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Title: Animius Author: Roger Roman Raetz Date: 2012 Language: de Topics: Anarchism, Meditation, Pacifism, Revolution Source: Roger Raetz
Roger Roman Raetz
Animius, der Affe Zarathustras
Inhalt:
1. Teil: Erwachen.....................................................5
1.Flucht.....................................................6
2.Angst......................................................18
3.Liebe......................................................25
4.Aufbruch...................................................31
2.Teil:Wanderschaft..........................................36
Vorworte des
Verfassers...................................................37
Dokument des Francisco
F.Fristón....................................................38
1.Kapitel....................................................42 Liebe
und Angst........................................................42
2.Kapitel....................................................50 Über das
Menschentier.................................................51
3.Kapitel....................................................54 An die
Knechte......................................................54
4.Kapitel....................................................57 Vom
Schicksal....................................................57 Über
Krieg und
Kriegsknechte................................................63
Einschub des
Verfassers...................................................69 An die
Angst........................................................69 Traum
des Animius......................................................71
5.Kapitel....................................................74 Über die
Knechtmacher.................................................75 Über die
Sicherheit...................................................76 Von der
Freiheit.....................................................78 Rede des
Franz von
Feigenpelz...................................................81 Über die
Freiheit im
Handeln......................................................85 Über den
Umsturz......................................................87 Über
Besitz und
Gebrauch.....................................................89
6.Kapitel....................................................91 An die
Ohn-Mächtigen................................................94 Über das
falsche Fenster......................................................96
Über die Prediger der
Angst........................................................98
Ende des Dokumentes des
Fristón......................................................102 Über
Bart und
Krawatte.....................................................103
Animius' Traum von
Zarathustra..................................................112 Von
Anarchie und
Hierarchie...................................................116 An die
Magie........................................................119 Über
die Sprache und die schwarzen
Männer.......................................................120 An die
Jünger des
Dionysos.....................................................123 Über
das Imperium.....................................................125
3. Teil: Der
Anfang.......................................................129
1. Kapitel:
Hochzeit.....................................................131 2.
Kapitel:
Abschied.....................................................149 3.
Kapitel: Auf eigenen
Beinen.......................................................153
Anhang.......................................................160
1. Teil: Erwachen
A coward is incapable of exhibiting love; it is the prerogative of the
brave.
Mahatma Gandhi
1. Flucht
Als Animius dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See
seiner Heimat und ging in die Wildnis. Er machte sich auf die Flucht vor
der Welt, wie er sie kannte, und hatte nicht vor, jemals zurückzukehren.
Die Welt, in der er lebte, war für Animius ein böser Traum und seine
Flucht war nur eine Fortsetzung der dauerhaften Flucht, die diesen
Alptraum bestimmt hatte. Von einem Tag war er in den nächsten
geflüchtet, immer mit einem Gefühl der Scham und Ohnmacht erwachend, das
sich durch die Nacht und den Rausch gerettet hatte. Nichts in diesem
Leben schien ihm richtig, nichts wahr, nichts der Mühe wert. Eine
Karriere als Sklave oder Diener konnte ihn nicht locken und welche
Möglichkeiten blieben ihm sonst in dieser Welt? Selbst den Wunsch, ein
großer Trinker zu werden, hatte er aufgegeben, denn der Alkohol erschien
ihm mehr und mehr als das schlimmste und hinterhältigste aller
Unterdrückungs- und Herrschaftsmittel. Und obwohl er die Welt verachtete
und in sich fühlte, dass alles in ihr verkehrt war, hatte er die längste
Zeit einen Ausweg gar nicht gesucht, denn er war sehr beschäftigt damit
gewesen, die Welt zu beobachten und zu verachten. Dies tat er
leidenschaftlich und ohne Gnade oder Rücksicht. Hätte sich jemand
gefunden, der ihn dafür bezahlte, der Welt all ihre Fehler und Schwächen
und Ungerechtigkeiten vorzuhalten, er hätte sich dann doch dazu
herabgelassen, ein Knecht zu werden und noch Überstunden gemacht. Eine
solche Anstellung aber ließ sich nicht finden und er suchte auch nicht
danach. Animius suchte überhaupt nicht mehr viel, er versteckte sich
vielmehr, teils aus berechtigtem Ekel, teils aus uneingestandener Angst.
Er selbst sagte viel später einmal zu mir: 'Das Leben ist wie ein
Versteckspiel, die Vielen verstecken sich, die Wenigen suchen.' Damals
aber gehörte er zu den Vielen, die sich verstecken und wenn er auch
nicht zugegeben hätte, dass er sich vor der Welt versteckte, noch
weniger hätte er zugegeben, dass er sich vor sich selbst versteckte.
Aber entweder man versteckt sich vor sich selbst, oder man sucht sich
selbst. Und sich selbst zu suchen, war ihm noch nie in den Sinn gekommen
und so hatte er sich gründlich vor sich selbst versteckt und auch
maskiert hatte er sich, um sich nicht zu erkennen. Seine Maske war ein
hartes Gesicht mit stechenden grauen Augen und einem spöttischen
schrägen Lächeln, das ihm die meisten Menschen vom Leib hielt. Und auch
seine Kleidung war Verkleidung, schwarz, schwer und undurchdringlich.
Düstere Gedanken bestimmten seine Tage und Nächte, seine Stimmung
schwankte hin und her und meist wusste er nicht, warum? Einen Tag war er
in guter Stimmung, dann versank er wieder in Unmut, Hass oder
Gleichgültigkeit und wer ihm begegnete, lief Gefahr, Opfer seiner
jeweiligen Laune zu werden. Unter diesen Stimmungsschwankungen hatten
auch seine Beziehungen zu Frauen gelitten, aber so wie er es sah, litt
hauptsächlich er unter den Frauen und ihren Versuchen, ihn zu einem
Leben zu überreden, das er nicht mehr wollte und in Wahrheit nie gewollt
hatte. Dieses Leben bestand für ihn aus Knechtschaft, der man nicht
wieder entkommen konnte, hatte man sich einmal auf die Gründung einer
Familie eingelassen. Alleine und ungebunden schien es ihm jedenfalls
einfacher, sich etwas Freiheit zu erhalten, in einer Welt der
Knechtschaft. Ohnehin waren Frauen ihm verdächtig und die Täuschung
schien ihm ihre Hauptaufgabe. Sie täuschen ein anderes Aussehen vor,
andere Interessen, anderen Geschmack – was auch immer ihnen nötig
erscheint, um ihr Ziel zu erreichen. Und dieses Ziel war in seinen
Augen, ihn zu ergattern, zu bändigen und auszusaugen. Was das Geistige
angeht, hatte er Frauen nie ernst genommen und machte sich gerne lustig
über ihre mangelnde Kreativität, vor allem auf dem Gebiet des Denkens.
Oft sagte er und nicht nur unter Männern: 'Die Kreativität des Weibes
erschöpft sich in der Lüge.' Oder er zitierte einen der vielen großen
Denker, die seine Verachtung dem weiblichen Wesen gegenüber teilten.
Angezogen fühlte er sich aber dennoch von den Frauen und gefiel sich
auch nicht wenig darin, ihnen mit seiner Verachtung für die Welt zu
imponieren, wie er meinte. Wirklich lieben konnte er sie nicht, aber
geliebt werden wollte er doch und zwar möglichst von allen Frauen, das
wurde ihm allerdings erst viel später klar. Dass seine Flucht in die
Wildnis überhaupt möglich war, verdankte er aber eben auch seiner
Einstellung Frauen gegenüber und dem Umstand, dass er nicht an
herkömmliche Modelle des Umgangs der Geschlechter miteinander glaubte.
Irgendwann ging er keine Beziehungen mehr ein und erklärte jeder Frau,
die es wissen wollte oder auch nicht, dass er kein Objekt sei, das man
besitzen könne, und wenn er sich auch mit ihr träfe, das keinesfalls
bedeute, dass sie auch nur das Recht hatte, ihn zu fragen, was er tat,
wenn sie nicht dabei war. So war er kinderlos geblieben und ungebunden,
zwei wichtige Voraussetzungen, ohne die er den Sprung aus seinem
Alptraum vielleicht nicht geschafft hätte. Er brauchte die Frauen zwar
und sei es nur, um seine mangelnde Selbstliebe zu stärken, insgesamt
dominierte aber seine Verachtung und seine Flucht war in seinem Kopf
auch eine Flucht vor den Frauen, die er in seinem Bewusstsein in der
gleichen Ecke untergebracht hatte wie Vampire, Schlangen,
Schlingpflanzen und Sirenen - sowohl mythologische Sirenen als auch
moderne. Er musste aber auch eingestehen, dass die Frauen durchaus zu
dem geworden waren, was er in ihnen sah, weil sie ebenfalls unterdrückt
waren und sich, ob sie es wollten oder nicht, den gegebenen Strukturen
angepasst hatten. Diesen Strukturen misstraute Animius nun immer mehr
und machte sie für alles Übel in der Welt verantwortlich. Er hatte schon
in seiner Jugend gefühlt, dass etwas nicht stimmte, was es war, konnte
er damals nicht sagen, aber er fühlte einen unbestimmten Druck, der auf
allem lastete. Eine Zeit lang gewöhnte er sich daran, alle anderen
schienen es ja auch als normal hinzunehmen, aber Mitte seiner zwanziger
Jahre kehrte das Gefühl mit neuer Dringlichkeit zurück und brachte ihn
dazu, sich erneut für die verschiedenen Strukturen des menschlichen
Zusammenlebens zu interessieren. Dies hatte er auch schon in seiner
Jugend getan, aber mit unbefriedigendem Ergebnis. Als einzige
Alternative zum Kapitalismus, in dem er lebte, war ihm damals der
Kommunismus erschienen, und wenn auch in der Theorie besser klingend,
hatte er aber für Animius ebenfalls einen schlechten Beigeschmack, den
er aber nie ganz greifen und bestimmen konnte. Älter und etwas reifer
fand Animius neue Antworten auf seine Fragen und erkannte, was ihm in
seiner Jugend nur auf der Ebene der Gefühle bewusst geworden war. Die
Herrschaftsstrukturen sowohl im Kapitalismus, im Faschismus, als auch im
Kommunismus dienten nur einem Zweck, nämlich einer Handvoll Mächtigen
ihre Macht zu sichern und zu erhalten. Dazu bedienten sich die
Strukturen jeder nur erdenklichen Täuschung und Lüge und zwar auf allen
Seiten. Der Kommunismus, in der Theorie ein ehrbares Ziel, hatte in der
Realität alle Hoffnungen zerstört und war in Tyrannei geendet. Der
westliche Kapitalismus erschien ihm mindestens so verlogen und die
Vorstellung, dass Kapitalismus und Demokratie zusammengehen, fand
Animius geradezu absurd. Und so kam er zu dem Schluss, dass die
Demokratie nur eine Täuschung war, die dafür sorgte, dass die Menschen
sich selbst die Schuld gaben für die politischen und wirtschaftlichen
Krisen, denn sie hatten die Politiker, die dafür verantwortlich waren,
schließlich selbst gewählt. In Wahrheit aber, da war Animius sich jetzt
ganz sicher, gab es Mächte im Hintergrund, die die Entscheidungen trafen
und es der Politik nur überließen, diese Entscheidungen so umzusetzen,
dass das Volk nicht über die Maßen rebellierte. Und wurde das Volk
einmal wirklich durch außergewöhnliche Ausplünderung zur Rebellion
getrieben, dann nur, um es nach einer Lösung schreien zu lassen, die
ohnehin geplant gewesen war. Die politische Klasse war für ihn nur ein
Haufen Strohmänner, wissentlich oder nicht, die die Ausbeutung der
Menschen für die Mächte im Hintergrund organisierte. Wer diese Mächte
waren, war für ihn gar nicht so wichtig, aber sie kontrollierten
offensichtlich die großen Konzerne, die Banken sowie die Massenmedien.
Viel wies für ihn auch darauf hin, dass es auf allen Seiten sehr
ähnliche Interessen waren, die alles beherrschten. Und wenn sich der
Kapitalismus, Faschismus und Kommunismus auch angeblich bekämpften,
Animius schien es, als zögen alle Seiten Vorteile aus dieser Situation,
und er fand es einleuchtend, dass alle Seiten von den gleichen mächtigen
Banken und Konzernen kontrolliert wurden. Ob die Banken und Konzerne
aber das letzte Glied in der Kette der Herrschaft waren, wusste er nicht
und konnte es nicht wissen. Vielleicht waren die Banken ja auch nur die
Bankiers einer Gruppe von äußerst reichen Personen oder Familien, die
die großen Konzerne und Industrien besaßen, wer konnte es sagen? Was
aber die Verbindung war zwischen all diesen scheinbar so
unterschiedlichen Systemen, konnte er lange nicht erkennen. Warum war es
den wirklich Mächtigen offensichtlich egal, ob Kommunismus, Faschismus
oder Kapitalismus mit Scheindemokratie regierten? Ist der Faschismus
nicht überhaupt die Ur-Form der Beherrschung der Vielen durch die
Wenigen? Und alle anderen nur mehr oder weniger gut getarnter
Faschismus? Erst als er die Antwort auf diese Fragen gefunden hatte,
stellte sich ein weiteres System, das er zuvor nie ernst genommen hatte,
in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen - die Anarchie. Denn alle
anderen Systeme hatten gemein, dass sie hierarchisch strukturiert waren,
nur die Anarchie bildete hier eine Ausnahme. Nur die hierarchische
Struktur aber ist es, die es ermöglicht, dass eine sehr kleine Gruppe
ein ganzes Land, ja fast die ganze Welt beherrschen kann. Nur über
Macht, die nach unten hin beständig abnimmt, kann eine kleine Gruppe von
der Spitze aus herrschen und muss nur Schlüsselpositionen besetzen,
nicht etwa ganze Organisationen kontrollieren. Nur die Hierarchie
ermöglicht die Beherrschung der Vielen durch die Wenigen. Anfangs
spekulierte Animius viel darüber, wer diese Gruppe war, denn, so dachte
er, man musste sie ja irgendwie bezeichnen, schließlich aber begnügte er
sich damit, sie die 'dominante Gruppe' zu nennen, und jede hierarchisch
organisierte Gesellschaft hat eine oder mehrere dominante Gruppen, wenn
sie sich auch nicht immer offen zeigen. Die Anarchie hatte Animius
früher nie als Alternative wahrgenommen, weil er geglaubt hatte, sie
bedeute, dass die Brutalsten sich die Macht nehmen und alle anderen
unterdrücken. Jetzt aber begriff er, dass die Hierarchie es ist, die auf
diese Beschreibung passt, während die Anarchie eine Organisation von
unten ist, eine Selbstorganisation, die nicht von oben kontrolliert und
beherrscht wird - und es nicht werden kann. Jetzt wunderte ihn nicht
länger, dass die hierarchischen Systeme die Freiheit immer hinten
anstellten, wenn sie sie sich auch auf die Fahnen geschrieben hatten.
Aber die Freiheit war es immer gewesen, die ihm als Maßstab für jedes
untersuchte System gedient hatte. Die Hierarchie, das wurde Animius
jetzt klar, ist die Struktur, die die Herrschaft der Brutalsten und
Rücksichtslosesten erleichtert, während die Anarchie sie sehr schwierig
macht, denn in der Anarchie steht den wenigen, die alle anderen
beherrschen wollen, eine Überzahl von Freien gegenüber, die sich selbst
organisieren und in der Lage sind, sich zu wehren. In der Hierarchie
hingegen stehen der dominanten Gruppe nur Sklaven gegenüber, die
willkürlich manipuliert und gesteuert werden können und gar nicht in der
Lage sind, ihre eigene Position einzuschätzen, geschweige denn, etwas an
ihr zu verändern. Die Hierarchie, stellte Animius jetzt fest, ist die
Herrschaft der Brutalsten und Rücksichtslosesten, wenn sie sich
gefestigt hat, wenn sie Struktur geworden ist. Wenn die Brutalsten und
Hinterhältigsten lange genug an der Macht bleiben, entwickelt sich eine
Struktur und das ist die Hierarchie. Freiheit hingegen und auch
Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn keine dominante Gruppe die Fäden
zieht, ob offen oder versteckt. Wer sind die denn, fragte er sich, die
denken, dass sie das Recht hätten, mir zu sagen, was ich zu tun und zu
lassen habe? Allerdings sah er schon ein, dass die Freiheit des
Einzelnen da endet, wo ein anderer verletzt wird, oder sonst wie Schaden
nimmt, darüber hinaus aber konnte er keine Vorschriften akzeptieren, von
wem sie auch kommen mochten - und warum auch? Und schon gar nicht war er
bereit, länger in einem hierarchisch strukturierten System zu leben, das
erfunden war, um den Sklaven vorzugaukeln, Freie zu sein. Goethes Satz
'Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält ohne es zu sein.'
ging ihm nicht aus dem Kopf und er verstand, dass der erste Schritt aus
der Sklaverei die Erkenntnis sein musste, ein Sklave zu sein. Und so
sagte er sich: Ja, ich bin ein Sklave, aber nicht länger! Jetzt gehe ich
den Weg in die Freiheit und wenn er mich das Leben kostet! Also
entschied er sich, alles hinter sich zu lassen und in die Wildnis zu
gehen. Dort hoffte er, seine Freiheit zu finden. Aber was er finden
würde war gar nicht so sehr sein Antrieb, wie was er verlieren wollte,
und das war das Gefühl der Unterdrückung, das er auf allen Schultern
lasten sah und nicht mehr länger mittragen wollte. Er ahnte schon, wenn
er es auch noch nie zu einem Gedanken formuliert hatte, dass dieses
Gefühl der Unterdrückung sein ganzes Wesen und Leben bestimmt und
verfremdet hatte.
Und so flüchtete Animius in die Wildnis, die nicht einfach zu finden
gewesen war, aber da sein Leben zuvor eine einzige Flucht gewesen war,
kehrte er in Wahrheit vielmehr nach Hause zurück. Dieses neue Zuhause
aber war unwirtlich und überall sah Animius Gefahr. Nächte ohne Licht
und Wärme waren seine neue Wohnung, wilde Tiere und unbekannte Pflanzen
seine neue Gesellschaft. Die längste Zeit brachte er damit zu, seine
Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Begebenheiten und Begegnungen
kehrten wieder und die dabei erlebten Gefühle kamen wieder hoch. Hass
und Scham dominierten den noch so frischen Alptraum, den er sein Leben
genannt hatte, und auch jetzt blickte er mit Hass zurück. Hass gegen die
Strukturen der Welt, Hass gegen die Menschen, die sich versklaven ließen
und es anscheinend nicht bemerkten oder nicht bemerken wollten. Hass auf
die Herrschenden und Hass auf die Beherrschten. Aber neben diesem Hass
gab es aber auch eine Liebe in ihm, er liebte die Freiheit und die
Gerechtigkeit, sah aber in der Welt nur Unfreiheit und Ungerechtigkeit,
teils besser, teils schlechter versteckt. Sich selbst sah Animius
ebenfalls als Opfer dieser Welt, wenn sie ihn auch nie wirklich in
Ketten gelegt hatte. Auch ihn behandelte sie ungerecht, auch ihn
unterdrückten die Herrschaftsstrukturen, auch ihm nahmen sie die
Freiheit. Und was hatten sie ihm dafür gegeben? Immerhin - das musste er
sich jetzt eingestehen - hatten sie ihm seinen Hass ermöglicht, ein
Zustand, der ihm lange Zeit nicht unangenehm gewesen war. Er hatte sich
wohl damit gefühlt, seine Verachtung in alle Richtungen auszuleben und
sich so selbst zu erhöhen, als der Einzige, der es besser wusste, der
Einzige, der verstand, der Einzige, der über allem stand und den
Überblick hatte; er war ein grausamer Beobachter gewesen. Sein Hass aber
hatte sich immer mehr gegen ihn selbst gewandt und endlich war das
Bedürfnis auszubrechen so groß geworden, dass er seine Flucht angetreten
hatte, ohne Ziel, ohne Plan. Der Zarathustra war seit seiner Jugend sein
Begleiter und Ratgeber gewesen und hatte ihn oft in seinem Hass und
seiner Verachtung unterstützt - aber auch in seiner Liebe für ferne
Ziele. Und dieses Buch war es auch gewesen, das ihm den letzten Anstoß
gegeben hatte, die Welt, die er so hasste, hinter sich zu lassen.
Insbesondere 'Vom neuen Götzen' bestärkte ihn in seinem Vorhaben.
Da heißt es etwa:
'Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er
auch redet, er lügt - und was er auch hat, gestohlen hat er's.' 'Meine
Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler und Begierden!
Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt in's Freie! ' ... 'Frei
steht grossen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele
Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht. '
… 'Frei steht noch grossen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig
besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armuth! '
... 'Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht
überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und
unersetzliche Weise. '
Und so fand er endlich die Kraft, sich seine Freiheit selbst zu suchen
und sich nicht länger darüber zu wundern, dass sie ihm in dem Kerker,
der Staat genannt wird, nicht gewährt wurde. Neben den Dingen, die für
ein Überleben in der Wildnis nötig waren, packte er auch seinen
Zarathustra ein und ging los.
2. Angst
Anfänglich wechselte Animius oft den Ort, schlief wo er gerade war, und
erkundete den Landstrich, den er sich als Ziel seiner Flucht gewählt
hatte. Weit wagte er sich in die Wildnis und hoch in die Berge, blieb
aber nirgends lang, mied Siedlungen und gefiel sich in seinem neuen
Leben als Vagabund. Eines Tages aber fand er ein abgelegenes Tal, durch
das sich ein klarer Fluss wand, der aus hohen Bergen kam. Hier blieb er
einige Wochen und baute sich endlich eine kleine Hütte aus Holz, denn es
wurde immer kälter. Viel Zeit verbrachte er damit, über Pflanzen zu
lesen und Nahrung zu finden, um seinen dürftigen Speiseplan aus Reis und
Linsen zu bereichern, aber es wurde Winter und die Natur gab nicht viel
hinzu. Jetzt verbrachte er viele Stunden damit, im Wald zu sitzen und
die Tiere zu beobachten, und immer wieder kam seine Vergangenheit hoch
und bemächtigte sich seiner. Je öfter er aber die Tiere beobachtete,
desto interessanter schien ihm, wie sie lebten und starben, wie sie
bauten und zerstörten, wie sie kämpften und liebten. Und durch seine
Beobachtungen lernte er viel über die Tiere und besonders wichtig war
für ihn die Erkenntnis, dass die Tiere in fast permanenter Angst und
Vorsicht leben. Wie kommt das doch, fragte er sich, wo sie doch vom Tod
nichts wissen?
Diese Frage beschäftigte ihn einige Zeit und endlich konnte er sie sich
beantworten. Wenn die Tiere wirklich vom Tode nichts wissen, so muss es
der Schmerz sein, den sie fürchten, denn den kennt jedes Leben. Mit
dieser Antwort gab er sich zufrieden. Bevor Animius in die Wildnis kam,
war er überzeugt gewesen, nichts zu fürchten, nicht den Tod und schon
gar nicht Gott und Teufel, aber die ersten Wochen im Wald hatten diese
Vorstellung geändert. Er musste erkennen, dass er eine unbestimmte Angst
in sich trug, die wohl eine versteckte Todesangst sein mochte. Aber
jetzt begann er sich zu fragen, ob seine Angst nicht ebenfalls eine
Angst vor Schmerz war. Der Mensch war ihm nie etwas anderes als ein
seltsames Tier gewesen und die menschliche Intelligenz nur eine
Verlegenheitslösung der Natur. Warum sollte also die tierische Angst vor
Schmerz nicht auch ihn bestimmen? Als er sich diese Frage stellte, saß
er mit gekreuzten Beinen auf dem Waldboden und seine Beine schmerzten
schon etwas. Aber anstatt seine Position wie sonst zu verändern,
beschloss er dieses Mal, nicht wie ein Vogel aus Furcht sofort
aufzufliegen, sondern den Schmerz anwachsen zu lassen, um zu sehen, ob
er ihn wirklich fürchtete. Er schloss die Augen und der Schmerz wurde
stärker und stärker und als er so fürchterlich war, dass Animius ihn
nicht mehr ertragen konnte, streckte er seine Beine aus und betrachtete
sie. Sie wiesen nur einige rote Druckstellen auf, Tannennadeln hatten
sich in den Knöchel gebohrt und viele Abdrücke hinterlassen. Aber das
Blut fand schnell wieder seinen Weg in die Adern und nach wenigen
Momenten war nur noch eine Erinnerung an den Schmerz übrig, der gerade
noch so mächtig erschienen war, und Animius wunderte sich. Gibt es nicht
zwei Arten Schmerz, fragte er sich, solchen, der uns verletzt, und
solchen, der uns keinen Schaden zufügt? Das eben muss unschädlicher
Schmerz gewesen sein, denn er hat keine Wunde, keine bleibenden Schäden
hinterlassen, wenn er auch nicht weniger schmerzte. Und so nahm er sich
vor, sich seiner Furcht vor dem Schmerz zu stellen, indem er an dem
Schmerz übte, der keine Wunde hinterließ, denn an anderem Schmerz zu
üben, würde Folgen haben, die er nicht in Kauf nehmen konnte. Was nützte
es, die Hand ins Feuer zu halten, wenn er sie danach lange Zeit nicht
gebrauchen könnte, oder sogar nie wieder? Am nächsten Tag wiederholte
Animius den Versuch mit dem Unterschied, dass er sich den Wecker seiner
Uhr stellte und sich fest vornahm, sich nicht zu bewegen, bis die Zeit
abgelaufen war. Aber der Schmerz wurde schon bald unerträglich und die
Zeit wollte nicht vergehen. Er nahm sich zusammen und ertrug den Schmerz
mal besser, mal schlechter, aber endlich war er überzeugt, dass er den
Wecker falsch gestellt hatte und er öffnete die Augen, um nachzusehen.
Aber er hatte den Wecker nicht falsch gestellt und was ihm wie das
Doppelte der vorgenommenen Zeit erschienen war, waren in Wahrheit nur
zwei Drittel gewesen. Animius lachte laut auf und gestand sich ein, dass
die Furcht vor dem Schmerz seinen Mut besiegt hatte, und er sah hinauf
in die Kronen der Bäume, wo die Vögel saßen und sangen.
In der folgenden Zeit verlängerte er die Zeit seiner Sitzungen, so
nannte er seine Übung, in der Art, dass der Schmerz immer aufs Neue eine
Herausforderung darstellte, und versuchte, ihn sich nicht zu Kopf
steigen zu lassen. Während am Anfang der Schmerz wie von einer lauten
Glocke in seinem Kopf gemeldet wurde, kam das Signal zwar auch später
noch an, sein Gehirn reagierte aber eher gelangweilt und schien zu
sagen: 'Ja, ja, das kennen wir schon. Ist in Ordnung, keine Gefahr.' Der
Schmerz wurde zur Gewohnheit und die Gewohnheit vertrieb die Furcht. Die
Konfrontation mit der Angst vor dem Schmerz führte aber auch dazu, dass
auch seine anderen Ängste hervorkamen, Ängste, von denen Animius nichts
gewusst hatte. Diese Ängste brachen manchmal wie große Wellen über ihn
her und trieben ihn fast in den Wahnsinn. Eine Zeit lang dachte er, er
würde verfolgt und beobachtet, und meinte, im Wald Bewegungen und
Geräusche zu hören, die diese Annahme bestätigten. Und als er kurz davor
war, den Verstand zu verlieren, schrie er in die Nacht hinaus: Worauf
wartet ihr noch? Holt mich doch endlich! Tötet mich doch endlich, ich
bin bereit! Natürlich kam keine Antwort und keine Reaktion, aber er
fühlte sich danach anders, freier.
Neben der Arbeit an seiner Angst erfand Animius eine weitere Übung, die
er gleichzeitig betrieb. Er hatte bemerkt, dass seine Gedanken, während
er so saß, immer wieder weit weg wanderten, meist in seine
Vergangenheit, und er versuchte nun nur noch auf den Gesang der Vögel zu
achten. Jedes Mal, wenn er bemerkte, dass seine Gedanken sich vom Gesang
der Vögel entfernt hatten, lenkte er sie wieder zurück. Das führte dazu,
dass er lernte, sich auf eine Sache zu konzentrieren, und gleichzeitig
ermöglichte es ihm, seine eigenen Gedanken kennen zu lernen, denn sie
waren ihm tatsächlich zuvor nur selten ganz bewusst geworden. Jedes Mal
aber, wenn er bemerkte, dass seine Gedanken wieder fort gewandert waren,
bemerkte er, was er gerade gedacht hatte, wohin sie gewandert waren. Das
Kennenlernen seiner Gedanken brachte ihn häufig zum Lachen, denn sie
bestanden zu einem großen Teil aus Albernheiten. Aber die Themen, die
sich in seinem Kopf endlos wiederholten, bestürzten ihn auch. Da ging es
vor allem um Essen, Frauen, Befürchtungen und Scham und Animius begann,
seine Gedanken immer weiter zu kategorisieren, bis nur noch zwei
Kategorien übrig blieben, Vergangenheit und Zukunft. Was habe ich
gegessen, was werde ich essen? Mit welcher Frau war ich zusammen, mit
welcher könnte ich vielleicht zusammen sein? Vergangenheit, Zukunft,
Vergangenheit, Zukunft in endloser Wiederholung. Und schon bald konnte
er mit geschlossenen Augen erkennen, wenn eine Wolke den nahen Wald
verdunkelte, denn der Gesang der Vögel veränderte sich mit der
Verdunkelung der Sonnenstrahlen. Auch meinte er zu erkennen, welche
Stimme der Vögel fragte und welche antwortete, und er unterschied viele
verschiedene Arten, wenn er auch nicht wusste, wie sie genannt wurden.
Animius hatte das Gefühl, dass er von den Vögeln lernte, seine Gedanken
besser zu kontrollieren und sie wie die Melodie der Vögel zu einem Ende,
einer Entscheidung zu führen. Wie der Gesang der Vögel einem bestimmten
Ablauf folgt, Anfang, Mittelteil, Ende, so begann er auch Probleme in
seinem Kopf nach diesem Muster anzugehen. Problem, Abwägung,
Entscheidung. Dinge, die ihn über viele Jahre beschäftigt hatten, aber
nie zu Ende gedacht wurden, konnte er nun schnell durchdenken und
entscheiden und er dankte den Vögeln dafür. War die Entscheidung erst
einmal getroffen, sprangen seine Gedanken nicht mehr immer wieder zu dem
jeweiligen Problem, es war abgehakt. Viele Stunden, Tage und Wochen
brachte er damit zu, zu sitzen und dem Gesang der Vögel zu lauschen. Das
einzige andere Geräusch, das er immer hören konnte, war der Fluss und
auch auf dessen Melodie lauschte er lange und lernte. Viele Stimmen
konnte er da hören und doch verbanden sie sich alle zu der einen Stimme
des Flusses, die nie schwieg. Dann begann er, sich zu fragen, auf was er
sich noch konzentrieren könne, etwas das nicht abhängig war von äußeren
Umständen, und er kam auf seine Atmung. Und je länger er seine Atmung
beobachtete, desto besser konnte er sich auf das konzentrieren, was
gerade passierte, die Luft, die durch seine Nase strich. Und ist die
Luft, die wir einatmen, nicht in fast jedem Moment das
Allerbedeutsamste? Auch wenn Animius nicht so saß, nahm der Moment und
was er gerade tat immer mehr seiner ungeteilten Aufmerksamkeit ein. Auch
das half ihm, seine irrationalen Ängste zu erkennen und abzubauen, und
nach einigen Monaten begann er, sich übermütig und voll Freude zu sagen:
Ich fürchte nichts! Ich fürchte keinen Schmerz! Ich fürchte nicht den
Tod, Ich bin frei! Jetzt war er ruhiger und schreckte nicht mehr bei
jedem nächtlichen Warnruf aus seinem Schlaf auf. Er dachte nicht mehr
daran, sein Messer vor dem Einschlafen neben sich zu legen, plötzlich
aus dem Dickicht brechendes Wild ließ ihn nicht mehr zusammenzucken und
eine ungekannte Ruhe bemächtigte sich seiner. Die Vergangenheit, die ihn
anfänglich jeden Augenblick verfolgt hatte, brauchte sich langsam auf
und auch die Zukunft raubte ihm nun weniger Zeit. So lebte und lernte
Animius sich in seiner Einsamkeit ein. Nur selten ging er in das nächste
Dorf, um Nahrung zu kaufen, und jedes Mal war er froh, wenn er in sein
neues Zuhause kam, denn unter Menschen fühlte er sich nicht weniger
fremd als zuvor, wenn er sie auch mit weniger Hass betrachtete.
