aufzulösen. Dieses
differenzierte VerstÀndnis der sozialen Rolle des Strafsystems
erfordert, dass wir unsere ĂŒbliche Denkweise ĂŒber Strafe als
unvermeidliche Folge von Verbrechen aufzugeben. Wir wĂŒrden erkennen,
dass âStrafeâ nicht in der sauberen und logischen Abfolge dem
âVerbrechenâ folgt. Diskurse, die auf der Gerechtigkeit der Inhaftierung
beharren, sind mit der Agenda von Politikern, dem Profitstreben von
Unternehmen und der Darstellung von KriminalitÀt in den Medien
verbunden. Die Inhaftierung ist verbunden mit der mit der Rassifizierung
derjenigen, die am ehesten bestraft werden können. Sie wird mit ihrer
Klasse in Verbindung gebracht und, wie wir gesehen haben, strukturiert
auch das Geschlecht das Bestrafungssystem. Wenn wir darauf bestehen,
dass abschaffungsorientierte Alternativen diese Verbindungen angreifen,
dass sie danach streben, Verbrechen und Strafe, Rassismus und Strafe,
Klasse und Strafe zu entkoppeln, dann darf unser Fokus nicht nur auf dem
GefÀngnissystem als isolierte Institution liegen, sondern auch auf allen
sozialen Beziehungen, die die Dauerhaftigkeit des GefÀngnisses
unterstĂŒtzen. Ein Versuch, ein neues konzeptionelles Terrain fĂŒr die
Vorstellung von Alternativen zur Inhaftierung zu schaffen beinhaltet die
ideologische Arbeit, zu hinterfragen, warum âKriminelleâ als eine Klasse
konstituiert wurden, die die BĂŒrger- und Menschenrechte, die anderen
zugestanden werden, nicht verdienen. Radikale Kriminologen weisen seit
langem darauf hin, dass die Kategorie âGesetzesbrecherâ weitaus gröĂer
ist , als die Kategorie der Individuen, die als Kriminelle gelten, da,
wie viele betonen, fast alle von uns das eine oder andere Mal gegen das
Gesetz verstoĂen haben. Selbst PrĂ€sident Bill Clinton gab zu, dass er
Marihuana geraucht hat, betonte aber, dass er es nicht inhaliert habe.
Allerdings sind anerkannte Ungleichheiten in der IntensitÀt der
polizeilichen Ăberwachung - wie die heutige Verbreitung des Begriffs
âRacial Profilingâ zeigt, zum Teil fĂŒr rassistische und klassistische
Unterschiede bei den Verhaftungs- und Inhaftierungsraten verantwortlich.
Wenn wir bereit sind, die Folgen eines rassistischen und
klassenorientierten Justizsystems ernst zu nehmen, werden wir zu dem
Schluss kommen, dass eine enorme Anzahl von Menschen im GefÀngnis sitzt,
nur weil sie z. B. Schwarz, Chicano, Vietnamese, Indigene oder arm sind,
unabhÀngig von ihrem ethnischen Hintergrund, sind. Sie werden ins
GefÀngnis geschickt, nicht so sehr wegen der Verbrechen, die sie
vielleicht begangen haben, sondern vor allem, weil ihre Gemeinschaften
kriminalisiert wurden. Deshalb mĂŒssen Programme zur Entkriminalisierung
nicht nur auf spezifische AktivitÀten abzielen, die kriminalisiert
wurden - wie Drogenkonsum und Sexarbeit -, sondern auch auf
kriminalisierte Bevölkerungsgruppen und Gemeinschaften. Vor dem
Hintergrund dieser breiter angelegten abschaffungsorrientierten
Alternativen macht es Sinn, die Frage nach radikalen VerÀnderungen
innerhalb des bestehenden Justizsystems aufzugreifen. Neben der
Minimierung der Verhaltensweisen, die Menschen in Kontakt mit Polizei
und Justiz bringen, stellt sich die Frage, wie diejenigen zu behandeln
sind, die die Rechte und den Körper anderer verletzen. Viele
Organisationen und Einzelpersonen sowohl in den Vereinigten Staaten und
in anderen LĂ€ndern bieten alternative Formen der Rechtsfindung an. In
seltenen FĂ€llen, haben einige Regierungen versucht, Alternativen
einzufĂŒhren, die von Konfliktlösung bis hin zu wiederherstellender oder
wiedergutmachender Gerechtigkeit. Gelehrte wie Herman Bianchi haben
vorgeschlagen, dass Verbrechen im Sinne des Deliktsrechts definiert
werden muss und anstelle des Strafrechts ein Wiedergutmachungsrecht
gelten sollte. â[Der Rechtsbrecher] ist also nicht lĂ€nger ein
böswilliger Mann oder eine böse Frau, sondern einfach ein Schuldner,
eine haftende Person, deren menschliche Pflicht es ist, die
Verantwortung fĂŒr ihre Taten zu ĂŒbernehmen und die Pflicht zur
Wiedergutmachung hatâ.
