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Title: Animius
Author: Roger Roman Raetz
Date: 2012
Language: de
Topics: Anarchism, Meditation, Pacifism, Revolution
Source: Roger Raetz

Roger Roman Raetz

Animius

Roger Roman Raetz

Animius, der Affe Zarathustras

Inhalt:

1. Teil: Erwachen.....................................................5

1.Flucht.....................................................6

2.Angst......................................................18

3.Liebe......................................................25

4.Aufbruch...................................................31

2.Teil:Wanderschaft..........................................36

Vorworte des

Verfassers...................................................37

Dokument des Francisco

F.Fristón....................................................38

1.Kapitel....................................................42 Liebe

und Angst........................................................42

2.Kapitel....................................................50 Über das

Menschentier.................................................51

3.Kapitel....................................................54 An die

Knechte......................................................54

4.Kapitel....................................................57 Vom

Schicksal....................................................57 Über

Krieg und

Kriegsknechte................................................63

Einschub des

Verfassers...................................................69 An die

Angst........................................................69 Traum

des Animius......................................................71

5.Kapitel....................................................74 Über die

Knechtmacher.................................................75 Über die

Sicherheit...................................................76 Von der

Freiheit.....................................................78 Rede des

Franz von

Feigenpelz...................................................81 Über die

Freiheit im

Handeln......................................................85 Über den

Umsturz......................................................87 Über

Besitz und

Gebrauch.....................................................89

6.Kapitel....................................................91 An die

Ohn-Mächtigen................................................94 Über das

falsche Fenster......................................................96

Über die Prediger der

Angst........................................................98

Ende des Dokumentes des

Fristón......................................................102 Über

Bart und

Krawatte.....................................................103

Animius' Traum von

Zarathustra..................................................112 Von

Anarchie und

Hierarchie...................................................116 An die

Magie........................................................119 Über

die Sprache und die schwarzen

Männer.......................................................120 An die

Jünger des

Dionysos.....................................................123 Über

das Imperium.....................................................125

3. Teil: Der

Anfang.......................................................129

1. Kapitel:

Hochzeit.....................................................131 2.

Kapitel:

Abschied.....................................................149 3.

Kapitel: Auf eigenen

Beinen.......................................................153

Anhang.......................................................160

1. Teil: Erwachen

A coward is incapable of exhibiting love; it is the prerogative of the

brave.

Mahatma Gandhi

1. Flucht

Als Animius dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See

seiner Heimat und ging in die Wildnis. Er machte sich auf die Flucht vor

der Welt, wie er sie kannte, und hatte nicht vor, jemals zurückzukehren.

Die Welt, in der er lebte, war für Animius ein böser Traum und seine

Flucht war nur eine Fortsetzung der dauerhaften Flucht, die diesen

Alptraum bestimmt hatte. Von einem Tag war er in den nächsten

geflüchtet, immer mit einem Gefühl der Scham und Ohnmacht erwachend, das

sich durch die Nacht und den Rausch gerettet hatte. Nichts in diesem

Leben schien ihm richtig, nichts wahr, nichts der Mühe wert. Eine

Karriere als Sklave oder Diener konnte ihn nicht locken und welche

Möglichkeiten blieben ihm sonst in dieser Welt? Selbst den Wunsch, ein

großer Trinker zu werden, hatte er aufgegeben, denn der Alkohol erschien

ihm mehr und mehr als das schlimmste und hinterhältigste aller

Unterdrückungs- und Herrschaftsmittel. Und obwohl er die Welt verachtete

und in sich fühlte, dass alles in ihr verkehrt war, hatte er die längste

Zeit einen Ausweg gar nicht gesucht, denn er war sehr beschäftigt damit

gewesen, die Welt zu beobachten und zu verachten. Dies tat er

leidenschaftlich und ohne Gnade oder Rücksicht. Hätte sich jemand

gefunden, der ihn dafür bezahlte, der Welt all ihre Fehler und Schwächen

und Ungerechtigkeiten vorzuhalten, er hätte sich dann doch dazu

herabgelassen, ein Knecht zu werden und noch Überstunden gemacht. Eine

solche Anstellung aber ließ sich nicht finden und er suchte auch nicht

danach. Animius suchte überhaupt nicht mehr viel, er versteckte sich

vielmehr, teils aus berechtigtem Ekel, teils aus uneingestandener Angst.

Er selbst sagte viel später einmal zu mir: 'Das Leben ist wie ein

Versteckspiel, die Vielen verstecken sich, die Wenigen suchen.' Damals

aber gehörte er zu den Vielen, die sich verstecken und wenn er auch

nicht zugegeben hätte, dass er sich vor der Welt versteckte, noch

weniger hätte er zugegeben, dass er sich vor sich selbst versteckte.

Aber entweder man versteckt sich vor sich selbst, oder man sucht sich

selbst. Und sich selbst zu suchen, war ihm noch nie in den Sinn gekommen

und so hatte er sich gründlich vor sich selbst versteckt und auch

maskiert hatte er sich, um sich nicht zu erkennen. Seine Maske war ein

hartes Gesicht mit stechenden grauen Augen und einem spöttischen

schrägen Lächeln, das ihm die meisten Menschen vom Leib hielt. Und auch

seine Kleidung war Verkleidung, schwarz, schwer und undurchdringlich.

Düstere Gedanken bestimmten seine Tage und Nächte, seine Stimmung

schwankte hin und her und meist wusste er nicht, warum? Einen Tag war er

in guter Stimmung, dann versank er wieder in Unmut, Hass oder

Gleichgültigkeit und wer ihm begegnete, lief Gefahr, Opfer seiner

jeweiligen Laune zu werden. Unter diesen Stimmungsschwankungen hatten

auch seine Beziehungen zu Frauen gelitten, aber so wie er es sah, litt

hauptsächlich er unter den Frauen und ihren Versuchen, ihn zu einem

Leben zu überreden, das er nicht mehr wollte und in Wahrheit nie gewollt

hatte. Dieses Leben bestand für ihn aus Knechtschaft, der man nicht

wieder entkommen konnte, hatte man sich einmal auf die Gründung einer

Familie eingelassen. Alleine und ungebunden schien es ihm jedenfalls

einfacher, sich etwas Freiheit zu erhalten, in einer Welt der

Knechtschaft. Ohnehin waren Frauen ihm verdächtig und die Täuschung

schien ihm ihre Hauptaufgabe. Sie täuschen ein anderes Aussehen vor,

andere Interessen, anderen Geschmack – was auch immer ihnen nötig

erscheint, um ihr Ziel zu erreichen. Und dieses Ziel war in seinen

Augen, ihn zu ergattern, zu bändigen und auszusaugen. Was das Geistige

angeht, hatte er Frauen nie ernst genommen und machte sich gerne lustig

über ihre mangelnde Kreativität, vor allem auf dem Gebiet des Denkens.

Oft sagte er und nicht nur unter Männern: 'Die Kreativität des Weibes

erschöpft sich in der Lüge.' Oder er zitierte einen der vielen großen

Denker, die seine Verachtung dem weiblichen Wesen gegenüber teilten.

Angezogen fühlte er sich aber dennoch von den Frauen und gefiel sich

auch nicht wenig darin, ihnen mit seiner Verachtung für die Welt zu

imponieren, wie er meinte. Wirklich lieben konnte er sie nicht, aber

geliebt werden wollte er doch und zwar möglichst von allen Frauen, das

wurde ihm allerdings erst viel später klar. Dass seine Flucht in die

Wildnis überhaupt möglich war, verdankte er aber eben auch seiner

Einstellung Frauen gegenüber und dem Umstand, dass er nicht an

herkömmliche Modelle des Umgangs der Geschlechter miteinander glaubte.

Irgendwann ging er keine Beziehungen mehr ein und erklärte jeder Frau,

die es wissen wollte oder auch nicht, dass er kein Objekt sei, das man

besitzen könne, und wenn er sich auch mit ihr träfe, das keinesfalls

bedeute, dass sie auch nur das Recht hatte, ihn zu fragen, was er tat,

wenn sie nicht dabei war. So war er kinderlos geblieben und ungebunden,

zwei wichtige Voraussetzungen, ohne die er den Sprung aus seinem

Alptraum vielleicht nicht geschafft hätte. Er brauchte die Frauen zwar

und sei es nur, um seine mangelnde Selbstliebe zu stärken, insgesamt

dominierte aber seine Verachtung und seine Flucht war in seinem Kopf

auch eine Flucht vor den Frauen, die er in seinem Bewusstsein in der

gleichen Ecke untergebracht hatte wie Vampire, Schlangen,

Schlingpflanzen und Sirenen - sowohl mythologische Sirenen als auch

moderne. Er musste aber auch eingestehen, dass die Frauen durchaus zu

dem geworden waren, was er in ihnen sah, weil sie ebenfalls unterdrückt

waren und sich, ob sie es wollten oder nicht, den gegebenen Strukturen

angepasst hatten. Diesen Strukturen misstraute Animius nun immer mehr

und machte sie für alles Übel in der Welt verantwortlich. Er hatte schon

in seiner Jugend gefühlt, dass etwas nicht stimmte, was es war, konnte

er damals nicht sagen, aber er fühlte einen unbestimmten Druck, der auf

allem lastete. Eine Zeit lang gewöhnte er sich daran, alle anderen

schienen es ja auch als normal hinzunehmen, aber Mitte seiner zwanziger

Jahre kehrte das Gefühl mit neuer Dringlichkeit zurück und brachte ihn

dazu, sich erneut für die verschiedenen Strukturen des menschlichen

Zusammenlebens zu interessieren. Dies hatte er auch schon in seiner

Jugend getan, aber mit unbefriedigendem Ergebnis. Als einzige

Alternative zum Kapitalismus, in dem er lebte, war ihm damals der

Kommunismus erschienen, und wenn auch in der Theorie besser klingend,

hatte er aber für Animius ebenfalls einen schlechten Beigeschmack, den

er aber nie ganz greifen und bestimmen konnte. Älter und etwas reifer

fand Animius neue Antworten auf seine Fragen und erkannte, was ihm in

seiner Jugend nur auf der Ebene der Gefühle bewusst geworden war. Die

Herrschaftsstrukturen sowohl im Kapitalismus, im Faschismus, als auch im

Kommunismus dienten nur einem Zweck, nämlich einer Handvoll Mächtigen

ihre Macht zu sichern und zu erhalten. Dazu bedienten sich die

Strukturen jeder nur erdenklichen Täuschung und Lüge und zwar auf allen

Seiten. Der Kommunismus, in der Theorie ein ehrbares Ziel, hatte in der

Realität alle Hoffnungen zerstört und war in Tyrannei geendet. Der

westliche Kapitalismus erschien ihm mindestens so verlogen und die

Vorstellung, dass Kapitalismus und Demokratie zusammengehen, fand

Animius geradezu absurd. Und so kam er zu dem Schluss, dass die

Demokratie nur eine Täuschung war, die dafür sorgte, dass die Menschen

sich selbst die Schuld gaben für die politischen und wirtschaftlichen

Krisen, denn sie hatten die Politiker, die dafür verantwortlich waren,

schließlich selbst gewählt. In Wahrheit aber, da war Animius sich jetzt

ganz sicher, gab es Mächte im Hintergrund, die die Entscheidungen trafen

und es der Politik nur überließen, diese Entscheidungen so umzusetzen,

dass das Volk nicht über die Maßen rebellierte. Und wurde das Volk

einmal wirklich durch außergewöhnliche Ausplünderung zur Rebellion

getrieben, dann nur, um es nach einer Lösung schreien zu lassen, die

ohnehin geplant gewesen war. Die politische Klasse war für ihn nur ein

Haufen Strohmänner, wissentlich oder nicht, die die Ausbeutung der

Menschen für die Mächte im Hintergrund organisierte. Wer diese Mächte

waren, war für ihn gar nicht so wichtig, aber sie kontrollierten

offensichtlich die großen Konzerne, die Banken sowie die Massenmedien.