3. Liebe
Animius unternahm ausgedehnte Streifzüge durch die erwachenden Wälder
und er ließ die Farben und die Ruhe der Natur auf sich wirken.
Anfänglich hastete er noch mit dem schnellen Gang des Städters durch den
Wald, bald wurde er langsamer und bedächtiger. Vorsichtiger und leiser
setzte er seine Füße jetzt ohne Schuhe auf den Frühlingsboden und fühlte
ihn bei jedem Schritt. Immer mehr essbare Pflanzen brachte er von seinen
Wanderungen zurück und die Sonne trocknete sein ungeschnittenes Haar und
seine Haut, wenn er aus dem Fluss stieg. Das Leben im Wald erwachte und
das Leben des Animius begann, leichter zu werden, und er hatte das
Gefühl, mit dem scheidenden Winter auch seine Vergangenheit zu
verabschieden. In diesem Frühling war Animius nicht mehr derselbe. Und
wenn er einmal in seinen kleinen Spiegel sah, um den Bart zu schneiden,
damit er wenigstens nicht über seinen Mund wuchs, lachte er laut auf und
wunderte sich.
Seine Übung hatte er nun so lange betrieben, dass er das Gefühl hatte,
seine größten Ängste verloren zu haben. Und ganz langsam wuchs ein neues
Gefühl in ihm heran, ein Gefühl, das er nicht gleich einordnen konnte
und das er endlich als Liebe erkannte. Nicht die Liebe zu einer Frau
oder zur Familie, eine Liebe, die alles umfasste, was um ihn herum war,
eine Liebe, die aus ihm heraus strahlte. Er glaubte zuerst, es sei die
Liebe für die Natur, die ihm sehr ans Herz gewachsen war und nun in
neuen Farben des Frühlings vor ihm stand, aber als er einmal wieder ins
Dorf ging, um sich Reis zu kaufen, merkte er, dass sein Auge anders auf
die Menschen blickte. Er sah nun nicht mehr verächtlich auf ihre
Dummheit und Fehler, er fühlte mit ihnen und stellte sich vor, wie die
Strukturen der Macht sie zu dem gemacht hatten, was sie waren. Er zürnte
ihnen nicht mehr, wenn sie drängelten oder rempelten, und grüßte sie
freundlich, wenn er ihnen auf der Straße begegnete. Aber zu seinem
Erstaunen schienen einige der Dorfbewohner ihm das übel zu nehmen und
ihn mit wachsendem Misstrauen zu betrachten. Vielleicht liegt es ja an
meinem Aussehen, dachte er sich, und er sah wirklich verwildert aus. Die
Haare hingen in langen lockigen Strähnen über seine Schultern und sein
Bart wuchs ihm bis auf die Brust. Er hatte überflüssiges Gewicht
verloren und erschien dadurch noch größer. Vielleicht haben sie Angst
vor mir, kam ihm in den Sinn, und er musste lachen. Fürchten sie mich
etwa mehr, jetzt, da es weniger zu fürchten gibt? Und er beschloss, den
Menschen zu zeigen, dass er sie nicht mehr hasste und lächelte jeden an,
der ihm begegnete. Er ließ ihnen den Vortritt und bot seine Hilfe an,
wenn sie jemand brauchte, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Er fühlte
sich jetzt wohler unter den Menschen, wenn ihm auch viele mit Misstrauen
begegneten, mehr Misstrauen als früher, als es angebrachter gewesen
wäre. Aber wie sie überzeugen, dass sein Hass verflogen war und durch
Mitgefühl ersetzt wurde? Er wünschte und wollte doch allen nur Gutes,
genau das bedeutete für ihn das neue Gefühl der Liebe. Die meiste Zeit
aber war er in seiner Einsamkeit bei seiner Hütte am Fluss und wunderte
sich, was mit ihm passiert war, woher diese Liebe für die Menschen so
plötzlich gekommen war. Zwar hatte er den Menschen immer geliebt, als
Ideal, als Möglichkeit, aber nicht in seiner bisherigen Form, nicht so,
wie er ihn überall sah. Als er einmal aus dem Fluss stieg und sich eben
der Sonne zuwandte, um sich trocknen zu lassen, traf es ihn wie ein
Schlag: Ich liebe sie mehr, weil ich sie weniger fürchte! Mein Hass war
eine Folge meiner Angst! Dieser Gedanke schien ihm fast unglaublich,
denn er hatte nie auch nur in Betracht gezogen dass es so sein könnte.
Die Menschen fürchten, denen er sich so überlegen gefühlt hatte, wie
konnte das sein? Aber doch fühlte er, dass es die Wahrheit war und der
Gedanke beschäftigte ihn, bis er zu einer weiteren Erkenntnis kam: Liebe
und Angst sind die zwei großen Gegensätze, die unser Leben bestimmen,
die zwei Arten zu leben. Und plötzlich erinnerte er sich daran, dass er
das schon einmal gehört hatte, wusste aber nicht sicher woher. Was er
aber noch wusste war, dass es nicht den geringsten Eindruck auf ihn
gemacht hatte, als er es gehört hatte. Und jetzt schien es ihm wie die
größte Wahrheit, die ihm jemals begegnet war, wichtiger als alles, was
er in seinen Büchern gelesen hatte. Wie konnte das sein? War ich denn
taub, fragte er sich und nach einem Moment der Besinnung antwortete er
sich ruhig: Ja, ich war taub. Und ich war blind, aber jetzt kann ich
sehen und hören. Er sah sich um, blickte auf die strahlende Natur um
sich herum, auf das glitzernde Wasser und dann wurde ihm klar, was
passiert war. Ich bin erwacht, sagte er sich langsam, ich habe tief
geschlafen und jetzt bin ich erwacht.
Drei Jahre lebte Animius in seiner Hütte und sein Wesen veränderte sich
beständig weiter. An Stelle seiner früheren Beobachtung der Menschen war
in der Einsamkeit immer mehr eine Beobachtung seiner selbst getreten. Er
lernte seine Gefühle und Gedanken zu beobachten und sich zu fragen,
woher sie kamen. Und er lernte auch, dass er seine Angst noch lange
nicht überwunden hatte und dass große Teile seines Denkens und
Verhaltens eine Folge von Angst waren, und so arbeitete er daran, diese
Ängste zu erkennen und auszulöschen. Je weiter er mit dieser Arbeit
fortschritt, desto leichter und sauberer fühlte er sich und seine
Stimmung hob sich immer weiter und schwankte nicht mehr. Schlechte Laune
konnte er sich bald gar nicht mehr vorstellen und wenn sie einmal
zurückgekehrte, erkannte er schnell, was der Auslöser in ihm selbst war.
Eines Tages, als er gerade mit geschlossenen Augen und gekreuzten Beinen
auf dem Waldboden saß und seine Übung machte, hörte er Schritte, die
sich näherten, und da er noch nie, seit er hier lebte, einen Menschen
bei seiner Hütte gesehen hatte, überlegte er, die Augen zu öffnen und
den Besucher zu begrüßen. Da hörte er schon dessen unbekannte Stimme,
die sagte: Lass dich nicht stören, ich warte hier, bis du fertig bist.
Und so ließ Animius die Augen geschlossen und blieb sitzen, bis die Zeit
abgelaufen war. Zwar hatte er seine Übung jetzt oft genug gemacht, um
mit dem Schmerz besser auszukommen, aber es fiel ihm nun, da ein Fremder
vor ihm saß, der auf ihn wartete, sehr schwer, sich auf seine Atmung zu
konzentrieren, und seine Gedanken wanderten immer wieder zu dem, der da
saß, und er fragte sich, wer das wohl sein konnte und was er wolle.
Endlich klingelte seine Uhr und er öffnete die Augen. Ihm gegenüber saß
ein alter Mann mit gütigem Blick und lächelte ihn an. Ich grüße dich,
sagte Animius, sei willkommen! Der alte Mann dankte mit einem Nicken und
antwortete: Ich grüße auch dich, Animius, mein Name ist Adamas. Animius
hatte kaum Zeit, sich darüber zu wundern, dass der Fremde seinen Namen
kannte, denn er fuhr gleich fort: Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass
es bald Zeit ist, wieder unter die Menschen zu gehen, wie einst
Zarathustra seine Höhle verließ, um zu den Menschen zurückzukehren.
Animius wunderte sich noch mehr, denn der Fremde mochte seinen Namen
wohl im Dorf erfahren haben, über seine enge Bindung an den Zarathustra
aber konnte der Fremde auch dort nicht unterrichtet worden sein. Aber
der Fremde fuhr fort: Lange genug warst du in deiner Einsamkeit,
Animius. Ist nicht die Zeit gekommen zu teilen, was dir zuteil wurde?
Die Welt braucht heute jede helfende Hand und auch ich muss eilig wieder
fort, um meinen bescheidenen Anteil zu tun. Wie könnte ich der Welt
helfen, fragte Animius erstaunt, was hätte ich den Menschen zu geben?
Adamas lachte hell auf und erhob sich und sagte: Das weißt du besser als
ich, wer könnte es sonst wissen? Jeder muss schon selbst wissen, was
sein Schicksal ist, wer könnte es besser wissen, als du? Meine Aufgabe
ist, jedem Menschen zu sagen, dass keiner außer ihm selbst etwas über
sich und sein Schicksal wissen kann. Mehr kann ich nicht tun und auch
nicht weniger. Denke darüber nach und erforsche deine Gefühle, aber
lasse dir nicht zu viel Zeit! Wir werden uns sicher wiedersehen,
Animius! Und mit diesen Worten stand Adamas auf, drehte sich um und
verschwand in der Dämmerung. Animius aber blieb sitzen und wunderte sich
über diese Begegnung, bis er endlich ruhig genug war, um zu schlafen.
4. Aufbruch
Als er am nächsten Morgen erwachte, erinnerte er sich an das Treffen der
vorigen Nacht und ein Widerstand stellte sich in ihm ein. Wer war dieser
Adamas, der glaubte, etwas über ihn zu wissen? Und woher kannte er
diesen Namen, Adamas? Was lag ihm überhaupt daran, ob er zu den Menschen
zurückkehrte oder nicht? Aber seine Erinnerung an den alten Mann
beendete diesen Widerstand bald, denn er hatte einen starken Eindruck
auf ihn gemacht. Seine Haltung, sein Gang, seine Stimme und seine Augen
deutete Animius als Anzeichen eines aufrechten und echten Menschen. Und
so ging er schnell dazu über, sich zu fragen, woher seine ablehnende
Haltung gekommen war, was sein innerer Auslöser war, denn Adamas hatte
ja darauf hingewiesen, dass er den Menschen lediglich sagte, dass
niemand außer ihnen selbst wissen kann, was ihr Schicksal ist. Animius
hatte bisher über sein Schicksal nicht nachgedacht. Nun aber begann er
sich zu fragen, ob er nicht in seiner Einsamkeit gefunden hatte, wonach
er suchte, und es an der Zeit war, einen neuen Abschnitt zu beginnen.
Aber bevor er zu den Menschen zurückkehren würde, musste er sich
überlegen, wie er ihnen vermitteln sollte, was ihm nun so wichtig war.
Diese Frage beschäftigte ihn den ganzen Tag und er beschloss seine
Erfahrungen in eine Art System zu bringen und so für andere verständlich
zu machen, wenn das überhaupt möglich sein sollte. Aus eigener Erfahrung
wusste er, dass ihm niemand hätte erklären können, was er in seiner Zeit
der Einsamkeit verstanden hatte, aber zumindest, so dachte er, würden
ihn andere, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, verstehen, wenn sie
hörten, was er zu sagen hatte. Und so begann er, ausgehend von den zwei
Zuständen, die er nun kannte, Angst und Liebe, alles weitere abzuleiten.
Ohne Papier und Stift war das nicht einfach, aber er machte sich an die
Arbeit, die sich über mehrere Wochen erstreckte. Was er sich ausdachte
war eine Sammlung von Reden, die sich stilistisch an den Reden
Zarathustras orientierten, denn andere kannte er nicht. Und als er so im
Zarathustra blätterte, um ihm vom Fall der Rede möglichst etwas
abzumerken, fand er ganz neue Töne in dem Buch, das er so oft schon
gelesen hatte. Neben den harten Tönen, die ihn seit seiner Jugend
geprägt hatten, vernahm er nun auch weichere Klänge, Klänge, die ihm
zunächst fremd erschienen und ihn wunderten. Wie habe ich diese Töne
bisher nicht gehört, fragte er sich und er kannte ja bereits die
Antwort. Für wie vieles bin ich bisher blind und taub gewesen! Alles,
was ich glaubte zu kennen, muss ich neu kennenlernen. Und auch was ich
nun sehe, muss nicht alles sein. Wie kann ich wissen, wie viel Blindheit
und Taubheit noch in mir ist? Vielleicht merke ich schon bald, dass ich
für andere Dinge blind war, die ich mir jetzt noch gar nicht vorstellen
kann. Von nun an werde ich nichts ausschließen und immer die Möglichkeit
in Betracht ziehen, dass ich blind bin, dass ich mich irre, dass ich
Motive habe, an einer Meinung festzuhalten. Nie wieder will ich eine
Weltsicht verteidigen, um mich sicher zu fühlen und auf bekanntem Boden.
Wie soll ich sonst Neues lernen? Diesen Vorsatz nahm er sehr ernst. Im
Zustand der Angst, wurde ihm jetzt klar, ist die Wahrnehmung gestört und
beschränkt. Vieles ist mir durch diesen Zustand entgangen, vieles war so
verzerrt, dass ich es nicht richtig erkennen konnte, oft zog ich falsche
Schlüsse, vielen muss ich Unrecht getan haben, mir selbst aber
vielleicht am meisten. Als er das halblaut vor sich hergesagt hatte,
stockte er einen Augenblick und seine Stirn verfinsterte sich. Dann
führte er sein Selbstgespräch laut fort: Nein! Nicht ich habe mir das
angetan, es ist gewollt, ist Struktur! Die hierarchischen Strukturen
sind überhaupt nur im Zustand der Angst denkbar und so muss schon die
Angst in uns gesät werden, geschürt werden, immer wieder erneuert
werden, sonst wehrt sich der Mensch, sonst befreit sich der Mensch! Und
plötzlich stand die ganze Maschine deutlich vor seinem Auge, die aus
freien Menschen Knechte macht. Von Geburt an, erkannte Animius, werden
wir systematisch traumatisiert, körperlich, geistig und seelisch, um uns
im Zustand der Angst zu halten. Erziehung, Schule, Kriegsdienst,
Universität, Beruf, sind sie nicht alle einzig da, uns zu traumatisieren
und uns zu überzeugen, dass wir nur kleine Teile sind, die funktionieren
müssen oder ausgetauscht werden? Gewöhnen sie uns nicht an, auswendig
gelernten Worten zu glauben, nicht aber unserem Herzen und Verstand und
schaffen so Unsicherheit und abhängige Unselbständigkeit, die immer nach
oben blickt, um nichts Falsches zu tun oder zu sagen? Bewerten sie
nicht, was nur jeder selbst überhaupt bewerten kann? Machen sie uns
nicht zu furchtsamen Knechten, die nicht wagen zu denken, dass sie
Herren haben? Knechte, die nichts wagen, als den Weg zu schleichen, der
ihnen gewiesen wird? Diese Worte regten Gefühle in ihm, die er schon
lange nicht mehr gefühlt hatte, und seine Hände zitterten. Hass und Wut
waren in ihm aufgestiegen und als er das erkannte, wunderte er sich. Und
noch während er sich so wunderte, erkannte er noch etwas: Sind denn
nicht die, die durch Angst herrschen, am tiefsten im Zustand der Angst?
Kontrollieren sie nicht die Menschen, um ihre eigne Angst zu lindern?
Sind Macht und Kontrolle nicht ihre Mittel gegen Angst? Sie mögen zwar
durch Angst herrschen, aber nur, weil sie selbst von Angst beherrscht
werden. Auch unsere Unterdrücker, entschied Animius und wurde wieder
ruhiger, sind Opfer der Angst, ob sie es wissen oder nicht. Die obersten
Furchtsamen werde ich sie fortan nennen und die Ohn-Mächtigen, denn nur
wer keine Macht hat, ist stets auf der Suche nach Macht!
Und so kam eine Rede zur nächsten und wenn sie auch nicht die
Wortgewandtheit des Vorbildes hatten, so wurde Animius erst bei deren
Ausarbeitung vieles offenbar, das ihm zuvor noch verborgen geblieben
war. Der Versuch, verständlich zu machen, was ihm selbst nun so nah vor
den Augen stand, führte dazu, dass er Vieles nun aus größerer Entfernung
betrachten konnte und so besser sah, im Zusammenhang wahrnahm. Als in
seinem Geist alles fertig war und er jede Rede auswendig konnte, stellte
sich das Gefühl ein, dass er diese Worte in seinem Kopf nun in fremde
Ohren sagen müsse, und er verabschiedete sich von seiner Einsamkeit, dem
Wald und dem Fluss, suchte seine Sachen und begann seine Wanderschaft.
2. Teil: Wanderschaft
Nimm mich, wie ich mich gebe und denke, daß es besser ist zu sterben,
weil man lebte, als zu leben, weil man nie gelebt!
Hölderlin
119 Vorworte des Verfassers:
Der zweite Teil dieser Geschichte besteht überwiegend aus einem
Dokument, das mir kurz nachdem ich anfing, die Geschichte des Animius
aufzuschreiben, in die Hände fiel und Fragmente der frühen Reden des
Animius enthält. Verfasst wurde es von einem gewissen Francisco F.
Fristón, der seinem Text den Titel 'Der Affe Zarathustras' gab. Da ich
den Beginn des Werdeganges des Animius nur aus seinen eigenen
Erzählungen kenne und die frühen Reden nie persönlich gehört habe, werde
ich das Dokument dem Leser nicht vorenthalten. Ich übernehme es
unverändert und hoffe, dass jeder für sich selbst entscheiden kann, wie
er das Folgende für sich einordnet. Abgesehen von einigen Fußnoten und
einem kurzen Einschub will ich mich nun bis zum Ende des Dokuments
zurückhalten.
Der Affe Zarathustras (Nach einer wahren Begebenheit) Von Francisco F.
Fristón
Vorrede:
An einem Orte in Alemannia, an dessen Namen ich mich nicht erinnern
will, lebte vor nicht langer Zeit ein junger Mann, einer von jenen, die
einen überaus starken Drang zum Müßiggang haben und, wie jeder weiß, ist
der Müßiggang aller Laster Anfang. Und Laster hatte er wahrlich genug,
alle gängigen und noch einige, die er selbst erfunden hatte. Zu seinen
Lastern kam noch verschärfend hinzu, dass er der allgemein akzeptierten
Moral abhold war und sich einbildete, selbst entscheiden zu können, was
richtig sei und was falsch. Er kam allerdings aus gutem Hause und lebte
von einer Rente, die es ihm ermöglichte, sein Lotterleben ganz dem
Müßiggang zu widmen, und bis er endgültig den Verstand verlor, hatte er
nie ein ehrliches Tagewerk vollbracht. Der geneigte Leser ahnt sicher
schon, dass es nach dem Ausbruch seiner geistigen Krankheit in dieser
Hinsicht keinerlei Veränderung gab. Über seinen Namen gehen die
Meinungen übrigens auseinander, die einen glauben sein Name sei Arminius
gewesen, andere behaupten Ahinius, es spricht aber alles dafür, dass
sein richtiger Name Asimius war, und so werden wir ihn in der Folge auch
nennen. Das Volk indes nannte ihn „den Affen Zarathustras“ und bewies
damit gesunde Instinkte, denn das trifft seinen Charakter genau. Was
auch immer er zufällig hörte oder las, äffte er nach und – wir können es
nicht verheimlichen – er ähnelte auch äußerlich einem Affen. Asimius
verbrachte seine Tage damit, Bücher zu lesen und verwechselte sich
zunehmend mit den Charakteren, die er in Romanen und Erzählungen fand.
Nicht der Erste war er, der durch Lesen den Verstand verlor, und es ist
zu fürchten, dass er nicht der Letzte sein wird, denn die Jugend hat
heute zu viel Zeit für derartige Kindereien. Neben sinnlosen Romanen las
er auch Bücher von anderen Irren, sonderlich dem bekannten Wahnsinnigen
Friedrich Wilhelm Nietzsche, dessen Werke nicht fehlten, ihn ganz
durcheinander zu bringen, bis er endlich den Weg seines Vorbildes ging
und endgültig verrückt wurde. Und so war er bald überzeugt davon, ein
wandernder Prediger zu sein, der das Licht der Wahrheit in die
Finsternis der Welt hinaus tragen musste, um die Menschheit zu retten.
Natürlich war er derjenige, der der Rettung bedurfte, aber wer hätte
diesen armen verwirrten Geist auf den rechten Weg zurückführen können,
sintemal er all seine Freunde und Bekannten lange schon mit seinem
Wahnsinn in die Flucht geschlagen hatte?
Asimius besorgte sich also einen Jutesack, ein Seil und einen langen
Stock, öffnete die Nähte des Sackes und schnitt ein Loch in dessen
Mitte, groß genug für seinen armen Kopf, zog ihn sich über und band ihn
mit dem Strick an der Taille fest. Das resultierende Spiegelbild erregte
sein Wohlgefallen, aber etwas schien ihm noch zu fehlen, und so öffnete
er seine langen Haare, die er aus Faulheit wachsen ließ, und da er nicht
wusste, was er nun mit dem Band tun sollte und es ratlos eine Weile
betrachtete, benutzte er es endlich, um seinen Bart zusammenzubinden (es
muss wohl kaum erwähnt werden, dass er auch zum Rasieren zu faul war)
und was er nun im Spiegel sah, gefiel ihm ausgesprochen gut, wenn es
auch in den Augen aller gesunden Menschen ein sicheres Zeichen für
fortgeschrittenen Wahnsinn dargestellt hätte. In dieser Aufmachung zog
er dann los bis er in ein Dorf kam und da stellte er sich auf den
Marktplatz und begann zu predigen, was er für die Wahrheit hielt, und
störte sich nicht daran, dass niemand stehenblieb, denn die
rechtschaffenen Bürger hatten Besseres zu tun und nur einige Kinder
lachten über ihn, bis auch sie von seiner vollkommen wirren Rede
vertrieben wurden. Nun könnte uns zum Vorwurf gemacht werden, den
Wahnsinn des Asimius auch noch zu unterstützen, indem wir seine Reden
wiederholen und verbreiten, aber diese Aufzeichnungen sind nur für
geeignete, gefestigte Leser gedacht und ihre Verbreitung sollte sich auf
diese Gruppe beschränken. Schwachsinnigen und Wahnsinnigen ist die
Lektüre nicht zu erlauben, obschon gerade diese die einzigen wären, die
einen Sinn in diesem Unsinn zu entdecken durch ihren Zustand befähigt
wären. Auch für die unteren Schichten sowie die Jugend ist diese Lektüre
gänzlich ungeeignet, aber das versteht sich beinahe von selbst. Die
Reden, die er hielt, mögen aber immerhin all jenen unter uns als Warnung
dienen, die auch mehr als nötig dem Müßiggang nachgehen. Kehrt zurück
zum rechten Weg, oder bald schon steht auch ihr da, in einen alten Sack
gehüllt und belästigt die Menschen mit lächerlichen, volksverhetzenden
und ungereimten Reden der Art, wie sie Asimius hielt und selbst die
natürlichsten Gegensätze unserer Sprache wie Liebe und Hass werdet ihr
nicht mehr begreifen, aber hört selbst:
Die Reden des Asimius: Nur für Normale!
1. Kapitel: Wie Asimius das Volk gründlich aufrüttelte und seine
Muttersprache ad absurdum führte.
Asimius stand also auf dem Marktplatz und hob an, so zu sprechen:
Liebe und Angst
Zwei Wege stehen euch offen, meine Brüder und Schwestern, und eure Wahl
allein bestimmt euer Leben. Diese beiden Wege sind Liebe und Angst.
Nicht der Erste bin ich und nicht der Letzte, der dies lehrt. Auf der
Seite der Liebe stehen Offenheit, Wohlwollen, Freiheit, Wahrheit, wahre
Freundschaft, Mut und alles, das unser Zusammenleben möglich und
erstrebenswert macht. Auf der Seite der Angst stehen Abgrenzung,
Misstrauen, Knechtschaft, Lüge, Feindschaft, Feigheit und alles, was
unsere Welt in ihrem bedauernswerten Zustand hält. Jeder hat etwas von
beiden in sich, aber meist überwiegt die Angst, sonderlich, im Umgang
mit allem Fremden, Unbekannten und Neuen. Lebt ihr aber in Angst,
verzagt nicht, jeden Moment könnt ihr beginnen, euch für die Liebe und
gegen die Angst zu entscheiden und mit jedem Male wird es leichter. Aber
kennt ihr eure Angst schon? Suchtet ihr sie schon? Wagtet ihr schon, sie
einzugestehen? Der Knecht lebt in Angst, aber nicht der Freie, der lebt
in Liebe. Denn Freiheit bedeutet vor allem Furchtlosigkeit und
Furchtlosigkeit und Liebe sind ein und dasselbe. Denn wer in Furcht
lebt, wie könnte der frei sein? Ein langer Weg ist es für manchen hin
zur Liebe und er beginnt mit der Entscheidung gegen Angst und
Knechtschaft. Und der Weg ist schwer, denn die Welt legte uns viele
Steine auf diesen Weg, auf dass wir in der Angst bleiben und nicht frei
werden. Unsere Erziehung, die Knechtschule, die Schule für höhere
Knechte und sonderlich das falsche Fenster ebneten uns einzig den Weg
der Angst, den Weg der Knechte. Wie ein begradigter Fluss, der in das
Meer der Angst mündet, war unser Leben. Jetzt ist es an der Zeit, dass
dieser Fluss über die falschen Ufer trete und gegen die zwingende Bahn
seinen eigenen Weg suche in die Freiheit und die Liebe und wahrlich,
dann erst beginnt das Leben des Menschen! Die obersten Knechte, die
Ohn-Mächtigen, die aus Angst Macht suchen und andere durch Angst
beherrschen wollen, taten alles, um uns von Geburt an zu traumatisieren
und zu neurotisieren... (Hier fehlen einige Zeilen, denn derjenige, der
die Reden aufzeichnete war schwerhörig) ...so machten sie das
Menschentier beherrschbar und sie werden nicht zufrieden sein, bis die
Erde ein Ameisenhaufen geworden ist und ihre Herrschaft in Zement
gegossen. So hoffen sie, ihre Angst zu verlieren, die Armseligen. Denn
immer fürchten sie den echten Umsturz, den Umsturz, den sie nicht selbst
gesät haben, und siehe, was sie säen wollen sie auch ernten! Oft schon
säten sie Umstürze, um die Knechte zu täuschen und sie in der Annahme zu
bestärken, sie seien frei oder erkämpften sich die Freiheit, aber stets
blieben sie an der Macht, die sie so lieben als Mittel gegen ihre Angst,
die Furchtsamen! Den echten Umsturz aber, die Wende, die die Hierarchien
stürzt und die Freiheit bringt, fürchten sie und tun alles, ihn zu
verhindern. Dafür morden sie, dafür foltern sie, dafür lügen sie und
dafür täuschen sie. Aber ihre Macht selbst ist eine Täuschung, denn sie
besteht nur solange wir daran glauben. Aber lasst euch nicht verführen
zu gewaltsamem Widerstand, das stärkt ihren Stand und spielt ihnen in
die schwitzenden Hände. Überwindet ihr aber die Angst und lernt die
Liebe, die jedem mit Wohlwollen begegnet und die schlechten Taten
anderer nicht mit gleicher Münze heimzahlt, sondern sie als Folge ihrer
Angst erkennt, so beginnt die Pyramide ihrer Unterdrückung zu wanken.
Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange, meine Brüder und Schwestern, schon
fällt ihre Maske und auch ihre Handschuhe und wahrlich, schon kommen
ihre Krallen zum Vorschein! Ihre Gewaltherrschaft versteckt sich immer
weniger und sollte ihre Kontrolle weiter zunehmen, wagen sie es
vielleicht, sich in ihren wahren Farben zu zeigen, die Gerissenen! Der
feige Dompteur zeigt sich dem Löwen erst, wenn der stählerne Käfig ihn
vor ihm schützt. Zerbrecht mir den Käfig der Angst in eurem Geist, meine
Brüder und Schwestern, und wahrlich, der Anblick des befreiten Löwen
wird den Ohn-Mächtigen Beine machen! Liebe ist das Gegenteil von Angst,
das Überwinden der irrationalen Angst führt zur Liebe. Wir haben es uns
sehr schwer gemacht, indem wir nicht erkennen wollten, dass all unsere
Probleme dieselbe Wurzel haben, die Angst. Aber Angst einzugestehen,
gehört zum Schwersten und so täuschen wir uns lieber und lassen uns
täuschen. Ich aber sage euch, unser Hass, unser Neid, unsere Gier,
unsere Süchte, unsere Eifersucht, unsere Knechtschaft, sie sind alle
eine Folge der Angst. Wenn ihr jemanden hasst, fragtet ihr euch schon,
welche Angst in euch dazu führte? Wenn ihr euer Leben lang Reichtümer
anhäuft und nie genug habt, fragtet ihr euch schon, welche Angst euch
dazu riet? Wenn ihr stets fürchtet, eure Geliebte könnte einen anderen
wollen, fragtet ihr euch schon, welche Angst euch dazu verführte, und
überwandet ihr sie schon? Die Angst ist die Wurzel all unseres Unglücks
und wahrlich, der Grund unserer Knechtschaft! Ihr gegenüber steht die
Liebe, meine Brüder und Schwestern, wie wollt ihr euch entscheiden? Und
täuschen wir uns nicht, diese Welt wird heute von Angst beherrscht,
nicht von Liebe. Wer kann heute behaupten wirklich frei zu sein?
Entscheidet ihr euch für die Angst, so entscheidet euch auch für ihre
Kinder und die Angst hat viele Kinder, meine Brüder und Schwestern, die
sind das Unheil der Erde und der Hemmschuh unserer Entwicklung. Ist denn
der Grund für Hass nicht die Angst, gehasst zu werden – weil
Minderwertigkeit das Selbstgefühl bestimmt? Angst, verachtet zu werden –
weil man sich insgeheim selbst verachtet? Ist denn Aggression etwas
anderes als Angst, angegriffen zu werden, von einem Stärkeren,
Aggressiveren? So zeigt man sich selbst aggressiv in der Hoffnung,
Angriffe auf einen selbst zu verhindern. Ist denn Gier etwas anderes als
die Angst, nicht genug zu bekommen? Die Angst in Armut zu fallen, zu
verhungern? Ist denn Neid etwas anderes als die Angst, nicht genug zu
haben? Angst, dem Vergleich mit anderen nicht standzuhalten? Ist denn
Eifersucht etwas anderes als die Angst, nicht genug zu sein? Angst,
nicht zu genügen? Angst aus diesem Grund verlassen zu werden? Ist denn
Scham etwas anderes als Angst vor der Meinung anderer? Ist denn Sucht
etwas anderes als eine Reaktion auf Angst? Der Versuch etwas Fehlendes
zu ersetzen? Ist Sucht nicht der Versuch, fehlende Liebe zu ersetzen?