Es gibt immer mehr Literatur ĂŒber die Neugestaltung von Rechtssystemen
mit Strategien der Wiedergutmachung anstelle von Vergeltung sowie eine
wachsende Zahl von Erfahrungsberichten ĂŒber die Vorteile dieser AnsĂ€tze
fĂŒr die Justiz und die demokratischen Möglichkeiten, die sie
versprechen. Anstatt die zahlreichen Debatten der letzten Jahrzehnte zu
wiederholen - einschlieĂlich der Frage: âWas geschieht mit den Mördern
und Vergewaltigern?â - werde ich mit der Geschichte eines der
dramatischsten Erfolge dieser Versöhnungsversuche abschlieĂen. Ich
beziehe mich auf den Fall von Amy Biehl, der weiĂen
Fulbright-Stipendiatin aus Newport Beach, Kalifornien, die von jungen
sĂŒdafrikanischen MĂ€nnern in Guguletu, einem schwarzen Township in
Kapstadt, SĂŒdafrika, getötet wurde. Im Jahr 1993, als SĂŒdafrika an der
Schwelle zum Umbruch stand, widmete Amy Biehl als Auslandsstudentin
einen betrĂ€chtlichen Teil ihrer Zeit dem Wiederaufbau SĂŒdafrikas. Nelson
Mandela war 1990 freigelassen worden, aber noch nicht zum PrÀsidenten
gewÀhlt worden. Am 25. August fuhr Biehl mehrere schwarze Freunde zu
ihrem Haus in Guguletu, als sie von einer Menschenmenge, die anti-weiĂe
SprĂŒche rief konfrontiert wurde. Einige von ihnen steinigten sie und
stachen auf sie ein. Vier der MĂ€nner, die an dem Angriff beteiligt
waren, wurden des Mordes an ihr ĂŒberfĂŒhrt und zu achtzehn Jahren
GefÀngnis verurteilt. 1997 beschlossen Linda und Peter Biehl - Amys
Mutter und Vater -, die Amnestie-Petition zu unterstĂŒtzen, den die
MÀnner bei der Wahrheits- und Versöhnungskommission eingereicht hatten.
Die vier entschuldigten sich bei den Biehls und wurden im Juli 1998
freigelassen. Zwei von ihnen - Easy Nofemela und Ntobeko Peni - trafen
sich spÀter mit den Biehls, die sich trotz gegenteiligen Drucks bereit
erklÀrten, sie zu empfangen. Nach Angaben von Nofemela zufolge wollte er
mehr ĂŒber sein eigenes Bedauern ĂŒber den Mord an ihrer Tochter sagen,
als es wÀhrend der Wahrheits- und Versöhnungsanhörungen möglich gewesen
wĂ€re. âIch weiĂ, dass ihr einen Menschen verloren habt, den ihr liebtâ,
habe er ihnen bei diesem Treffen gesagt. âIch möchte, dass ihr mir
vergebt und mich als euer Kind annehmt.âDie Biehls, die nach dem Tod
ihrer Tochter die Amy Biehl Foundation gegrĂŒndet hatten baten Nofemela
und Peni, in der Guguletu-Zweigstelle der Stiftung zu arbeiten. Nofemela
wurde Ausbilder in einem auĂerschulischen Sportprogramm und Peni
Verwaltungsangestellter. Im Juni 2002, begleiteten sie Linda Biehl nach
New York, wo sie vor der American Family Therapy Academy ĂŒber Versöhnung
und wiederherstellende Gerechtigkeit sprachen. In einem Interview mit
dem Boston Globe sagte Linda auf die Frage, wie sie heute zu den MĂ€nnern
stehe, die ihre Tochter getötet haben: âIch habe viel Liebe fĂŒr sie.â
Nach dem Tod von Peter Biehl im Jahr 2002 kaufte sie zwei GrundstĂŒcke
fĂŒr die beiden in Gedenken an ihren Mann , damit Nofemela und Peni ihr
eigenes Haus bauen können. Ein paar Tage nach den AnschlÀgen vom 1.
September waren die Biehls gebeten worden, in einer Synagoge ihrer
Gemeinde zu sprechen. Peter Biehl: âWir haben versucht zu erklĂ€ren, dass
es sich manchmal lohnt, die Klappe zu halten und zuzuhören was andere
Menschen zu sagen haben, zu fragen: âWarum geschehen diese schrecklichen
Dinge?â anstatt einfach nur zu reagieren.â