Viel wies für ihn auch darauf hin, dass es auf allen Seiten sehr

ähnliche Interessen waren, die alles beherrschten. Und wenn sich der

Kapitalismus, Faschismus und Kommunismus auch angeblich bekämpften,

Animius schien es, als zögen alle Seiten Vorteile aus dieser Situation,

und er fand es einleuchtend, dass alle Seiten von den gleichen mächtigen

Banken und Konzernen kontrolliert wurden. Ob die Banken und Konzerne

aber das letzte Glied in der Kette der Herrschaft waren, wusste er nicht

und konnte es nicht wissen. Vielleicht waren die Banken ja auch nur die

Bankiers einer Gruppe von äußerst reichen Personen oder Familien, die

die großen Konzerne und Industrien besaßen, wer konnte es sagen? Was

aber die Verbindung war zwischen all diesen scheinbar so

unterschiedlichen Systemen, konnte er lange nicht erkennen. Warum war es

den wirklich Mächtigen offensichtlich egal, ob Kommunismus, Faschismus

oder Kapitalismus mit Scheindemokratie regierten? Ist der Faschismus

nicht überhaupt die Ur-Form der Beherrschung der Vielen durch die

Wenigen? Und alle anderen nur mehr oder weniger gut getarnter

Faschismus? Erst als er die Antwort auf diese Fragen gefunden hatte,

stellte sich ein weiteres System, das er zuvor nie ernst genommen hatte,

in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen - die Anarchie. Denn alle

anderen Systeme hatten gemein, dass sie hierarchisch strukturiert waren,

nur die Anarchie bildete hier eine Ausnahme. Nur die hierarchische

Struktur aber ist es, die es ermöglicht, dass eine sehr kleine Gruppe

ein ganzes Land, ja fast die ganze Welt beherrschen kann. Nur über

Macht, die nach unten hin beständig abnimmt, kann eine kleine Gruppe von

der Spitze aus herrschen und muss nur Schlüsselpositionen besetzen,

nicht etwa ganze Organisationen kontrollieren. Nur die Hierarchie

ermöglicht die Beherrschung der Vielen durch die Wenigen. Anfangs

spekulierte Animius viel darüber, wer diese Gruppe war, denn, so dachte

er, man musste sie ja irgendwie bezeichnen, schließlich aber begnügte er

sich damit, sie die 'dominante Gruppe' zu nennen, und jede hierarchisch

organisierte Gesellschaft hat eine oder mehrere dominante Gruppen, wenn

sie sich auch nicht immer offen zeigen. Die Anarchie hatte Animius

früher nie als Alternative wahrgenommen, weil er geglaubt hatte, sie

bedeute, dass die Brutalsten sich die Macht nehmen und alle anderen

unterdrücken. Jetzt aber begriff er, dass die Hierarchie es ist, die auf

diese Beschreibung passt, während die Anarchie eine Organisation von

unten ist, eine Selbstorganisation, die nicht von oben kontrolliert und

beherrscht wird - und es nicht werden kann. Jetzt wunderte ihn nicht

länger, dass die hierarchischen Systeme die Freiheit immer hinten

anstellten, wenn sie sie sich auch auf die Fahnen geschrieben hatten.

Aber die Freiheit war es immer gewesen, die ihm als Maßstab für jedes

untersuchte System gedient hatte. Die Hierarchie, das wurde Animius

jetzt klar, ist die Struktur, die die Herrschaft der Brutalsten und

Rücksichtslosesten erleichtert, während die Anarchie sie sehr schwierig

macht, denn in der Anarchie steht den wenigen, die alle anderen

beherrschen wollen, eine Überzahl von Freien gegenüber, die sich selbst

organisieren und in der Lage sind, sich zu wehren. In der Hierarchie

hingegen stehen der dominanten Gruppe nur Sklaven gegenüber, die

willkürlich manipuliert und gesteuert werden können und gar nicht in der

Lage sind, ihre eigene Position einzuschätzen, geschweige denn, etwas an

ihr zu verändern. Die Hierarchie, stellte Animius jetzt fest, ist die

Herrschaft der Brutalsten und Rücksichtslosesten, wenn sie sich

gefestigt hat, wenn sie Struktur geworden ist. Wenn die Brutalsten und

Hinterhältigsten lange genug an der Macht bleiben, entwickelt sich eine

Struktur und das ist die Hierarchie. Freiheit hingegen und auch

Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn keine dominante Gruppe die Fäden

zieht, ob offen oder versteckt. Wer sind die denn, fragte er sich, die

denken, dass sie das Recht hätten, mir zu sagen, was ich zu tun und zu

lassen habe? Allerdings sah er schon ein, dass die Freiheit des

Einzelnen da endet, wo ein anderer verletzt wird, oder sonst wie Schaden

nimmt, darüber hinaus aber konnte er keine Vorschriften akzeptieren, von

wem sie auch kommen mochten - und warum auch? Und schon gar nicht war er

bereit, länger in einem hierarchisch strukturierten System zu leben, das

erfunden war, um den Sklaven vorzugaukeln, Freie zu sein. Goethes Satz

'Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält ohne es zu sein.'

ging ihm nicht aus dem Kopf und er verstand, dass der erste Schritt aus

der Sklaverei die Erkenntnis sein musste, ein Sklave zu sein. Und so

sagte er sich: Ja, ich bin ein Sklave, aber nicht länger! Jetzt gehe ich

den Weg in die Freiheit und wenn er mich das Leben kostet! Also

entschied er sich, alles hinter sich zu lassen und in die Wildnis zu

gehen. Dort hoffte er, seine Freiheit zu finden. Aber was er finden

würde war gar nicht so sehr sein Antrieb, wie was er verlieren wollte,

und das war das Gefühl der Unterdrückung, das er auf allen Schultern

lasten sah und nicht mehr länger mittragen wollte. Er ahnte schon, wenn

er es auch noch nie zu einem Gedanken formuliert hatte, dass dieses

Gefühl der Unterdrückung sein ganzes Wesen und Leben bestimmt und

verfremdet hatte.

Und so flüchtete Animius in die Wildnis, die nicht einfach zu finden

gewesen war, aber da sein Leben zuvor eine einzige Flucht gewesen war,

kehrte er in Wahrheit vielmehr nach Hause zurück. Dieses neue Zuhause

aber war unwirtlich und überall sah Animius Gefahr. Nächte ohne Licht

und Wärme waren seine neue Wohnung, wilde Tiere und unbekannte Pflanzen

seine neue Gesellschaft. Die längste Zeit brachte er damit zu, seine

Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Begebenheiten und Begegnungen

kehrten wieder und die dabei erlebten Gefühle kamen wieder hoch. Hass

und Scham dominierten den noch so frischen Alptraum, den er sein Leben

genannt hatte, und auch jetzt blickte er mit Hass zurück. Hass gegen die

Strukturen der Welt, Hass gegen die Menschen, die sich versklaven ließen

und es anscheinend nicht bemerkten oder nicht bemerken wollten. Hass auf

die Herrschenden und Hass auf die Beherrschten. Aber neben diesem Hass

gab es aber auch eine Liebe in ihm, er liebte die Freiheit und die

Gerechtigkeit, sah aber in der Welt nur Unfreiheit und Ungerechtigkeit,

teils besser, teils schlechter versteckt. Sich selbst sah Animius

ebenfalls als Opfer dieser Welt, wenn sie ihn auch nie wirklich in

Ketten gelegt hatte. Auch ihn behandelte sie ungerecht, auch ihn

unterdrückten die Herrschaftsstrukturen, auch ihm nahmen sie die

Freiheit. Und was hatten sie ihm dafür gegeben? Immerhin - das musste er

sich jetzt eingestehen - hatten sie ihm seinen Hass ermöglicht, ein

Zustand, der ihm lange Zeit nicht unangenehm gewesen war. Er hatte sich

wohl damit gefühlt, seine Verachtung in alle Richtungen auszuleben und

sich so selbst zu erhöhen, als der Einzige, der es besser wusste, der

Einzige, der verstand, der Einzige, der über allem stand und den

Überblick hatte; er war ein grausamer Beobachter gewesen. Sein Hass aber

hatte sich immer mehr gegen ihn selbst gewandt und endlich war das

Bedürfnis auszubrechen so groß geworden, dass er seine Flucht angetreten

hatte, ohne Ziel, ohne Plan. Der Zarathustra war seit seiner Jugend sein

Begleiter und Ratgeber gewesen und hatte ihn oft in seinem Hass und

seiner Verachtung unterstützt - aber auch in seiner Liebe für ferne

Ziele. Und dieses Buch war es auch gewesen, das ihm den letzten Anstoß

gegeben hatte, die Welt, die er so hasste, hinter sich zu lassen.

Insbesondere 'Vom neuen Götzen' bestärkte ihn in seinem Vorhaben.

Da heißt es etwa:

'Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er

auch redet, er lügt - und was er auch hat, gestohlen hat er's.' 'Meine

Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler und Begierden!

Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt in's Freie! ' ... 'Frei

steht grossen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele

Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht. '

… 'Frei steht noch grossen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig

besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armuth! '

... 'Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht

überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und

unersetzliche Weise. '

Und so fand er endlich die Kraft, sich seine Freiheit selbst zu suchen

und sich nicht länger darüber zu wundern, dass sie ihm in dem Kerker,

der Staat genannt wird, nicht gewährt wurde. Neben den Dingen, die für

ein Überleben in der Wildnis nötig waren, packte er auch seinen

Zarathustra ein und ging los.

2. Angst

Anfänglich wechselte Animius oft den Ort, schlief wo er gerade war, und

erkundete den Landstrich, den er sich als Ziel seiner Flucht gewählt

hatte. Weit wagte er sich in die Wildnis und hoch in die Berge, blieb

aber nirgends lang, mied Siedlungen und gefiel sich in seinem neuen

Leben als Vagabund. Eines Tages aber fand er ein abgelegenes Tal, durch

das sich ein klarer Fluss wand, der aus hohen Bergen kam. Hier blieb er

einige Wochen und baute sich endlich eine kleine Hütte aus Holz, denn es

wurde immer kälter. Viel Zeit verbrachte er damit, über Pflanzen zu

lesen und Nahrung zu finden, um seinen dürftigen Speiseplan aus Reis und

Linsen zu bereichern, aber es wurde Winter und die Natur gab nicht viel

hinzu. Jetzt verbrachte er viele Stunden damit, im Wald zu sitzen und

die Tiere zu beobachten, und immer wieder kam seine Vergangenheit hoch

und bemächtigte sich seiner. Je öfter er aber die Tiere beobachtete,

desto interessanter schien ihm, wie sie lebten und starben, wie sie

bauten und zerstörten, wie sie kämpften und liebten. Und durch seine

Beobachtungen lernte er viel über die Tiere und besonders wichtig war

für ihn die Erkenntnis, dass die Tiere in fast permanenter Angst und

Vorsicht leben. Wie kommt das doch, fragte er sich, wo sie doch vom Tod

nichts wissen?

Diese Frage beschäftigte ihn einige Zeit und endlich konnte er sie sich

beantworten. Wenn die Tiere wirklich vom Tode nichts wissen, so muss es

der Schmerz sein, den sie fürchten, denn den kennt jedes Leben. Mit

dieser Antwort gab er sich zufrieden. Bevor Animius in die Wildnis kam,

war er überzeugt gewesen, nichts zu fürchten, nicht den Tod und schon

gar nicht Gott und Teufel, aber die ersten Wochen im Wald hatten diese

Vorstellung geändert. Er musste erkennen, dass er eine unbestimmte Angst

in sich trug, die wohl eine versteckte Todesangst sein mochte. Aber

jetzt begann er sich zu fragen, ob seine Angst nicht ebenfalls eine

Angst vor Schmerz war. Der Mensch war ihm nie etwas anderes als ein

seltsames Tier gewesen und die menschliche Intelligenz nur eine

Verlegenheitslösung der Natur. Warum sollte also die tierische Angst vor

Schmerz nicht auch ihn bestimmen? Als er sich diese Frage stellte, saß

er mit gekreuzten Beinen auf dem Waldboden und seine Beine schmerzten

schon etwas. Aber anstatt seine Position wie sonst zu verändern,

beschloss er dieses Mal, nicht wie ein Vogel aus Furcht sofort

aufzufliegen, sondern den Schmerz anwachsen zu lassen, um zu sehen, ob

er ihn wirklich fürchtete. Er schloss die Augen und der Schmerz wurde

stärker und stärker und als er so fürchterlich war, dass Animius ihn

nicht mehr ertragen konnte, streckte er seine Beine aus und betrachtete

sie. Sie wiesen nur einige rote Druckstellen auf, Tannennadeln hatten

sich in den Knöchel gebohrt und viele Abdrücke hinterlassen. Aber das

Blut fand schnell wieder seinen Weg in die Adern und nach wenigen

Momenten war nur noch eine Erinnerung an den Schmerz übrig, der gerade

noch so mächtig erschienen war, und Animius wunderte sich. Gibt es nicht

zwei Arten Schmerz, fragte er sich, solchen, der uns verletzt, und

solchen, der uns keinen Schaden zufügt? Das eben muss unschädlicher

Schmerz gewesen sein, denn er hat keine Wunde, keine bleibenden Schäden

hinterlassen, wenn er auch nicht weniger schmerzte. Und so nahm er sich

vor, sich seiner Furcht vor dem Schmerz zu stellen, indem er an dem

Schmerz übte, der keine Wunde hinterließ, denn an anderem Schmerz zu

üben, würde Folgen haben, die er nicht in Kauf nehmen konnte. Was nützte

es, die Hand ins Feuer zu halten, wenn er sie danach lange Zeit nicht

gebrauchen könnte, oder sogar nie wieder? Am nächsten Tag wiederholte

Animius den Versuch mit dem Unterschied, dass er sich den Wecker seiner

Uhr stellte und sich fest vornahm, sich nicht zu bewegen, bis die Zeit

abgelaufen war. Aber der Schmerz wurde schon bald unerträglich und die

Zeit wollte nicht vergehen. Er nahm sich zusammen und ertrug den Schmerz

mal besser, mal schlechter, aber endlich war er überzeugt, dass er den

Wecker falsch gestellt hatte und er öffnete die Augen, um nachzusehen.