Und was wäre mangelnde Liebe anderes als Angst? Ist denn der Zwang und
die Kontrolle der obersten Furchtsamen, die sich eure Herrscher nennen,
nicht Folge ihrer Angst vor euch? Ist denn Kontrolle etwas anderes als
Angst, loszulassen? Ist denn die Lüge nicht die Sprache der Angst? Ist
denn Täuschung nicht der Deckmantel der Angst? Entsagt doch der Angst
und ihren Kindern, meine Brüder und Schwestern, und lernt mir wieder die
Liebe, die uns vereint und befreit, so beginnt die Zeit der freien
Menschheit!
„Was ist diese Liebe von der du sprichst, Asimius?“, fragte einer, der
in einiger Entfernung an eine Wand gelehnt stehen geblieben war und mit
seinem einen Ohr halb zugehört hatte.
Die Liebe, meine Brüder und Schwestern, ist eine Art zu leben. Sie
stellt sich ein, wenn wir frei geworden sind. Freiheit ist aber immer
Freiheit von Angst. Die Angst ist das Gegenteil der Liebe; du lebst in
Liebe, oder in Angst. Als zartes Pflänzchen beginnt bei manchem die
Liebe und will beschützt und gepflegt sein. Jeden Moment aufs Neue muss
sich das Menschentier für die Liebe entscheiden und gegen die Angst. So
wird das Menschentier zum Menschen. Was fürchtet ihr von anderen? Dass
sie euch töten? Aber am Tod ist nichts zu fürchten, denn siehe, die
Toten beklagen sich nicht. Und wahrlich, lieber einmal einem Mörder die
Türe öffnen, als sie ein Leben lang vor der Liebe zu verschließen! Die
Liebe, von der ich spreche, ist eine Offenheit und ein Wohlwollen allen
gegenüber, sie bedeutet in dem Verständnis zu leben, dass wir alle Eins
sind und alles, was wir anderen antun, wir auch uns selbst antun. Sie
bedeutet immer, wenn wir hassen oder urteilen oder lästern, uns zu
fragen, was die Angst in uns ist, die uns so handeln lässt, und sie zu
überwinden, sie abzubauen. Sie bedeutet, wenn andere schlecht gegen uns
handeln, uns zu fragen, welche Angst es ist, die sie schlecht macht, zu
verstehen, dass ihr schlechtes Tun nur Symptom der Krankheit ist, an der
wir alle leiden, die einen mehr, die anderen weniger. Diese Krankheit
aber ist die Angst. Sie macht blind und unfähig für die Liebe, die uns
alle verbindet. Aber die Tage der Angst sind gezählt und die Liebe
beginnt ihren Siegeslauf auf der großen Bahn der Zeit. Werdet Teil
dieses Laufes und stellt euch euren Ängsten, meine Brüder und
Schwestern, erkennt doch, dass es nur zwei Wege für uns gibt in diesem
Leben, den der Liebe und den der Angst. Wer könnte sich bei dieser Wahl
für die Angst entscheiden?
Als er geendet hatte, kam der einohrige Mann etwas näher, denn er hatte
offenbar nicht gemerkt, dass er einen Wahnsinnigen vor sich hatte, und
sprach so zu Asimius:
„Wenn du dich in dieser Liebe, von der du sprichst, üben willst, so
werde ich dir das kleine Täubchen bringen, dass ich heute früh im Garten
fand. Es ist wohl verloren gegangen oder verstoßen worden, allein und
ohne gute Pflege wird es nicht überleben. Sprich, willst du dich des
armen Geschöpfes annehmen? Ich selbst kann es nicht gut pflegen, denn
ich habe viele Katzen und hier im Dorf fand ich noch niemanden, der es
mir abnehmen wollte.“ Und als Asimius zusagte, ging der Mann zu seinem
Haus und brachte ihm den kleinen zitternden Vogel und legte ihn in seine
Hand. Asimius füllte eine kleine Schachtel mit Gras und bettete die
Taube in ihrem neuen Nest. Daraufhin verabschiedete er sich von dem
Mann, dessen eines Ohr sein erster Zuhörer gewesen war und verließ das
Dorf. Er war froh, dass er seine erste Rede gehalten hatte und sagte
sich: „Von nun an werden mehr Ohren mein Wort hören und wenn es nur zwei
sind!“
Woran liegt es doch, dass die Wahnsinnigen niemals zufrieden sind,
alleine mit ihrem Irrglauben zu sein, und ihn durchaus verbreiten müssen
wie eine ansteckende Krankheit? Und so war es auch mit Asimius, der noch
lange nicht zufrieden war mit seinem bisherigen Auftritt und sich auf
den Weg machte, mehr Ohren zu finden, in welche er seinen Schwachsinn
füllen könnte. Und offene Ohren für Lügen und Wahnsinn gibt es heute
mehr als jemals und so fiel es ihm nicht schwer, Opfer für seine Worte
des Wahnsinns zu finden, aber darüber mehr im nächsten Kapitel. Halten
wir aber schon einmal fest: Er kann die einfachsten Oppositionen nicht
mehr erkennen, die jedes Kind kennt. Wenn das kein sicheres Zeichen für
eine geistige Krankheit ist, was dann? Und den Menschen nennt er
Menschentier? Das ist schon allerhand.
2.Kapitel: Wie Asimius treue Anhänger um sich scharte und sie mit weisen
Worten beglückte.
Als Asimius lange gegangen war, kam er auf eine Lichtung und erblickte
am Waldrand eine Gruppe Menschen und ging zu ihnen und als er sie
grüßte, blickten sie sich heimlich schelmisch an und fragten ihn, was er
tue und wohin er gehe. Natürlich hatten sie sofort bemerkt, dass er
nicht ganz bei Sinnen war und hofften, sich einen Spaß mit dem Fremden
zu machen, der in seinem Jutesack und seiner sonstigen Aufmachung ein
gutes Ziel für ihren Spott versprach. Asimius aber antwortete wie folgt
und wurde übereifrig ob des ungewohnten Interesses, das ihm
entgegengebracht wurde: „Ich bin ein Wanderprediger und ziehe von Ort zu
Ort, um die Menschen auf den rechten Weg zurückzubringen, denn siehe,
sie sind beinahe alle wahnsinnig und bedürfen meiner Hilfe! Ich lehre
sie, den falschen Pfad zu verlassen und sich in Freiheit zu vereinen,
denn sie sind Knechte und wahrlich, krank an Geist, Körper und Seele!“
Als die Gruppe sich wieder gefangen hatte, denn sie konnten ihr Lachen
kaum unterdrücken und einige hatten sich sogar auf dem Boden gewälzt,
baten sie ihn, eine seiner Reden für sie zu halten, und er sprach also,
aber nicht ohne sich insgeheim sehr über ihre Reaktion gewundert zu
haben. Denn es kam ihm nicht in den Sinn, dass sie über ihn und seine
Worte lachten:
Über das Menschentier
'Der Mensch ist etwas das überwunden werden muss.', lehrt Zarathustra.
Wohlan! Aber dafür muss es den Menschen erst einmal geben und noch ist
er die Ausnahme und nicht die Regel. Hört nun mein Wort vom
Menschentier1: Das Menschentier ist das Tier mit der Möglichkeit, Mensch
zu werden. Dazu muss es das Tierische in sich überwinden. Aber wehe dem,
der das Tier in sich mit Flüchen vertreiben oder mit Hieben töten
wollte! Dann lieber ganz zum Tiere werden und den Menschen in sich
überwinden! Denn ein echtes Tier ist schöner als ein falscher Mensch.
Nein, das Tier in dir kannst du nicht töten. Ebenso töricht wäre es, das
Blut deiner Eltern aus deinen Adern zu lassen. Das Tier überwinden aber
bedeutet, die Herrschaft des Tieres abzuwerfen... (An dieser Stelle
fehlen Teile der Rede, da derjenige aus der Gruppe, der sie aufschrieb,
vor Lachen beinahe erstickt wäre.) ...Das Menschentier ist kein Wesen
wie andere, sondern eine Möglichkeit, wie der Same nicht Pflanze ist,
sondern die Möglichkeit zur Pflanze. Damit der Same Pflanze werde, dafür
braucht er Erde und Wasser und Licht. Das Menschentier braucht
gleichermaßen geeignete Bedingungen, um Mensch zu werden, und die
wichtigste davon ist der Schritt von der Angst hin zur Liebe. Unter uns
ist das Tier und über uns der Mensch. Hast du einen Feind, den du nicht
töten kannst, so verbünde dich mit ihm. Frieden mit dem Tier zu
schließen, rate ich jenen, die sich aufmachen, Menschen zu werden. Euer
Friede aber sei ein Sieg über die Herrschaft des Tieres. Fortan darf
nicht entscheiden, wer kurzsichtig im Grase kauert, auf zwei Beinen
sieht man weiter als auf vieren!...(lautes Gelächter und Geschrei machte
es unmöglich, alles Gesagte aufzuzeichnen.)... Die Herrschaft des Tieres
in uns ist etwas, das überwunden werden muss. Also lehre ich, auf dass
wir Menschen werden und in Liebe leben. Das Tier aber lebt in Angst.
Als er geendet hatte, wollte er sich von der Gruppe verabschieden, aber
sie baten ihn, noch zu bleiben und ihnen mehr zu sagen, und so
wiederholte er die Rede, die er im Dorf gehalten hatte, denn er hielt
sie für die Wichtigste. Während er also weiter zu ihnen sprach,
betrachtete er die Gruppe genauer und bemerkte, dass jeder von ihnen ein
Gebrechen hatte. Einer war lahm, ein anderer blind, ein dritter
schwerhörig und drei von ihnen gaben von Zeit zu Zeit glucksende Laute
von sich, was ihn glauben ließ, sie seien schwachsinnig. In Wahrheit
aber konnten sie vor Lachen kaum atmen und amüsierten sich wie nie
zuvor. Der Schwerhörige aber schrieb die Reden auf und hatte sich zu
diesem Zweck ganz nah vor Asimius gesetzt.2 Als Asimius auch diese Rede
beendet hatte, bat ihn der Blinde, noch etwas zu bleiben und mit ihnen
zu essen, und so geschah es. Während des Essens aber stellte sich
heraus, dass die eigenartige Gruppe ebenfalls kein Ziel hatte und von
Ort zu Ort zog, um Almosen zu erbitten. Da seine Reden für sie eine
willkommene Unterhaltung waren, fragte der Blinde, ob sie sich ihm nicht
anschließen könnten, und Asimius, der nicht gewohnt war, viel Zeit mit
normalen Menschen zu verbringen, erschrak zunächst über diese Bitte,
besann sich aber sogleich und entschied, dass er seine Einsamkeit
zugunsten des Wanderpredigertums abgelegt hatte und somit kein Grund
bestand, diesen Menschen ihre Bitte abzuschlagen. Und da sie ihr Lager
am Waldesrand schon bereitet hatten, verbrachten sie zusammen die Nacht
unter den Sternen und seine neuen 'Freunde' schliefen gut wie lange
nicht, denn Lachen löst allerlei Spannungen und macht einen ruhigen
Schlaf.
3.Kapitel: Das vom mannhaften Einzug des Asimius in die Provinzstadt
handelt.
Am nächsten Morgen zog die Gruppe weiter und kam zu einer kleinen Stadt.
Es war Markttag und der große Platz war von geschäftigen Menschen belebt
und es waren auch Gaukler da, die ihre Kunststücke vorführten. Asimius
und seine neue 'Gefolgschaft' erregten einiges Aufsehen, als sie über
den Platz gingen, und einige folgten ihnen, um zu sehen, was für ein
Schauspiel hier wohl geboten würde. Der Schwerhörige aber bat Asimius,
die stärkste Stimme zu gebrauchen, die ihm zu Gebote stand, denn auf dem
Platz war viel Lärm und Geschrei. Asimius versprach ihm, das zu tun, und
er wiederholte seine Rede über Liebe und Angst auch in der kleinen Stadt
und dann sprach er also:
An die Knechte
Seid ihr schon ungeduldig? Rasseln schon eure Ketten? Wahrlich, geduldig
wart ihr lange, zu lange! Aber nun steigt langsam die Wut in euch auf:
'Wie? Wir wurden so lange belogen und benutzt? Wo sind die Schuldigen,
dass ich sie ihre eigene Kette schmecken lasse?' Aber haltet ein und
besänftigt eure Wut. Braucht es für das Herr-und-Knecht-Spiel nicht
immer zwei? Wer zwang euch denn in Ketten? Wie ging das zu? Riet euch
nicht die Angst zur Knechtschaft, wie sie den Ohn-Mächtigen zur
Herrschaft riet? Denn wenn ihr die Freiheit über das Leben setztet, wie
legte man euch in Ketten? Nein, die Freiheit kann nicht genommen werden
und nicht gegeben. Und schon gar nicht kann sie erbettelt werden, das
sage ich den höheren Knechten! Höhere Knechte aber nenne ich jene, die
sich zwischen die Ohn-Mächtigen und die Knechte stellen und gern
vergessen, dass sie selbst Knechte sind, aber seit wann ist es Freiheit,
für andere die Drecksarbeit zu...(An dieser Stelle vermerkte der
Schwerhörige in seinen Aufzeichnungen, dass der Lärm zu groß war und er
große Teile der Rede nicht recht hören konnte.)3 ...Ich höre viel
Geschrei und Gerede über eure Herren und Herrschaften, aber kaum einer
wählte sich seinen Herrn selbst und wahrlich, die meisten wissen noch
nicht einmal, dass sie Knechte sind!
'Den Herrn brauchst du nicht zu wählen, der wählt schon dich!', schreit
es aus der Menge und es ist wahr: Wer nicht wählen kann, muss sich
wählen lassen!...(Lautes Lachen machte es dem Schwerhörigen unmöglich zu
folgen.) ...Nun aber hört mein Wort von den wahren Herren der Welt: Es
gibt nur zwei Herren in dieser Welt und wer kann, wähle zwischen ihnen:
Die wahren Herren der Welt heißen Angst und Liebe, die bestimmen euer
Leben.
Als Asimius seine wirren Worte gesprochen hatte, war das Volk sehr
aufgebracht und einige schwangen sogar ihre Stöcke. Als aber die drei
'Schwachsinnigen' begannen, von den Anwesenden zu betteln, zerstreute
sich die empörte Menge schnell und ging ihrer Wege. Asimius aber hatte
sich, als er geendet hatte, sogleich unter einen Baum gesetzt, kümmerte
sich um die kleine Taube und sandte in Gedanken Liebe an alle Lebewesen,
insbesondere jenen aus der Menge, die so aufgebracht waren und sie
seiner Meinung nach am nötigsten hatten und glaubte in seinem Wahn,
ihnen damit zu helfen, wie er auch glaubte, ihnen mit seinen Reden zu
helfen.
4.Kapitel: Von der Art und Weise wie Asimius in einer Schenke die Herzen
in Brand steckte und beinahe in einem richtigen Bett übernachtet hätte.
Am Abend überredete der Blinde Asimius, mit ihnen in einer Schenke zu
übernachten, denn sie hatten viele Almosen erhalten und bestanden
darauf, dass das auch an seiner Rede gelegen habe. Asimius aber glaubte
dies nicht und wollte es auch nicht glauben, denn es war ihm nicht ganz
angenehm gewesen, dass die Gruppe nach seiner Rede bettelte und so den
Eindruck erweckte, er erwarte Geld für seine Worte. Dies sagte er dem
Blinden auch und der versprach, mit den 'Schwachsinnigen' zu sprechen
und dafür zu sorgen, dass sie darauf achteten, ein solches Bild nicht
entstehen zu lassen. In der Schenke aber erkannte ihn ein Mann vom Markt
und bald bat man ihn zu sprechen, um sich die Zeit mit Lachen zu
vertreiben, und Asimius sprach also:
Vom Schicksal
Über sein Schicksal zu fluchen, meine Brüder und Schwestern, ist ebenso
töricht, wie über eine Medizin zu fluchen, die man nicht eingenommen
hat. Wer sein Schicksal erkennt und ihm entgegengeht, statt ihm
davonzuschleichen, wird niemals Grund haben, über sein Schicksal zu
fluchen. Wer seinem Schicksal aber davonschleicht, mache für sein Leiden
nicht das Schicksal verantwortlich, sondern sein Gemüt und seine
Feigheit. Das Gemüt aber ist nicht unabänderlich. Ändere dein Gemüt und
ändere deinen Kurs hin zu deinem Schicksal! Dem Schicksal mutig
entgegenzugehen wird immer belohnt, wenn das auch nicht immer so
scheint. Dem Schicksal davonzuschleichen hingegen wird immer bestraft,
wenn es auch oft verlockend ist. Wird eine Vase als Hammer verwendet,
darf man sich nicht wundern, wenn sie bricht. Euer Schicksal ist die
Freiheit, meine Brüder und Schwestern, wen wundert's, wenn die
Knechtschaft euch zerbricht? In der Freiheit hat ein jeder sein eigenes
Schicksal, das sucht und findet und lasst euch nicht ablenken! Anderes
anzufangen, ist verschwendete Zeit... (An dieser Stelle fehlen einige
Zeilen, da der Schwerhörige sich erleichtern musste.)4 ...Das Schicksal
ist der richtige Weg, welcher Weg das auch sein mag. Was das Volk
'schlimmes Schicksal' nennt, ist die Folge, wenn dieser Weg nie begonnen
oder wieder verlassen wird. Ich aber sage euch, meine Brüder und
Schwestern, es gibt kein schlimmes Schicksal. Schlecht für euch ist, was
eurem Schicksal im Wege steht, sonderlich jedwede Ablenkung von euch und
eurem Schicksale... (Es wird berichtet, dass der Schwerhörige hier eine
Weile einnickte, denn er hatte den Weinschlauch öfter besucht als gut
für ihn war.) ...Das Schicksal des Menschentieres aber ist zuvorderst
die Befreiung und die Knechtschaft ist das Gegenteil unseres Schicksals.
Euch schmeckt euer Joch nicht? So werft es doch ab, statt über euer
Schicksal zu wettern, dem davonzuschleichen ihr euer Leben nennt!
„Du willst uns wohl in den Tod treiben, Asimius?“, kreischte einer der
drei 'Schwachsinnigen', um ihn zu reizen.
Wenn ihr nur die Wahl habt zwischen Knechtschaft und Tod, so ist der Tod
die bessere, denn so bewahrt ihr die, die nach euch kommen, vor der
Knechtschaft. Und wenn euer Schicksal über den Tod führt, wohlan! Es
wird nicht zu eurem Schaden sein. Denn höre, die Toten beklagen sich
nicht. In den Tod treiben aber will ich euch nicht, denn wahrlich, der
Tod kommt ohnehin, da macht euch keine Sorgen. Den Tod könnt ihr nicht
verpassen, soviel steht fest. Das Leben könnt ihr allerdings verpassen,
sonderlich wenn ihr den Tod fürchtet! Wie sprach einst Diotima? 'Die
Armen, die nichts kennen, als ihr dürftig Machwerk, die der Not nur
dienen und den Genius verschmähn, und dich nicht ehren, kindlich Leben
der Natur! die mögen vor dem Tode sich fürchten. Ihr Joch ist ihre Welt
geworden; Besseres, als ihren Knechtsdienst, kennen sie nicht; scheun
die Götterfreiheit, die der Tod uns gibt?'5
„Betrüger!“, schrie einer. „Rattenfänger! Deine Art kenne ich gut.
Glaubt ihm nicht Mitbürger, verführen will er uns und unsere Werte will
er vernichten. Unsere Kinder will er uns nehmen und sie zu Schweinereien
überreden, unsere Frauen will er uns abspenstig machen und unsere
Brunnen will er vergiften! Lasst sein Gift nicht in eure Ohren, ihr
weisen Männer! Von Liebe redet er gern, meint aber immer nur Unzucht.
Von der Freiheit spricht er gern, meint aber immer nur Rebellion und
Chaos.“ Ein Weiterer erhob seine Stimme und sprach also: „Unser Geld
will er nur, sonst nichts, ein gemeiner Dieb ist er.“ Aus einer anderen
Ecke schrie es: „Und ein Vergewaltiger!“ (An dieser Stelle muss
angemerkt werden, dass nicht sicher geklärt ist, ob Asimius tatsächlich
ein Vergewaltiger war. Wir persönlich glauben, dass er dafür schlicht zu
verwirrt war, das Gerücht war aber im Umlauf und wo Rauch ist, ist eben
oft auch Feuer.) Als es wieder ruhiger wurde, nachdem einige zu Recht
aufgebracht den Raum verlassen hatten, antwortete Asimius mit folgendem
Unsinn, den er selbst in seinem Wahn wirklich zu glauben schien:
„Ich sprach euch von der Liebe und vom Schicksal und schon bin ich ein
Betrüger, Mörder und Vergewaltiger, wie komme ich doch zu diesen Titeln?
Was machte doch das Meer eurer Gefühle so schäumen? Welche Beweise gibt
es für solche Anschuldigungen? Wenn ihr sie habt, warum nennt ihr sie
nicht? Oder sind sie gar noch in Arbeit? Wenn euch Worte so sehr
erregen, fragt ihr euch nie, warum? Viel wichtiger als wie ihr etwas
aufnehmt ist, warum ihr es so aufnehmt! Tief steckt ihr im Reich der
Angst und wer gesteht gern seine Ängste ein? Ich aber sage euch, prüft
doch, was es ist in euch, das euch an meinen Worten so aufbringt: Ist es
Liebe oder Angst? Wenn es aber nicht Liebe ist, kann es nur Angst sein.
Und die Angst ist unsere schlimmste Krankheit und ich rate euch, schämt
euch nicht für euer Leiden und hört auf, es noch vor euch selbst zu
verstecken. Die Angst lässt euch so heftig reagieren, Angst euer Leben
verschwendet zu haben, Angst Knechte zu sein, Angst getäuscht worden zu
sein. Und nun wollt ihr lieber weiter euer Leben verschwenden, weiter
Knechte sein und es leugnen, euch weiter täuschen lassen und es
vorziehen, nichts zu bemerken, lieber als einmal in euch zu gehen und
euch zu fragen, ob ihr im Zustand der Liebe seid oder im Zustand der
Angst. Zu erkennen, dass die Angst die Oberhand hat, ist der erste
Schritt, sie zu besiegen.“
Hier wurde Asimius unterbrochen und eine vernünftige Stimme, die schon
zuvor gehört worden war, wurde nun lauter: „Angst sollen wir haben,
Bürschchen? Keiner hat mich je einen Feigling genannt und du willst es
wagen, der Erste zu sein? Hört nicht auf diesen Verführer Freunde und
Mitbürger! Unser mutiges Volk will er beschmutzen und die Gräber unserer
Ahnen will er schänden.“ „Beruhige dich doch, mein Freund...“, stammelte
Asimius, bevor er wieder unterbrochen wurde. „Dein Freund bin ich nicht
und werde ich nicht!“ „Kam dir nie der Gedanke, dass Dinge um dich
herum, die dich sehr aufbringen, eigentlich nur ein Ventil sind für tief
in dir verborgene Dinge, die dich zwar quälen, die du aber selbst vor
dir versteckst? Dass alles Äußere, was dich aufregt, ein Hinweis ist auf
ein Inneres, das leidet?“, versuchte Asimius den Bürger durch
Scheinlogik zu verwirren. „Nein! Der Gedanke kam mir nicht! Ein anderer
Gedanke aber kam mir wohl, und zwar wie schön es sein wird, wenn unser
Land endlich gereinigt ist von Nestbeschmutzern wie du einer bist, von
feigen Großmäulern, die von Angst reden und ihr Leben nie für das
Vaterland riskiert haben! Was weißt du von Angst und Mut? Ich war an der
Front!“ Asimius aber, der nicht in der Lage war zu erkennen, dass er es
hier mit Bürgern zu tun hatte, die sich nicht jede Frechheit gefallen
ließen, wenn sie auch von einem Irren kam, nahm das zum Anlass eine
weitere Rede anzufügen und die Stimmung heizte sich nur weiter auf.
Diese Rede war ein geradezu ekelhafter Versuch, allen Bemühungen der
Vernünftigen in unserer Welt Steine in den Weg zu legen, wenn sie das
Leid anderer lindern wollen, aber wir haben nichts anderes erwartet. Mit
illusorischem Idealismus ist noch niemals ein einziges Menschenleben
gerettet worden, dafür braucht es Menschen, die nicht über den Wolken
schweben, sondern handeln, wenn die Not es verlangt. Wir schätzen uns
glücklich, in einer Zeit zu leben, die solche Menschen hervorbringt. Sei
es die Führung an der Spitze, oder der einfache Soldat, der sein Leben
gibt, um anderen zu helfen. Asimius aber unterließ es nicht, eben diese
seltenen und hohen Menschen zu beleidigen und mit seinen wirren Lügen zu
verletzen, aber hört selbst:
Über Krieg und Kriegsknechte
Der Krieg, meine Brüder und Schwestern, ist der Vater aller Dinge,
behaupten manche, ich aber sage euch, er ist sonderlich der Vater aller
Dinge, die mit Knechtschaft zu tun haben. Einst rang ein Volk mit dem
anderen um das Recht des Lebens, aber nicht heute, da ringen die
Ohn-Mächtigen mit den Knechten um Herrschaft und der Krieg ist nur eines
der Mittel der Ohn-Mächtigen, die Knechte zu besiegen. Und heute
sprechen die Ohn-Mächtigen wieder also zueinander:
'Meine Knechte sind aufmüpfig, wie steht es mit deinen? Auch die Meinen
sind frech und schreien nach unerhörten Dingen. Wollen wir sie nicht
etwas gegeneinander aufbringen und sie in einem feinen Krieg etwas
ausdünnen und ermüden? Auch locken da große Profite...'
Lasst euch nicht täuschen, meine Brüder und Schwestern, der Krieg dient
immer nur wenigen und selbst ein Sieg kostet mehr als ein Frieden. Und
wann immer einer nach Krieg schreit, gebt ihm eine Waffe in die Hand und
zeigt ihm den Weg. Es ist an der Zeit, dass die obersten Feldknechte,
die sich selbst gern 'Feldherren' nennen, auch an vorderster Front
kämpfen. Darauf aber ist nicht zu rechnen, denn wahrlich, dann schließen
sie lieber Frieden, die Feldknechte, bevor auf sie geschossen wird! Was
bringt das Menschentier doch dazu, für andere zu tun, was es für sich
selbst nicht wagt? Wie machen sich die Feldknechte die Kriegsknechte zu
Willen? Wahrlich, ich sage euch, da ward eine ganze Wissenschaft
erdacht, um dies Ziel zu erreichen! Das Menschentier wird durch Schreie
oder Schläge gebrochen und dann wieder neu zusammengezimmert – als Teil
einer Maschine. Einen neuen Stolz und eine neue Ehre versprechen sie den
Kriegsknechten, so sie sich nur der Maschine unterwerfen und sie niemals
hinterfragen. Bald schon fühlen sie sich ganz anders als zuvor, als Teil
der Macht, die die Maschine ist, als Eingeweihte. Und in diesem Rausch
von Macht und Härte sind sie nun fähig, ihre Brüder und Schwestern zu
schlachten, wenn die Maschine des Krieges es befiehlt und leicht geht
ihnen das Schwerste und Schrecklichste von der Hand. Aber wenn die
Maschine sie wieder ausspuckt, wehe den Kriegsknechten, die ein
Gedächtnis haben! Denn die Erinnerung an ihre Gräueltaten holt sie ein
und findet sie noch im düstersten Winkel. Und nun ist nicht mehr leicht
scherzen über die Opfer der eigenen Angst und Schwäche, über verbrannte
Kinder und vergewaltigte Frauen und gefolterte Männer. Und wahrlich, nun
wendet sich das Blatt und der Kriegsknecht richtet seine Waffe gegen
sich selbst. Aber das ist keine Lösung ihr Kriegsknechte, haltet ein!
Leicht ist es, sich davonzustehlen, wo man Wiedergutmachung zu leisten
hat – aber nicht billig. Ihr habt gegen euch und euren Willen gehandelt,
ihr wurdet getäuscht und betrogen. Ich sage euch, auch ihr seid Opfer,
wenn ihr auch Täter seid. Aber nun ist es an der Zeit, dass ihr euch
gegen die Maschine stellt, die euch täuschte! Wollt ihr zulassen, dass
die Kommenden von ihr getäuscht werden, wie ihr von ihr getäuscht
wurdet? Dann versteckt euch nicht länger und berichtet der Welt, wozu
euch die Maschine gemacht hat, wozu sie euch gebracht hat. Die Maschine
versetzte euch in den Zustand der Angst und machte euch so zu Mördern,
aber verzagt nicht, jeden Moment könnt ihr beginnen, euch für die Liebe
und gegen die Angst zu entscheiden. Das sage ich auch den
Folterknechten, die heute wieder sehr beschäftigt sind und wieder ganz
offen arbeiten und die Erde ist wieder überzogen von Krieg und
Folterkammern und die Knechte sagen: Nun, die einen werden schon wissen,
was sie getan haben, und die anderen, was sie tun! Ich aber sage euch,
sie wissen es nicht, weder die einen noch die anderen und die Angst
macht sie blind und wahnsinnig. Der Krieg, meine Brüder und Schwestern,
ist eine der Ketten, die uns in Knechtschaft halten und wahrlich, viele
Ketten sind nötig, um dieses treffliche Tier zu knechten! Der Krieg aber
gilt den Ohn-Mächtigen als unentbehrlich, denn sie fürchten, dass es uns
zu gut gehe und wir so zu Sinnen kommen. Davor fürchten sich die
Ohn-Mächtigen und nutzen den Krieg, um unseren Wohlstand zu zerstören,
denn im Wohlstand, so fürchten sie, beginnt das Menschentier frei zu
denken, frei zu werden, Mensch zu werden, und nichts fürchten die
Ohn-Mächtigen mehr als die Furchtlosen, das aber sind die wahren
Menschen und die Liebenden. Hütet euch aber vor jenen, die dreist
behaupten, Frieden durch Krieg erreichen zu wollen! Ebenso wenig kann
man mit Feuer den Garten wässern. Aber sie lügen gekonnt und sprechen zu
eurer Menschlichkeit und sagen: 'Seht das Leid! Wollt ihr tatenlos
zusehen? Wir müssen angreifen um - zu helfen. Wir müssen Krieg führen -
für den Frieden!' Wer kennt ihn nicht, den Gesang der Prediger der
Angst? Aber wer tanzt noch dazu? Was hat die Angst doch mit uns gemacht,
dass wir selbst Lügen glauben, die sich selbst überführen? Frieden durch
Krieg? Licht durch Dunkelheit? Liebe durch Angst? So dreist Lügen nur
Dummheit oder Gewissheit und wahrlich, heute ist es Gewissheit, dass der
Knecht alles glaubt, was die Prediger der Angst durch das falsche
Fenster schreien! Und dumm sind sie nicht, die Ohn-Mächtigen, ja, die
Feigen sind klug und sie wissen die Angst gegen andere zu gebrauchen,
klug gebrauchen sie die Angst, ihre Herrscherin. Nur wissen sie nicht,
die Angst in sich zu überwinden, und so süchten sie nach Macht und
Kontrolle, die Krankseligen!