Aber er hatte den Wecker nicht falsch gestellt und was ihm wie das

Doppelte der vorgenommenen Zeit erschienen war, waren in Wahrheit nur

zwei Drittel gewesen. Animius lachte laut auf und gestand sich ein, dass

die Furcht vor dem Schmerz seinen Mut besiegt hatte, und er sah hinauf

in die Kronen der Bäume, wo die Vögel saßen und sangen.

In der folgenden Zeit verlängerte er die Zeit seiner Sitzungen, so

nannte er seine Übung, in der Art, dass der Schmerz immer aufs Neue eine

Herausforderung darstellte, und versuchte, ihn sich nicht zu Kopf

steigen zu lassen. Während am Anfang der Schmerz wie von einer lauten

Glocke in seinem Kopf gemeldet wurde, kam das Signal zwar auch später

noch an, sein Gehirn reagierte aber eher gelangweilt und schien zu

sagen: 'Ja, ja, das kennen wir schon. Ist in Ordnung, keine Gefahr.' Der

Schmerz wurde zur Gewohnheit und die Gewohnheit vertrieb die Furcht. Die

Konfrontation mit der Angst vor dem Schmerz führte aber auch dazu, dass

auch seine anderen Ängste hervorkamen, Ängste, von denen Animius nichts

gewusst hatte. Diese Ängste brachen manchmal wie große Wellen über ihn

her und trieben ihn fast in den Wahnsinn. Eine Zeit lang dachte er, er

würde verfolgt und beobachtet, und meinte, im Wald Bewegungen und

Geräusche zu hören, die diese Annahme bestätigten. Und als er kurz davor

war, den Verstand zu verlieren, schrie er in die Nacht hinaus: Worauf

wartet ihr noch? Holt mich doch endlich! Tötet mich doch endlich, ich

bin bereit! Natürlich kam keine Antwort und keine Reaktion, aber er

fühlte sich danach anders, freier.

Neben der Arbeit an seiner Angst erfand Animius eine weitere Übung, die

er gleichzeitig betrieb. Er hatte bemerkt, dass seine Gedanken, während

er so saß, immer wieder weit weg wanderten, meist in seine

Vergangenheit, und er versuchte nun nur noch auf den Gesang der Vögel zu

achten. Jedes Mal, wenn er bemerkte, dass seine Gedanken sich vom Gesang

der Vögel entfernt hatten, lenkte er sie wieder zurück. Das führte dazu,

dass er lernte, sich auf eine Sache zu konzentrieren, und gleichzeitig

ermöglichte es ihm, seine eigenen Gedanken kennen zu lernen, denn sie

waren ihm tatsächlich zuvor nur selten ganz bewusst geworden. Jedes Mal

aber, wenn er bemerkte, dass seine Gedanken wieder fort gewandert waren,

bemerkte er, was er gerade gedacht hatte, wohin sie gewandert waren. Das

Kennenlernen seiner Gedanken brachte ihn häufig zum Lachen, denn sie

bestanden zu einem großen Teil aus Albernheiten. Aber die Themen, die

sich in seinem Kopf endlos wiederholten, bestürzten ihn auch. Da ging es

vor allem um Essen, Frauen, Befürchtungen und Scham und Animius begann,

seine Gedanken immer weiter zu kategorisieren, bis nur noch zwei

Kategorien übrig blieben, Vergangenheit und Zukunft. Was habe ich

gegessen, was werde ich essen? Mit welcher Frau war ich zusammen, mit

welcher könnte ich vielleicht zusammen sein? Vergangenheit, Zukunft,

Vergangenheit, Zukunft in endloser Wiederholung. Und schon bald konnte

er mit geschlossenen Augen erkennen, wenn eine Wolke den nahen Wald

verdunkelte, denn der Gesang der Vögel veränderte sich mit der

Verdunkelung der Sonnenstrahlen. Auch meinte er zu erkennen, welche

Stimme der Vögel fragte und welche antwortete, und er unterschied viele

verschiedene Arten, wenn er auch nicht wusste, wie sie genannt wurden.

Animius hatte das Gefühl, dass er von den Vögeln lernte, seine Gedanken

besser zu kontrollieren und sie wie die Melodie der Vögel zu einem Ende,

einer Entscheidung zu führen. Wie der Gesang der Vögel einem bestimmten

Ablauf folgt, Anfang, Mittelteil, Ende, so begann er auch Probleme in

seinem Kopf nach diesem Muster anzugehen. Problem, Abwägung,

Entscheidung. Dinge, die ihn über viele Jahre beschäftigt hatten, aber

nie zu Ende gedacht wurden, konnte er nun schnell durchdenken und

entscheiden und er dankte den Vögeln dafür. War die Entscheidung erst

einmal getroffen, sprangen seine Gedanken nicht mehr immer wieder zu dem

jeweiligen Problem, es war abgehakt. Viele Stunden, Tage und Wochen

brachte er damit zu, zu sitzen und dem Gesang der Vögel zu lauschen. Das

einzige andere Geräusch, das er immer hören konnte, war der Fluss und

auch auf dessen Melodie lauschte er lange und lernte. Viele Stimmen

konnte er da hören und doch verbanden sie sich alle zu der einen Stimme

des Flusses, die nie schwieg. Dann begann er, sich zu fragen, auf was er

sich noch konzentrieren könne, etwas das nicht abhängig war von äußeren

Umständen, und er kam auf seine Atmung. Und je länger er seine Atmung

beobachtete, desto besser konnte er sich auf das konzentrieren, was

gerade passierte, die Luft, die durch seine Nase strich. Und ist die

Luft, die wir einatmen, nicht in fast jedem Moment das

Allerbedeutsamste? Auch wenn Animius nicht so saß, nahm der Moment und

was er gerade tat immer mehr seiner ungeteilten Aufmerksamkeit ein. Auch

das half ihm, seine irrationalen Ängste zu erkennen und abzubauen, und

nach einigen Monaten begann er, sich übermütig und voll Freude zu sagen:

Ich fürchte nichts! Ich fürchte keinen Schmerz! Ich fürchte nicht den

Tod, Ich bin frei! Jetzt war er ruhiger und schreckte nicht mehr bei

jedem nächtlichen Warnruf aus seinem Schlaf auf. Er dachte nicht mehr

daran, sein Messer vor dem Einschlafen neben sich zu legen, plötzlich

aus dem Dickicht brechendes Wild ließ ihn nicht mehr zusammenzucken und

eine ungekannte Ruhe bemächtigte sich seiner. Die Vergangenheit, die ihn

anfänglich jeden Augenblick verfolgt hatte, brauchte sich langsam auf

und auch die Zukunft raubte ihm nun weniger Zeit. So lebte und lernte

Animius sich in seiner Einsamkeit ein. Nur selten ging er in das nächste

Dorf, um Nahrung zu kaufen, und jedes Mal war er froh, wenn er in sein

neues Zuhause kam, denn unter Menschen fühlte er sich nicht weniger

fremd als zuvor, wenn er sie auch mit weniger Hass betrachtete.

3. Liebe

Animius unternahm ausgedehnte Streifzüge durch die erwachenden Wälder

und er ließ die Farben und die Ruhe der Natur auf sich wirken.

Anfänglich hastete er noch mit dem schnellen Gang des Städters durch den

Wald, bald wurde er langsamer und bedächtiger. Vorsichtiger und leiser

setzte er seine Füße jetzt ohne Schuhe auf den Frühlingsboden und fühlte

ihn bei jedem Schritt. Immer mehr essbare Pflanzen brachte er von seinen

Wanderungen zurück und die Sonne trocknete sein ungeschnittenes Haar und

seine Haut, wenn er aus dem Fluss stieg. Das Leben im Wald erwachte und

das Leben des Animius begann, leichter zu werden, und er hatte das

Gefühl, mit dem scheidenden Winter auch seine Vergangenheit zu

verabschieden. In diesem Frühling war Animius nicht mehr derselbe. Und

wenn er einmal in seinen kleinen Spiegel sah, um den Bart zu schneiden,

damit er wenigstens nicht über seinen Mund wuchs, lachte er laut auf und

wunderte sich.

Seine Übung hatte er nun so lange betrieben, dass er das Gefühl hatte,

seine größten Ängste verloren zu haben. Und ganz langsam wuchs ein neues

Gefühl in ihm heran, ein Gefühl, das er nicht gleich einordnen konnte

und das er endlich als Liebe erkannte. Nicht die Liebe zu einer Frau

oder zur Familie, eine Liebe, die alles umfasste, was um ihn herum war,

eine Liebe, die aus ihm heraus strahlte. Er glaubte zuerst, es sei die

Liebe für die Natur, die ihm sehr ans Herz gewachsen war und nun in

neuen Farben des Frühlings vor ihm stand, aber als er einmal wieder ins

Dorf ging, um sich Reis zu kaufen, merkte er, dass sein Auge anders auf

die Menschen blickte. Er sah nun nicht mehr verächtlich auf ihre

Dummheit und Fehler, er fühlte mit ihnen und stellte sich vor, wie die

Strukturen der Macht sie zu dem gemacht hatten, was sie waren. Er zürnte

ihnen nicht mehr, wenn sie drängelten oder rempelten, und grüßte sie

freundlich, wenn er ihnen auf der Straße begegnete. Aber zu seinem

Erstaunen schienen einige der Dorfbewohner ihm das übel zu nehmen und

ihn mit wachsendem Misstrauen zu betrachten. Vielleicht liegt es ja an

meinem Aussehen, dachte er sich, und er sah wirklich verwildert aus. Die

Haare hingen in langen lockigen Strähnen über seine Schultern und sein

Bart wuchs ihm bis auf die Brust. Er hatte überflüssiges Gewicht

verloren und erschien dadurch noch größer. Vielleicht haben sie Angst

vor mir, kam ihm in den Sinn, und er musste lachen. Fürchten sie mich

etwa mehr, jetzt, da es weniger zu fürchten gibt? Und er beschloss, den

Menschen zu zeigen, dass er sie nicht mehr hasste und lächelte jeden an,

der ihm begegnete. Er ließ ihnen den Vortritt und bot seine Hilfe an,

wenn sie jemand brauchte, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Er fühlte

sich jetzt wohler unter den Menschen, wenn ihm auch viele mit Misstrauen

begegneten, mehr Misstrauen als früher, als es angebrachter gewesen

wäre. Aber wie sie überzeugen, dass sein Hass verflogen war und durch

Mitgefühl ersetzt wurde? Er wünschte und wollte doch allen nur Gutes,

genau das bedeutete für ihn das neue Gefühl der Liebe. Die meiste Zeit

aber war er in seiner Einsamkeit bei seiner Hütte am Fluss und wunderte

sich, was mit ihm passiert war, woher diese Liebe für die Menschen so

plötzlich gekommen war. Zwar hatte er den Menschen immer geliebt, als

Ideal, als Möglichkeit, aber nicht in seiner bisherigen Form, nicht so,

wie er ihn überall sah. Als er einmal aus dem Fluss stieg und sich eben

der Sonne zuwandte, um sich trocknen zu lassen, traf es ihn wie ein

Schlag: Ich liebe sie mehr, weil ich sie weniger fürchte! Mein Hass war

eine Folge meiner Angst! Dieser Gedanke schien ihm fast unglaublich,

denn er hatte nie auch nur in Betracht gezogen dass es so sein könnte.

Die Menschen fürchten, denen er sich so überlegen gefühlt hatte, wie

konnte das sein? Aber doch fühlte er, dass es die Wahrheit war und der

Gedanke beschäftigte ihn, bis er zu einer weiteren Erkenntnis kam: Liebe

und Angst sind die zwei großen Gegensätze, die unser Leben bestimmen,

die zwei Arten zu leben. Und plötzlich erinnerte er sich daran, dass er

das schon einmal gehört hatte, wusste aber nicht sicher woher. Was er

aber noch wusste war, dass es nicht den geringsten Eindruck auf ihn

gemacht hatte, als er es gehört hatte. Und jetzt schien es ihm wie die

größte Wahrheit, die ihm jemals begegnet war, wichtiger als alles, was

er in seinen Büchern gelesen hatte. Wie konnte das sein? War ich denn

taub, fragte er sich und nach einem Moment der Besinnung antwortete er

sich ruhig: Ja, ich war taub. Und ich war blind, aber jetzt kann ich

sehen und hören. Er sah sich um, blickte auf die strahlende Natur um

sich herum, auf das glitzernde Wasser und dann wurde ihm klar, was

passiert war. Ich bin erwacht, sagte er sich langsam, ich habe tief

geschlafen und jetzt bin ich erwacht.

Drei Jahre lebte Animius in seiner Hütte und sein Wesen veränderte sich

beständig weiter. An Stelle seiner früheren Beobachtung der Menschen war

in der Einsamkeit immer mehr eine Beobachtung seiner selbst getreten. Er

lernte seine Gefühle und Gedanken zu beobachten und sich zu fragen,

woher sie kamen. Und er lernte auch, dass er seine Angst noch lange

nicht überwunden hatte und dass große Teile seines Denkens und

Verhaltens eine Folge von Angst waren, und so arbeitete er daran, diese

Ängste zu erkennen und auszulöschen. Je weiter er mit dieser Arbeit

fortschritt, desto leichter und sauberer fühlte er sich und seine

Stimmung hob sich immer weiter und schwankte nicht mehr. Schlechte Laune

konnte er sich bald gar nicht mehr vorstellen und wenn sie einmal

zurückgekehrte, erkannte er schnell, was der Auslöser in ihm selbst war.

Eines Tages, als er gerade mit geschlossenen Augen und gekreuzten Beinen

auf dem Waldboden saß und seine Übung machte, hörte er Schritte, die

sich näherten, und da er noch nie, seit er hier lebte, einen Menschen

bei seiner Hütte gesehen hatte, überlegte er, die Augen zu öffnen und

den Besucher zu begrüßen. Da hörte er schon dessen unbekannte Stimme,

die sagte: Lass dich nicht stören, ich warte hier, bis du fertig bist.

Und so ließ Animius die Augen geschlossen und blieb sitzen, bis die Zeit

abgelaufen war. Zwar hatte er seine Übung jetzt oft genug gemacht, um

mit dem Schmerz besser auszukommen, aber es fiel ihm nun, da ein Fremder

vor ihm saß, der auf ihn wartete, sehr schwer, sich auf seine Atmung zu

konzentrieren, und seine Gedanken wanderten immer wieder zu dem, der da

saß, und er fragte sich, wer das wohl sein konnte und was er wolle.

Endlich klingelte seine Uhr und er öffnete die Augen. Ihm gegenüber saß

ein alter Mann mit gütigem Blick und lächelte ihn an. Ich grüße dich,

sagte Animius, sei willkommen! Der alte Mann dankte mit einem Nicken und

antwortete: Ich grüße auch dich, Animius, mein Name ist Adamas. Animius

hatte kaum Zeit, sich darüber zu wundern, dass der Fremde seinen Namen

kannte, denn er fuhr gleich fort: Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass

es bald Zeit ist, wieder unter die Menschen zu gehen, wie einst

Zarathustra seine Höhle verließ, um zu den Menschen zurückzukehren.

Animius wunderte sich noch mehr, denn der Fremde mochte seinen Namen

wohl im Dorf erfahren haben, über seine enge Bindung an den Zarathustra

aber konnte der Fremde auch dort nicht unterrichtet worden sein. Aber

der Fremde fuhr fort: Lange genug warst du in deiner Einsamkeit,

Animius. Ist nicht die Zeit gekommen zu teilen, was dir zuteil wurde?

Die Welt braucht heute jede helfende Hand und auch ich muss eilig wieder

fort, um meinen bescheidenen Anteil zu tun. Wie könnte ich der Welt

helfen, fragte Animius erstaunt, was hätte ich den Menschen zu geben?

Adamas lachte hell auf und erhob sich und sagte: Das weißt du besser als

ich, wer könnte es sonst wissen? Jeder muss schon selbst wissen, was

sein Schicksal ist, wer könnte es besser wissen, als du? Meine Aufgabe

ist, jedem Menschen zu sagen, dass keiner außer ihm selbst etwas über

sich und sein Schicksal wissen kann. Mehr kann ich nicht tun und auch

nicht weniger. Denke darüber nach und erforsche deine Gefühle, aber

lasse dir nicht zu viel Zeit! Wir werden uns sicher wiedersehen,

Animius! Und mit diesen Worten stand Adamas auf, drehte sich um und

verschwand in der Dämmerung. Animius aber blieb sitzen und wunderte sich

über diese Begegnung, bis er endlich ruhig genug war, um zu schlafen.

4. Aufbruch

Als er am nächsten Morgen erwachte, erinnerte er sich an das Treffen der

vorigen Nacht und ein Widerstand stellte sich in ihm ein. Wer war dieser

Adamas, der glaubte, etwas über ihn zu wissen? Und woher kannte er

diesen Namen, Adamas? Was lag ihm überhaupt daran, ob er zu den Menschen

zurückkehrte oder nicht? Aber seine Erinnerung an den alten Mann

beendete diesen Widerstand bald, denn er hatte einen starken Eindruck

auf ihn gemacht. Seine Haltung, sein Gang, seine Stimme und seine Augen

deutete Animius als Anzeichen eines aufrechten und echten Menschen. Und

so ging er schnell dazu über, sich zu fragen, woher seine ablehnende

Haltung gekommen war, was sein innerer Auslöser war, denn Adamas hatte

ja darauf hingewiesen, dass er den Menschen lediglich sagte, dass

niemand außer ihnen selbst wissen kann, was ihr Schicksal ist. Animius

hatte bisher über sein Schicksal nicht nachgedacht. Nun aber begann er

sich zu fragen, ob er nicht in seiner Einsamkeit gefunden hatte, wonach

er suchte, und es an der Zeit war, einen neuen Abschnitt zu beginnen.

Aber bevor er zu den Menschen zurückkehren würde, musste er sich

überlegen, wie er ihnen vermitteln sollte, was ihm nun so wichtig war.

Diese Frage beschäftigte ihn den ganzen Tag und er beschloss seine

Erfahrungen in eine Art System zu bringen und so für andere verständlich

zu machen, wenn das überhaupt möglich sein sollte. Aus eigener Erfahrung

wusste er, dass ihm niemand hätte erklären können, was er in seiner Zeit

der Einsamkeit verstanden hatte, aber zumindest, so dachte er, würden

ihn andere, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, verstehen, wenn sie

hörten, was er zu sagen hatte. Und so begann er, ausgehend von den zwei

Zuständen, die er nun kannte, Angst und Liebe, alles weitere abzuleiten.

Ohne Papier und Stift war das nicht einfach, aber er machte sich an die

Arbeit, die sich über mehrere Wochen erstreckte. Was er sich ausdachte

war eine Sammlung von Reden, die sich stilistisch an den Reden

Zarathustras orientierten, denn andere kannte er nicht. Und als er so im

Zarathustra blätterte, um ihm vom Fall der Rede möglichst etwas

abzumerken, fand er ganz neue Töne in dem Buch, das er so oft schon

gelesen hatte. Neben den harten Tönen, die ihn seit seiner Jugend

geprägt hatten, vernahm er nun auch weichere Klänge, Klänge, die ihm

zunächst fremd erschienen und ihn wunderten. Wie habe ich diese Töne

bisher nicht gehört, fragte er sich und er kannte ja bereits die

Antwort. Für wie vieles bin ich bisher blind und taub gewesen! Alles,

was ich glaubte zu kennen, muss ich neu kennenlernen. Und auch was ich

nun sehe, muss nicht alles sein. Wie kann ich wissen, wie viel Blindheit

und Taubheit noch in mir ist? Vielleicht merke ich schon bald, dass ich

für andere Dinge blind war, die ich mir jetzt noch gar nicht vorstellen

kann. Von nun an werde ich nichts ausschließen und immer die Möglichkeit

in Betracht ziehen, dass ich blind bin, dass ich mich irre, dass ich

Motive habe, an einer Meinung festzuhalten. Nie wieder will ich eine

Weltsicht verteidigen, um mich sicher zu fühlen und auf bekanntem Boden.

Wie soll ich sonst Neues lernen? Diesen Vorsatz nahm er sehr ernst. Im

Zustand der Angst, wurde ihm jetzt klar, ist die Wahrnehmung gestört und

beschränkt. Vieles ist mir durch diesen Zustand entgangen, vieles war so

verzerrt, dass ich es nicht richtig erkennen konnte, oft zog ich falsche

Schlüsse, vielen muss ich Unrecht getan haben, mir selbst aber

vielleicht am meisten. Als er das halblaut vor sich hergesagt hatte,

stockte er einen Augenblick und seine Stirn verfinsterte sich. Dann

führte er sein Selbstgespräch laut fort: Nein! Nicht ich habe mir das

angetan, es ist gewollt, ist Struktur! Die hierarchischen Strukturen

sind überhaupt nur im Zustand der Angst denkbar und so muss schon die

Angst in uns gesät werden, geschürt werden, immer wieder erneuert

werden, sonst wehrt sich der Mensch, sonst befreit sich der Mensch! Und

plötzlich stand die ganze Maschine deutlich vor seinem Auge, die aus

freien Menschen Knechte macht. Von Geburt an, erkannte Animius, werden

wir systematisch traumatisiert, körperlich, geistig und seelisch, um uns

im Zustand der Angst zu halten. Erziehung, Schule, Kriegsdienst,

Universität, Beruf, sind sie nicht alle einzig da, uns zu traumatisieren

und uns zu überzeugen, dass wir nur kleine Teile sind, die funktionieren

müssen oder ausgetauscht werden? Gewöhnen sie uns nicht an, auswendig

gelernten Worten zu glauben, nicht aber unserem Herzen und Verstand und

schaffen so Unsicherheit und abhängige Unselbständigkeit, die immer nach

oben blickt, um nichts Falsches zu tun oder zu sagen? Bewerten sie

nicht, was nur jeder selbst überhaupt bewerten kann? Machen sie uns

nicht zu furchtsamen Knechten, die nicht wagen zu denken, dass sie

Herren haben? Knechte, die nichts wagen, als den Weg zu schleichen, der

ihnen gewiesen wird? Diese Worte regten Gefühle in ihm, die er schon

lange nicht mehr gefühlt hatte, und seine Hände zitterten. Hass und Wut

waren in ihm aufgestiegen und als er das erkannte, wunderte er sich. Und

noch während er sich so wunderte, erkannte er noch etwas: Sind denn

nicht die, die durch Angst herrschen, am tiefsten im Zustand der Angst?

Kontrollieren sie nicht die Menschen, um ihre eigne Angst zu lindern?

Sind Macht und Kontrolle nicht ihre Mittel gegen Angst? Sie mögen zwar

durch Angst herrschen, aber nur, weil sie selbst von Angst beherrscht

werden. Auch unsere Unterdrücker, entschied Animius und wurde wieder

ruhiger, sind Opfer der Angst, ob sie es wissen oder nicht. Die obersten

Furchtsamen werde ich sie fortan nennen und die Ohn-Mächtigen, denn nur

wer keine Macht hat, ist stets auf der Suche nach Macht!