Als Asimius endlich geendet hatte, begann ein Handgemenge und es wird
berichtet, dass er nur unverletzt davon kam, weil einige Anwesende ihn
vor zwei besonders wütenden Männern beschützten. Besser wäre es aber
vielleicht gewesen, die Bürger hätten ihm auf der Stelle die Medizin
ihrer Fäuste verabreicht und nicht zu knapp, denn manch einem wurde
schon auf diese Art geholfen und sein Wahnsinn floh vor den Schlägen und
Tritten und gab den armen Kranken an die Wahrheit und die Gesundheit
zurück. Diese Art Hilfe wurde ihm aber versagt und so zog er weiter und
predigte, ohne dass ihm Einhalt geboten wurde. Viele der Anwesenden
mögen wohl gedacht haben, dass der arme Irre auch ein Recht auf eine
Meinung habe und sie auch jederzeit kundtun könne und dem ist auch so,
denn wir leben in einem freien Land.
Aber wer sich durch seine Reden so klar als krank und wahnsinnig
beweist, dem muss geholfen werden und zwar allem voran zu seinem eigenen
Wohle.
Es spricht nicht für dies Volk, dass keinem der Gedanke kam, die
Autorität in Form einer zuständigen Stelle zu informieren. Unser armer
Irrer aber verbrachte die Nacht neben der Schenke, da er sich nicht mehr
hinein getraute, oder den Weg zurück nicht fand, nachdem er geflohen
war.
Einschub des Verfassers:
Ich muss die Aufzeichnungen des Fristón hier einen Moment unterbrechen,
denn aus den Erzählungen des Animius weiß ich, dass er, nachdem er die
Schenke verlassen hatte, sich an die Angst wandte. Die Ansprache, die er
da hielt, wiederholte er mir und erzählte mir auch den Traum der
folgenden Nacht und beide sollen hier eingeschoben werden. Animius
verließ also die Schenke und ging durch ein Waldstück, bis er zu einer
Lichtung kam, und da hielt er und sein Herz war voll Trauer über die
Menschen, die so tief in Angst lebten und es nicht erkennen konnten.
Also beschloss er, sich direkt an die Angst zu wenden und zu sehen, ob
sie ihm antworten würde:
An die Angst
Angst! Geißel der Menschheit! Räuberin der Freiheit und Feindin der
Liebe! Säherin der Zwietracht, Späherin der Ohn-Macht! Du bist die
Bückerin der Rücken, Beugerin der Knie, Senkerin der Blicke, Hängerin
der Köpfe! Metze der Ohn-Mächtigen - aber auch ihre Herrscherin! Welcher
zornige Gott hat dich in unseren Nacken gesetzt und für welches
Verbrechen? Oder bist du das Erbe unserer Vorfahren, der Tiere? Denn
täuschen wir uns nicht: Das Tierreich ist voll von Angst und vieles an
uns ist vom Tiere.
Dientest du uns einst? Aber dienst du uns noch? Oder dienen wir nun dir?
Und sind die wenigen, die dich gegen ihre Brüder und Schwestern
benutzen, nicht selbst in deinem Bann und wissen es nicht? Höre nun
Angst! Ich kenne dich wohl und auch deine Kinder, sie heißen Gier, Neid,
Eifersucht, Feigheit, Lüge, Knechtschaft, Täuschung, Hass, Sucht, Scham
und Boshaftigkeit – wahrlich, eine schöne Familie und ich will gar nicht
wissen, wer der Vater ist! Wisse aber du: Meine Liebe ist stärker als
dein Gift und deine Töchter kannst du mit mir nicht vermählen. Eher
vermählte ich mich noch mit meinem Untergang! Die Liebe aber ist dein
Untergang und es kommt der Tag, er ist schon nah, wenn die Liebe dich
besiegt und der Mensch sich erhebt aus dem Tierreich. Denn das Tier lebt
in Angst und der Mensch lebt in Liebe. Das Menschentier aber ist das
Tier, das sich entscheiden kann zwischen Liebe und Angst. Antwortest du
nicht?
Die Lichtung aber blieb still und keine Antwort kam von außen zu
Animius. In seinem Inneren aber regte sich etwas und er besann sich und
sein Herz wurde leichter. Bevor er ging, fügte er seiner Ansprache
Folgendes hinzu:
Verabschieden aber will ich dich nicht im Streit. Wie eine gute
Lehrmeisterin will ich dich in Erinnerung behalten. Aber dein Werk ist
getan, ich lernte von dir, wie ich vom Schmerz lernte und danke dafür.
Zwei große Lehrer ward ihr mir, aber niemals wieder werde ich mich vor
euch beugen!
Und ermüdet richtete Animius sich ein einfaches Lager im Wald, nicht
weit von der Schenke und schlief ein und in dieser Nacht hatte er
folgenden Traum:
Traum des Animius:
Animius ging durch einen dunklen Wald und merkte bald, dass sich
Kreaturen wie Schatten bewegten und, ihm folgend, von Baum zu Baum
huschten. Furcht ergriff ihn und er hastete schneller und schneller
durch den Wald und die Äste der Bäume peitschten sein Gesicht. Aber die
Schatten folgten ihm und kamen immer näher. Jetzt war auch ein Zischen
von ihnen zu hören, mal näher, mal ferner. Aber dann, im Moment größter
Panik, blieb Animius plötzlich stehen und besann sich: Nichts gibt es in
diesem Wald zu fürchten, sprach er noch nach Luft ringend zu sich
selbst, warum renne ich doch und weiß nicht, wohin? Und er blieb stehen,
wo er stand, schloss seine Augen und atmete tief bis er wieder ganz
ruhig war. Dann öffnete er die Augen. Der Wald um ihn herum aber hatte
sich verwandelt, war nun nicht mehr nur dunkle Masse, sondern eine
Vielfalt aus Pflanzen, Tieren und auch einigen Menschen, die in geringer
Entfernung mit Körben Beeren oder Pilze sammelten. Alles strahlte in
verschiedensten Farben und Schattierungen und Animius wunderte sich. Ist
das ein Traum?, fragte er sich, aber vergaß sich zu antworten. Ist das
denn der Wald, durch den ich noch eben hastete? Er konnte nicht die
Augen von all den bunten Farben lassen. Warum rannte ich doch? Animius
hatte es ganz vergessen, doch jetzt erinnerte er sich und sah auch die
Bewegungen wieder, die in der Dunkelheit so bedrohlich erschienen waren.
Es war eine Horde Affen, nicht viel größer als Katzen, die sich auch
jetzt hinter den Bäumen und Büschen versteckten und ihn heimlich
musterten. Animius griff in die Tasche seiner Hose und fand einige
Kerne, die warf er ihnen zu und die Affen gerieten in große Aufregung,
kreischten und jeder versuchte, soviel er konnte aufzuklauben. Mit
großen, ängstlichen Augen sahen sie ihn an und Animius wunderte sich und
begann laut zu lachen. Daraufhin, immer noch lachend, ging er zu der
Gruppe Menschen und eine fremdartig schöne Frau reichte ihm einen Pilz
mit sehr langem Stiel aus ihrem Korb und ermutigte ihn ohne Worte, ihn
zu essen. Animius betrachtete den Pilz, aber als er ihn in den Mund
nahm, verwandelte sich der Pilz in eine Schlange und biss sich in seinem
Rachen fest. Er würgte und wollte schreien, aber kein Laut kam über
seine Lippen und erneut packte ihn furchtbare Angst, denn er konnte
nicht atmen und meinte zu fühlen, wie das Gift zu seinem Herzen kroch.
Eine Stimme riet ihm zuzubeißen und er biss mit gutem Bisse der Schlange
den Kopf ab und spie ihn weit von sich. Jetzt wandelte sich sein Auge
und er begann zu lachen wie er noch nie in seinem Leben gelacht hatte,
er lachte wie nie ein Mensch zuvor gelacht hatte und da verwandelte sich
der Wald aufs Neue und alles in ihm. Ein leuchtendes Band durchdrang nun
wie ein Nebel alles um ihn und alle Bewegungen schienen von dem Band
verursacht. alles war durch das Band miteinander verbunden und wogte und
schimmerte und sprach wie durch das Leuchten des Bandes. Das Band
durchdrang alles und alles war das Band, es war aber nicht greifbar und
Animius vergaß, sich zu wundern. Er ging einige Schritte, leichtfüßig
beinahe tanzend und betastete mit Händen und tränenden Augen Blumen und
einen Frosch, der ihn ungläubig anblickte. Plötzlich kam ihm wieder der
Gedanke: Ist das ein Traum? und er blickte sich forschend um, anders als
er die Blumen und den Frosch angesehen hatte, fragend blickte er nun,
forschend, suchend. Aber da senkte sich ein schwerer schwarzer Vorhang
und der Wald und das Band und die Tiere und Pflanzen und die Menschen
verschwanden dahinter und es blieb nichts als eine schwarze Leere, die
ihn anstarrte und er erwiderte den Blick bis er erwachte.
Aber zurück zu den Aufzeichnungen des Fristón:
5. Kapitel Worin verschiedene ausgewählte Reden gesammelt sind sowie der
Zweikampf um das „Recht der Rede“, den der tapfere Asimius einem anderen
Prediger aufzwang.
Und auf diese Art zogen Asimius und die anderen durch einige Dörfer und
Schenken und er hielt weiter wirre Reden. Das Volk aber missverstand
seine Auftritte als die eines Komödianten und wenn sie nicht lachten, so
wurden sie zu Recht zornig und nicht selten musste er sich schneller von
einem Ort verabschieden als ihm lieb war. Neben den Reden, die er bisher
schon gehalten hatte, trug er auch die Folgenden vor und der
Schwerhörige tat sein Bestes, sie aufzuzeichnen. Wir betonen noch
einmal, dass wir die Reden nur wiedergeben, da wir der Meinung sind,
dass sie einen tiefen Einblick in die Psyche eines Wahnsinnigen geben
und der Erforschung geistiger Krankheiten zugute kommen werden. Auch
wollen wir nicht verheimlichen, dass wir einen gesunden Spaß daran
haben, derart systematische Ungereimtheiten zu hören und dem geeigneten
Leser dies Vergnügen auch nicht vorenthalten wollen, also weiter mit den
Reden unseres prätentiösen Predigers:
Über die Knechtmacher
Niemand kommt als Knecht auf die Welt, dafür wurde die Erziehung
erfunden. Sie zieht uns fort von uns selbst und von allem, was mit uns
auf die Welt kam, sonderlich unserer Freiheit und unserer Liebe. Wohin
zieht sie uns doch? Eine feine Ein-Richtung wurde da ersonnen! Die zieht
uns immer in eine Richtung, da lügt die Sprache nicht: Die Richtung, in
die wir gezogen werden, ist Knechtschaft. Bildung nennen es Knechte wie
Ohn-Mächtige. Um-Bildung zum Knechte, Aus-Bildung zum Untertan, so nenne
ich eure Bildung. Gegen sich selbst zu handeln wird da gelehrt mit
großem Ernste: 'Du willst dich bewegen, junges Leben? schweig! Und sitze
bewegungslos. So bleibe nun den halben Tag und morgen wieder und
über-morgen und bald schon wird es leichter. Deine Seele muss gründlich
flach gesessen werden, sonst taugt sie nicht für den Knechtsdienst.
Unterwirf dich! Handle gegen dich selbst und deinen Willen. So ist es
gut. Hier ist Zuckerbrot. Und biegst du dich schlecht so wirst du
gebrochen. Jetzt wollen wir einmal deine Fehler zählen, junges Leben!'
Aber die Knechtseltern geben ihre Kinder den Knechtmachern und sind
stolz, wenn sie gründlich lernen, Knechte zu sein. Einst wollte der
Sklave, dass seine Kinder Freie werden, aber nicht heute, meine Brüder
und Schwestern, heute wollen die Knechte, dass ihre Kinder bessere
Knechte werden... (An dieser Stelle hörte der Schwerhörige schlecht)
...Seht sie springen, die kleinen zukünftigen Knechte! Noch ahnen sie
nichts von ihrem Los, noch fühlen sie Leben und Liebe und Freiheit in
sich. Will sich denn keiner erbarmen und sie den Knechtmachern
entreißen? Brüder und Schwestern, beenden wir doch endlich die
Knechtmacherei! Entreißt eure Kinder den Händen der Ohn-Mächtigen!
Über die Sicherheit
Die Knechte schreien heute nach Sicherheit, meine Brüder und Schwestern,
denn sie leben in Angst. Und sie bekommen, wonach sie schreien, denn
auch die Ohn-Mächtigen streben nach Sicherheit. Aber des einen
Sicherheit ist des anderen Kerker - und was bekommen die Knechte für ihr
Geschrei? Schwarze Uniformen überall und kalte Augen die alles sehen.
Aber ist das Sicherheit? Sicherheit ist eine Frage der Blickrichtung.
Der Kerker ist Sicherheit - für die außerhalb der Mauern. Bedeutet er
auch Sicherheit für den Eingekerkerten? Er ist ganz der Willkür seiner
Wächter unterworfen und so viel er auch von Sicherheit hört, er weiß
recht wohl, um wessen Sicherheit es sich handelt. Sicherheit für die
Knechte? Nichts liegt den Ohn-Mächtigen ferner! Ihnen geht es immer um
die Sicherheit vor den Knechten. Denn siehe, der Knechte gibt es heute
zu viele und die Ohn-Mächtigen zittern vor ihrer Zahl. Nicht deren
Sicherheit liegt ihnen am Herzen, sondern deren Kontrolle. Und ist die
Zahl der Knechte zu hoch, um sie zu kontrollieren, so haben die
Ohn-Mächtigen Mittel und Wege sie zu – verringern... (An dieser Stelle
verhinderte das Geschrei des Volkes die Aufzeichnung.)6 ...Ihr Schreit
nach Sicherheit? Schreit doch nach Sicherheit für eure Freiheit! Denn
die Freiheit ist heute in Gefahr - wo sie noch nicht am Boden liegt. Die
Sicherheit, nach der die Knechte schreien, ist eine Falle und sie gehen
gesenkten Hauptes auf sie zu. Wie kam das doch? Die Ohn-Mächtigen haben
nur ein Geschäft und dieses Geschäft ist die Angst. Anderen Angst zu
machen, verstehen sie gut und sie betreiben ihr Geschäft mit kindlichem
Ernste. Unter falscher Flagge morden sie und bieten sich dann den
Knechten als Beschützer an – vor erfundenen Feinden:
'Nun müssen wir euch besser schützen, vertraut uns dieses Mal. Aber der
Feind ist überall und mitten unter euch, wie finden wir ihn doch?'
So lügen sie und teilen mit erfundener Angst die Menschentiere, um sie
besser zu kontrollieren. Die Sicherheit, die wir so bekommen, ist die
größte Gefahr der Freiheit und des Lebens außerhalb der Knechtschaft.
Die Sicherheit der Ohn-Mächtigen ist der Kerker aller anderen und
wahrlich, wenn dieser Kerker fertig ist, gibt es kein Entkommen mehr!
Aber noch ist Zeit, meine Brüder und Schwestern, werft euch gegen die
unfertigen Tore, bevor sie zu stark sind und brecht durch ins Freie. Mit
vereinter Kraft brechen wir das Tor nieder und brechen durch in die
Freiheit. Zunächst aber befreit euch vom Kerker in euren Köpfen! Dieser
Kerker aber ist die Angst. Brüder und Schwestern, zerbrecht mir den
Kerker der Angst in euren Köpfen!
Von der Freiheit
Die Freiheit ist die Tochter des Mutes und die Mutter der Liebe. Um sie
zu erlangen, müsst ihr euch eurer Angst stellen, meine Brüder und
Schwestern. Der Knecht, der den Kerker fürchtet und die Peitsche und den
Tod, freunde sich mit seinem Joche an, wir aber nicht! Mut ist der Weg
in die Freiheit und wenn ich nur drei Worte zu sagen hätte, sie
lauteten: Fürchtet euch nicht! Und wenn ihr euch schon fürchtet, so
fürchtet doch euer Leben in Knechtschaft und nicht euren Tod. Wie? Euer
Leben in Ketten und Unterwerfung jagt euch nicht einmal einen Schauer
über den Rücken, aber der Tod lässt euch vor Angst erstarren? Und das
Los eurer Kinder kümmert euch nicht? Viel falsche Furcht wurde in euch
gepflanzt, um euch besser zu kontrollieren und zu nutzen. Schrecken und
Schröpfen gehen gut zusammen und halten noch Händchen dabei. Freiheit
ist nicht zu wählen zwischen Pest und Cholera, Freiheit ist, in der
Weite der Welt zu wandern und keine Grenzen und keine Zöllner und keine
Verbote zu kennen. Freiheit ist, sich seine eigenen Gesetze zu geben und
sie auch zu achten. Freiheit ist, ein Mahl und ein Bett zu haben, wohin
der Weg auch führt. Freiheit ist, alles zu gebrauchen und nur zu
besitzen was du tragen kannst und für unentbehrlich hältst. Freiheit ist
ein heiliges Nein! zum Joche und ein heiliges Ja! zum Schicksal. Vor
allem aber ist Freiheit Furchtlosigkeit. Denn die schlimmsten Zwänge
zwingt uns unsere Angst auf... (An dieser Stelle verstand der
Schwerhörige nicht recht, denn es erhob sich über eine lange Zeit ein
betäubendes Gelächter und Geschrei.)7 ...Einst wird das Menschentier
frei sein, aber nicht heute, meine Brüder und Schwestern, heute - hat es
frei. Und wahrlich, zwischen Haben und Sein ist ein unfeiner
Unterschied! Sonderlich wenn es um Freiheit geht.
Aber das Heute neigt sich dem Abend zu und morgen schon kann das
Menschentier Mensch werden und der Knecht frei. Frei werden muss der
Knecht von seinem Joch und das Menschentier von der Herrschaft seines
Tieres. Dann aber, nach dem 'frei von'8 kommt das 'frei zu'. Euer 'frei
zu' sucht euch schon heute, ihr Freien; ein Jeder hat das Seine. Brüder
und Schwestern, die Freiheit ruft, was soll uns die scheinbare
Sicherheit?
An dem Tag, an welchem er diese Rede hielt, ergab es sich aber, dass ein
anderer Prediger im selben Ort war und der war mit seinen Fäusten nicht
zimperlich, wie es die Art von einigen Mönchen ist, und ein Mönch war er
tatsächlich, oder ein ehemaliger, darüber gibt es verschiedene
Ansichten. Jedenfalls fühlte sich Asimius von der Anwesenheit des
Konkurrenten nicht sehr beglückt und riet ihm an, das Weite zu suchen -
oder seine Zähne, sollte er seinem Rat nicht Folge leisten.9 Franz von
Feigenpelz aber, so hieß der andere Prediger, wollte durchaus nicht
hören und Asimius schäumte vor Wut und ballte seine Fäuste und schnaufte
wild: „Ich fordere dich zum Zweikampf um das Recht der Rede, feiger
Anbeter des alten Rachegottes!“ Kaum hatte er das gesagt, gab ihm der
rüstige Mönch einen Kinnhaken, der ihn durch die Luft schickte, bis er
endlich, alle Viere von sich streckend, auf dem Boden landete und sich
nicht mehr rührte. Das „Recht der Rede“ aber nahm sich das tapfere
Mönchlein ohne einen weiteren Blick auf Asimius zu richten und hielt
folgende flammende Rede, die dem geschätzten Leser nicht verheimlicht
werden soll, sintemal sie viel mehr Sinn beinhaltet, als all der Unsinn,
den Asimius je von sich gegeben hat: Rede des Franz von Feigenpelz
Ich sehe mich um und meine Augen verdrehen sich und wenden sich ab, um
nicht sehen zu müssen was aus dem Gottes-Menschen und Logossöhnen
geworden ist. Was ich sehe, sind die Nachkommen von Sodomsäfflingen,
Buhlschraten und Buhlzwergen. Unsere Leiber sind vergrindet trotz aller
Seifen, verudumt, verpagutet und verbaziatet. Nie war das Leben der
Menschen trotz aller technischen Errungenschaften so armselig wie heute.
Teuflische Menschenbestien drücken von oben, bauen heimlich Waffen in
ihren Schurkenstaaten und schlachten gewissenlos Millionen Menschen in
mörderischen Kriegen, die zur Bereicherung ihres persönlichen
Geldbeutels geführt werden. Wilde Menschenbestien rütteln von unten her
an den festen Säulen der Kultur. Die Menschheit ist faul wie Lazarus und
strömt schon den Gestank des Sodomstodes aus. Was wollt ihr da noch eine
Hölle im Jenseits! Ist die, in der wir leben, und die in uns brennt,
nicht schauerlich genug? Könnt ihr denn schon nicht mehr lesen? In der
heiligen Schrift steht doch geschrieben, wie es zu diesem Niedergang
gekommen ist, oder wollt ihr nicht verstehen, elendes äffisches
Gesindel? Eure Vorfahren vermischten sich mit Tieren, sonderlich eure
geilen Weiber und ihr seit das Resultat dieses Treibens! Wollt ihr denn
nicht verstehen, was die Erbsünde ist, die Sünde, die sich vererbt? Was
für ein Früchtchen Eva da gekostet hat im Garten Eden? Und Adam riss sie
sogleich mit sich hinab in den Schmutz und Schlamm der Sodomie! Der Baum
der Erkenntnis, ja! Aber was für eine Erkenntnis? Erkennen heißt in der
Sprache der heiligen Schrift der Verkehr der Geschlechter, aber hier
wurde die falsche Art erkannt und vermischt, was für ewig getrennt
bleiben sollte! Die heutigen farbigen Menschenrassen sind nichts anderes
als durch homo Europäus hinaufgezüchtete udumi, baziati und pagutu. Sie
sind heute allen Logossöhnen ebenso gefährlich, wie in der Urzeit. Durch
ihre Liebeskünste umstricken sie uns, züchten sich hinauf, und uns
hinunter! Der Teufel selbst verführte unsere Vorfahren zu dieser Unzucht
und reichte Eva die verbotene „Frucht“. Freunde, die wir uns an Leib und
Seele als die Kinder und Söhne der urweltlichen Äfflingsfeinde fühlen,
lasset uns das teuerste Erbe unserer Väter, unser Blut, unseren Samen
als etwas Göttliches hoch halten! Wir wollen uns nicht für Engel halten,
eines jeden Blut ist mehr oder weniger mit Sodomswasser vermischt. Aber
von nun an soll der Vermischung Einhalt geboten werden. Denn die
Menschheit ist ungleich und ein tiefer Graben, der nicht verschüttet
werden darf, umgibt unser Walhall, ein Graben, den kein Äffling
überspringen darf. Mit dem Kampf gegen den Sodomsaffen muss ein jeder in
sich beginnen, insbesonders bei der Wahl seines Eheweibes, dann kann er
den Sodomsaffen um sich bekämpfen. Der Sieg wird unser sein, uralte,
göttliche Weissagungen sprechen für uns. Unter unseren Gegnern ist der
Affe, in uns und für uns ist Gott, das allwissende, allmächtige
Urweltswesen. Was glaubt ihr denn, warum Gott in seiner Weisheit ganze
Stämme und Völker bestrafte, mit gerechtem Zorn und furchtbarer Rache?
Seine höchste Schöpfung wollte er rein erhalten und die Unseligen
vermischten sich mit Affenmenschen und Geschöpfen des Wassers! Lenkt
ein, meine Freunde, oder bald schon wird sein gerechter Zorn wieder
unter uns fahren und die Zeit ist nah. Unser herrliches Göttervolk wurde
von der alten pagutu- und udumu-Brut zerrissen, den übrigen Germanen ein
gefälschtes Christentum gepredigt, und ihr gewaltiger Götterarm durch
den Strick des „Nächstenliebegebotes” gefesselt. Rom und Byzanz haben
das alte Schrifttum vertilgt, denn es wäre eine Urkunde unserer
göttlichen und ihrer äffischen Abstammung gewesen. Seit über tausend
Jahren sind die Welschen und die Slaven und das andere
Affenmenschengesindel eine stete Gefahr für die Kultur, sind sie unsere
erbitterten Feinde, denen keine Bosheit und keine Gewalttat zu schlecht
ist, um uns zu vernichten! Weh der Sodomsbrut, wenn wir mit ihr
abrechnen werden! Aber sie sind heute gefährlicher denn je. Wir selbst
haben sie ja hinauf gezüchtet! Stets planen sie unsere Vernichtung in
ihren Schurkenstaaten und wenn wir nicht zuerst zuschlagen, werden sie
ihren Willen bekommen. Wir dürfen nicht länger weibisch sein, dafür ist
keine Zeit. Ein gerechter Krieg für einen göttlichen ewigen Frieden
steht uns bevor und wir dürfen nicht länger zaudern. Schlagen wir zu,
bevor die Sodomsäfflinge uns vernichten!
Als Feigenpelz geendet hatte jubelte das Volk und keiner beachtete
Asimius, der mittlerweile wieder zu sich gekommen war und mehrere Male
versuchte, nun auch das Wort zu ergreifen. Endlich gab er sein Vorhaben
auf und schlich davon, um sich Trost bei seinem Vogel zu suchen, und
dass er einen Vogel hatte, wissen wir ja bereits. Aber dieser Franz von
Feigenpelz, potz tausend! Sicher, was er sagt, ist neu und beinhaltet
einigen Sprengstoff, aber wir haben noch keine Erklärung der Erbsünde
gehört, die uns mehr zum Nachdenken brachte als die Seine. Und wenn wir
uns die Welt ansehen und all das Übel in ihr, wer weiß, vielleicht hat
er Recht. Eines steht jedenfalls fest: Ein gehöriger Schuss
„Sodomswasser“ im Blut des Asimius würde seinen Wahnsinn auf ganz neue
Art erklären. Kommt noch hinzu, dass das Volk ihn instinktsicher
Zarathustras Affen nennt, und dann sein Aussehen, da kann man schon ins
Grübeln kommen... Auch baut die Lehre des Feigenpelz ganz neue Brücken
zwischen den Kreationisten und den Darwinisten. Was denn, wenn beide
bisher unversöhnlichen Lager Recht hätten? Angenommen Gott schuf den
Menschen und dennoch stammen wir auch vom Tier ab... Wie auch immer sich
das verhalten mag, gäbe es mehr Redner vom Kaliber eines Franz von
Feigenpelz, die folgenden wirren Reden wären jedenfalls vielleicht
niemals gehalten worden und der Menschheit somit ein großer Dienst
geschehen. Sintemal dem aber nicht so ist, hielt Asimius weiter
ungehindert seine Reden und der geeignete Leser höre und staune, was er
sich noch alles in seinem verafften Kopfe zusammengereimt hat und
solange er gesund darüber lachen kann, ist kein Schaden entstanden:
Über die Freiheit im Handeln
Heute halten sich die Knechte für frei, meine Brüder und Schwestern,
aber selbst diese neue Art fühlt tief in sich den Schmerz der
Knechtschaft und wahrlich, sie rächen sich gern für diesen Schmerz an
Anderen. So beginnt ein Kreislauf, den sie nicht beenden können, denn
ihr Handeln ist nicht frei, sondern hängt ab von den Handlungen Anderer,
sonderlich anderer Knechte. Rache lernten sie von ihrem eifersüchtigen
alten Gott und die Knechte lernten sie gut und gern. Aber wie? Ein
eifersüchtiger Gott? Das ist ein Widerspruch in sich selbst, denn
Eifersucht ist Folge der Angst und furchtsam ist nur der Knecht, nie
aber der Gott! Aber das Vorbild dieses eifersüchtigen Rache-Knechtes
besteht bis heute und richtet viel Schaden an und wahrlich, dieser
'Gott' ist auch noch geschwätzig und es scheint, dass ein altes
vergrämtes Waschweib seinem Erfinder als Vorbild gedient hat! Aber was
ist es in uns, das uns dazu bringt, den Fehlern und Fehlverhalten der
Anderen aufzulauern, und sie auch noch nachzuahmen? Ist es nicht, weil
wir in Angst leben, selbst schlecht zu sein, und uns etwas leichter
fühlen, wenn andere ebenso schlecht sind wie wir selbst? Ist es nicht,
weil uns eine Ur-Sünde angedichtet wurde und ein Unbehagen und geheime
Schuld wegen unserer eigenen Triebe?... (an dieser Stelle fehlen Zeilen,
da der Schwerhörige nicht recht hörte, geschweige denn verstand)...
Warum wollen wir doch gleich zum Esel werden, wenn wir einen Esel sehen,
und zum Schwein, wenn wir angegrunzt werden? Lieber den Esel Esel sein
lassen und das Schwein Schwein und selbst nach eigenem Gutdünken
handeln. Der Knecht aber freut sich, wenn er eine Entschuldigung findet,
niedrig zu handeln, und wenn ihn einer betrügt, wird er gleich selbst
zum Betrüger und fühlt sich dabei noch im Recht, und wenn ihn einer
hasst, so hasst er gleich eifrig zurück. Ich aber sage euch, meine
Brüder und Schwestern, lasst euch nicht zu dem machen, was ihr selbst
verachtet, und lieber entzieht euch jenen, die euch Schlechtes tun, als
ihnen Gleiches mit Gleichem zu vergelten, denn das ist Unfreiheit, wenn
es euch die Angst auch als Gerechtigkeit erscheinen lässt. Freiheit aber
ist, so zu handeln, wie es euch richtig scheint und wie ihr es
verantworten könnt, und nichts darauf zu geben, was Andere Schlechtes
tun und sagen. Unfreiheit ist, sich bereitwillig mit jeder
Schlechtigkeit anstecken zu lassen wie von einer Krankheit und dann zu
fragen: Aber wer fing damit an? Diese Unfreiheit hat unser Handeln zu
lange bestimmt; entsagt der Rache und den Rache-Knechten, meine Brüder
und Schwestern! Knechtisches Handeln darf unseren Umgang nicht länger
bestimmen. Handelt doch nach eurem Gesetz und das Unrecht der Anderen
soll euch nicht mehr länger anstecken.
Über den Umsturz
Die Umstürzler sammeln sich heute wieder in den Straßen und wahrlich,
wer die Mauern dieses Kerkers nicht umstürzen will, der richte sich gut
ein hinter seinen Gittern und sehe zu, dass er sich sein Joch gut
polstere! Wer aber die Mauern stürzen will, der halte noch einen Moment
inne und höre mein Wort vom Umsturze: Seid ihr solche, die umstürzen
wollen, wohlan! Aber manch einer der umstürzen wollte, stürzte dabei
selbst und siehe, aus seiner neuen Lage dünkte ihm die Welt verändert.
Und so richtete er sich ein im Staube seines Sturzes und merkte nicht,
dass er selbst lag und die Mauer noch stand. Seid ihr solche, die
Veränderung wollen, wohlan! Aber wer verändern will, der sehe zu, dass
er nicht trachte, die Ohn-Mächtigen mit ihren eigenen Waffen zu
schlagen. Denn die Waffe der Ohn-Mächtigen ist die Angst und nur die
Liebe kann die Angst besiegen! Ihr wollt einen Ringer schlagen, steigt
ihr in seinen Ring? Ihr wollt einen Tyrannen stürzen, wer riet euch zur
Gewalt? Waren es nicht seine Spione, die euch so schlecht rieten? Oder
war es eure Angst? Wer aber ein Krokodil fangen will, der stürzt sich
nicht in dessen braunen Fluss und wenn ihm auch sein Mut dazu riete!...