Und so kam eine Rede zur nächsten und wenn sie auch nicht die

Wortgewandtheit des Vorbildes hatten, so wurde Animius erst bei deren

Ausarbeitung vieles offenbar, das ihm zuvor noch verborgen geblieben

war. Der Versuch, verständlich zu machen, was ihm selbst nun so nah vor

den Augen stand, führte dazu, dass er Vieles nun aus größerer Entfernung

betrachten konnte und so besser sah, im Zusammenhang wahrnahm. Als in

seinem Geist alles fertig war und er jede Rede auswendig konnte, stellte

sich das Gefühl ein, dass er diese Worte in seinem Kopf nun in fremde

Ohren sagen müsse, und er verabschiedete sich von seiner Einsamkeit, dem

Wald und dem Fluss, suchte seine Sachen und begann seine Wanderschaft.

2. Teil: Wanderschaft

Nimm mich, wie ich mich gebe und denke, daß es besser ist zu sterben,

weil man lebte, als zu leben, weil man nie gelebt!

Hölderlin

119 Vorworte des Verfassers:

Der zweite Teil dieser Geschichte besteht überwiegend aus einem

Dokument, das mir kurz nachdem ich anfing, die Geschichte des Animius

aufzuschreiben, in die Hände fiel und Fragmente der frühen Reden des

Animius enthält. Verfasst wurde es von einem gewissen Francisco F.

Fristón, der seinem Text den Titel 'Der Affe Zarathustras' gab. Da ich

den Beginn des Werdeganges des Animius nur aus seinen eigenen

Erzählungen kenne und die frühen Reden nie persönlich gehört habe, werde

ich das Dokument dem Leser nicht vorenthalten. Ich übernehme es

unverändert und hoffe, dass jeder für sich selbst entscheiden kann, wie

er das Folgende für sich einordnet. Abgesehen von einigen Fußnoten und

einem kurzen Einschub will ich mich nun bis zum Ende des Dokuments

zurückhalten.

Der Affe Zarathustras (Nach einer wahren Begebenheit) Von Francisco F.

Fristón

Vorrede:

An einem Orte in Alemannia, an dessen Namen ich mich nicht erinnern

will, lebte vor nicht langer Zeit ein junger Mann, einer von jenen, die

einen überaus starken Drang zum Müßiggang haben und, wie jeder weiß, ist

der Müßiggang aller Laster Anfang. Und Laster hatte er wahrlich genug,

alle gängigen und noch einige, die er selbst erfunden hatte. Zu seinen

Lastern kam noch verschärfend hinzu, dass er der allgemein akzeptierten

Moral abhold war und sich einbildete, selbst entscheiden zu können, was

richtig sei und was falsch. Er kam allerdings aus gutem Hause und lebte

von einer Rente, die es ihm ermöglichte, sein Lotterleben ganz dem

Müßiggang zu widmen, und bis er endgültig den Verstand verlor, hatte er

nie ein ehrliches Tagewerk vollbracht. Der geneigte Leser ahnt sicher

schon, dass es nach dem Ausbruch seiner geistigen Krankheit in dieser

Hinsicht keinerlei Veränderung gab. Über seinen Namen gehen die

Meinungen übrigens auseinander, die einen glauben sein Name sei Arminius

gewesen, andere behaupten Ahinius, es spricht aber alles dafür, dass

sein richtiger Name Asimius war, und so werden wir ihn in der Folge auch

nennen. Das Volk indes nannte ihn „den Affen Zarathustras“ und bewies

damit gesunde Instinkte, denn das trifft seinen Charakter genau. Was

auch immer er zufällig hörte oder las, äffte er nach und – wir können es

nicht verheimlichen – er ähnelte auch äußerlich einem Affen. Asimius

verbrachte seine Tage damit, Bücher zu lesen und verwechselte sich

zunehmend mit den Charakteren, die er in Romanen und Erzählungen fand.

Nicht der Erste war er, der durch Lesen den Verstand verlor, und es ist

zu fürchten, dass er nicht der Letzte sein wird, denn die Jugend hat

heute zu viel Zeit für derartige Kindereien. Neben sinnlosen Romanen las

er auch Bücher von anderen Irren, sonderlich dem bekannten Wahnsinnigen

Friedrich Wilhelm Nietzsche, dessen Werke nicht fehlten, ihn ganz

durcheinander zu bringen, bis er endlich den Weg seines Vorbildes ging

und endgültig verrückt wurde. Und so war er bald überzeugt davon, ein

wandernder Prediger zu sein, der das Licht der Wahrheit in die

Finsternis der Welt hinaus tragen musste, um die Menschheit zu retten.

Natürlich war er derjenige, der der Rettung bedurfte, aber wer hätte

diesen armen verwirrten Geist auf den rechten Weg zurückführen können,

sintemal er all seine Freunde und Bekannten lange schon mit seinem

Wahnsinn in die Flucht geschlagen hatte?

Asimius besorgte sich also einen Jutesack, ein Seil und einen langen

Stock, öffnete die Nähte des Sackes und schnitt ein Loch in dessen

Mitte, groß genug für seinen armen Kopf, zog ihn sich über und band ihn

mit dem Strick an der Taille fest. Das resultierende Spiegelbild erregte

sein Wohlgefallen, aber etwas schien ihm noch zu fehlen, und so öffnete

er seine langen Haare, die er aus Faulheit wachsen ließ, und da er nicht

wusste, was er nun mit dem Band tun sollte und es ratlos eine Weile

betrachtete, benutzte er es endlich, um seinen Bart zusammenzubinden (es

muss wohl kaum erwähnt werden, dass er auch zum Rasieren zu faul war)

und was er nun im Spiegel sah, gefiel ihm ausgesprochen gut, wenn es

auch in den Augen aller gesunden Menschen ein sicheres Zeichen für

fortgeschrittenen Wahnsinn dargestellt hätte. In dieser Aufmachung zog

er dann los bis er in ein Dorf kam und da stellte er sich auf den

Marktplatz und begann zu predigen, was er für die Wahrheit hielt, und

störte sich nicht daran, dass niemand stehenblieb, denn die

rechtschaffenen Bürger hatten Besseres zu tun und nur einige Kinder

lachten über ihn, bis auch sie von seiner vollkommen wirren Rede

vertrieben wurden. Nun könnte uns zum Vorwurf gemacht werden, den

Wahnsinn des Asimius auch noch zu unterstützen, indem wir seine Reden

wiederholen und verbreiten, aber diese Aufzeichnungen sind nur für

geeignete, gefestigte Leser gedacht und ihre Verbreitung sollte sich auf

diese Gruppe beschränken. Schwachsinnigen und Wahnsinnigen ist die

Lektüre nicht zu erlauben, obschon gerade diese die einzigen wären, die

einen Sinn in diesem Unsinn zu entdecken durch ihren Zustand befähigt

wären. Auch für die unteren Schichten sowie die Jugend ist diese Lektüre

gänzlich ungeeignet, aber das versteht sich beinahe von selbst. Die

Reden, die er hielt, mögen aber immerhin all jenen unter uns als Warnung

dienen, die auch mehr als nötig dem Müßiggang nachgehen. Kehrt zurück

zum rechten Weg, oder bald schon steht auch ihr da, in einen alten Sack

gehüllt und belästigt die Menschen mit lächerlichen, volksverhetzenden

und ungereimten Reden der Art, wie sie Asimius hielt und selbst die

natürlichsten Gegensätze unserer Sprache wie Liebe und Hass werdet ihr

nicht mehr begreifen, aber hört selbst:

Die Reden des Asimius: Nur für Normale!

1. Kapitel: Wie Asimius das Volk gründlich aufrüttelte und seine

Muttersprache ad absurdum führte.

Asimius stand also auf dem Marktplatz und hob an, so zu sprechen:

Liebe und Angst

Zwei Wege stehen euch offen, meine Brüder und Schwestern, und eure Wahl

allein bestimmt euer Leben. Diese beiden Wege sind Liebe und Angst.

Nicht der Erste bin ich und nicht der Letzte, der dies lehrt. Auf der

Seite der Liebe stehen Offenheit, Wohlwollen, Freiheit, Wahrheit, wahre

Freundschaft, Mut und alles, das unser Zusammenleben möglich und

erstrebenswert macht. Auf der Seite der Angst stehen Abgrenzung,

Misstrauen, Knechtschaft, Lüge, Feindschaft, Feigheit und alles, was

unsere Welt in ihrem bedauernswerten Zustand hält. Jeder hat etwas von

beiden in sich, aber meist überwiegt die Angst, sonderlich, im Umgang

mit allem Fremden, Unbekannten und Neuen. Lebt ihr aber in Angst,

verzagt nicht, jeden Moment könnt ihr beginnen, euch für die Liebe und

gegen die Angst zu entscheiden und mit jedem Male wird es leichter. Aber

kennt ihr eure Angst schon? Suchtet ihr sie schon? Wagtet ihr schon, sie

einzugestehen? Der Knecht lebt in Angst, aber nicht der Freie, der lebt

in Liebe. Denn Freiheit bedeutet vor allem Furchtlosigkeit und

Furchtlosigkeit und Liebe sind ein und dasselbe. Denn wer in Furcht

lebt, wie könnte der frei sein? Ein langer Weg ist es für manchen hin

zur Liebe und er beginnt mit der Entscheidung gegen Angst und

Knechtschaft. Und der Weg ist schwer, denn die Welt legte uns viele

Steine auf diesen Weg, auf dass wir in der Angst bleiben und nicht frei

werden. Unsere Erziehung, die Knechtschule, die Schule für höhere

Knechte und sonderlich das falsche Fenster ebneten uns einzig den Weg

der Angst, den Weg der Knechte. Wie ein begradigter Fluss, der in das

Meer der Angst mündet, war unser Leben. Jetzt ist es an der Zeit, dass

dieser Fluss über die falschen Ufer trete und gegen die zwingende Bahn

seinen eigenen Weg suche in die Freiheit und die Liebe und wahrlich,

dann erst beginnt das Leben des Menschen! Die obersten Knechte, die

Ohn-Mächtigen, die aus Angst Macht suchen und andere durch Angst

beherrschen wollen, taten alles, um uns von Geburt an zu traumatisieren

und zu neurotisieren... (Hier fehlen einige Zeilen, denn derjenige, der

die Reden aufzeichnete war schwerhörig) ...so machten sie das

Menschentier beherrschbar und sie werden nicht zufrieden sein, bis die

Erde ein Ameisenhaufen geworden ist und ihre Herrschaft in Zement

gegossen. So hoffen sie, ihre Angst zu verlieren, die Armseligen. Denn

immer fürchten sie den echten Umsturz, den Umsturz, den sie nicht selbst

gesät haben, und siehe, was sie säen wollen sie auch ernten! Oft schon

säten sie Umstürze, um die Knechte zu täuschen und sie in der Annahme zu

bestärken, sie seien frei oder erkämpften sich die Freiheit, aber stets

blieben sie an der Macht, die sie so lieben als Mittel gegen ihre Angst,

die Furchtsamen! Den echten Umsturz aber, die Wende, die die Hierarchien

stürzt und die Freiheit bringt, fürchten sie und tun alles, ihn zu

verhindern. Dafür morden sie, dafür foltern sie, dafür lügen sie und

dafür täuschen sie. Aber ihre Macht selbst ist eine Täuschung, denn sie

besteht nur solange wir daran glauben. Aber lasst euch nicht verführen

zu gewaltsamem Widerstand, das stärkt ihren Stand und spielt ihnen in

die schwitzenden Hände. Überwindet ihr aber die Angst und lernt die

Liebe, die jedem mit Wohlwollen begegnet und die schlechten Taten

anderer nicht mit gleicher Münze heimzahlt, sondern sie als Folge ihrer

Angst erkennt, so beginnt die Pyramide ihrer Unterdrückung zu wanken.

Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange, meine Brüder und Schwestern, schon

fällt ihre Maske und auch ihre Handschuhe und wahrlich, schon kommen

ihre Krallen zum Vorschein! Ihre Gewaltherrschaft versteckt sich immer

weniger und sollte ihre Kontrolle weiter zunehmen, wagen sie es

vielleicht, sich in ihren wahren Farben zu zeigen, die Gerissenen! Der

feige Dompteur zeigt sich dem Löwen erst, wenn der stählerne Käfig ihn

vor ihm schützt. Zerbrecht mir den Käfig der Angst in eurem Geist, meine

Brüder und Schwestern, und wahrlich, der Anblick des befreiten Löwen

wird den Ohn-Mächtigen Beine machen! Liebe ist das Gegenteil von Angst,

das Überwinden der irrationalen Angst führt zur Liebe. Wir haben es uns

sehr schwer gemacht, indem wir nicht erkennen wollten, dass all unsere

Probleme dieselbe Wurzel haben, die Angst. Aber Angst einzugestehen,

gehört zum Schwersten und so täuschen wir uns lieber und lassen uns

täuschen. Ich aber sage euch, unser Hass, unser Neid, unsere Gier,

unsere Süchte, unsere Eifersucht, unsere Knechtschaft, sie sind alle

eine Folge der Angst. Wenn ihr jemanden hasst, fragtet ihr euch schon,

welche Angst in euch dazu führte? Wenn ihr euer Leben lang Reichtümer

anhäuft und nie genug habt, fragtet ihr euch schon, welche Angst euch

dazu riet? Wenn ihr stets fürchtet, eure Geliebte könnte einen anderen

wollen, fragtet ihr euch schon, welche Angst euch dazu verführte, und

überwandet ihr sie schon? Die Angst ist die Wurzel all unseres Unglücks

und wahrlich, der Grund unserer Knechtschaft! Ihr gegenüber steht die

Liebe, meine Brüder und Schwestern, wie wollt ihr euch entscheiden? Und

täuschen wir uns nicht, diese Welt wird heute von Angst beherrscht,

nicht von Liebe. Wer kann heute behaupten wirklich frei zu sein?

Entscheidet ihr euch für die Angst, so entscheidet euch auch für ihre

Kinder und die Angst hat viele Kinder, meine Brüder und Schwestern, die

sind das Unheil der Erde und der Hemmschuh unserer Entwicklung. Ist denn

der Grund für Hass nicht die Angst, gehasst zu werden – weil

Minderwertigkeit das Selbstgefühl bestimmt? Angst, verachtet zu werden –

weil man sich insgeheim selbst verachtet? Ist denn Aggression etwas

anderes als Angst, angegriffen zu werden, von einem Stärkeren,

Aggressiveren? So zeigt man sich selbst aggressiv in der Hoffnung,

Angriffe auf einen selbst zu verhindern. Ist denn Gier etwas anderes als

die Angst, nicht genug zu bekommen? Die Angst in Armut zu fallen, zu

verhungern? Ist denn Neid etwas anderes als die Angst, nicht genug zu

haben? Angst, dem Vergleich mit anderen nicht standzuhalten? Ist denn

Eifersucht etwas anderes als die Angst, nicht genug zu sein? Angst,

nicht zu genügen? Angst aus diesem Grund verlassen zu werden? Ist denn

Scham etwas anderes als Angst vor der Meinung anderer? Ist denn Sucht

etwas anderes als eine Reaktion auf Angst? Der Versuch etwas Fehlendes

zu ersetzen? Ist Sucht nicht der Versuch, fehlende Liebe zu ersetzen?

Und was wäre mangelnde Liebe anderes als Angst? Ist denn der Zwang und

die Kontrolle der obersten Furchtsamen, die sich eure Herrscher nennen,

nicht Folge ihrer Angst vor euch? Ist denn Kontrolle etwas anderes als

Angst, loszulassen? Ist denn die Lüge nicht die Sprache der Angst? Ist

denn Täuschung nicht der Deckmantel der Angst? Entsagt doch der Angst

und ihren Kindern, meine Brüder und Schwestern, und lernt mir wieder die

Liebe, die uns vereint und befreit, so beginnt die Zeit der freien

Menschheit!

„Was ist diese Liebe von der du sprichst, Asimius?“, fragte einer, der

in einiger Entfernung an eine Wand gelehnt stehen geblieben war und mit

seinem einen Ohr halb zugehört hatte.

Die Liebe, meine Brüder und Schwestern, ist eine Art zu leben. Sie

stellt sich ein, wenn wir frei geworden sind. Freiheit ist aber immer

Freiheit von Angst. Die Angst ist das Gegenteil der Liebe; du lebst in

Liebe, oder in Angst. Als zartes Pflänzchen beginnt bei manchem die

Liebe und will beschützt und gepflegt sein. Jeden Moment aufs Neue muss

sich das Menschentier für die Liebe entscheiden und gegen die Angst. So

wird das Menschentier zum Menschen. Was fürchtet ihr von anderen? Dass

sie euch töten? Aber am Tod ist nichts zu fürchten, denn siehe, die

Toten beklagen sich nicht. Und wahrlich, lieber einmal einem Mörder die

Türe öffnen, als sie ein Leben lang vor der Liebe zu verschließen! Die

Liebe, von der ich spreche, ist eine Offenheit und ein Wohlwollen allen

gegenüber, sie bedeutet in dem Verständnis zu leben, dass wir alle Eins

sind und alles, was wir anderen antun, wir auch uns selbst antun. Sie

bedeutet immer, wenn wir hassen oder urteilen oder lästern, uns zu

fragen, was die Angst in uns ist, die uns so handeln lässt, und sie zu

überwinden, sie abzubauen. Sie bedeutet, wenn andere schlecht gegen uns

handeln, uns zu fragen, welche Angst es ist, die sie schlecht macht, zu

verstehen, dass ihr schlechtes Tun nur Symptom der Krankheit ist, an der

wir alle leiden, die einen mehr, die anderen weniger. Diese Krankheit

aber ist die Angst. Sie macht blind und unfähig für die Liebe, die uns

alle verbindet. Aber die Tage der Angst sind gezählt und die Liebe

beginnt ihren Siegeslauf auf der großen Bahn der Zeit. Werdet Teil

dieses Laufes und stellt euch euren Ängsten, meine Brüder und

Schwestern, erkennt doch, dass es nur zwei Wege für uns gibt in diesem

Leben, den der Liebe und den der Angst. Wer könnte sich bei dieser Wahl

für die Angst entscheiden?

Als er geendet hatte, kam der einohrige Mann etwas näher, denn er hatte

offenbar nicht gemerkt, dass er einen Wahnsinnigen vor sich hatte, und

sprach so zu Asimius:

„Wenn du dich in dieser Liebe, von der du sprichst, üben willst, so

werde ich dir das kleine Täubchen bringen, dass ich heute früh im Garten

fand. Es ist wohl verloren gegangen oder verstoßen worden, allein und

ohne gute Pflege wird es nicht überleben. Sprich, willst du dich des

armen Geschöpfes annehmen? Ich selbst kann es nicht gut pflegen, denn

ich habe viele Katzen und hier im Dorf fand ich noch niemanden, der es

mir abnehmen wollte.“ Und als Asimius zusagte, ging der Mann zu seinem

Haus und brachte ihm den kleinen zitternden Vogel und legte ihn in seine

Hand. Asimius füllte eine kleine Schachtel mit Gras und bettete die

Taube in ihrem neuen Nest. Daraufhin verabschiedete er sich von dem

Mann, dessen eines Ohr sein erster Zuhörer gewesen war und verließ das

Dorf. Er war froh, dass er seine erste Rede gehalten hatte und sagte

sich: „Von nun an werden mehr Ohren mein Wort hören und wenn es nur zwei

sind!“

Woran liegt es doch, dass die Wahnsinnigen niemals zufrieden sind,

alleine mit ihrem Irrglauben zu sein, und ihn durchaus verbreiten müssen

wie eine ansteckende Krankheit? Und so war es auch mit Asimius, der noch

lange nicht zufrieden war mit seinem bisherigen Auftritt und sich auf

den Weg machte, mehr Ohren zu finden, in welche er seinen Schwachsinn

füllen könnte. Und offene Ohren für Lügen und Wahnsinn gibt es heute

mehr als jemals und so fiel es ihm nicht schwer, Opfer für seine Worte

des Wahnsinns zu finden, aber darüber mehr im nächsten Kapitel. Halten

wir aber schon einmal fest: Er kann die einfachsten Oppositionen nicht

mehr erkennen, die jedes Kind kennt. Wenn das kein sicheres Zeichen für

eine geistige Krankheit ist, was dann? Und den Menschen nennt er

Menschentier? Das ist schon allerhand.

2.Kapitel: Wie Asimius treue Anhänger um sich scharte und sie mit weisen

Worten beglückte.

Als Asimius lange gegangen war, kam er auf eine Lichtung und erblickte

am Waldrand eine Gruppe Menschen und ging zu ihnen und als er sie

grüßte, blickten sie sich heimlich schelmisch an und fragten ihn, was er

tue und wohin er gehe. Natürlich hatten sie sofort bemerkt, dass er

nicht ganz bei Sinnen war und hofften, sich einen Spaß mit dem Fremden

zu machen, der in seinem Jutesack und seiner sonstigen Aufmachung ein

gutes Ziel für ihren Spott versprach. Asimius aber antwortete wie folgt

und wurde übereifrig ob des ungewohnten Interesses, das ihm

entgegengebracht wurde: „Ich bin ein Wanderprediger und ziehe von Ort zu

Ort, um die Menschen auf den rechten Weg zurückzubringen, denn siehe,

sie sind beinahe alle wahnsinnig und bedürfen meiner Hilfe! Ich lehre

sie, den falschen Pfad zu verlassen und sich in Freiheit zu vereinen,

denn sie sind Knechte und wahrlich, krank an Geist, Körper und Seele!“

Als die Gruppe sich wieder gefangen hatte, denn sie konnten ihr Lachen

kaum unterdrücken und einige hatten sich sogar auf dem Boden gewälzt,

baten sie ihn, eine seiner Reden für sie zu halten, und er sprach also,

aber nicht ohne sich insgeheim sehr über ihre Reaktion gewundert zu

haben. Denn es kam ihm nicht in den Sinn, dass sie über ihn und seine

Worte lachten:

Über das Menschentier

'Der Mensch ist etwas das überwunden werden muss.', lehrt Zarathustra.

Wohlan! Aber dafür muss es den Menschen erst einmal geben und noch ist

er die Ausnahme und nicht die Regel. Hört nun mein Wort vom

Menschentier1: Das Menschentier ist das Tier mit der Möglichkeit, Mensch

zu werden. Dazu muss es das Tierische in sich überwinden. Aber wehe dem,

der das Tier in sich mit Flüchen vertreiben oder mit Hieben töten

wollte! Dann lieber ganz zum Tiere werden und den Menschen in sich

überwinden! Denn ein echtes Tier ist schöner als ein falscher Mensch.

Nein, das Tier in dir kannst du nicht töten. Ebenso töricht wäre es, das

Blut deiner Eltern aus deinen Adern zu lassen. Das Tier überwinden aber

bedeutet, die Herrschaft des Tieres abzuwerfen... (An dieser Stelle

fehlen Teile der Rede, da derjenige aus der Gruppe, der sie aufschrieb,

vor Lachen beinahe erstickt wäre.) ...Das Menschentier ist kein Wesen

wie andere, sondern eine Möglichkeit, wie der Same nicht Pflanze ist,

sondern die Möglichkeit zur Pflanze. Damit der Same Pflanze werde, dafür

braucht er Erde und Wasser und Licht. Das Menschentier braucht

gleichermaßen geeignete Bedingungen, um Mensch zu werden, und die

wichtigste davon ist der Schritt von der Angst hin zur Liebe. Unter uns

ist das Tier und über uns der Mensch. Hast du einen Feind, den du nicht

töten kannst, so verbünde dich mit ihm. Frieden mit dem Tier zu

schließen, rate ich jenen, die sich aufmachen, Menschen zu werden. Euer

Friede aber sei ein Sieg über die Herrschaft des Tieres. Fortan darf

nicht entscheiden, wer kurzsichtig im Grase kauert, auf zwei Beinen

sieht man weiter als auf vieren!...(lautes Gelächter und Geschrei machte

es unmöglich, alles Gesagte aufzuzeichnen.)... Die Herrschaft des Tieres

in uns ist etwas, das überwunden werden muss. Also lehre ich, auf dass

wir Menschen werden und in Liebe leben. Das Tier aber lebt in Angst.