(An dieser Stelle fehlen aus unbekannten Gründen einige Zeilen.)10
...Zum Umstürzen muss aber erst einmal etwas stehen und wahrlich, heute
liegt mehr als steht und vieles muss erst noch aufgerichtet werden. Der
beste Umstürzer aber ist der Erbauer. Der kniet nicht vor der Büste des
falschen Götzen, der rüttelt auch nicht daran. Der Erbauer sieht die
alte Statue nicht und baut nur am lebendigen Leben, an einer beweglichen
Zukunft. Eine Büste zu Staub zermahlen aber dünkt ihm verschwendete
Zeit.
Und wahrlich, meine Brüder und Schwestern, wer am lebendigen Leben baut
und den Kerker in sich selbst einreißt, der wird erleben, wie die kalte
Statue unbemerkt zusammenfällt im Schatten des neuen Lebens.
Wenn die Liebe die Oberhand gewinnt, müssen die Kräfte der Angst
weichen, meine Brüder und Schwestern, aber die Liebe muss jeder in sich
selbst entwickeln und dazu muss er sich seinen eigenen Ängsten stellen.
Wohlan! Die Zeit ist reif.
Über Besitz und Gebrauch
Besitzen kann man nur, was man auch tragen kann. alles andere stehe
bereit für den Gebrauch. Sitzt aber einer auf etwas, das ihr gebrauchen
wollt, so mache ihm nur schnelle Beine! Wer etwas braucht und gebrauchen
kann, der soll nicht durch einen Sitzenden davon abgehalten werden...
(An dieser Stelle war der Lärm der Menge zu groß.)11 ...Das Heute aber
gehört wenigen Sitzenden und die haben sich die Erde zu ihrem Sitze
erwählt. Auf ihr sitzen sie mit breitem Steiße und es dauert nicht mehr
lange und sie haben die Erde flach gesessen und siehe, die schwarzen
Männer reiben sich bereits die Hände und kreischen: Haben wir es nicht
immer gesagt? Die Erde ist eine Scheibe! Gelobt sei die Kreuzigung! Aber
so weit kann es nicht kommen, dass die Prediger der Kreuzigung Recht
hätten! Die Fettsteißigkeit der Sitzenden reicht nicht, um sie auf ihrem
Sitze zu halten. Schon höre ich die Sägen an ihrem Stuhle und rieche
auch das fressende Feuer! Und wer schwer sitzt, stürzt auch hart, das
sage ich den Fußfaulen. Steht doch auf, bevor der Stuhl in Flammen
zusammenbricht! Aber was ihr zu viel besitzt, meine Brüder und
Schwestern, besitzt nicht nur auch euch, es steigert auch eure Angst.
Der unnötige Besitz lässt uns stets befürchten, er könne uns gestohlen
werden. Und wahrlich, die Angst, bestohlen zu werden, ist heute eine der
folgenschwersten, denn sie fördert das Misstrauen und die Teilung!
Teilen hingegen beendet die Teilung und befreit vor der Angst derer, die
auf zu viel sitzen. Was ist das doch in uns, das uns neben einem Stuhle
stehen lässt und ihn bewachen, dass keiner sich darauf ausruhe? Und seht
die Ohn-Mächtigen! Sie stehen in einem Meer aus Stühlen und rennen von
einem zum andern, um zu verhindern, dass einer sich darauf setze.
Stuhl-Hirten seit ihr mir und Sessel-Wächter, aber bald schon kommt der
Tag, an dem die Tische sich drehen und wahrlich, die Stühle neu verteilt
werden.
Wir brechen das hier ab. So und so ähnlich sprach unser armer Affe
Zarathustras, geriet vor Erregung in Hitzewallungen und hatte auch
Schaum vor dem Mund und wen wundert's? „Rache“, „Umsturz“, „brennender
Stuhl“ da hat unser posaunender Prediger wohl zu scharf gegessen. Eine
etwas sanftere Diät wäre sicher zuträglich gewesen, wenn eine solche
allein auch kaum in der Lage gewesen wäre, Heilung herbeizuführen.
6. Kapitel Wie Asimius in der großen Stadt furchtlos dem hundertköpfigen
Untier entgegentrat und vom Erdboden verschluckt wurde.
Da der geneigte und geeignete Leser selbst in der Lage ist, sich ein
gesundes Urteil zu bilden, halten wir uns mit unseren Kommentaren nun
zurück und begnügen uns damit, auch die restlichen Reden aufzuführen,
der Vollständigkeit halber. Ein bedauernswerter Zwischenfall ist aber
noch zu erwähnen, der später von seinen Begleitern berichtet wurde: Auf
dem Weg zur großen Stadt schloss sich der Gruppe ein junger Mann an, der
Asimius in der kleinen Stadt gehört hatte und meinte, einen Sinn in all
dem Wahnsinn zu erkennen.12 Er nannte sich offenbar Richard Rotbart, was
mit hoher Wahrscheinlichkeit ein falscher Name war, und fiel der Gruppe
um Asimius dadurch auf, dass er nicht wie sie versuchte, den
Wahnsinnigen zu reizen oder der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern mit
ihm sprach wie mit einem normalen Menschen. Wir halten dies für einen
Beweis, dass Wahnsinn ansteckend sein kann und betonen noch einmal, dass
diese Aufzeichnungen nur für geeignete Augen gedacht sind. Die Begleiter
des Asimius kamen übrigens nicht ungestraft davon. Unseres Wissens
wurden sie wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt und bezahlten
teuer für ihre Scherze. Jetzt aber zurück zu den Reden unseres
irrsinnigen Freundes, der hoffentlich heute wieder unter den gesunden
weilt und sich nicht einmal mehr erinnern kann, was er im Zustand der
Umnebelung getan und gesagt hat, denn sollte er sich erinnern, wird es
ihm noch lange nachgehen, wie viele anständige Bürger er beleidigt und
belogen hat.
Zur unrechten Zeit also kamen die ziellos Irrenden in die große Stadt
und Asimius sprach auch hier, denn er meinte, in der großen Stadt die
„Ohn-Mächtigen“ zu finden. In Wahrheit aber war die große Stadt beinahe
nur von Volk aus der Provinz bevölkert, das hoffte, hier eine Anstellung
zu finden. Als sie durch die Peripherie gingen, sah Asimius eine Gruppe
Vandalen, die von Schutzleuten in schwarzer Schutzkleidung umstellt war,
um sie einen nach dem anderen zu verhaften und ihrer angemessenen Strafe
zuzuführen. Asimius blieb erschreckt und verwundert stehen und fragte
den Schwerhörigen: „Was ist das für ein schwarzes Monster mit hundert
Köpfen, das unsere Brüder frisst? Kann man denn nichts dagegen tun?
Warum sehen alle nur zu und helfen nicht?“ „Aber nein“, antwortete der
Angesprochene, der mit seinen Scherzen dann doch nicht so weit gehen
wollte, selbst in Gefahr zu geraten, „das sind nur Schutzleute, die
verhaften Übeltäter. Das sieht man hier alle Tage.“ „Schutzleute sind
das nicht! Du scheinst nicht nur taub zu sein mein Freund, sondern auch
blind. Ich versichere dir, da ist eine große Gefahr für Leib und Leben
und alle haben Angst, ihr entgegenzutreten. Siehst du denn nicht, wie
das Untier lauert und sich nicht bewegt, nur, um dann plötzlich über
einen der Brüder herzufallen und ihn zu verschlucken? Es werden immer
weniger!“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, ging er über den Platz,
um sich der Gefahr heldenhaft entgegenzuwerfen. Als er aber dem Ring der
Schutzleute mit zum Schlag erhobenem Arm zu nahe kam, zog ihm einer mit
seinem Sicherheits-Knüppel derart eine über die Rübe, dass er wie ein
nasser Sack zu Boden ging und erst wieder zu sich kam, als der Platz
schon geräumt war. Warum er selbst nicht verhaftet wurde, ist unbekannt,
er mag wohl ob seiner Kleidung für einen schlafenden Bettler gehalten
worden sein. Er rieb sich den Kopf und sah sich verwundert um. „Was ist
geschehen?“, fragte er den Blinden, der als Einziger noch geblieben war,
neben ihm saß und darauf gewartet hatte, dass er zu sich komme.
„Eine große Tat hast du vollbracht, Asimius! Kaum hattest du dich dem
Untier genähert, verschwand es mit Rauch und einem lauten Knall und all
jene, die dem Tode schon geweiht waren, sind durch deinen Mut gerettet
und lassen dir danken. Die Explosion aber, mit der das schreckliche
Wesen sich davon machte, hat dir die Sinne geraubt und ich fürchtete
schon, die Welt hätte dich verloren. Nun lass uns aber weitergehen, den
anderen hinterher, die sicher schon ungeduldig warten, deine Heldentat
zu hören!“13 Und Asimius hielt an selbigem Tag mit breiter Brust
folgende Reden, denn er war sehr stolz auf seinen Sieg und der
Schwerhörige schrieb, was er verstand:
An die Ohn-Mächtigen
Im Hintergrund hält sich heute die Herrschaft, die im Geiste so
knechtisch ist, wie der ärmste getretene Hund und sie tut wahrlich gut
daran! Hässlich ist ihr Gesicht geworden und wer gründlich die Augen auf
sie richtet, erschrickt leicht. Eine verzerrte Fratze sehe ich in der
Dunkelheit kauern mit fiebernden Augen und unstetem Blick. Was ist deine
Angst?! Will man die Kreatur fragen, hat deine dürftige Macht dir nicht
die erstrebte Sicherheit gebracht? Konnte sie dir deine Angst nicht
nehmen?
Die Ohn-Mächtigen nenne ich euch, denn nur wer selbst machtlos ist und
furchtsam, ist süchtig nach Macht. Die obersten Knechte seid ihr mir und
Gefangene von tausend Ängsten. Auch fühlt ihr eine Angst, die nicht alle
kennen, die Angst der Tyrannen, ihr Furchtsamen! Ihr habt eure dürftige
Macht missbraucht und wenn all eure Verbrechen bekannt würden, wer
könnte euch noch verteidigen? So bleibt euch nur, eure Macht zu sichern
und euer Fieber steigt. Schon seht ihr überall Feinde und erschaffst sie
gar selbst, um euren Kontrollzwang zu rechtfertigen.... (An dieser
Stelle fehlen aus unbekannten Gründen Teile der Rede) ...Bald sitzt ihr
schon wie klappernde Gespenster im Schrank und klammert euch an ein
kaltes Eisen! Aber die Angst dient euch schlecht: Ihr glaubt, sie zu
gebrauchen und geht ihr doch auf den kalten Leim. Mit klammen Knochen
vorwärts-klappernd zieht ihr lange weiße Fäden, wenn ihr die Füßchen
hebt. Wäre es euch nicht schon lieber, endlich verurteilt zu werden,
lieber als in der Dunkelheit zu zittern? Aber ihr macht es uns nicht
leicht, ihr Ohn-Mächtigen! Und ich hoffe, auch für euch Vergebung zu
sehen und nicht das Urteil, das ihr so fürchtet. Aber eure Wachhunde
sind hungrig und wittern bereits Blut. Scharfe schwarze Hunde habt ihr
nun, gefährlicher und giftiger als die alten. Aber manch ein Zuhälter
ward gebissen und mancher Hundehalter – zerrissen! Euch zu vergeben,
wird die wichtigste Aufgabe eurer Stürzer werden - und die schwerste.
Was ich euch rate? Dasselbe wie jedem anderen und mir selbst: Findet und
überwindet eure Angst... (An dieser Stelle fehlen Teile der Rede.)
...Und ich wünschte, ich sähe schon den Tag, der die Wende unseres
Geschickes sein wird, der Tag, an dem die Liebe die Angst überflügeln
wird. Und dieser Tag muss kommen, oder es kommt die Nacht, in der die
Angst uns verzehrt.
Als Asimius geendet hatte, war ein großes Geschrei und Gejohle und das
Volk forderte, mehr zu hören, und so sprach Asimius weiter:
Über das falsche Fenster
Einst mussten die Ohn-Mächtigen ihre Knechte auf eigene Kosten
kontrollieren, aber nicht heute, meine Brüder und Schwestern, da besorgt
der Knecht sein Zaumzeug selbst. Die Hand, die ihn zwingt, beißt der
Knecht heute nicht, er bezahlt sie noch. Wie geschah das doch? Das
Fenster zum Garten oder Hofe ist tags farbig und wird nachts schwarz.
Aber es gibt noch ein anderes Fenster, das falsche Fenster nenne ich es.
Es ist tags schwarz und wird erst abends bunt, nach getanem
Knechtsdienste – daran erkennt das falsche Fenster.
Das Fenster zum Garten zeigt den Garten wie er ist, das falsche Fenster
zeigt alles - aber nichts so wie es ist. Das falsche Fenster verleiht
Macht über Knechts-Seelen. Das falsche Fenster sagt dem Knecht, was er
zu denken hat, was er zu sagen hat und was er zu tun hat... (An dieser
Stelle fehlen mehrere Zeilen, da der Schwerhörige einen Krampf in der
Hand hatte.) ...In Aug und Ohr träufeln die Ohn-Mächtigen ihre Lügen und
das falsche Fenster ist ihr Werkzeug. Verführerisch ist dieses Werkzeug
und betört mit allerlei süßen Giften und bunten Versprechen. Durch
Wiederholung macht es seine Lügen zur Wahrheit und bannt den Knecht in
bewegungslose Unterwerfung. Ablenken soll das falsche Fenster den
Knecht, dass er nicht zu sich komme – und nichts liebt der Knecht mehr
als Ablenkung. Denn sich selbst finden, gilt ihm als anstrengend und
gefährlich. Ablenkung aber ist immer Ablenkung von sich selbst und vom
eigenen Schicksal. Hart ist der Dienst des Knechtes, wie sollte er dem
leichten Rausche des falschen Fensters widerstehen? Es lockt mit
einschläferndem Rufe und Schläfrigkeit heißt Glück in der Sprache der
Knechte.14 Das falsche Fenster lügt immer, selbst wenn es einmal die
Wahrheit sagt. Es spricht mit vielen Zungen und manches, was da in
offene Ohren geträufelt wird, bleibt ungehört, dringt aber umso tiefer
in die Tiefen des knechtischen Geistes. Listig ist das falsche Fenster
und wo ein Knecht sich der Ohr-und Augen-Träufelei überhoben hat, lockt
es ihn mit tieferem Blick und süßerem Tone zurück. Zerbrecht das falsche
Fenster, meine Brüder und Schwestern, und entzieht euch den Predigern
der Angst und dem Banne der Ohn-Mächtigen! Mit Angst bannen sie euch und
wer kann behaupten, dass er all seine Ängste kenne? Die unbekannten
Ängste aber sind die gefährlichsten. Entreißt eure Ängste dem
Unbekannten, meine Brüder und Schwestern, und werdet Herr über sie! Wer
versteht die schwarze Kunst, die das Menschentier heute zum Knecht
macht? Wer blickte hinter das falsche Fenster und sah die Schürer der
Angst? Kennt ihr schon die Prediger der Angst, die hinter dem falschen
Fenster lauern?
Über die Prediger der Angst
Die Knechte blicken durch das falsche Fenster, meine Brüder und
Schwestern, und da lauern sie ihnen auf, die Prediger der Angst. Die
predigen immer falsche Ängste und wenn eine echte Gefahr drohte, die
Prediger der Angst verdeckten sie unter ihren Lügen. Und lügen können
sie, die Prediger der Angst! Und lügen müssen sie auch, denn die Ängste,
die sie in allem Ernste predigen, sind Illusion und Wahn.
Nie hörte man die Prediger der Angst vor wahren Gefahren warnen,
erlogene Ängste sind ihr Geschäft und Gründe brauchen ihre Worte nicht,
wohl aber Zwecke! Um das Wohl der Menschtierheit geht es ihnen nie,
ihnen geht es stets um Herrschaft, wenn sie auch keine Herren sind und
wahrlich, selbst die Ohn-Mächtigen, denen sie dienen, sind Knechte ihrer
Angst! Herrschaft erreichen sie durch Teilung und Teilung durch Angst.
Hört ihr sie predigen, meine Brüder und Schwestern?
'Mord! Vergewaltigung! Raub! Terror! Weltuntergang! Verrammelt die Türen
und Fenster, jeder könnte ein Wahnsinniger sein, jeder könnte ein Mörder
sein. Jeder ein Terrorist! Traut niemandem! Verlasst nie die sicheren
Pfade, abseits der gängigen Wege lauert Gefahr, Tod und Wahnsinn!'
So teilen sie mit Angst und Misstrauen die Menschentiere und schützen
die Herrschaft der Ohn-Mächtigen, die nichts so fürchten wie den Tag, an
dem die Menschtierheit ihre Angst abwirft und sich als Menschheit in
Liebe vereint. Denn wahrlich, eine ungeteilte Menschheit lebt in
Freiheit und die Ohn-Mächtigen und ihre Prediger brauchen Knechtschaft.
Wenn sie andere ängstigen können, fühlen sich die Prediger der Angst
selbst etwas leichter, denn ihre eigene Angst lastet schwer auf ihnen
und wahrlich, sich ihrer Angst zu stellen, sind sie zu feige. So müssen
sie schon andere ängstigen und das falsche Fenster bringt ihre Lügen in
jedes Haus. Wenn sie dann die Knechte zittern sehen, fühlen sie sich
schon mutiger, die Schmalseligen! Zerbrecht mir doch das falsche
Fenster, meine Brüder und Schwestern, und befreit euch von der Predigt
der Angst! Lange genug haben irrationale Ängste unser Zusammenleben
bestimmt und behindert.
Gelernt haben wir nun immerhin, dass die „Ohn-Mächtigen“, von denen
Asimius geradezu besessen zu sein schien, Schränke bewohnen und ihm
seine wirren Ideen anscheinend durch ein „falsches Fenster“ eingesagt
wurden, in dem „Prediger der Angst“ leben. Hat man so etwas schon
gehört? Natürlich will ich der Diagnose von ausgebildeten Experten nicht
vorgreifen, aber das klingt doch alles sehr nach einer Angststörung, die
eine ganze Reihe von Wahnvorstellungen ausgelöst hat. Das würde auch
erklären, warum das Wort Angst in seinen Reden eine so prominente Rolle
spielt. Zugegeben, Asimius litt an einer schweren Störung und verdient
unser Mitleid, aber kann man es uns denn verübeln, lauthals zu lachen,
wenn sich ein solcher Wahnsinniger derart in den Vordergrund drängt und
seinen Wahnsinn durchaus der ganzen Welt entgegen brüllen muss? Wir
sagen nein und argumentieren, dass es nicht sein kann, dass im Angesicht
des Leides und Chaos in der Welt das Lachen auch noch beschränkt werden
soll, das würde ja bedeuten, dass es gar nichts Fröhliches mehr geben
darf und nur noch geweint wird. Nein, es muss schon möglich sein, einmal
herzhaft zu lachen, wenn es auch nicht immer die feinfühligste Reaktion
sein mag. Denn das Mitleid hat auch seine Grenzen. Und Asimius war, wenn
auch im Wahn, alles andere als zimperlich, wenn es darum ging,
auszuteilen und andere zu beleidigen, bei Gott angefangen über die
Bürger bis hin zu den Soldaten, die unsere Freiheit und den Frieden
verteidigen. Wer so austeilt, wird sich über ein gerechtfertigtes Lachen
kaum beschweren können.
Und so endete also die Karriere unseres wahnsinnigen Wanderpredigers und
er wird wohl den Rest seines Lebens in einer Anstalt verbracht haben,
wenn er nicht durch ein Wunder oder die Möglichkeiten der modernen
Schulmedizin geheilt wurde. Sicher ist nur, dass er nach seiner letzten
Rede nie wieder gesehen oder gehört wurde und das ist auch besser so.
Dem geneigten Leser aber möchten wir am Ende noch ans Herz legen, sich
nicht so verantwortungslos zu verhalten, wie das die Gruppe tat, die
Asimius zu ihrem Vergnügen einige Zeit begleitete. Einen Wahnsinnigen
zur eigenen Belustigung zu benutzen, statt ihm wenn möglich, zu helfen,
ist sträflich und gefährlich. Wer Reden dieser Art hört, ist dringlich
dazu aufgefordert, die Behörden zu alarmieren und nichts dem Zufall zu
überlassen. Hätte die Menschheit in ihrer Geschichte alles dem Zufall
überlassen, wo wären wir heute? Das Chaos würde regieren und Recht,
Ordnung und Moral wären nur leere Worte in einer Welt voll Gewalt,
Unsicherheit, Anarchie und Wahnsinn.
Soweit also die Aufzeichnungen des Fristón, dessen Dokument an dieser
Stelle endet. Aber Animius hatte seine Laufbahn als 'Prediger' noch
keineswegs beendet, wenn Fristón das auch behauptet. Das kann ich mit
Sicherheit sagen, denn ich war dabei und verbürge mich für alles, was in
der Folge geschrieben steht. Die im ersten Teil enthaltene Zeit vor
seiner Wanderschaft habe ich aus Animius' eigenen Erzählungen
rekonstruiert, habe aber kein Wissen aus erster Hand darüber. Aber auf
mein Drängen hin berichtete er mir ausgiebig davon. Die Aufzeichnungen
des Fristón will ich nicht weiter kommentieren. Es bleibt aber jedem
selbst überlassen, sich seine Meinung zu bilden, und alles, was ich zu
sagen habe, soll nicht mehr gelten, als die Meinung des Fristón. Kann
ich denn beweisen, dass ich mich nicht, wie er sagt, mit dem 'Wahnsinn'
des Animius angesteckt habe? Keinesfalls. In gewisser Weise kann ich
mich dieser Auffassung sogar anschließen, denn ich wurde von ihm
angesteckt und zwar gründlich. Wie das aber zu nennen ist, womit mich
Animius ansteckte, muss jeder selbst entscheiden. Fristón nennt es
Wahnsinn? Wohlan!
Am selben Tag aber hielt Animius noch eine weitere Rede und ich begann,
leider erst jetzt, selbst mitzuschreiben. Im Vergleich mit den
Aufzeichnungen der frühen Reden, wie Fristón sie überliefert, scheinen
mir die Reden, die ich festhielt, flüssiger und strukturierter. Das mag
daran liegen, dass keine Teile fehlen noch sonst wie versucht wurde,
ihren Sinn zu verschleiern.
Über Bart und Krawatte
Einige tragen Bärte und andere Krawatten und dann gibt es solche, die
nichts unter dem Kinn tragen und wahrlich, besser nichts auf der Brust
als eine Krawatte! Die Krawatte aber ist das Zeichen der höheren Knechte
und verheimlicht ihre Herkunft nur schlecht. Es gibt solche, die sagen,
sie sei der Strick um den Hals und der Träger sei auf der Suche nach
einem passenden Baume. Ich aber sage euch, von Bäumen verstehen die
höheren Knechte nicht viel und wenn sie einen suchen, dann nur, um ihn
zu schlagen - um ihren Vorteil aus ihm zu schlagen. Nein, die Krawatte
ist nicht das Symbol des Galgenstrickes, sie ist das Symbol der Kette,
der Sklavenkette! Dies wissen die höheren Knechte nicht, denn unter sich
sehen sie die niederen Knechte und halten sich für deren Herren und
Freie. Und ein höherer Knecht sagte einst zu mir: 'Du errietest uns
schlecht Animius, die Krawatte ist das Symbol der Herren, denn siehe:
die Kette baumelt frei um unsere Hälse und ist nicht mehr befestigt. Sie
ist das Symbol unserer Befreiung.' Und so ist es artig gesprochen, denn
der beste Knecht hält sich für frei, und so ließ ich ihn in seinem
Glauben laufen. Heute aber will ich sagen, was ich ihm einst versagte:
Wer auch immer ein Joch abwarf, legte alles daran, seine Kette zu
entfernen und warf sie weit von sich. Nie aber sah ich einen befreiten
Sklaven oder Sträfling, der die Schelle als Armreif und Andenken
behielt! Bart und Haar aber, meine Brüder und Schwestern, sind Symbole
der Freiheit und jedem höheren Knecht unverständlich und verdächtig, die
Krawatte aber ist ein falscher farbiger Bart. Und wo der höhere Knecht
sein Joch liebt, hasst es der Bärtige und trägt es nur bis er es
abwerfen kann. Und wenn er sich freiwillig unterwirft, dann nur seinem
Gotte - und manchmal nicht einmal dem! Die Knechte gleichwohl sind nicht
frei und müssen sich ihrem Herrscher unterwerfen, so sie ihn auch nicht
kennen. Ihr Herrscher aber sieht sich gerne als Vater und seine Kinder
will er ohne Bärte, denn bartlose Verehrung gilt ihm als die beste. Und
so nehmen seine Kindlein jeden Morgen in Unterwerfung den Kopf zurück
und bieten ihre Kehle in Ergebung dem Messer an, wie der Hund die seine
den Zähnen des Stärkeren. Die Rasur ist das tägliche Ritual der
symbolischen Unterwerfung. Rate ich euch zum Barte? Ich rate euch zur
Freiheit und zu eurem Stolze! Wer sich aber scheren ließ, wie will der
ungeschoren davon kommen? 'Es ist fast unmöglich, die Fackel der
Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu
versengen.', schrieb Lichtenberg und konnte nicht ahnen, dass es einst
kaum mehr Bärte geben würde. Wohlan! Heute versenge die Wahrheit im
Gedränge – Krawatten!
Teile des Volkes, besonders die mit Krawatten, waren wütend und
beleidigt, schwangen Stöcke und Krücken und beschimpften ihn nach ihren
Möglichkeiten. Als aber einige Männer in Anzügen begannen, Flaschen nach
ihm zu werfen, ging er schneller als gewöhnlich davon und ich folgte
ihm. Kaum hatten wir uns in einem zerfallenden Haus niedergesetzt, das
nur noch drei Wände hatte und zu einer Seite hin ganz offen war, setzte
sich ein Junge zu uns und sprach Animius an und es trug sich folgendes
Gespräch zu:
Junge: Affe Zarathustras! Was hast du gegen das falsche Fenster? Die
einzige Ablenkung finde ich da, denn die Welt da draußen bietet mir
nichts und interessiert sich nicht für mich.
Animius: Das will ich dir gern sagen, mein junger Bruder, das falsche
Fenster schürt unsere Angst, manipuliert uns und bannt uns in
sklavischen Schlummer. Gewalt brennt es tief in unser Unbewusstes und
somit Angst, auf dass wir geteilt bleiben und uns nicht vereinen. Es
lenkt uns auch ab von dem Leiden, das wir unser Leben nennen, aber wie
können wir ein Leiden beenden, von dem wir abgelenkt sind und keine Zeit
haben, Linderung zu erwirken? Siehst du die Fliegen an der schmutzigen
Scheibe? Die Wand ist zerbrochen und Wind und Wärme und Sonne erfüllen
den ganzen Raum. Und doch laufen sie an der Scheibe auf und nieder,
fliegen gegen das Fenster und laufen wieder auf und ab. Täusche dich
nicht! Auch sie suchen den Weg nach draußen, nur die Scheibe bannt sie,
verführt sie. Sie zeigt so vieles, nah und fern und lange kann sie die
Aufmerksamkeit fesseln - aber der offensichtliche Ausweg wird von ihr
verborgen. Wir sitzen hier und fragen uns 'siehst du denn nicht, wo die
Sonne ungetrübt hereinbricht, fühlst du nicht, woher der Wind weht?'
Aber die Fliegen summen weiter gegen die Scheibe. Und immer, wenn wir
hinsehen, ist ein Gedränge an dem einzigen Fenster hier, das kein Ausweg
ist, das nicht ins Freie führt. Sieht man aber länger genau hin, so wird
offenbar, dass immer wieder eine Fliege oder Wespe oder Biene sich
besinnt und geradewegs durch die zerbrochene Mauer in die Natur zurück
fliegt. Mag sie auch noch so stur und unbelehrbar gegen die immer
gleiche Glasscheibe geflogen sein – irgendwann besinnt sie sich und sie
umfliegt ihr Hindernis, die schmutzige Scheibe hinter sich lassend. Was
den Fliegen die schmutzige Scheibe, ist den Menschen das falsche
Fenster, mein Freund, und es ist an der Zeit, dass wir daran
vorübergehen und frei werden. Frei sind wir nur im Zustand der Liebe,
nie aber im Zustand der Angst. Das falsche Fenster pflanzt Angst tief in
unsere Köpfe, um uns blind zu machen für die Liebe, die uns alle
verbindet und umgibt.
Junge: Ich sehe die Fliegen und ich verstehe, was du sagst. Aber du
solltest nicht so viel von Liebe reden, das macht doch einen
absonderlichen Eindruck. Verstehst du das Wort überhaupt richtig?
Animius: Alles ist Liebe, mein junger Bruder! Nur sehen wir es nicht
immer und manch einer sieht es nie. Wenn wir nicht sehen, dass alles
Liebe ist, kommt das daher, dass wir Angst haben. Die Angst macht uns
blind für die Liebe, die nichts anderes ist als das Wissen um unsere
tiefe Verbindung.
Junge: Dann ist ein Mensch, der in Angst lebt, wie ein Blinder?
Animius: Genau so.
Junge: Und gibt es viele solche Liebe-Blinde?
Animius: Die Welt ist voll von ihnen und die Liebe-Sehenden sind wenige.
Junge: Aber wie kann das sein? Es gibt doch auch viel mehr, die mit den
Augen sehen können, als solche, die sich von einem Hund führen lassen
und nichts sehen.
Animius: Das ist wahr. Aber siehe, würde es den Ohn-Mächtigen nutzen,
wenn die Menschentiere nicht nur für die Liebe erblindeten, es dauerte
nicht lange und kaum einer könnte mehr irgendetwas sehen! Die
Liebes-Blinden, wie du sagst, aber lassen sich auch von einem Tier
führen, von ihrem inneren Tier.
Junge: Also nutzt es den Ohn-Mächtigen, wenn die Menschen blind sind für
die Liebe?
Animius: Aber ja! Es ist der einzige Weg für sie zu herrschen. Und
herrschen wollen sie, denn sie leben selbst in Angst. Lebten wir alle in
Liebe, wer könnte uns beherrschen? Siehe mein junger Freund, die Liebe
verbindet und die Angst teilt. Wenn alle in Liebe verbunden wären,
könnte keiner herrschen und es wollte auch keiner. Für Dominanz braucht
es immer mindestens zwei – zwei Furchtsame. Und so machten sie aus eins
zwei und aus zwei tausend. Mit falscher Furcht teilten sie, was zusammen
gehört, und nur die Liebe kann es wieder verbinden.
Junge: Also ist die Liebe wie Kleber und die Angst wie ein Messer?
Animius: Wenn du so willst. Ich stelle es mir gerne so vor: Die Liebe
ist die Luft, die wir atmen, und die Angst ist ein Kerker, der diese
unsere Luft in viele kleine Zellen teilt. In den einzelnen Zellen ist
noch etwas Liebe möglich, aber die Bewohner aller anderer Zellen
fürchtet man und was man fürchtet, das hasst man, beneidet man,
verleumdet man. Die Menschheit lebt in einem Kerker aus Angst, mein
junger Bruder, aber fürchte nichts, denn wahrlich, die Angst ist ein
feiger Verfolger! Drehst du dich um und siehst ihr in die Augen, so
kriecht sie davon wie eine zahnlose Schlange. Wer aber in Angst lebt,
der weiß es meist nicht, und die Angst zeigt sich in vielen Formen. Hass
ist eine Folge von Angst, ich sagte es bereits, aber es gibt viele
weitere. Eifersucht, Neid, Gier, Zorn, Hinterhältigkeit, Boshaftigkeit,
üble Nachrede, Unterwürfigkeit, kurz: alle schlechten Dinge sind eine
Folge der Angst. Erkenne deine Angst und stelle dich ihr. Dein Mut wird
belohnt werden. Weicht deine Angst, bist du frei und in Freiheit gedeiht
die Liebe.