Als er geendet hatte, wollte er sich von der Gruppe verabschieden, aber

sie baten ihn, noch zu bleiben und ihnen mehr zu sagen, und so

wiederholte er die Rede, die er im Dorf gehalten hatte, denn er hielt

sie für die Wichtigste. Während er also weiter zu ihnen sprach,

betrachtete er die Gruppe genauer und bemerkte, dass jeder von ihnen ein

Gebrechen hatte. Einer war lahm, ein anderer blind, ein dritter

schwerhörig und drei von ihnen gaben von Zeit zu Zeit glucksende Laute

von sich, was ihn glauben ließ, sie seien schwachsinnig. In Wahrheit

aber konnten sie vor Lachen kaum atmen und amüsierten sich wie nie

zuvor. Der Schwerhörige aber schrieb die Reden auf und hatte sich zu

diesem Zweck ganz nah vor Asimius gesetzt.2 Als Asimius auch diese Rede

beendet hatte, bat ihn der Blinde, noch etwas zu bleiben und mit ihnen

zu essen, und so geschah es. Während des Essens aber stellte sich

heraus, dass die eigenartige Gruppe ebenfalls kein Ziel hatte und von

Ort zu Ort zog, um Almosen zu erbitten. Da seine Reden für sie eine

willkommene Unterhaltung waren, fragte der Blinde, ob sie sich ihm nicht

anschließen könnten, und Asimius, der nicht gewohnt war, viel Zeit mit

normalen Menschen zu verbringen, erschrak zunächst über diese Bitte,

besann sich aber sogleich und entschied, dass er seine Einsamkeit

zugunsten des Wanderpredigertums abgelegt hatte und somit kein Grund

bestand, diesen Menschen ihre Bitte abzuschlagen. Und da sie ihr Lager

am Waldesrand schon bereitet hatten, verbrachten sie zusammen die Nacht

unter den Sternen und seine neuen 'Freunde' schliefen gut wie lange

nicht, denn Lachen löst allerlei Spannungen und macht einen ruhigen

Schlaf.

3.Kapitel: Das vom mannhaften Einzug des Asimius in die Provinzstadt

handelt.

Am nächsten Morgen zog die Gruppe weiter und kam zu einer kleinen Stadt.

Es war Markttag und der große Platz war von geschäftigen Menschen belebt

und es waren auch Gaukler da, die ihre Kunststücke vorführten. Asimius

und seine neue 'Gefolgschaft' erregten einiges Aufsehen, als sie über

den Platz gingen, und einige folgten ihnen, um zu sehen, was für ein

Schauspiel hier wohl geboten würde. Der Schwerhörige aber bat Asimius,

die stärkste Stimme zu gebrauchen, die ihm zu Gebote stand, denn auf dem

Platz war viel Lärm und Geschrei. Asimius versprach ihm, das zu tun, und

er wiederholte seine Rede über Liebe und Angst auch in der kleinen Stadt

und dann sprach er also:

An die Knechte

Seid ihr schon ungeduldig? Rasseln schon eure Ketten? Wahrlich, geduldig

wart ihr lange, zu lange! Aber nun steigt langsam die Wut in euch auf:

'Wie? Wir wurden so lange belogen und benutzt? Wo sind die Schuldigen,

dass ich sie ihre eigene Kette schmecken lasse?' Aber haltet ein und

besänftigt eure Wut. Braucht es für das Herr-und-Knecht-Spiel nicht

immer zwei? Wer zwang euch denn in Ketten? Wie ging das zu? Riet euch

nicht die Angst zur Knechtschaft, wie sie den Ohn-Mächtigen zur

Herrschaft riet? Denn wenn ihr die Freiheit über das Leben setztet, wie

legte man euch in Ketten? Nein, die Freiheit kann nicht genommen werden

und nicht gegeben. Und schon gar nicht kann sie erbettelt werden, das

sage ich den höheren Knechten! Höhere Knechte aber nenne ich jene, die

sich zwischen die Ohn-Mächtigen und die Knechte stellen und gern

vergessen, dass sie selbst Knechte sind, aber seit wann ist es Freiheit,

für andere die Drecksarbeit zu...(An dieser Stelle vermerkte der

Schwerhörige in seinen Aufzeichnungen, dass der Lärm zu groß war und er

große Teile der Rede nicht recht hören konnte.)3 ...Ich höre viel

Geschrei und Gerede über eure Herren und Herrschaften, aber kaum einer

wählte sich seinen Herrn selbst und wahrlich, die meisten wissen noch

nicht einmal, dass sie Knechte sind!

'Den Herrn brauchst du nicht zu wählen, der wählt schon dich!', schreit

es aus der Menge und es ist wahr: Wer nicht wählen kann, muss sich

wählen lassen!...(Lautes Lachen machte es dem Schwerhörigen unmöglich zu

folgen.) ...Nun aber hört mein Wort von den wahren Herren der Welt: Es

gibt nur zwei Herren in dieser Welt und wer kann, wähle zwischen ihnen:

Die wahren Herren der Welt heißen Angst und Liebe, die bestimmen euer

Leben.

Als Asimius seine wirren Worte gesprochen hatte, war das Volk sehr

aufgebracht und einige schwangen sogar ihre Stöcke. Als aber die drei

'Schwachsinnigen' begannen, von den Anwesenden zu betteln, zerstreute

sich die empörte Menge schnell und ging ihrer Wege. Asimius aber hatte

sich, als er geendet hatte, sogleich unter einen Baum gesetzt, kümmerte

sich um die kleine Taube und sandte in Gedanken Liebe an alle Lebewesen,

insbesondere jenen aus der Menge, die so aufgebracht waren und sie

seiner Meinung nach am nötigsten hatten und glaubte in seinem Wahn,

ihnen damit zu helfen, wie er auch glaubte, ihnen mit seinen Reden zu

helfen.

4.Kapitel: Von der Art und Weise wie Asimius in einer Schenke die Herzen

in Brand steckte und beinahe in einem richtigen Bett übernachtet hätte.

Am Abend überredete der Blinde Asimius, mit ihnen in einer Schenke zu

übernachten, denn sie hatten viele Almosen erhalten und bestanden

darauf, dass das auch an seiner Rede gelegen habe. Asimius aber glaubte

dies nicht und wollte es auch nicht glauben, denn es war ihm nicht ganz

angenehm gewesen, dass die Gruppe nach seiner Rede bettelte und so den

Eindruck erweckte, er erwarte Geld für seine Worte. Dies sagte er dem

Blinden auch und der versprach, mit den 'Schwachsinnigen' zu sprechen

und dafür zu sorgen, dass sie darauf achteten, ein solches Bild nicht

entstehen zu lassen. In der Schenke aber erkannte ihn ein Mann vom Markt

und bald bat man ihn zu sprechen, um sich die Zeit mit Lachen zu

vertreiben, und Asimius sprach also:

Vom Schicksal

Über sein Schicksal zu fluchen, meine Brüder und Schwestern, ist ebenso

töricht, wie über eine Medizin zu fluchen, die man nicht eingenommen

hat. Wer sein Schicksal erkennt und ihm entgegengeht, statt ihm

davonzuschleichen, wird niemals Grund haben, über sein Schicksal zu

fluchen. Wer seinem Schicksal aber davonschleicht, mache für sein Leiden

nicht das Schicksal verantwortlich, sondern sein Gemüt und seine

Feigheit. Das Gemüt aber ist nicht unabänderlich. Ändere dein Gemüt und

ändere deinen Kurs hin zu deinem Schicksal! Dem Schicksal mutig

entgegenzugehen wird immer belohnt, wenn das auch nicht immer so

scheint. Dem Schicksal davonzuschleichen hingegen wird immer bestraft,

wenn es auch oft verlockend ist. Wird eine Vase als Hammer verwendet,

darf man sich nicht wundern, wenn sie bricht. Euer Schicksal ist die

Freiheit, meine Brüder und Schwestern, wen wundert's, wenn die

Knechtschaft euch zerbricht? In der Freiheit hat ein jeder sein eigenes

Schicksal, das sucht und findet und lasst euch nicht ablenken! Anderes

anzufangen, ist verschwendete Zeit... (An dieser Stelle fehlen einige

Zeilen, da der Schwerhörige sich erleichtern musste.)4 ...Das Schicksal

ist der richtige Weg, welcher Weg das auch sein mag. Was das Volk

'schlimmes Schicksal' nennt, ist die Folge, wenn dieser Weg nie begonnen

oder wieder verlassen wird. Ich aber sage euch, meine Brüder und

Schwestern, es gibt kein schlimmes Schicksal. Schlecht für euch ist, was

eurem Schicksal im Wege steht, sonderlich jedwede Ablenkung von euch und

eurem Schicksale... (Es wird berichtet, dass der Schwerhörige hier eine

Weile einnickte, denn er hatte den Weinschlauch öfter besucht als gut

für ihn war.) ...Das Schicksal des Menschentieres aber ist zuvorderst

die Befreiung und die Knechtschaft ist das Gegenteil unseres Schicksals.

Euch schmeckt euer Joch nicht? So werft es doch ab, statt über euer

Schicksal zu wettern, dem davonzuschleichen ihr euer Leben nennt!

„Du willst uns wohl in den Tod treiben, Asimius?“, kreischte einer der

drei 'Schwachsinnigen', um ihn zu reizen.

Wenn ihr nur die Wahl habt zwischen Knechtschaft und Tod, so ist der Tod

die bessere, denn so bewahrt ihr die, die nach euch kommen, vor der

Knechtschaft. Und wenn euer Schicksal über den Tod führt, wohlan! Es

wird nicht zu eurem Schaden sein. Denn höre, die Toten beklagen sich

nicht. In den Tod treiben aber will ich euch nicht, denn wahrlich, der

Tod kommt ohnehin, da macht euch keine Sorgen. Den Tod könnt ihr nicht

verpassen, soviel steht fest. Das Leben könnt ihr allerdings verpassen,

sonderlich wenn ihr den Tod fürchtet! Wie sprach einst Diotima? 'Die

Armen, die nichts kennen, als ihr dürftig Machwerk, die der Not nur

dienen und den Genius verschmähn, und dich nicht ehren, kindlich Leben

der Natur! die mögen vor dem Tode sich fürchten. Ihr Joch ist ihre Welt

geworden; Besseres, als ihren Knechtsdienst, kennen sie nicht; scheun

die Götterfreiheit, die der Tod uns gibt?'5

„Betrüger!“, schrie einer. „Rattenfänger! Deine Art kenne ich gut.

Glaubt ihm nicht Mitbürger, verführen will er uns und unsere Werte will

er vernichten. Unsere Kinder will er uns nehmen und sie zu Schweinereien

überreden, unsere Frauen will er uns abspenstig machen und unsere

Brunnen will er vergiften! Lasst sein Gift nicht in eure Ohren, ihr

weisen Männer! Von Liebe redet er gern, meint aber immer nur Unzucht.

Von der Freiheit spricht er gern, meint aber immer nur Rebellion und

Chaos.“ Ein Weiterer erhob seine Stimme und sprach also: „Unser Geld

will er nur, sonst nichts, ein gemeiner Dieb ist er.“ Aus einer anderen

Ecke schrie es: „Und ein Vergewaltiger!“ (An dieser Stelle muss

angemerkt werden, dass nicht sicher geklärt ist, ob Asimius tatsächlich

ein Vergewaltiger war. Wir persönlich glauben, dass er dafür schlicht zu

verwirrt war, das Gerücht war aber im Umlauf und wo Rauch ist, ist eben

oft auch Feuer.) Als es wieder ruhiger wurde, nachdem einige zu Recht

aufgebracht den Raum verlassen hatten, antwortete Asimius mit folgendem

Unsinn, den er selbst in seinem Wahn wirklich zu glauben schien:

„Ich sprach euch von der Liebe und vom Schicksal und schon bin ich ein

Betrüger, Mörder und Vergewaltiger, wie komme ich doch zu diesen Titeln?

Was machte doch das Meer eurer Gefühle so schäumen? Welche Beweise gibt

es für solche Anschuldigungen? Wenn ihr sie habt, warum nennt ihr sie

nicht? Oder sind sie gar noch in Arbeit? Wenn euch Worte so sehr

erregen, fragt ihr euch nie, warum? Viel wichtiger als wie ihr etwas

aufnehmt ist, warum ihr es so aufnehmt! Tief steckt ihr im Reich der

Angst und wer gesteht gern seine Ängste ein? Ich aber sage euch, prüft

doch, was es ist in euch, das euch an meinen Worten so aufbringt: Ist es

Liebe oder Angst? Wenn es aber nicht Liebe ist, kann es nur Angst sein.