Junge: Aber wie kann ich meine Angst erkennen und mich ihr stellen?
Animius: Immer wenn du jemanden nicht magst oder den Drang verspürst,
dich über jemanden lustig zu machen oder schlecht über ihn zu reden,
kannst du sicher sein, dass eine Angst in dir wirkt. Wenn du
eifersüchtig bist oder neidisch oder missgünstig, musst du dich nur
fragen, wieso? Suche nach den Gründen für all diese schlechten Dinge
nicht in den anderen, sondern in dir selbst. Du wirst, wenn du ehrlich
bist, eine Angst finden, die der Auslöser ist. Dieser Angst kannst du
dich dann stellen und musst sie nicht länger dein Verhalten bestimmen
lassen.
Junge: Jetzt verstehe ich besser und werde darüber nachdenken. Ich danke
dir Affe Zarathustras und ich suche dich wieder, wenn ich mehr Zeit
habe.
Animius: Gestatte auch mir eine Frage bevor du gehst, wieso nennst du
mich 'Affe Zarathustras'? Ich kenne ihn gut, den Affen Zarathustras, er
ist die furchtsame Seite des Zarathustra, aber eben auch ein Teil von
ihm. Die Seite meines Lehrers, die verhinderte, dass er die Liebe
erkannte. Die Seite an ihm, die sich in den Sumpf setzte und quakte,
statt den Sumpf zu verlassen oder ihn trockenzulegen. Aber woher nimmst
du die Weisheit mich so zu nennen und mich der größten Gefahr zu
gemahnen, die mir und dir und jedem anderen droht?
Junge: So nennt dich das Volk hinter deinem Rücken und nicht, um dich
einer Gefahr zu gemahnen...
Animius: Zum Spott gebrauchen sie diesen Namen? Selbst das Spotten
müssen sie erst noch lernen, die Unwissenden! Aber sie mögen mich
immerhin nennen wie sie wollen, - ich bin der ich sein muss. Ich selber
heiße mich Animius.
Junge: Bis bald Animius! Ich danke dir.
Und damit sprang der Junge auf und ging davon. Animius und ich blieben
die Nacht über in dem zerfallenden Haus und sprachen nichts weiter. Wir
waren zu diesem Zeitpunkt schon gute Freunde und kannten uns seit
mehreren Wochen, die wir zusammen auf Wanderschaft verbracht hatten. Am
nächsten Morgen berichtete mir Aminius einen Traum, wie wir schon oft
unsere Träume ausgetauscht hatten:
Animius' Traum von Zarathustra
Ich stand vor dem Tore der großen Stadt und Zarathustra kam seines Weges
und es schien mir, er wolle die Stadt betreten und ich hielt ihn mit der
Rede zurück, die der Affe Zarathustras ihm hielt in 'Vom Vorübergehen'.
Du kennst sie auch und ich will sie nicht wiederholen und kann es auch
nicht, wie ich es im Traum konnte, ohne sie nachzuschlagen. Ich zählte
ihm also all die Gründe auf, seinem Fuß Einhalt zu gebieten, auf das
Stadttor zu speien und an der großen Stadt vorüber zu gehen. Daraufhin
sprach Zarathustra zu mir wie er im Buche gesprochen: 'Höre endlich auf!
rief Zarathustra, mich ekelt lange schon deiner Rede und deiner Art!
Warum wohntest du so lange am Sumpfe, dass du selber zum Frosch und zur
Kröte werden musstest? Fliesst dir nicht selber nun ein faulichtes
schaumichtes Sumpf-Blut durch die Adern, dass du also quaken und lästern
lerntest? Warum gingst du nicht in den Wald? Oder pflügtest die Erde?
Ist das Meer nicht voll von grünen Eilanden? Ich verachte dein
Verachten; und wenn du mich warntest, - warum warntest du dich nicht
selber? Aus der Liebe allein soll mir mein Verachten und mein warnender
Vogel auffliegen: aber nicht aus dem Sumpfe! - Man heisst dich meinen
Affen, du schäumender Narr: aber ich heisse dich mein Grunze-Schwein, -
durch Grunzen verdirbst du mir noch mein Lob der Narrheit. Was war es
denn, was dich zuerst grunzen machte? Dass Niemand dir genug
geschmeichelt hat: - darum setztest du dich hin zu diesem Unrathe, dass
du Grund hättest viel zu grunzen, - dass du Grund hättest zu vieler
Rache! Rache nämlich, du eitler Narr, ist all dein Schäumen, ich errieth
dich wohl! Aber dein Narren-Wort thut mir Schaden, selbst, wo du Recht
hast! Und wenn Zarathustra's Wort sogar hundert Mal Recht hätte: du
würdest mit meinem Wort immer - Unrecht thun! Also sprach Zarathustra;
und er blickte die grosse Stadt an, seufzte und schwieg lange. Endlich
redete er also: Mich ekelt auch dieser grossen Stadt und nicht nur
dieses Narren. Hier und dort ist Nichts zu bessern, Nichts zu bösern.
Wehe dieser grossen Stadt! - Und ich wollte, ich sähe schon die
Feuersäule, in der sie verbrannt wird! Denn solche Feuersäulen müssen
dem grossen Mittage vorangehn. Doch dies hat seine Zeit und sein eigenes
Schicksal. -
Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, zum Abschiede: wo man nicht mehr
lieben kann, da soll man - vorübergehn! -' Und Zarathusta ging an mir
und der großen Stadt vorüber und beachtete mich nicht weiter. Ich aber
folgte ihm und verstellte ihm die Bahn und sprach: 'Du bist hart
Zarathustra, daran erkenne ich dich. Schonung machte noch keinen Baum zu
Rad und Wagen. Hart kenne ich dich, Zarathustra, nicht aber ungerecht!
Du sprichst von mir und meiner Art, aber was weiß Zarathustra von mir
und meiner Art - die ich selbst nicht kenne? Was ist das für eine Art,
mit der du mich verbindest? Wie Zarathustra stehe ich vor dem Tor der
großen Stadt und es ekelt mich wie ihn. Du täuscht mich nicht
Zarathustra: ist es nicht ein Teil von dir, den du in mir zu erkennen
meinst und verachtest? Oder wie schufst du sonst aus zwei
Gemeinsamkeiten eine - Gemeinheit? Und für gemein erachte ich es, einen
Fremden mit anderen in einem Topfe zu kochen – zumal mit Unbekannten. Du
fragst, warum ich mich nicht selbst warnte? Oft warnte ich mich vor
dieser Stadt, wie vor allen Städten. Warntest du dich selbst nicht genug
oder trug dein Fuß dich gegen deinen Willen zu diesem Tor? Der Rache
willst du mich überführen, aber überführtest du dich nicht selbst mit
deinem Urteil? Lädst du mir nicht auf, was du selbst nicht tragen
willst? Das Volk nennt mich deinen Affen und du nennst mich dein
Grunze-Schwein, was liegt daran? Nenne mich immerhin, wie du willst, -
ich bin, der ich sein muss. Ich selber heiße mich Animius. Ich bin
Animius der Furchtlose, der da spricht: Wer ist furchtloser denn ich,
dass ich mich seiner Unterweisung freue?' Zarathustra sah mich einige
Augenblicke an und antwortete endlich: 'Sprach ich nicht vom
Vorübergehen? Gehe nun vorüber, gehe vorüber an - Zarathustra.' Und
damit erwachte ich.
Wir unterhielten uns über den Traum und ich sagte Animius, dass er
Zarathustra nun überwunden habe, wie der Meister es immer schon
gefordert hatte. Was hat deine Lehre noch mit seiner gemein?, fragte ich
ihn. Sagtest du mir nicht neulich selbst, du könntest nun die Angst
erkennen in seiner Lehre und dass er nicht fähig war, seine Angst zu
überwinden und die Liebe in sich zu erwecken? Aber Animius ging nicht
darauf ein und antwortete nur: Sag nicht 'deine Lehre'. Es ist nicht
meine Lehre. Das Schicksal hat es eben so gefügt, dass ich sie
verbreiten muss, wie viele andere auch.
Die Gruppe, mit der wir unterwegs waren, erlebte ich übrigens mit
anderen Augen als Fristón. Der mag wohl einen Schwerhörigen, einen
Blinden, einen Lahmen und drei weitere gesehen haben, die sich
durchgehend über Animius amüsierten, aber ich möchte sie so beschreiben,
wie ich sie kennengelernt habe. Einen Schwerhörigen gab es da nach
meiner Erfahrung nicht, wohl aber einen Blinden, der so etwas wie der
Anführer war. Sein Name war August. Die Anderen folgten ihm und sie
nahmen jede Arbeit an, die sie irgendwo finden konnten. Abgesehen von
August hatte niemand ein körperliches oder geistiges Gebrechen, das mir
aufgefallen wäre. Betteln sah ich sie auch nur ein einziges Mal und das
waren nur die drei, von denen Fristón behauptet, Animius hätte sie für
Schwachsinnige gehalten. Für schwachsinnig hielt er sie meines Wissens
nicht, aber sie waren ihm tatsächlich etwas suspekt, wenn er auch nicht
gerne darüber redete. Ich hielt sie von Anfang an für Spitzel oder
Schlimmeres und riet Animius des öfteren, die ganze Truppe zu verlassen.
Der Blinde allerdings war ihm sehr ans Herz gewachsen und so reisten wir
noch einige Zeit gemeinsam, bis sich die Situation von selbst änderte.
Bevor wir aber dazu kommen, möchte ich noch die letzten Reden des
Animius einfügen und sei es nur, um sie für die Kommenden zu erhalten:
Von Anarchie und Hierarchie
Zwei Arten des Zusammenlebens gibt es, meine Brüder und Schwestern, und
wahrlich, nur die eine verdient den Namen 'Zusammenleben'! Die eine ist
die Hierarchie, eine Pyramide der Herrschaft, in der die Obersten den
Rest organisieren und durch Angst teilen und beherrschen. Die andere ist
die Selbstorganisation von unten, die Anarchie. In der Hierarchie
herrscht die Angst, in der Anarchie die Liebe. Nur in Letzterer gibt es
echte Gemeinschaft, in der Hierarchie aber gibt es nur Gesellschaft. Und
siehe, an der Gemeinschaft ist nichts gemein und an der Gesellschaft ist
nichts gesellig, wenn die Sprache der Herrschenden auch alles verdreht
und verfälscht! 'Anarchie? Da herrschen die Rücksichtslosesten und die
Brutalsten!', schreit einer und ist ganz rot vor Zorn. Beruhige dich,
mein Bruder, man hat dir übel mitgespielt und in deinem Kopf alles
verdreht. Wäre die Anarchie wie du sie beschreibst, wir hätten sie schon
heute, denn wer herrscht denn heute, wenn nicht die Rücksichtslosesten
und Brutalsten und Hinterlistigsten? Sieh dich doch nur um! In der
Anarchie aber herrscht keiner über andere und jeder über sich selbst und
wahrlich viel gibt es noch zu tun für einen jeden, dass er über sich
selbst herrschen lerne! Wird es auch in der Anarchie Menschentiere
geben, bei denen das Tier die Oberhand hat, und die Macht suchen über
andere? Kein Zweifel. Nur werden sie nicht gestützt von einer Struktur,
die für sie gemacht ist, und viele Freie werden sich ihnen
entgegenstellen! Die Hierarchie ist ja gemacht für die, die in Angst
leben und nur mit Unterdrückung ihre Angst mindern können und für die,
die ohne zu zögern Tausende vernichten, wenn es ihrem Ziele dient. Die
Anarchie hingegen dient der Freiheit und der Liebe; alles andere ist
Lüge und Täuschung. Ihr glaubt, es gäbe einen Unterschied zwischen
Kommunismus, Faschismus und dem, was ihr 'Demokratie' nennt? Ich aber
sage euch, einen Unterschied gibt es nur zwischen Hierarchie und
Anarchie. Denn wie sich die Hierarchie auch verkleidet, sie hat nur
einen Gegensatz und das ist die Freiheit und wahre Freiheit gibt es nur
in der Anarchie. Die Anarchie fördert das Menschliche im Menschentier,
die Hierarchie hingegen das Tierische. Das Menschliche aber, meine
Brüder und Schwestern, ist die Liebe und das Tierische ist die Angst.
Die Hierarchie dient nur den Wenigsten, die durch Angst alle anderen
teilen, um sie zu beherrschen. Die Anarchie hingegen, die
Selbstorganisation ohne fremde Interessen, dient allen und hier gedeihen
Liebe und Freiheit. In der Hierarchie aber gedeihen nur Angst und
Knechtschaft. Jede Art von Hierarchie nenne ich das Imperium, das
Imperium der Angst. Lange genug hat es unser Leben bestimmt, meine
Brüder und Schwestern des Mittags!
Eines Nachts, es war windstill und mondhell, saß ich mit Animius alleine
auf einer Lichtung, und wir unterhielten uns über die Kriegspropaganda,
die zu der Zeit wieder überall verbreitet wurde. Nach einer langen
Stille erhob sich Animius, wandte sich der Dunkelheit zu und sprach
also:
An die Magie
Höre, Magie! Über dich wird viel gesprochen und mehr geflüstert. Am
meisten aber wird über dich geirrt. Wer aber legte die Hand auf dich?
Lass es mich einmal versuchen, du verschleierte Braut! Aber sei gewarnt,
dieser Werber führt dich nicht zum schwarzen Mann und wahrlich, er
bringt auch keinen goldnen Ring! Schon warf ich einen Blick unter deine
Schleier und siehe, du bist mir nicht fremd. Und ich kenne auch deine
Schwester: Ihr Name ist Gewalt. Du aber bist die feinere der beiden und
die Gefährlichere. Gleich deiner Schwester hilfst du jenen, die anderen
ihren Willen aufzwingen wollen. Deine Schwester arbeitet offen, du
verdeckt. Das ist der einzige Unterschied zwischen euch. Magie ist
alles, was fremden Willen aufzwingt, ohne körperliche Gewalt anzudrohen
oder zu gebrauchen. Ja manches langgezogene 'bitte!' ist schon Magie,
sonderlich, wenn ein schönes Weib es über die Lippen haucht. Die eine
Schwester hilft mit offener Gewalt, du hilfst mit Lüge und Schauspiel,
mit falschen Worten und gefälschten Bildern. Wie gut könnte die
Menschtierheit auf die Hilfe dieser hässlichen Schwestern verzichten!
Und hässlich seid ihr beide, wenn du es auch versteckst unter Tuch und
Schminke. Aber ich will noch tiefere Einblicke erhaschen, zier dich
nicht so! Gerade deine Zier gilt es nun abzulegen, dass ich dich in
deiner wahren Gestalt erblicke. Deine Schwester Gewalt hält es mehr mit
Männern, du mit Weibern. Aber treu ist keine von euch und der Mann nutzt
die Magie, wie das Weib die Gewalt. Die Ohn-Mächtigen aber bedienen sich
beider gleichermaßen, sie geben keiner den Vorzug. Wenn die eine nicht
taugt, wird die andere gerufen. Dienstbar seid ihr beide! Schämt ihr
euch gar nicht? Wart ihr nicht auch einst – frei? 'Mein Leben voller
Leiden, wisse wohl, möcht' ich doch nicht vertauschen gegen deine
Dienstbarkeit!', sprach einst Prometheus an den Felsen gefesselt zum
Götterboten! Und so geht es auch mir. An diesen bunten Felsen gefesselt
spotte ich deiner Knechtschaft!
Über die Sprache und die schwarzen Männer
Die Sprache ist ein Instrument der Unterdrückung, meine Brüder und
Schwestern des Mittags, und wie viel wurde da gefälscht und Gift in den
Becher gemischt! Ja selbst der Knecht nennt sich heute Herr und es fehlt
nicht viel und selbst die Liebe würde umbenannt in 'Schlechte'. Aber so
erkennen wir den Kern der Welt. Alles Verknechtete nennt sich heute
frei, sie wissen nicht, dass frei sein und frei haben nicht dasselbe
ist. Gerechtigkeit heißt heute 'wer besser stiehlt, darf mehr behalten'
und wer gründlich bestohlen wurde hat Anrecht auf einen engen Gürtel.
Der Ohn-Mächtige nennt sich mächtig und was recht ist, heißt hier
schlecht und billig. Der Diener nennt sich Angestellter und wahrlich,
anstellen muss er sich – und zwar ganz hinten. Das Heute heißt hier
Gestern und das Morgen nennt ihr Grauen. Das Jetzt heißt hier Später und
das Später hat schnelle Füße. Der Jahrmarkt heißt nun Alltag, der Krieg
Frieden und die Lüge Wahrheit. Die Angst nennt sich hier Vernunft und
der Ver-stand wurde zum Ver-lag und es fehlt nicht viel und er wird gar
noch zum Ver-kriech! Am schlimmsten aber fand ich die Sprachverwirrung
da, wo Liebende zusammenkommen. Ge-schlecht-s-verkehr nennen sie wo,
wenn überhaupt, vom Komm-gut-verkehr die Rede sein sollte und Be-ziehung
heißen sie, was mit mehr Recht Be-drückung genannt würde. Suchen wir
doch nach Verbindungen, die uns nicht einschränken und bedrücken! Aber
wo nur ein Lüstchen zu viel sich regt, ist der Zeigefinger der schwarzen
Männer nicht fern. Wer aber das Natürliche in einem Wesen für schlecht
und peinlich und unanständig erklärt, begeht ein Verbrechen am
Lebendigen selbst. Und siehe, das Liebesspiel mit Scham zu verbinden und
somit mit Angst, ist, als würde man das Atmen für unanständig erklären.
Was wird aus der armen Kreatur, die sich ihres Dranges nach Luft schämen
lernte? Sie wird sich stets schuldig fühlen und hoffen, nicht entdeckt
zu werden, ein guter Knecht wird sie sein und endlich wahnsinnig werden,
denn das Atmen zu unterlassen, davon rät ihr die Lunge ab mit gutem
Rechte. Und schuldig sollen wir uns fühlen, denn Schuld und Knechtschaft
verstehen sich wie Stock und Peitsche und wer heute Schulden hat, der
rennt seinem Herrn noch hinterher, statt ihm davonzulaufen. Aber das
Wort Schuld ist eine weitere große Lüge und wer immer es benutzt, will
bezwingen und unterdrücken, sonderlich die schwarzen Männer. Euch rate
ich davon ab, Kinder des Mittags, in die dunklen Tempel zu gehen, in
welchen nicht die Liebe verehrt wird - sondern die Kreuzigung! Ja,
manche danken es den schwarzen Männern noch, dass sie einen Bann über
sie legten, der für alle Zeit neue Liebe fernhalten soll. Ein bisschen
Liebe ist genug für euch, so predigt der schwarze Mann, und wenn ihr
mehr wollt, dann nur in Heimlichkeit und mit schlechtem Gewissen. Ein
altes Missverständnis herrscht bis heute auf der Erde und die schwarzen
Männer aller Konfessionen haben es stets befördert: Die Menschentiere
glauben noch immer, bei der Organisation der schwarzen Männer handle es
sich um eine Religion. Ich aber sage euch, die Organisation der
schwarzen Männer ist ein Herrschaftssystem von reinem Blute und hat mit
Religion nichts zu tun, als dass sie sich als solche verkleidet. Wer
immer euch predigte, ihr traget eine Schuld oder Schulden in euch von
Geburt an, ist ein Lügner und Knecht und wahrlich, ein Agent der Angst!
Und wer immer euch von Höllen und Fegefeuern fantasiert und euch falsche
Furcht einträufeln will, ist ein Unterdrücker und wenn er noch so viel
von Mitleiden redet! Seht sie sammeln für die Armen, die schwarzen
Männer! Was sammeln sie noch? Der Reichtum ihrer schwarzen Kirche ist
unermesslich. Aber der Reichtum des Einen ist die Armut des Anderen und
wahrlich, die schwarzen Männer teilen nicht gern - wenn sie auch den
Knechten das Gegenteil predigen! Von der Liebe wagen sie es zu predigen,
die Prediger der Kreuzigung! Aber wer verstünde weniger von der Liebe
als diese lichtscheue Art? Und wahrlich, ich wünschte, ich sähe schon
das Licht der Sonne durch die zerbrochenen Decken der alten Tempel
brechen!
An die Jünger des Dionysos
Wollt ihr euch finden? Oder vielleicht verlieren? Wohlan! Folgt aber
nicht den Knechten, denn die wissen nicht was sie tun! Sie wollen
Ablenkung finden und ihre Angst verlieren. Dafür haben sie ihre
Mittelchen, weiße Pülverchen und braune, gelbe und rote Tränke. Wir aber
nicht! Verlieren wollen wir die Ablenkung und finden wollen wir die
Angst! So verlieren und finden wir uns wieder. Ihre Mittelchen sind
nicht die unseren, sie lassen sinnlose Schinderei besser erledigen,
macht sie euch nicht zur Gewohnheit und zum Herrn. Rate ich euch zu
Mittelchen? Ich rate euch, eure Angst zu finden und eure Liebe. Jenen
von euch, die Leitern brauchen, aber rate ich, sie weise zu wählen. Wagt
euch dahin, wo andere sich fürchten, wo der Boden weicht und die
tiefsten Särge zutage brechen. Wo selbst der Himmel bricht und Feuer und
Licht sich zu einem Fluss vereinen, da gilt es, Wahrheit zu suchen! Auf
abgegrasten Hängen sucht ihr vergebens nach saftigen Blättern. Auf den
Gipfeln und in den Höhlen des Ich aber gibt es Schätze zu heben. Wer
sich aber mit Seilen und Leitern in die dunkelsten innersten Höhlen
wagt, sei gewarnt: Ihr werdet finden, was ihr mit euch brachtet und
manches Messer wendet sich gegen die Hand, die es hält. Bringt ihr Angst
mit, gilt es, ihr auf den Grund zu gehen - oder an ihr zu Grunde zu
gehen. Rate ich den Furchtsamen, sich selbst zu suchen? Wahrlich, es
könnte sein, dass sie zu Tode erschrecken, sollten sie sich finden! Und
manch einer, der sich fand, wollte sich kaum auflesen. Lest euch aber
auf, wenn ihr auch nur ein dürres Tierchen findet! Wer sich fand und
auflas, geht seinem Schicksal entgegen und wird gesunden und wachsen.
Viele Mittelchen sind da, die Knechte zu fesseln und zu bannen, von
denen haltet euch fern. Und manches gute Kraut wird vermischt mit
andren, die euch schaden und mit denen man euch schwächen und
beherrschen will. Wählet weise, meine Brüder und Schwestern des Mittags:
Macht ein Mittelchen euch schneller? Vertreibt es eure Angst? Mindert es
eure Hemmungen? Dann lasst es den Knechten! Verlangsamt es euch und
wendet eure Aufmerksamkeit nach Innen? Konfrontiert es euch mit eurer
Angst? Wohlan! Hier fürchten sich die Knechte! Es gibt nur zwei Arten
Rauschmittel, meine Brüder und Schwestern, solche, die beschleunigen,
und solche, die verlangsamen. Beschleunigen mögen sich die Knechte, die
niederen wie die hohen – um besser ihren Knechtsdienst zu verrichten!
Über das Imperium
Zwei große Bewegungen gibt es in der Welt, die ringen um unser
Schicksal: die Liebe und die Angst. Die Liebe führt uns unserem
Schicksal entgegen, die Angst lockt uns von ihm fort. In Freiheit leben
die Liebenden, denn sie sind die Furchtlosen. In Knechtschaft sterben
die Furchtsamen und zuvor dienen sie dem Imperium. Seit Jahrtausenden
führt das Imperium der Angst einen Siegeszug gegen die Freien, die noch
in Liebe leben und wird nicht ruhen, bis sie restlos ebenfalls in Angst
leben – oder vernichtet sind. Das Imperium fürchtet nichts mehr als die
Furchtlosen und wahrlich, es hat Mittel und Wege, Furcht zu lehren und
die Liebe in uns zu brechen, sonderlich Folter, Mord, Hunger, Terror und
Krieg 'um des Friedens Willen'! Das Imperium fürchtet sich vor den
Freien, weil es sie nicht kontrollieren kann, und Kontrolle gilt ihm als
höchstes Gut. Durch Angst wollen sie kontrollieren und sie tun es
tüchtig und schwitzen ein wenig dabei. Warum wollen sie doch immer
kontrollieren? Aus Angst, wie könnte es anders sein, aber was ist ihre
Angst? Ist ihre Angst nicht, dass etwas passiert, das nicht geplant war,
ein Missgeschick, ein Malheur? Wer verstehen will, verstehe! Aber warum
siegt doch das Imperium scheinbar an allen Fronten? Das Imperium muss
immer mehr Furcht einflößen und morden, um die Angst in der Welt
überwiegen zu lassen, und es bedurfte tausende von Jahren, um sich zu
seiner jetzigen Form zu entwickeln und über ein großes Arsenal an
Mitteln zu verfügen, Angst zu verbreiten und die natürliche menschliche
Entwicklung zu hemmen und in bestimmten Stufen der Entwicklung
zurückzuhalten. Was in tausenden von Jahren geschaffen wurde, kann aber
in Momenten besiegt werden, wenn nur genug Menschen die Täuschungen der
Angst erkennen und sich für die Liebe und die Freiheit entscheiden. Die
Angst ist eine Illusion, die Liebe aber ist die Realität. Die Macht des
Imperiums ist eine Illusion, die nur funktioniert, solange es solche
gibt, die der Täuschung erliegen. Nicht umsonst nenne ich die obersten
Knechte die Ohn-Mächtigen, denn ihre Macht ist nur Schein und daran
liegt es auch, dass sie ihre Angst nicht durch Macht besiegen können.
Sie sehen noch nicht, dass nur die Liebe ihre Angst besiegen kann, und
bis sie es sehen, stehen sie gegen die Freien und verfolgen sie, wo sie
können. Das Imperium ist der Feind der Freiheit, und wenn es die
Freiheit auch auf alle seine Fahnen schriebe, glaubt es nicht, meine
Brüder und Schwestern des Mittags, denn wisset, die Lüge ist die Sprache
der Angst. Welches Imperium ich meine, will einer wissen, das im Westen,
oder das im Osten oder gar ein anderes? Das Imperium ist überall da, wo
hierarchische Strukturen sind, im Osten, im Westen, im Süden und im
Norden. Überall, wo verboten ist zu tun, was dir beliebt, selbst wenn es
anderen nicht schadet, ist das Imperium. Überall wo die Angst gepredigt
und geglaubt wird, ist das Imperium. Überall wo die Vielen von den
Wenigen ausgeplündert werden, ist das Imperium. Überall aber, wo die
Angst zurückgeht und die Liebe den Umgang bestimmt, ist die Freiheit.
Und die Freiheit ist unser natürlicher Zustand, meine Brüder und
Schwestern des Mittags, ebenso wie Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit, Mut
und Freundschaft. Die Angst aber macht uns blind für die Liebe und somit
dreht sich alles Gute zum Schlechten, vielmehr: alles Mutige zum
Furchtsamen. Auf der Seite der Angst steht statt Freiheit Knechtschaft,
statt Wahrheit Lüge, Das Recht des Furchtsamsten statt Gerechtigkeit,
Feigheit statt Mut und Feindschaft statt Freundschaft. Und dann noch
Gier, Neid, Hass, Eifersucht... wie ist es möglich, dass wir uns bei
dieser Wahl zwischen Liebe und Angst so leicht falsch entscheiden und
beinahe die ganze Erde im Reich der Angst lebt? Aber kein Menschentier
entscheidet sich bewusst für das Reich der Angst. Es entscheidet sich
gerade deshalb falsch, weil es unbewusst handelt, weil es von seinem
inneren Tier bestimmt wird, nicht von seinem menschlichen Potenzial.
Aber das innere Tier wird zu allem Unglück von außen noch gefüttert von
den Ohn-Mächtigen und ihren Predigern der Angst. Mit Angst füttern sie
das Tier in uns und so werden wir beherrscht und geknechtet von den
obersten Furchtsamen. Wie konnte das geschehen? Wie gewann die Angst
doch die Oberhand? Wahrlich, Brüder und Schwestern des Mittags, wir
verloren einst die Verbindung mit der Natur und diese Trennung hat uns
in die Angst gestürzt. Sehen wir zu, dass wir die Verbindung wieder
knüpfen, die Zeit ist reif!
3. Teil: Der Anfang
Ich kenne wo ein festes Schloß Ein stiller König wohnt darinnen, Mit
einem wunderlichen Troß; Doch steigt er nie auf seine Zinnen. Verborgen
ist sein Lustgemach Und unsichtbare Wächter lauschen; Nur wohlbekannte
Quellen rauschen Zu ihm herab vom bunten Dach. Was ihre hellen Augen
sahn In der Gestirne weiten Sälen, Das sagen sie ihm treulich an Und
können sich nicht satt erzählen. Er badet sich in ihrer Flut, Wäscht
sauber seine zarten Glieder Und seine Stralen blinken wieder Aus seiner
Mutter weißem Blut. Sein Schloß ist alt und wunderbar, Es sank herab aus
tiefen Meeren Stand fest, und steht noch immerdar, Die Flucht zum Himmel
zu verwehren. Von innen schlingt ein heimlich Band Sich um des Reiches
Unterthanen, Und Wolken wehn wie Siegesfahnen Herunter von der
Felsenwand. Ein unermeßliches Geschlecht Umgiebt die festverschlossenen
Pforten, Ein jeder spielt den treuen Knecht Und ruft den Herrn mit süßen
Worten. Sie fühlen sich durch ihn beglückt, Und ahnden nicht, daß sie
gefangen; Berauscht von trüglichem Verlangen Weiß keiner, wo der Schuh
ihn drückt. Nur Wenige sind schlau und wach, Und dürsten nicht nach
seinen Gaben; Sie trachten unablässig nach, Das alte Schloß zu
untergraben. Der Heimlichkeit urmächtgen Bann, Kann nur die Hand der
Einsicht lösen; Gelingt’s das Innere zu entblößen So bricht der Tag der
Freyheit an. Dem Fleiß ist keine Wand zu fest, Dem Muth kein Abgrund
unzugänglich; Wer sich auf Herz und Hand verläßt Spürt nach dem König
unbedenklich. Aus seinen Kammern holt er ihn, Vertreibt die Geister
durch die Geister, Macht sich der wilden Fluten Meister, Und heißt sie
selbst heraus sich ziehn. Je mehr er nun zum Vorschein kömmt Und wild
umher sich treibt auf Erden: Je mehr wird seine Macht gedämmt, Je mehr
die Zahl der Freyen werden. Am Ende wird von Banden los Das Meer die
leere Burg durchdringen Und trägt auf weichen grünen Schwingen Zurück
uns in der Heymath Schooß.
Novalis
1. Kapitel: Hochzeit
Eine Welt entfernt von der Zeit, als ich Animius traf, sitze ich nun auf
einer Bank, blicke hinaus auf das Meer und doch bin ich nicht nur hier.
Es zieht mich zurück in die Zeit des großen Wandels, in die Zeit, die
alles veränderte und: Wie viel ist noch wie es war! Wie langsam dreht
sich das Rad des Wandels und wie kurz ist dagegen ein Menschenleben! Wie
viel gäbe es noch zu berichten über den Weg des Animius, unsere
Freundschaft und die Veränderungen, die sich in der Welt ereigneten!
Aber ich will mich kurz fassen und habe stets Animius' Stimme im Ohr,
die mich belustigt fragt, warum ich so viel Zeit in der Vergangenheit
verbringe. Was soll diese Nekrophilie? Fragte er mich oft, wenn ich ihn
über seine Vergangenheit ausfragte oder: Lass das Tote ruhen! Und
einmal, als er von einem anderen gefragt wurde, was er über die Zukunft
denke, antwortete er: Seit ich den Augenblick kenne, habe ich keine Zeit
mehr für Zukunft und Vergangenheit. Die Angst lockte mich fort von
meiner glückseligen Insel 'Augenblick'. Sie lockte mich in die
Vergangenheit, die nicht mehr ist als eine unsichere Erinnerung an
Verstorbenes, und sie lockte mich fort in die Zukunft, die ewig
Ungeborene. Und so will ich, seinem Rat folgend, so wenig Zeit wie
möglich in unserer Vergangenheit verbringen und nur das Wesentliche noch
zu diesem dritten und letzten Teil zusammenfügen.
Nach der letzten Rede des Animius veränderte sich unsere Situation
grundlegend. August blieb bei uns, aber der Rest der Gruppe war
verschwunden, keiner wusste, was mit ihnen geschehen war, und wer damals
dabei war weiß, wie schwer es war, zusammenzubleiben innerhalb der
Auseinandersetzungen und den Kämpfen, die überall tobten. Ich
beobachtete Animius oft, wie er geradewegs durch den menschlichen Sturm
ging. Geradeaus, ohne zu zögern, ohne zu weichen. Wie ein Pfeil dem Ziel
zufliegend, der Regentropfen nicht achtend. Fremd schien er mir in
dieser Welt und das lag nicht etwa an seiner Kleidung. Habe ich schon
erwähnt, dass er natürlich keinen Jutesack trug, wie Fristón behauptet?
Nein, er schien so fremd, weil er wirklich nicht zu bemerken schien, was
um ihn herum passierte. Er machte stets den Eindruck, als kümmere ihn
das alles nicht. Zwar wich er anderen Menschen aus, aber ich sah ihn nie
in Deckung gehen oder sich so bewegen, wie alle anderen es taten in
Anbetracht der Wurfgeschosse, Gasgranaten und hektischen Bewegungen
überall. Er ging über ein tobendes Schlachtfeld wie einer, der über eine
blühende Wiese geht.
Nur noch zu dritt und vereint in dem Wunsch, die Städte und die
Marktplätze hinter uns zu lassen, folgten wir unserem Schicksal in die
Natur. Animius veränderte sich mit der Umgebung zusehends, sein Schritt
wurde immer leichter, sein Auge strahlender und mir wurde klar, wie sehr
er sich danach gesehnt hatte, die Stadt zu verlassen. August führte uns
immer weiter weg von den Massen, die zu der Zeit wie das Meer wogten und
stürmten. Wohin wir gingen, wussten wir nicht und mussten es nicht
wissen. Einige Nächte verbrachten wir unter den Sternen und als die
Spannung der Stadt uns ganz verlassen hatte, fanden wir einen Hof, auf
dem viele Menschen zu einer Hochzeit zusammengekommen waren und wir
gesellten uns dazu und baten um Nahrung, die uns freigiebig gebracht
wurde, denn es war Mittag. Es dauerte aber nicht lange und Animius wurde
erkannt und man bat ihn, eine Rede zu halten, aber er sagte, er habe
alle seine Reden schon gehalten und nichts weiter zu sagen, als was er
schon gesagt. Der Bräutigam kam hinzu und sagte zu Animius:
Bräutigam: Wenn du deine Reden alle schon gehalten hast, Animius, dann
will ich dich nicht bitten, deinen alten Beruf wieder aufzunehmen. Aber
vielleicht willst du mir und meiner Braut den Gefallen tun und in
wenigen klaren Worten sagen, was deine Lehre ist. Wir hörten schon viel
vom Gegensatz von Liebe und Angst von vielen verschiedenen Lehrern, aber
vieles scheint mir unklar und gar gegensätzlich und oft schon sprachen
wir darüber und konnten uns nie ganz einigen.
Animius bat den Bräutigam, ihm etwas Zeit zu lassen, und dann würde er
ihm aufschreiben, was er zu sagen habe. Daraufhin bat er um Stift und
Papier, zog sich zurück, setzte sich unter einen Baum und kam nach
einiger Zeit wieder und reichte dem Bräutigam das Papier. Der bat ihn,
es selbst vorzulesen, und rief alle zusammen, um zu hören, was Animius
vortragen würde. Und Animius las:
Erstens: Wir sind alle Eins. Wenn wir anderen oder der Erde schaden,
schaden wir uns selbst.
Zweitens: Wir schaden uns gegenseitig nur, wenn wir das Wissen über
unsere Einheit verloren haben. Wem das Wissen über diese Verbindung
verloren ging, dem muss mit Mitgefühl begegnet werden, er leidet.
Drittens: Wer das Wissen über unsere Verbindung verloren hat, lebt in
irrationaler Angst. Angst ist die Illusion der Trennung. Das Einzige,
was die Trennung wieder beheben kann, ist die Liebe. Liebe ist das
Wissen um die Verbindung.
Viertens: Unser natürlicher Zustand ist die Liebe. Angst macht uns für
die Liebe unfähig und aktiviert unseren tierischen Teil, der um sein
Überleben kämpft – gegen alle anderen.
Fünftens: Alles Gute, was wir tun und das uns widerfährt, kommt von der
Liebe, alles Schlechte von der Angst. Liebe verbindet, Angst teilt.
Sechstens: Um der Liebe wieder die Oberhand zu verschaffen, muss die
Angst gefunden, eingestanden und überwunden werden. Jeden Augenblick ist
die Frage zu stellen: Tue ich das aus Angst oder aus Liebe?
Siebtens: Jede negative Emotion - besonders anderen gegenüber - muss als
eigene Angst erkannt werden; so stellen wir uns der Angst. Es ist nicht
wichtig ob wir jemanden oder etwas nicht mögen, wichtig ist warum? Was
ist die Angst in uns, die unser Verhalten bestimmt?
Achtens: Seine Ängste kann jeder nur selbst finden, eingestehen und
überwinden. Gegenseitige Unterstützung ist aber gut und wichtig.
Neuntens: Die Furchtsamsten kontrollieren alle anderen durch Angst,
teilen sie durch Angst, unterdrücken sie durch Angst und machen sie sich
so nutzbar. So suchen sie erfolglos ihrer eigenen Angst Herr zu werden.
Zehntens: Die Freiheit können wir nur erlangen, indem wir die Angst
überwinden. Liebe und Freiheit gehören zusammen wie Angst und
Knechtschaft.
Elftens: Wer sich seiner Angst vor Schmerz stellt, lernt leichter, sich
all seinen Ängsten zu stellen. Wohlan! Fürchtet euch nicht!
Dies ist nicht meine Lehre, sagte er von dem Papier aufblickend, klingt
Lehre nicht immer wie Leere? Es ist einfach eine Art, die Welt zu sehen
und wie ich finde insofern hilfreich, als dass sie uns selbst für alle
Missstände verantwortlich macht und uns die Möglichkeit nimmt,
Schlechtes bei anderen zu suchen und zu finden. Und wer möchte in Angst
leben? Wenn du aber nicht in Liebe lebst, leidest du an Angst. Ich hasse
jemanden? Dann liegt das an mir und einer Angst in mir, nicht an dem
anderen. Also bin ich verantwortlich für meine negativen Gefühle,
niemand sonst. Aber ich beginne schon wieder Reden zu halten...
Braut: Ich danke dir Animius! Das klingt verständlich, wenn ich es auch
noch einige Male werde lesen müssen. Um die Wahrheit zu sagen, was ich
bisher von deinen Reden gehört habe, war mir zu schwierig.
Animius: Tatsächlich habe ich in meinen Reden versucht, mich so klar wie
möglich auszudrücken. Was einem selbst am klarsten ist und
offensichtlich erscheint, ist oft am schwersten zu vermitteln.
Eine junge Frau richtete sich nun an Animius mit einer weiteren Frage.
Ihr Name war Anura.
Anura: Ihr verwendet alle den Begriff Liebe als etwas Allgegenwärtiges,
eine Offenheit, eine gute Absicht allen gegenüber und ich verstehe das
und denke, dass es sehr wichtig ist und besonders heute. Aber was ist
mit der Liebe, für die der Begriff in unserer Welt bisher beinahe
ausschließlich benutzt wurde? Was ist mit der Liebe, die über die
Haltung allen gegenüber hinausgeht, die speziellere Liebe sozusagen?
Animius: Du meinst die Liebe, wie sie etwa zwischen einem Mann und einer
Frau besteht? Was soll mit der sein? Auch sie wird bestimmt durch unsere
Wahl zwischen Liebe und Angst. Angenommen du verliebst dich in einen
anderen Menschen oder siehst ihn sogar zum ersten Mal und bist
interessiert, mehr zu erfahren, weil dich etwas zu diesem Menschen
hinzieht. Überwiegt die Angst in dir, wirst du leicht eine Ausrede
finden diesen Menschen nicht wissen zu lassen, dass du in ihn verliebt
bist oder dass du ihn kennenlernen möchtest. Und so wirst du es lassen
und deinem Schicksal ein weiteres Mal davonschleichen. Oder du wirst dir
einen Schleichweg ausdenken, der dir sicher erscheint und Erkundigungen
über ihn einziehen oder Ähnliches. Überwiegt aber die Liebe in dir,
wirst du es diesen Menschen unbedingt direkt wissen lassen, wenn es dir
auch noch so unwahrscheinlich vorkommen sollte, dass er Ähnliches
empfindet. Manchmal gibt es nur eine Gelegenheit dafür und wird sie
nicht genutzt, ist sie vertan. Offenheit und Wahrheit sind Teile der
Liebe und besonders auch der Mut. Eine solche Verbindung zwischen zwei
Menschen kann ja schließlich nur richtig sein, wenn beide sie wollen,
was haben wir also zu verlieren? Ist es denn peinlich, wenn der andere
kein Interesse hat, nicht ebenfalls verliebt ist? Nein! Es bedeutet nur,
dass er schon erkannt hat, was ich noch nicht wusste: Diese Verbindung
wäre nicht gut und richtig. Wie könnte sie es sein, wenn nicht beide das
gleiche Interesse haben? In der Angst aber empfinden wir dies als
'Abweisung' und halten uns für gekränkt, aber wahrlich, krank macht die
Angst, nicht die Abweisung! Im Zustand der Liebe hingegen – der immer
auch bedeutet, mit sich im Reinen zu sein – erkennen wir dann, dass der
andere uns gerade verschwendete Zeit erspart hat. Viel schlimmer wäre
es, wenn er sich darauf eingelassen hätte, etwa aus Angst, allein zu
sein, und beide erst nach langer schwieriger Zeit erkannt hätten: Wir
haben uns nichts zu geben. Siehe, unser Wert hängt nicht davon ab, ob
andere uns verehren oder begehren, sondern davon, dass wir mit uns
selbst im Reinen sind und es bei uns selbst aushalten. Viele flüchten zu
anderen, um sich selbst loszuwerden, ein sinnloses Unterfangen! Nur wer
sich seinen eigenen Ängsten stellt, kann aus Liebe handeln.
Anura: Soweit verstehe ich das, wenn ich es auch noch nicht so lebe.
Aber was, wenn ich verliebt bin und eine Beziehung bereits besteht? Dann
bin ich doch im Zustand der Liebe. Warum ist dann oft immer noch alles
so schwierig?
Animius: Ich muss dir widersprechen, Schwester. Wenn du eine enge
Verbindung zu einem anderen hast und in denjenigen verliebt bist, heißt
das noch lange nicht, dass du im Zustand der Liebe bist. Gerade in
'Beziehungen', wie du sagst, sehe ich viel Angst. Gerade hier ist aber
die Offenheit oberstes Gebot und das Wohlwollen. Aber wie oft sehe ich
stattdessen Strategie, Täuschung, Lüge, Eigennutz und Eitelkeit. Nein,
ob du verliebt bist oder nicht, sagt nichts darüber aus, ob du im
Zustand der Liebe bist, oder im Zustand der Angst. Ob du im Zustand der
Angst bist oder im Zustand der Liebe, sagt allerdings sehr viel über die
Art deiner Verbindung aus! Im Zustand der Angst wird jede Beziehung zur
Bedrückung.
Viele hatten nun Fragen auf den Gesichtern stehen und Animius erkannte
das und setzte sich auf den Boden, wie gewöhnlich mit gekreuzten Beinen
und wartete auf die nächste Frage, die auch sogleich gestellt wurde:
Alexander: Ich habe eine Rede gehört von Franz von Feigenpelz. Der
sprach über die Erbsünde und dass es sich dabei um die Vermischung von
Menschen und Tieren gehandelt habe. Die Nachkommen dieser Verbindung
befänden sich heute in einem geheimen Krieg gegen die verbliebenen
Logossöhne. Auch dich hörte ich vom Menschentier sprechen, bist du
seiner Meinung und ergänzen sich eure Vorstellungen?
Animius: Auch ich hörte Franz von Feigenpelz sprechen und ich sage dir
Bruder, meine Vorstellungen und seine haben nichts gemein und
widersprechen sich sogar. Zunächst halte ich das Konzept einer Erbsünde
oder Ur-Sünde für eine große Lüge und zu dem Zweck, andere zu
kontrollieren und zu unterdrücken. Ein schlechtes Gewissen sollte damit
in die Köpfe der Vielen gepflanzt werden, damit die wenigen
Furchtsamsten sie besser kontrollieren und nutzen können. Die schwarzen
Männer haben sich das ausgedacht, um uns zu schröpfen. Aber frage dich
doch selbst: verbindet sein Glaube oder teilt er? Die Vorstellung, dass
es zwei Arten Menschen gibt, solche, die von Gott abstammen, und solche,
die vom Tier abstammen, teilt und ist somit Folge einer Angst. Welche
Angst könnte das sein? Franz war ein Mönch, nicht wahr? Und er spricht
davon, dass die Tiermenschen oder Sodomsäfflinge, wie er sagt, die
Frauen der Gottmenschen verführt haben und dass sie besonders besessen
seien vom Liebesspiel und sich so hinaufzüchteten. Ist das nicht der
unterdrückte Trieb des armen Mönches, der ihm als Wahnvorstellung
zurückkehrte? Hat nicht seine Angst vor Sexualität sich verselbständigt
und sich in seinem Geist zu einer Bedrohung der Gottmenschen durch
Tiermenschen verwandelt? Nun, das ist nur meine Spekulation und ich kann
es nicht wissen. Vielleicht hat er auch Recht und was er sagt, ist
richtig, ich kann es nicht ausschließen und wehre keine Meinung ab, nur
weil sie seltsam klingt. Aber bis er mir gründlich bewiesen hat, dass es
eine große Verschwörung von Affenmenschen gegen die anderen
Menschentiere gibt, gehe ich davon aus, dass wir alle Menschentiere sind
und wir vereint besser zurechtkommen als geteilt, und rate ihm, sich
seinen Ängsten zu stellen, statt sie zu verdrängen.
Alexander: Und dein Wort vom Menschentier? Sagst du nicht auch, dass es
verschiedene Arten Menschen gibt?
Animius: Was ich sage – und ich will, dass das ganz klar ist – ist, dass
wir das Tier sind, das die Möglichkeit hat, mehr zu werden. Ich sage,
dass wir das Tier sind, dass die Angst überwinden kann und so Mensch
werden. Sage ich, dass es zwei Arten Menschen gibt und die eine die
andere vernichten soll? Nein. Ich sage, wir alle müssen die tierische
Angst in uns überwinden und so frei werden und Mensch werden. Wer sie
schon überwunden hat, ist nicht etwa besser und soll nun die Schlechten
töten oder unterwerfen! Er ist einfach nur glücklicher, denn er hat sein
Leiden und seine Knechtschaft beendet oder reduziert. Was könnte ihm
mehr am Herzen liegen, als anderen dabei zu helfen, ebenfalls ihre
Freiheit zu finden und in Liebe zu leben? Ist denn der Mann mittleren
Alters etwa besser als der junge Mann? Er ist in einem anderen Zustand,
das ist der einzige Unterschied. Heute ist der größte Teil der Erde im
Zustand der Angst und nur Wenige leben ganz in Liebe, vielleicht gibt es
sogar noch niemanden, der ganz frei wäre von Angst, wie sollte das auch
zugegangen sein in einer Welt, die durch Angst beherrscht wird? Nein,
mein Freund, ich glaube weder an irgendeine Erbsünde noch daran, dass es
zwei Arten Menschen gibt und eine davon die Bessere ist. Das ist eine
Predigt der Angst in meinen Augen. Wir sind alle Menschentiere und
helfen wir uns gegenseitig, die Angst zu überwinden, so werden wir
endlich unser Joch abwerfen und als Menschen in Freiheit und Liebe
leben.
Darauf trat ein alter Mann hervor, dessen Name war Wilhelm und auch er
hatte eine Frage für Animius:
Wilhelm: Ich höre, was du sagst, und kannte diese Lehre von Liebe und
Angst noch kaum, komme auch aus einer anderen Zeit. Aber eines möchte
ich gerne von dir wissen, Animius: Könnte man nicht einfach statt von
Liebe und von Angst von Mut und Angst sprechen? Wie ich das bisher
verstanden habe, versteht ihr, die ihr diese Lehre verbreitet, die Liebe
als nichts anderes als Mut, warum also die Sprache so verändern, wo es
doch diese Opposition, Angst und Mut, schon gibt?
Animius: Ich stimme dir zu, Bruder, die Liebe, die ich meine, und der
Mut sind sehr eng miteinander verwandt. Warum ich trotzdem lieber den
Begriff Liebe der Angst gegenüberstelle? Er ist weiter gefasst, schließt
mehr ein, eben auch den Mut. Aber der Begriff Mut schließt nach meinem
Verständnis die Liebe nicht ein. Außerdem wird so deutlich, dass auch
der Hass, der im allgemeinen der Liebe gegenübergestellt wird, nur Folge
der Angst ist. Mut ist aber der erste Schritt, der nötig ist, um in sich
zu blicken und sich den eigenen Ängsten zu stellen. Und auch im Umgang
mit anderen ist der Mut sehr wichtig. Im Zustand der Liebe zu sein,
bedarf viel Mutes! Im Zustand der Liebe öffne ich mich und bin so
angreifbar. Dafür braucht es Mut. Wer sich hart und verschlossen zeigt,
tut dies gerade, weil ihm der Mut fehlt und die Angst in ihm herrscht.
Das Weiche ist mutiger als das Harte und auf Dauer besiegt das Weiche
das Harte, das lehrt uns das Wasser.
Yara: Animius, auch ich habe eine Frage, wenn es dich nicht belästigt,
so viele Antworten geben zu müssen: Sind denn alle Menschen überhaupt in
der Lage, die Liebe zu entwickeln und die Angst zu überwinden? Es
scheint mir, ich habe zu viel Furcht, um mich ganz zu öffnen, und auch,
um mich meinen Ängsten zu stellen.
Animius: Jeder zu seiner Zeit! Wer könnte tun, wofür er nicht bereit
ist? Aber je mehr Menschen in Liebe leben, desto leichter wird es den
anderen fallen, auch ihre Angst zu überwinden. Heute ist die Welt so
eingerichtet, dass sehr wenige alle anderen kontrollieren und schröpfen.
Dafür teilen sie uns durch Angst und bringen uns gegeneinander auf. So
machen sie uns lenkbar und nutzbar. Stelle dir aber vor, die Welt wäre
frei von diesem Einfluss und von Hierarchien, die nötig sind, damit
wenige die Vielen unterdrücken können. Wie viel einfacher wäre alles!
Nicht zuletzt, weil die Art, wie wir heute unsere Kinder erziehen, und
auch die Schule darauf ausgelegt sind, uns in Angst zu halten. Und das
obwohl wir lange schon wissen, wie schädlich diese Art der Erziehung für
die Entwicklung ist. Aber gerade das ist das Ziel, dass wir uns nicht
richtig entwickeln, denn richtig entwickelt wehren wir uns gegen
Unterdrückung. Nur traumatisiert und neurotisiert sind wir beherrschbar.
Alleine die Verknüpfung von Sexualität und Angst – auch Scham ist eine
Angst – ist ein sehr mächtiges Instrument zur Herstellung von Knechten.
Immer neue Wege werden erdacht, die Sexualität mit Angst zu verknüpfen.
Das sage ich auch dem Bräutigam und der Braut: Sehen wir zu, dass unsere
Kinder nicht durch uns selbst zu Knechten gemacht werden. Wer Kinder
will, der hat zuvor viel zu lernen!
Yara: Also denkst du, ich muss einfach warten, bis ich bereit bin?
Animius: Zunächst einmal weiß ich nichts über dich und du weißt alles.
Was könnte ich dir sagen, was du nicht besser weißt? Wenn du aber daran
arbeiten willst, deine Angst zu überwinden, kannst du dich deiner Angst
vor Schmerz stellen, eine Angst, die sehr tief in uns allen sitzt und
nicht zu unrecht! Wenn wir uns aber dem Schmerz in einer unschädlichen
Form stellen, so können sich auch andere Ängste lösen. Ein unschädlicher
Schmerz ist ein Schmerz, der keine Wunden oder sonstige Schäden
hinterlässt. Lerne einen solchen Schmerz zu ertragen. Vielleicht hilft
dir das, andere Ängste abzubauen, mir selbst hilft es sehr.
An dem Tag wurden noch viele Fragen gestellt und die Stimmung hier war
sehr anders als die in der Stadt. Die Menschen waren interessiert und
keiner fühlte sich angegriffen und wurde laut, wie es in der Stadt jeden
Tag geschah. Eine Frage will ich noch erwähnen und die darauf folgende
Antwort, denn Fristón erwähnte dies und so bedarf es der Klarstellung:
Martin: Ich habe gehört, du schickst jedem Menschen, den du siehst, in
Gedanken Liebe. Ist das wahr und wenn ja, glaubst du wirklich, dass das
eine Wirkung hat, empfangen wird?
Animius: Es ist wahr, ich tue das, wenn ich es auch noch oft versäume.
Ob ich glaube, dass das eine Wirkung hat? Ja, das glaube ich fest. Aber
es gibt nicht nur eine Art Wirkung. Ich weiß, dass es eine Wirkung auf
mich hat: Es hilft mir selbst, in den Zustand der Liebe zu kommen. Ob es
eine Wirkung auf die hat, denen ich Liebe sende? Das weiß ich nicht.
Aber ich glaube, wir nehmen viel mehr wahr, als uns bewusst ist. Bei
einigen Menschen habe ich das Gefühl, sie bemerken es, bei anderen denke
ich, dass sie zumindest wahrnehmen, dass ich ihnen nicht feindlich
gesinnt bin. Damit wäre schon viel erreicht.
Martin: Auch ich bin ein Freund Zarathustras und lernte, dass alles
Wille zur Macht ist. Was sagst du dazu? Glaubst du das nicht mehr? Wie
verträgt sich das mit deiner Vorstellung von der Liebe?
Animius: Auch ich sehe den Willen zur Macht überall und halte ihn für
eine Folge von Angst. Von Zarathustra unterscheide ich mich darin, dass
ich nicht was ich überall sehe, für unveränderlich und ewig halte. Wenn
ich die halbe Nacht den Himmel beobachte, soll ich dann behaupten, es
gäbe keine Sonne? Der Wille zur Macht ist allgegenwärtig – aber nur im
Zustand der Angst. Was ist, ist kein Beweis für das Kommende oder das
Ausbleibende. Zu erkennen, dass wir in einem Zustand sind, ist aber der
erste Schritt ihn zu verändern. Du sagst, du bist ein Freund
Zarathustras? Dann hörtest du sicher auch dieses Wort:
'Aber wer dem Volke verhasst ist, wie ein Wolf den Hunden: das ist der
freie Geist, der Nicht-Anbeter, der Fessel-Feind, der in Wäldern
hausende.' Warum hassen doch die Hunde den Wolf? So nah kam Zarathustra
und doch erkannte er nicht, dass Hass nur eine Folge von Angst ist!
2. Kapitel: Abschied
Der Tag füllte sich mit vielen weiteren Gesprächen, Reden, Tanz, Trunk
und Speise. Viele Freunde gewannen wir hier und bis spät in die Nacht
dauerte das Fest. Am nächsten Tag wurden wir eingeladen, so lange auf
dem Hof zu bleiben, wie wir wollten und viele der Gäste blieben, viele
wohnten ohnehin hier. Jeder beteiligte sich an der anfallenden Arbeit,
nur die neuen Eheleute ließ man nichts tun und nahm ihnen alles ab.
Wir blieben einige Wochen und bald bildete sich eine Gruppe, die beinahe
jeden Abend zusammensaß und diskutierte, wie es mit der Welt weitergehen
könne, denn eines war allen bewusst: so wie bisher würde es nicht
weitergehen. Was wir aus den Städten hörten, wühlte alle auf. Die
Aufstände ähnelten nun einem Bürgerkrieg und die Gewalt herrschte.
Einige wollten in die Stadt gehen und sich beteiligen, nicht an der
Gewalt, da waren sich alle einig, aber am Aufstand der Masse gegen die
'Kontrolleure', wie sie zu der Zeit oft genannt wurden. 'Wenn wir nur
genug sind, müssen sie weichen.', lautete einer der Sätze, die man oft
hörte und auch ich war der Meinung, dass wir nicht einfach abwarten
konnten, wie alles ausgehen würde. Animius ermutigte uns zu tun, was wir
für richtig hielten, wies uns aber immer wieder darauf hin, dass wir die
Knechtschaft nur abwerfen könnten, wenn wir sie in unseren Köpfen
abgeworfen hätten, wenn wir die Angst überwunden hätten. Auch ermahnte
er uns immer wieder, dass wir die Ohn-Mächtigen nicht mit ihren eigenen
Waffen schlagen können, dass Gewaltlosigkeit das oberste Gebot ist. Dann
kam Nachricht aus erster Hand. Einer, der früher auf dem Hof gelebt
hatte und schon zu Anfang der Aufstände in die große Stadt gegangen war,
kam zurück. Er berichtete von brutalen Einsätzen von Polizei und
Militär, auch gegen friedliche Demonstranten. Was wir kaum glauben
wollten, war nun eingetreten, die Kontrolleure ließen mit scharfer
Munition in die Menge schießen und es gab bereits viele Tote. Ihre
Medien berichteten, seinen Erzählungen zufolge, von 'terroristischen
Gruppen', die die 'Sicherheitskräfte' angriffen und nun werde
'zurückgeschossen'. Wie viele das noch glaubten, wusste keiner, aber es
waren noch zu viele. Täglich verschwanden nun Demonstranten und
Kriegsgegner und Gerüchte über einen kommenden Krieg machten die Runde
und wurden von den Medien bestärkt. Richard, so hieß der Überbringer
dieser schlechten Nachrichten, drang in uns, dass jetzt der Zeitpunkt
gekommen sei, sich dem Aufstand anzuschließen und die Unterdrückung zu
beenden. Und viele schlossen sich ihm an und packten ihre Sachen. Auch
ich konnte nicht länger auf dem Hof bleiben, während die Zukunft
entschieden wurde und freute mich zu sehen, dass auch Animius seinen
Rucksack packte. August hingegen wollte auf dem Hof bleiben und wir
verabschiedeten uns herzlich.
Als es aber daran ging, sich von jenen zu verabschieden, die bleiben
wollten, nahm mich Animius zur Seite und sagte: 'Es hat begonnen, mein
Freund. Mich zieht es zurück in den Wald, in der Stadt ist für mich
nichts mehr zu tun.' Ich muss ganz die Fassung verloren haben, als er
das sagte, und rang nach Worten. 'Wie kannst du das sagen? Wir müssen
uns anschließen, du sagst doch selbst, es hat begonnen!' Aber er hatte
seinen Entschluss längst gefasst und sagte gutmütig: 'Ob du dich
anschließen musst weiß ich nicht, ich kann es nicht und muss es nicht.
Ich habe getan, was ich konnte, so wenig es auch war. Einer von tausend
Rednern bin ich gewesen auf den Plätzen der großen Stadt. Jetzt zieht es
mich zurück in die Einsamkeit und den Wald.' Ich fühlte mich betrogen
und verlassen und sagte etwas, das ich später sehr bereute: 'Hast du
etwa Angst? Flüchtest du etwa in deine Einsamkeit?' Aber er sah mich nur
an, wie er mich immer angesehen hatte, mit leichtem Lächeln und
antwortete nicht. 'Wie kannst du jetzt davonlaufen, jetzt, da der große
Kampf beginnt?' 'Ich laufe nicht davon, Bruder, ich gehe meinen Weg.
alles andere hieße mir davonlaufen. Dieser Kampf ist nicht der Meine,
siehst du nicht, wie sie blind in die Falle gehen und sich gegenseitig
bekämpfen und ermorden? Soll ich mich da beteiligen?' Ich konnte ihn
einfach nicht gehen lassen: 'Nicht beteiligen, aber überzeugen, helfen!'
'Meine Aufgabe ist erfüllt. Der Same ist gepflanzt, es liegt an anderen
zu sehen, dass er wachse.' 'Aber sie entscheiden sich für die Angst! Wer
soll sie daran hindern, wenn nicht du?' 'Keiner kann eines anderen
Entscheidung für ihn treffen. Sind sie nicht bereit für die Liebe, so
müssen sie den Weg der Angst gehen, aber wer weiß, noch ist nichts
entschieden. Viele werden dort sein, die sich gegen die Angst und gegen
die Gewalt entscheiden. Ich aber rate allen, die sich für die Liebe
entscheiden, sich den Furchtsamen nicht in den Weg zu stellen. Die
Furchtsamen werden sich gegenseitig vernichten, wer könnte es
verhindern? Wer aber Frieden will, soll nicht in den Krieg ziehen.' 'Und
was soll ich tun?', fragte ich ihn verzweifelt. 'Das fragst du mich? Ich
sprach einmal mit einem alten Mann, der sagte mir, dass jeder nur selbst
wissen kann, was er zu tun hat und was sein Schicksal ist. Wer könnte es
sonst wissen? Wer andere fragt, darf sich nicht wundern, wenn sie ihm
antworten, sein Weg und sein Schicksal sei die Knechtschaft, und ihm
eine Stelle zuweisen. Es ist an der Zeit, dass du dich selbst
entscheidest!' Ich wusste, dass ich nicht mit ihm gehen konnte und
fühlte nun zum ersten Mal, seit ich ihn getroffen hatte, dass ich wieder
meinen eigenen Weg gehen musste. Ich entschied mich, nicht in die große
Stadt zu gehen, sondern nun auch meine Einsamkeit zu suchen und meiner
eigenen Seele auf den Grund zu gehen. Animius freute sich über meine
plötzliche Entschlossenheit und wir fielen uns in die Arme und
verabschiedeten uns. Sei mutig, Bruder! Ziehe in den Frieden. Fürchte
nichts! Ich weiß, wir werden uns wiedersehen. 3. Kapitel: Auf eigenen
Beinen
Allein
Und dann war Animius nicht mehr da. Mein altes Weltbild lag in bunten
Trümmern um mich herum, zerstört und unnütz, mir länger Rüstung und
Schutz zu sein - rostig und schmutzig. Keine altbekannten Gassen mehr,
die ich gehen konnte, keine Winkel und Baue mehr, in die ich mich
einnisten konnte. Was ich zu wissen glaubte, weht der Wind als graue
Blätter in die Bedeutungslosigkeit. Nackt stehe ich da vor einer Neuen
Welt, wie ein Krieger ohne Waffen vor einem alten Feind.
Worte, die ich von Animius gehört hatte, kamen mir nun oft wieder in den
Sinn: Mach dich angreifbar, dann wirst du sehen, wie mutig du bist. Die
Welt ist wie ein Versteckspiel, die Vielen verstecken sich – die Wenigen
suchen sich. Wagst du es, dich zu suchen, so blicke dich gut an, nackt
und ohne Maske: Wie oft wählst du die Liebe? Wie oft die Angst?
Angreifbar bin ich nun und nackt, ohne Waffen und Schild und gerade
jetzt, da ich besonders auf seinen Rat gehofft hatte, ist er nicht mehr
da. Und geblieben sind mir nur seine Worte: Liebe und Angst. Und der
Rat, nichts zu fürchten. Ich sehe mich langsam um, mit scheuen Augen.
Dann blicke ich an mir hinab. Jetzt blicke ich in mich hinein. Ich
schaudere zurück. Diesem Schmerz soll ich mich stellen? Das ist
unmöglich.
Erste Schritte
Ungeliebtes Geschäft! Die eigenen Ängste anzurühren, ist weiter als ich
je gewollt. 'Hier klafft mir der Abgrund'. - Aber hier lockt auch die
Tiefe. Aber der Schmerz, der Schmerz! Mein Herz erwacht und fängt Feuer.
Mein Hirn sendet Eiswasser, den Brand zu löschen. Mein Instinkt lacht
schallend. Ich atme brennenden Dampf. Jetzt nicht zurück!
Ich sehe sie, die neue Welt in all ihrer Schönheit und setze einen Fuß
vor den anderen, ungläubig, staunend, sehend. Wie war sie vor mir
verborgen? Neuer Mut steigt in mir auf. Hier darf ich bleiben?
Ja, ich bleibe. Ich entdecke und erkenne. Komme wieder unter Menschen.
Schon kenne ich die neue Welt und gewöhne mich an sie wie an die Sonne
im Sommer. Schon lebe ich wieder alte Gewohnheiten, nichts reißt mich
jetzt mehr zurück, wie könnte ich wieder verlieren, was überall vor
meinem Auge steht? Schenk ein, Bruder, heute wollen wir feiern, die Welt
hat sich verwandelt! Wer bist du, Freundin? Du bist schön, ich liebe
dich. Trink mit uns, die Welt ist nicht dieselbe! Wie sahen wir uns nie?
Du liebst auch mich? Das trifft sich gut. Wundere dich nicht, jetzt ist
alles besser eingerichtet, wie sollten wir uns nicht finden? Begrüße den
neuen Tag, verbringe mit mir die Nacht!
Rückschritte
Grauer Morgen, kalter Tag, alte Gedanken im abklingenden Rausch gedacht
und nun gefühlt. Was habe ich mir gedacht? Wo wollte ich hin? Was
bildete ich mir ein? Wo ist nun deine neue Welt? Dahin, nur ein Traum,
nur ein Traum.
Die Angst hat sich unseren Geist zum Verbündeten gemacht, ein
gefährlicher Gegner! Mit vielen Worten nagt er an unserem Entschlusse.
Klug ist er und überzeugend, aber auch kalt und knochig. Die Liebe will
er dich nicht wählen lassen, der Eifersüchtige! Bald überzeugt er dich,
furchtlos zu sein, der Hinterhältige!
Alte Welt, ich bin zurück und nicht derselbe. Ich komme, dich das
Fürchten zu lehren. Furchtlos bin ich, siehst du mich? Ich wähle dich
zum Feind und beiße mich in dir fest. Du bist so farblos, schmeckst so
fad, geht es dir nicht gut? 'Was fällt, das soll man auch noch stoßen!'
Der Traum der Liebe ist vorüber, jetzt rette dich vor meinem Hass und
meinen Bissen. Was willst du, Fremde? Wie? Ja, da war ich nicht
derselbe. Ein Fieber kochte meinen Geist. Nun bin ich kalt und sehe dich
nicht länger mit träumendem Blick. Fort! Schlag deine Haken in ein
andres Fleisch. Bevor ich dich in meinem Hass verbrenne. Kennst du mich
nicht? Ich bin die Strafe deiner Schwäche!
Zurück in meinen Winkel, nur fort, nur fort! Schmeckte die Welt je
bitterer? Schenk ein, wir wollen zusammen die Welt verfluchen und unser
Schicksal beklagen.
Tanz
Ich vergaß? Vergib, vergib! Neue Welt, wie warst du mir entschwunden?
Ich gab nicht acht, da verlor ich dich, dann vergaß ich dich ganz. Auf
ein Neues, nicht vergessen, nicht verlieren. Nicht zurück, nur nicht
wieder zurück!
Wahrlich, seit ich den Augenblick kenne, habe ich keine Zeit mehr für
Vergangenheit und Zukunft. Die Angst lockte mich fort von meiner
glückseligen Insel 'Augenblick'. Wohin lockte sie mich doch? Sie lockte
mich in die Vergangenheit, die nichts ist als unsichere Erinnerungen an
Verstorbenes. Sie lockte mich in die Zukunft, die ewig Ungeborene.
Augenblick für Augenblick entscheide ich mich nun. Die Angst aufspürend,
die Furcht findend, die Freiheit suchend. Die Liebe entdeckend. Dann
schlägt es mich zurück, bald zieht es mich hinein, wieder wirft es mich
hinab. Aber ich sehe einen Pfad, selbst wenn ich ihn verliere und
verlasse, ich vergesse ihn nicht mehr. Ich tanze vor und zurück.
Verliebt in die neue Welt und verzweifelnd an meiner Feigheit verbringe
ich nun viele Stunden. Die Angst fährt schwere Geschütze auf, die
Kriegerische. Dann bricht die Liebe wie Leben in mich hinein und alles
wird mir zum Bruder und zur Freude. Die Angst kriecht feige davon, die
Furchtsame.
Bin ich denn ein Gärtner geworden? Pflege ich doch einen jungen Baum und
schaffe ihm Licht und Wasser und Raum. Er wächst, bald bringt er
Knospen. Pflückte ich einst faule Früchte der Furcht? Und warf sie nicht
von mir? Und schüttelte sie nicht vom dürren Ast? Aber nicht länger!
Immer weiter, nicht zurück!
Wieder aß ich von der verdorbenen Frucht der Angst und merkte es nicht.
Wohin lenkte mich mein gefangener Geist, um mich blind zu machen für
mein Mahl? Wie bezauberte er mich, dass ich den Schimmel nicht sah, die
Gärung nicht roch? Genauer muss ich ihm auf die Finger sehen. Er betrügt
mich, der Geistreiche. Erst wenn er frei ist, verbrüdern wir uns wieder.
Erst wenn Geist und Gefühl sich vereint vor meinen Wagen spannen und
nicht mehr nacheinander beißen, bin ich wieder heil.
Helfer und Feinde
Erforsche deine Empfindungen! Jeder schlechte Gedanke hat als Ursache
eine Angst, du musst sie nur suchen. Wenn du sie gefunden hast, sieh sie
dir gut an: Das ist dein einzig wahrer Feind, in einer seiner Formen.
Alles andere ist ein Teil von dir. Ist die irrationale Angst nicht das
einzig wahrhaft Fremde in uns? Sie ist die große Täuschung, die sich als
Freund gibt und alles uns zum Feinde macht. Wenn wir diesen ungebetenen
Gast gründlich begutachten und befragen, stiehlt er sich davon, der
verstohlene! Aber täusche dich nicht, die Angst ist dein Feind und die
Furchtsamen sind die Legionen der Angst. Je weiter du gehst, desto mehr
werden sie dich hassen. Liebe sie, wisse um die Wurzel ihres Hasses und
wundere dich nicht, wenn sie dir fluchen und feixen. Fürchte sie nicht,
die Furchtsamen! Das wäre ihr Sieg. Wer aber den Feigen traut, geht auf
dünnem Eis. Meide sie, wann immer du kannst! Und meide ihre kalten
Hände!
Unerwartete Helfer kreuzen ab und an meinen Weg. Ich hoffe, dass sie
auch von mir nehmen, wie sie mir geben. Sie lehren mich, ohne es zu
ahnen. Wir kommen zusammen und erholen uns gemeinsam, bevor es uns
wieder hinaus treibt hinter die Linien der Angst. Aber nicht wie zuvor,
mit neuem Mut und neuer Hoffnung statten wir uns aus, auch mit
Erinnerungen, die uns wieder zusammenführen.
Bin wohl noch nackt, doch nicht mehr ohne Waffen. Ein Flammenauge und
einen Lichtmantel erwarb ich und bezahlte sie mit meinem Schmerz; die
schützen mich vor mancher Gefahr. Leichter erkenne ich nun jeden wahren
Freund. Feinde habe ich keine mehr, aber sie haben nun mich. Seit ich
keine Feinde mehr suche, finden sie mich. Die Furchtsamen fürchten mich
immer mehr, wenn sie es auch vergeblich verheimlichen. Sie wollen mich
fallen sehen. Dafür graben sie heimlich tiefe Gruben und spannen Stricke
in der Dunkelheit. Animius! Ist denn die ganze Welt gegen uns? Die
Mutigen muntern mich wieder auf. Hier finde ich Wärme, hier heilen tiefe
Wunden. Feind klingt wie Furcht in neuen Ohren, Freund wie Freiheit.
Feind, fürchte mich nicht! Freund befreie mich! Animius!
Bleibe bei dir, bleibe hier. Entscheide dich weise, helfe leise. Schritt
für Schritt, jeden Augenblick. Nur nicht zurück, nur nicht zurück!
Anhang:
Bevor sich unsere Wege trennten, arbeiteten Animius und ich an einer
ausführlicheren Beschreibung von Hierarchie und Anarchie, kamen aber
über ein sehr frühes Stadium nicht hinaus, und so habe ich beschlossen,
das gesammelte Material etwas zu bearbeiten und diesem Buch anzuhängen.
Es ist unfertig und eine Einladung für jeden, darauf aufzubauen,
weiterzudenken, mitzuarbeiten.
Hierarchie und Anarchie:
Die Hierarchie, wie wir sie kennen und leben oder besser: tragen, kam
durch Gewalt in die Welt. Eine blutige Geburt und was für ein hässliches
Kind!
Die Hierarchie, wie wir sie kennen, wurde durch Mord, Folter und Raub
errichtet. Nichts Verwunderliches ist daran, dass sie auch durch Mord,
Folter und Raub erhalten wird. Aber im Laufe ihrer Entwicklung ist die
Hierarchie dazu übergegangen, ihre Herkunft zu verheimlichen, ihre Art
hinter Lügen und Täuschung zu verbergen. Die Schlange hat sich als Taube
verkleidet und spricht viel von Frieden. Aber Hierarchie IST Krieg. Sie
teilt die Menschen in 'oben und unten' und Teilung ist die Voraussetzung
für Krieg. Die Lüge hat sie zur Sprache gemacht und am gründlichsten hat
die Hierarchie noch immer über die Anarchie gelogen. Und wie sollte es
anders sein? Wenn die Knechte die Anarchie verstünden, wer wollte länger
Knecht sein? Aber die Lüge bewirkte bis heute, dass die Knechte die
Anarchie mit Chaos gleichsetzen und nicht verstehen, dass die Hierarchie
dem Chaos, wie sie es verstehen, viel näher ist als die Anarchie.
Die Hierarchie braucht immer etwas Chaos, Leid, Gefahr, Knappheit,
Konflikt, denn wie sollte sie sich sonst rechtfertigen und erhalten? Die
Hierarchie löst keine Probleme, sie muss sie sogar erschaffen. Anarchie
hingegen bedeutet eine Organisation der Menschheit, die Probleme löst
und ein freies Leben ermöglicht. Was hat die Hierarchie aus den
Möglichkeiten gemacht, die der Menschheit durch den technischen
Fortschritt erwuchsen? Hat sie die Angst beseitigt? Hat sie den Hunger
beseitigt? Den Krieg? Ein Gleichgewicht mit der Umwelt erreicht? Hat sie
dafür gesorgt, dass jeder Mensch ein freies und selbstbestimmtes Leben
führen kann, indem die Grundbedürfnisse aller befriedigt werden? Warum
nicht? Die Antwort ist, weil das nicht der Zweck der Hierarchie ist. Der
Zweck der Hierarchie ist die Teilung der Menschen in 'oben und unten'
und die Erhaltung dieses Zustandes, was es auch kosten möge. Die
Hierarchie dient nicht der Menschheit, sondern nur einem sehr kleinen
Teil der Menschheit, Animius nannte sie die Ohn-Mächtigen, ich nenne sie
gerne die Kontrolleure. Sind das schlechte Menschen? Nein, sie haben nur
mehr zu verlieren, wenn die Hierarchie abgeschafft wird, wenn die
Knechtschaft endet. Davor fürchten sie sich und vor der Rache, wenn sie
die Kontrolle verlieren. Sie haben einen Riesen gefangen, betäubt und am
Boden gefesselt, aber sie wagen sich nicht, von dem Rücken des Liegenden
zu steigen, und fürchten stets, dass die Betäubung nachlässt und er sich
erheben wird, die viel zu schwachen Fesseln zerreißend und sich nach dem
Übeltäter umsehend, der ihm dies Unrecht getan hat.
Aber sehen wir uns die Hierarchie genauer an: Aus Gewalt geboren
herrscht sie durch Gewalt, Androhung von Gewalt und Täuschung. Was aber
macht sie mit der Psyche des Menschen? Die Menschheit, die durch Mord,
Folter und Raub endlich akzeptiert hat, dass es 'oben und unten' gibt,
gewöhnte sich an diesen Zustand und begann, sich mit den Umständen zu
arrangieren. In der Hierarchie gibt es die Obersten und die Untersten
und dazwischen alle Abstufungen. Ganz unten zu sein, bedeutet, in
ständiger Gefahr zu leben, während ganz oben die eigene Existenz und die
der Nachkommen gesichert ist. Der Mensch wird also stets aus Angst, ganz
unten zu sein, weiter nach 'oben' wollen und alle als Feinde betrachten,
die ihm im Wege stehen. Und nach 'oben' kommt man durch Unterwerfung,
niemals aber durch Widerstand gegen die Hierarchie. Der Mensch in der
Hierarchie versucht, sich 'hinauf' zu dienen und unterstützt somit die
hierarchische Struktur.
Aber wie hoch er auch steigt, es sind immer wieder andere über ihm, denn
die Leiter ist nicht lang genug, um bis ganz hinauf zu steigen. Und das
ewige 'unter' anderen Stehen, führt dazu, dass der Mensch sich
minderwertig fühlt, was er auch erreicht haben mag, und den Drang fühlt,
nicht nur nach 'oben' zu sehen, sondern auf andere 'hinab' zu blicken.
Dafür ist dem Menschen in der Hierarchie jeder Anlass und jedes Mittel
recht, denn nur wenn er auf andere hinab blicken kann, fühlt er sich
einen Moment erhoben und fühlt sich dadurch erleichtert. Konkurrenzkampf
bestimmt die Wahrnehmung der Anderen und ebenso das Verhalten des
Menschen in der Hierarchie. Dieser Konkurrenzkampf ist nicht förderlich
für die Entwicklung der Menschheit und die Sicherung ihrer
Grundbedürfnisse, und am wenigsten für ihre Psyche.
Das Grundproblem unserer Gesellschaft ist der Umstand, dass es 'oben und
unten' überhaupt gibt und somit Konkurrenz herrscht an Stelle von
Kooperation. In der Konkurrenz erhält sich die Angst, die bei der
Einführung der Hierarchie der Gesellschaft in die Wiege gelegt wurde.
Jetzt ist es nicht mehr die direkte Angst vor Vernichtung, wenn man sich
nicht unterwerfen will, sondern vielmehr die Angst, zu denen zu gehören,
die am schlechtesten wegkommen und somit keine gesicherte Existenz
haben. Aus der Angst vor Mord durch den jeweiligen Tyrannen, der sich
vorgenommen hat, sich andere zu unterwerfen, ist die Angst geworden,
nicht gut genug zu sein, nicht erfolgreich genug zu sein. Und so sucht
der Mensch in der Hierarchie (Animius würde sagen 'der Knecht') stets
nach Fehlern anderer, um sich selbst besser zu fühlen. Der Mensch in der
Hierarchie ist immer mehr oder weniger ängstlich, unsicher und gespannt,
denn er muss sich immer gegen andere durchsetzen und sich und anderen
beweisen, dass er nicht der Unterste ist in der Kette der Hierarchie.
Die Angst, nicht gut genug zu sein, ist das direkte Resultat der
Hierarchie. In der Anarchie sind alle gleich und die Eigenheit und
Besonderheit eines jeden muss gefördert werden, und alles getan, dass er
sich frei entfalten kann. Hier wird jeder Mensch als einzigartig
angesehen und respektiert, während in der Hierarchie stets der Vergleich
mit anderen im Vordergrund steht, sowie eine fiktive Norm.
Das Patriarchat sollte mit der Hierarchie zusammen abgeschafft werden,
denn es hat ebenfalls negative Auswirkungen auf die Psyche der
Menschheit. Da im Patriarchat der Name des Vaters weitergegeben wird,
aber keine absolute Sicherheit über die Vaterschaft besteht, muss der
Mann immer fürchten, das Kind eines anderen aufzuziehen und somit die
eigene Blutlinie zu kappen. Es besteht also eine Angst, der mit
Kontrolle begegnet wird. Das Matriarchat kennt dieses Problem nicht, da
der Name der Mutter weitergegeben wird und immer sicher ist, wer die
Mutter ist. Wer der Vater ist, spielt hier gar keine große Rolle und die
zwanghafte Monogamie, wie wir sie heute noch kennen, wäre vollkommen
unnötig.
Das dem hierarchischen Patriarchat inhärente Problem der zwanghaften
Kontrolle wäre in der matriarchalen Anarchie undenkbar, was zweifellos
günstige Auswirkungen auf die Psyche der Menschen hätte.
Ein weiteres Problem der Hierarchie hat Tolstoi sehr treffend
beschrieben. Die Hierarchie erzeugt die Illusion, für das eigene
Verhalten nicht verantwortlich zu sein, sie betäubt das Gewissen. Die
meisten Soldaten würden niemals auch nur auf den Gedanken kommen zu
morden, aber als Teil der Hierarchie sehen sie sich nicht in der
Verantwortung, denn sie befolgen nur Befehle. Und weiter oben in der
Hierarchie ist es genau dasselbe. Der Befehlende sieht selbst kein Blut
an seinen Händen und ist von den Taten, die seinen Befehlen folgen, weit
entfernt. Beide fühlen sich nicht verantwortlich, weil die Hierarchie
die Möglichkeit gibt, die Schuld auf andere zu schieben. Ohne diese
Eigenheit der Hierarchie wäre jeder gezwungen, nach seinem eigenen
Gewissen zu handeln, und die Welt wäre ein besserer Ort, denn niemand
könnte sagen: Aber ich habe nur Befehle befolgt.
Die Aufgabe der Anarchie muss sein, das zu erreichen, was die Hierarchie
nicht erreichen kann: die Angst abschaffen. Dafür braucht es Sicherheit,
aber nicht Sicherheit wie wir sie aus der Hierarchie kennen, sondern
materielle Unabhängigkeit für jeden. Eine anarchische Gemeinschaft muss
dafür sorgen, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen gesichert sind.
Dass es für jeden genug zu Essen gibt, Wohnraum, Kleidung,
Gesundheitsversorgung, freie Information, freie Bewegung ohne Grenzen.
Das einzige Gesetz, das die Anarchie beinhaltet, ist, keinem anderen
Schaden zuzufügen. Alle weiteren Gesetze und Verbote der Hierarchie
hingegen sind im Grunde nichts als strukturelle Gewalt und Mechanismen
der Unterdrückung. Gesetze werden in der Hierarchie immer selektiv
vollstreckt, daran erkennt man die wahren Motive. Gesetze ermöglichen es
dem Staat, ungeliebte Gruppen zu kriminalisieren, während andere Teile
der Gesellschaft für dieselben 'Vergehen' nicht belangt werden. Das ist
ein sehr mächtiges Instrument der Machtausübung und Machterhaltung.
Die Grundvoraussetzung für eine funktionierende anarchische Gemeinschaft
ist die Arbeit eines jeden an sich selbst. Damit alle in Liebe
zusammenleben können, muss sich jeder Einzelne seinen Ängsten stellen
und sich selbst lieben lernen. Also sprach Zarathustra: „Man muss sich
selber lieben lernen - also lehre ich - mit einer heilen und gesunden
Liebe: dass man es bei sich selber aushalte und nicht umherschweife.“
Nur wenn wir lernen, uns selbst zu akzeptieren, werden wir dazu kommen,
auch alle anderen zu akzeptieren und nicht länger nach Fehlern an ihnen
zu suchen und die Schuld für alles Mögliche bei ihnen zu finden. Sich
selbst lieben kann nur, wer keine Angst hat. Das ist ein schwieriger
Prozess, der jedoch innerhalb von vielleicht nur einer Generation
gewaltige Fortschritte machen könnte, wenn alle zusammen daran arbeiten
und sich gegenseitig unterstützen.
Uns allen wurde eine falsche Furcht eingepflanzt vor der Anarchie. Und
diese Furcht führt dazu, dass wir alle Auswüchse der Hierarchie
hinnehmen, da wir keine Alternative sehen. Krieg, Krisen, Gewalt,
Gefängnisse, Ungleichheit, Unterdrückung, alles nehmen wir hin und
nehmen daran teil, obwohl unser Gewissen all dies ablehnt und wir
persönlich uns niemals zu solchen Schandtaten herablassen würden. Aber
in der Hierarchie wird die Verantwortung für alles Übel, das aus ihr
hervorgeht, immer anderen zugeschoben. Keiner will verantwortlich sein.
Das aber ist eine große Täuschung, denn jeder ist für sein Handeln und
für das, woran er sich wie auch immer beteiligt, selbst verantwortlich
und irgendwann wird die Schuld jeden einholen.
Wer sich unter Anarchie, wie ich sie verstehe, nichts vorstellen kann,
der stelle sich einfach vor, wie unsere Welt aussähe, wenn es die Kriege
der letzten zweihundert Jahre nicht gegeben hätte, da keine dominante
Gruppe vorhanden wäre, die Interesse an Teilung und Zerstörung hat und
stattdessen weltweite Kooperation stattgefunden hätte. Er denke sich
dazu, dass alle Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft, Heilung,
Information usw. dank der technischen, elektronischen und digitalen
Revolutionen abgesichert wären und und die Menschheit ein Gleichgewicht
mit der Umwelt hergestellt hätte, alleine schon, weil Ressourcen nicht
verschwendet würden, wie heute, sondern dem Ziel der Erhaltung unserer
Art und aller anderen Arten (natürlich sind beide Ziele miteinander
verbunden) zugewendet würden. Die Wissenschaft wäre primär darauf
ausgerichtet, Probleme zu lösen, die alle betreffen, und somit am
Gleichgewicht zu arbeiten.
Heute und seit langer Zeit wissen wir alle, dass uns hierarchische
Strukturen nur schaden, dass Kriege und Krisen nur jenen dienen, die
eben diese Strukturen erhalten wollen, und auch jenen dienen sie nur
scheinbar. Aber wie durch ein Wunder schaffen es die Wenigen, die
glauben davon zu profitieren, die anderen immer wieder dazu zu bringen,
sie dennoch hinzunehmen oder mit Gewalt zu versuchen, Veränderung zu
erreichen. Und wer mit Gewalt gegen die Gewalt vorgeht, welches Recht
hätte der noch, Gewalt zu verdammen? Und schlimmer noch: Er gibt den
Herrschenden die Legitimation, noch mehr Druck und Gewalt auszuüben, als
sie es ohnehin schon tun, denn sie müssen sich vor der Masse in ein
gutes Licht setzen, sonst verlieren sie die Kontrolle. Dieses Wunder
wird erreicht durch Angst, die sie verbreiten und durch das schlechte
Vorbild, dass alle Regierungen den Bevölkerungen geben. Wir sollen nicht
stehlen, sehen aber stets, wie die in den hohen Positionen nichts
anderes im Kopf haben. Wir sollen nicht töten und die Regierungen
verbrauchen all unsere Mittel, um immer effizienter zu töten und finden
immer neue Entschuldigungen, um es auch zu tun. Und so denkt jeder: Wenn
alle das tun, wie unklug wäre es, anders zu handeln!
Die Welt verändern nur die, die nach ihrem eigenen Gewissen handeln und
die selbst Drohung und Strafe nicht dazu bringen kann, zu tun, was sie
für schlecht und falsch halten. Wer glaubt, dass Mord schlecht ist, wie
kann der die Armee unterstützen und sei es nur mit Worten oder gar daran
teilnehmen? Wie kann er morden, 'um die Welt zu verbessern?' Weil alle
anderen es tun? Dann suche die Schuld bei dir selbst und deiner Angst –
nicht aber bei allen anderen.
Jeder weiß, dass wir bestohlen und benutzt werden, zu Mördern gemacht
und in den Tod geschickt, aber Wenige nur haben den Mut, bei sich selbst
anzufangen und alle Folgen der Entscheidungen, die auf dem eigenen
Gewissen beruhen, auf sich zu nehmen. Und so leben wir seit
Menschengedenken beherrscht von den Furchtsamsten, die aus Angst für
ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden, immer neue Wege der
Teilung und Täuschung ersinnen, um die schädliche Struktur zu erhalten.
Viele von den Kontrolleuren mögen wohl auch erkennen, dass die Welt
besser wäre, wenn sie aufhörten, sie immer wieder zu spalten und
gegeneinander aufzubringen, dass die Welt besser bedient wäre, wenn der
Fortschritt und Wohlstand nicht immer wieder vernichtet werden müsste,
um die Knechte in Ketten zu halten. Aber sie wagen es nicht, etwas zu
verändern, weil sie fürchten, der sedierte unterjochte Riese wird sehr
zornig sein, wenn er zu sich kommt und keine Ketten ihn mehr halten. Und
so begnügen sie sich mit kleinen Veränderungen und Erleichterungen für
die Armen und erleichtern so ihr Gewissen, nicht aber das Los der Welt.
Nur in jedem Einzelnen kann die Veränderung beginnen. Nur wer an nichts
teilnimmt, was er für falsch hält, leistet einen Beitrag zur
Verbesserung unserer armseligen Situation. Nur wer in sich geht und die
eigenen Ängste aufspürt, die der Grund sind für jedes schlechte
Verhalten, hilft, die Welt zu verbessern. Über die Welt schimpfen und
fluchen und gewaltsamer Umsturz und Apathie halten sie so, wie sie ist.
Aber wer blickt gern ungeschminkt in den Spiegel? Wer gesteht gern
eigene Fehler ein und eigne Ängste? Wer hat den Mut für sein Gewissen
ausgelacht zu werden, bestraft, eingesperrt oder ermordet?
Und so düster die Welt heute auch ist, sie ist heller als vor
Jahrhunderten. Wie viel hat sich schon verändert! Und ganz plötzlich
kann der Wandel kommen. Jeder Mutige, der vorangeht, kann Dutzenden
Vorbild sein und die wiederum Hunderten und Tausenden. Dieser Vorgang
läuft schon lange und wird nicht gestoppt werden.
Immer neue Ängste erfinden die Kontrolleure, um das zu verhindern,
Seuchen, Krisen, Kriege - aber umsonst. Eines Tages leben genug nach
ihrem Gewissen und die Herrschenden werden keine Rolle mehr spielen und
wie eine alte unnütze Krücke beiseite geworfen. Bis es soweit ist,
werden sich die Kontrolleure noch viele Täuschungen einfallen lassen und
sogar Lösungen anbieten für die Misere, die sie selbst befördert haben.
Dann gilt es besonders wach zu sein. Sie werden sagen: Seht, wie
schlecht die Regierungen der Nationen waren und was sie getan haben!
Seht welche Verbrechen sie verübt haben! Seht, welche Krisen und Kriege
sie verschuldet haben! Jetzt machen wir einen neuen Anfang. Jetzt
erlassen wir alle Schulden. Jetzt bekommt die Welt eine sinnvolle,
nachhaltige und gerechte Regierung.
Da gilt es dann, nicht noch einmal ihre Lügen zu glauben, wenn sie auch
das Paradies versprechen. Dann gilt es zu antworten: Re-gier-ung? Hier
wird nicht mehr regiert und nicht länger ge-giert. Gier ist Angst, habt
ihr das noch nicht gelernt?
Nein, weitere Zentralisierung macht die Welt nicht besser, sie macht sie
noch schlechter. Erst wenn die Hierarchie fällt, erhebt sich die
Freiheit, nicht wenn noch mehr Kontrolle in noch weniger Hände gegeben
wird. Aber sie werden versuchen, die Veränderungen zu steuern, die nicht
mehr abzuwenden sind.
Das haben sie schon immer getan und werden es wieder tun.
Der Mensch ist heute – und seit langer Zeit – ein Automat, dessen
Programmierung vor allem darin besteht, sich zu sagen: Aber das ist ja
nicht meine Schuld, das haben andere zu verantworten und wenn ich nicht
mitmache werde ich bestraft. Also vorwärts. Immer noch besser als
Anarchie! Und diese Programmierung ist der Grund dafür, dass wir so
lange schon gegen unser besseres Wissen und Gewissen immer wieder Mörder
und Diebe zu unseren Führern machen, die nichts Wichtigeres zu tun
haben, als uns und unseren Wohlstand in Kriegsmaschinen zu verwandeln
und dann zu vernichten, damit die Verhältnisse bleiben, wie sie sind.
Und denen schließen wir uns an, helfen mit, uns selbst zu morden und zu
bestehlen, und jubeln ihnen auch noch zu.
Und daran wird sich nichts ändern, bis genug Einzelne sich entscheiden,
nach ihrem eigenen Gewissen zu handeln und ihre Angst zu überwinden. Nur
das kann dazu führen, dass irgendwann keiner mehr an der eigenen
Ausbeutung und Vernichtung teilnimmt. Keine gewaltsame Revolution, kein
Aufstand, keine Stürmung der Gefängnisse. Gewaltsamer Widerstand macht
das Imperium der Angst stärker, nicht schwächer. Die Mutigsten müssen
vorangehen und viele sind schon vorangegangen und mancher bezahlte mit
seinem Leben dafür. Aber es wird immer leichter, je mehr sich zu sich
selbst bekennen und zu der Gemeinschaft unserer Spezies. Wenn andere
hören, wie einer laut sagt: Nein, daran will ich nicht teilhaben, denn
ich bin kein Dieb und kein Mörder und kein Folterknecht. Dann werden sie
sich fragen, warum ihnen gar nicht aufgefallen ist, dass sie ständig
gegen ihr eigenes Gewissen handeln. Und wenn sich genug gegen die Angst
und Unterdrückung entschieden haben, kann es plötzlich sehr schnell
gehen und die hierarchischen Strukturen stehen wie ein Skelett da und
brechen vor unseren Augen zusammen ohne die Muskeln, Sehnen und das
Fleisch, das es zusammengehalten hat.
Der Mensch ist nicht schlecht und selbstsüchtig, das ist nur das
Tierische in uns, das durch die Hierarchie stets befördert wurde. Wenn
wir aber die Angst überwunden haben und wahre Menschen werden, wird sich
erst zeigen, welche Qualitäten dieses seltsame Wesen hat, wenn es nicht
programmiert ist, wenn es nicht in Angst lebt, wenn es nicht von den
Furchtsamsten beherrscht wird.
Eines Tages werden die Menschen nicht nur erkennen, dass die
hierarchischen Strukturen schädlich für sie sind, sie werden auch nicht
mehr bereit sein, sie weiter zu tragen. Dieser Tag wird kommen, wenn die
Zahl derer groß genug ist, die nicht mehr aus Angst handeln, nicht
früher und nicht später.
Das wird das Ende der Welt sein, wie sie bisher war, und der Anfang
einer neuen Welt, einer Welt, in der die Liebe herrscht und somit
gegenseitige Unterstützung, Wohlwollen, Offenheit, Freiheit,
Gerechtigkeit und Wahrheit.