Und die Angst ist unsere schlimmste Krankheit und ich rate euch, schämt

euch nicht für euer Leiden und hört auf, es noch vor euch selbst zu

verstecken. Die Angst lässt euch so heftig reagieren, Angst euer Leben

verschwendet zu haben, Angst Knechte zu sein, Angst getäuscht worden zu

sein. Und nun wollt ihr lieber weiter euer Leben verschwenden, weiter

Knechte sein und es leugnen, euch weiter täuschen lassen und es

vorziehen, nichts zu bemerken, lieber als einmal in euch zu gehen und

euch zu fragen, ob ihr im Zustand der Liebe seid oder im Zustand der

Angst. Zu erkennen, dass die Angst die Oberhand hat, ist der erste

Schritt, sie zu besiegen.“

Hier wurde Asimius unterbrochen und eine vernünftige Stimme, die schon

zuvor gehört worden war, wurde nun lauter: „Angst sollen wir haben,

Bürschchen? Keiner hat mich je einen Feigling genannt und du willst es

wagen, der Erste zu sein? Hört nicht auf diesen Verführer Freunde und

Mitbürger! Unser mutiges Volk will er beschmutzen und die Gräber unserer

Ahnen will er schänden.“ „Beruhige dich doch, mein Freund...“, stammelte

Asimius, bevor er wieder unterbrochen wurde. „Dein Freund bin ich nicht

und werde ich nicht!“ „Kam dir nie der Gedanke, dass Dinge um dich

herum, die dich sehr aufbringen, eigentlich nur ein Ventil sind für tief

in dir verborgene Dinge, die dich zwar quälen, die du aber selbst vor

dir versteckst? Dass alles Äußere, was dich aufregt, ein Hinweis ist auf

ein Inneres, das leidet?“, versuchte Asimius den Bürger durch

Scheinlogik zu verwirren. „Nein! Der Gedanke kam mir nicht! Ein anderer

Gedanke aber kam mir wohl, und zwar wie schön es sein wird, wenn unser

Land endlich gereinigt ist von Nestbeschmutzern wie du einer bist, von

feigen Großmäulern, die von Angst reden und ihr Leben nie für das

Vaterland riskiert haben! Was weißt du von Angst und Mut? Ich war an der

Front!“ Asimius aber, der nicht in der Lage war zu erkennen, dass er es

hier mit Bürgern zu tun hatte, die sich nicht jede Frechheit gefallen

ließen, wenn sie auch von einem Irren kam, nahm das zum Anlass eine

weitere Rede anzufügen und die Stimmung heizte sich nur weiter auf.

Diese Rede war ein geradezu ekelhafter Versuch, allen Bemühungen der

Vernünftigen in unserer Welt Steine in den Weg zu legen, wenn sie das

Leid anderer lindern wollen, aber wir haben nichts anderes erwartet. Mit

illusorischem Idealismus ist noch niemals ein einziges Menschenleben

gerettet worden, dafür braucht es Menschen, die nicht über den Wolken

schweben, sondern handeln, wenn die Not es verlangt. Wir schätzen uns

glücklich, in einer Zeit zu leben, die solche Menschen hervorbringt. Sei

es die Führung an der Spitze, oder der einfache Soldat, der sein Leben

gibt, um anderen zu helfen. Asimius aber unterließ es nicht, eben diese

seltenen und hohen Menschen zu beleidigen und mit seinen wirren Lügen zu

verletzen, aber hört selbst:

Über Krieg und Kriegsknechte

Der Krieg, meine Brüder und Schwestern, ist der Vater aller Dinge,

behaupten manche, ich aber sage euch, er ist sonderlich der Vater aller

Dinge, die mit Knechtschaft zu tun haben. Einst rang ein Volk mit dem

anderen um das Recht des Lebens, aber nicht heute, da ringen die

Ohn-Mächtigen mit den Knechten um Herrschaft und der Krieg ist nur eines

der Mittel der Ohn-Mächtigen, die Knechte zu besiegen. Und heute

sprechen die Ohn-Mächtigen wieder also zueinander:

'Meine Knechte sind aufmüpfig, wie steht es mit deinen? Auch die Meinen

sind frech und schreien nach unerhörten Dingen. Wollen wir sie nicht

etwas gegeneinander aufbringen und sie in einem feinen Krieg etwas

ausdünnen und ermüden? Auch locken da große Profite...'

Lasst euch nicht täuschen, meine Brüder und Schwestern, der Krieg dient

immer nur wenigen und selbst ein Sieg kostet mehr als ein Frieden. Und

wann immer einer nach Krieg schreit, gebt ihm eine Waffe in die Hand und

zeigt ihm den Weg. Es ist an der Zeit, dass die obersten Feldknechte,

die sich selbst gern 'Feldherren' nennen, auch an vorderster Front

kämpfen. Darauf aber ist nicht zu rechnen, denn wahrlich, dann schließen

sie lieber Frieden, die Feldknechte, bevor auf sie geschossen wird! Was

bringt das Menschentier doch dazu, für andere zu tun, was es für sich

selbst nicht wagt? Wie machen sich die Feldknechte die Kriegsknechte zu

Willen? Wahrlich, ich sage euch, da ward eine ganze Wissenschaft

erdacht, um dies Ziel zu erreichen! Das Menschentier wird durch Schreie

oder Schläge gebrochen und dann wieder neu zusammengezimmert – als Teil

einer Maschine. Einen neuen Stolz und eine neue Ehre versprechen sie den

Kriegsknechten, so sie sich nur der Maschine unterwerfen und sie niemals

hinterfragen. Bald schon fühlen sie sich ganz anders als zuvor, als Teil

der Macht, die die Maschine ist, als Eingeweihte. Und in diesem Rausch

von Macht und Härte sind sie nun fähig, ihre Brüder und Schwestern zu

schlachten, wenn die Maschine des Krieges es befiehlt und leicht geht

ihnen das Schwerste und Schrecklichste von der Hand. Aber wenn die

Maschine sie wieder ausspuckt, wehe den Kriegsknechten, die ein

Gedächtnis haben! Denn die Erinnerung an ihre Gräueltaten holt sie ein

und findet sie noch im düstersten Winkel. Und nun ist nicht mehr leicht

scherzen über die Opfer der eigenen Angst und Schwäche, über verbrannte

Kinder und vergewaltigte Frauen und gefolterte Männer. Und wahrlich, nun

wendet sich das Blatt und der Kriegsknecht richtet seine Waffe gegen

sich selbst. Aber das ist keine Lösung ihr Kriegsknechte, haltet ein!

Leicht ist es, sich davonzustehlen, wo man Wiedergutmachung zu leisten

hat – aber nicht billig. Ihr habt gegen euch und euren Willen gehandelt,

ihr wurdet getäuscht und betrogen. Ich sage euch, auch ihr seid Opfer,

wenn ihr auch Täter seid. Aber nun ist es an der Zeit, dass ihr euch

gegen die Maschine stellt, die euch täuschte! Wollt ihr zulassen, dass

die Kommenden von ihr getäuscht werden, wie ihr von ihr getäuscht

wurdet? Dann versteckt euch nicht länger und berichtet der Welt, wozu

euch die Maschine gemacht hat, wozu sie euch gebracht hat. Die Maschine

versetzte euch in den Zustand der Angst und machte euch so zu Mördern,

aber verzagt nicht, jeden Moment könnt ihr beginnen, euch für die Liebe

und gegen die Angst zu entscheiden. Das sage ich auch den

Folterknechten, die heute wieder sehr beschäftigt sind und wieder ganz

offen arbeiten und die Erde ist wieder überzogen von Krieg und

Folterkammern und die Knechte sagen: Nun, die einen werden schon wissen,

was sie getan haben, und die anderen, was sie tun! Ich aber sage euch,

sie wissen es nicht, weder die einen noch die anderen und die Angst

macht sie blind und wahnsinnig. Der Krieg, meine Brüder und Schwestern,

ist eine der Ketten, die uns in Knechtschaft halten und wahrlich, viele

Ketten sind nötig, um dieses treffliche Tier zu knechten! Der Krieg aber

gilt den Ohn-Mächtigen als unentbehrlich, denn sie fürchten, dass es uns

zu gut gehe und wir so zu Sinnen kommen. Davor fürchten sich die

Ohn-Mächtigen und nutzen den Krieg, um unseren Wohlstand zu zerstören,

denn im Wohlstand, so fürchten sie, beginnt das Menschentier frei zu

denken, frei zu werden, Mensch zu werden, und nichts fürchten die

Ohn-Mächtigen mehr als die Furchtlosen, das aber sind die wahren

Menschen und die Liebenden. Hütet euch aber vor jenen, die dreist

behaupten, Frieden durch Krieg erreichen zu wollen! Ebenso wenig kann

man mit Feuer den Garten wässern. Aber sie lügen gekonnt und sprechen zu

eurer Menschlichkeit und sagen: 'Seht das Leid! Wollt ihr tatenlos

zusehen? Wir müssen angreifen um - zu helfen. Wir müssen Krieg führen -

für den Frieden!' Wer kennt ihn nicht, den Gesang der Prediger der

Angst? Aber wer tanzt noch dazu? Was hat die Angst doch mit uns gemacht,

dass wir selbst Lügen glauben, die sich selbst überführen? Frieden durch

Krieg? Licht durch Dunkelheit? Liebe durch Angst? So dreist Lügen nur

Dummheit oder Gewissheit und wahrlich, heute ist es Gewissheit, dass der

Knecht alles glaubt, was die Prediger der Angst durch das falsche

Fenster schreien! Und dumm sind sie nicht, die Ohn-Mächtigen, ja, die

Feigen sind klug und sie wissen die Angst gegen andere zu gebrauchen,

klug gebrauchen sie die Angst, ihre Herrscherin. Nur wissen sie nicht,

die Angst in sich zu überwinden, und so süchten sie nach Macht und

Kontrolle, die Krankseligen!

Als Asimius endlich geendet hatte, begann ein Handgemenge und es wird

berichtet, dass er nur unverletzt davon kam, weil einige Anwesende ihn

vor zwei besonders wütenden Männern beschützten. Besser wäre es aber

vielleicht gewesen, die Bürger hätten ihm auf der Stelle die Medizin

ihrer Fäuste verabreicht und nicht zu knapp, denn manch einem wurde

schon auf diese Art geholfen und sein Wahnsinn floh vor den Schlägen und

Tritten und gab den armen Kranken an die Wahrheit und die Gesundheit

zurück. Diese Art Hilfe wurde ihm aber versagt und so zog er weiter und

predigte, ohne dass ihm Einhalt geboten wurde. Viele der Anwesenden

mögen wohl gedacht haben, dass der arme Irre auch ein Recht auf eine

Meinung habe und sie auch jederzeit kundtun könne und dem ist auch so,

denn wir leben in einem freien Land.

Aber wer sich durch seine Reden so klar als krank und wahnsinnig

beweist, dem muss geholfen werden und zwar allem voran zu seinem eigenen

Wohle.

Es spricht nicht für dies Volk, dass keinem der Gedanke kam, die

Autorität in Form einer zuständigen Stelle zu informieren. Unser armer

Irrer aber verbrachte die Nacht neben der Schenke, da er sich nicht mehr

hinein getraute, oder den Weg zurück nicht fand, nachdem er geflohen

war.

Einschub des Verfassers:

Ich muss die Aufzeichnungen des Fristón hier einen Moment unterbrechen,

denn aus den Erzählungen des Animius weiß ich, dass er, nachdem er die

Schenke verlassen hatte, sich an die Angst wandte. Die Ansprache, die er

da hielt, wiederholte er mir und erzählte mir auch den Traum der

folgenden Nacht und beide sollen hier eingeschoben werden. Animius

verließ also die Schenke und ging durch ein Waldstück, bis er zu einer

Lichtung kam, und da hielt er und sein Herz war voll Trauer über die

Menschen, die so tief in Angst lebten und es nicht erkennen konnten.

Also beschloss er, sich direkt an die Angst zu wenden und zu sehen, ob

sie ihm antworten würde:

An die Angst

Angst! Geißel der Menschheit! Räuberin der Freiheit und Feindin der

Liebe! Säherin der Zwietracht, Späherin der Ohn-Macht! Du bist die

Bückerin der Rücken, Beugerin der Knie, Senkerin der Blicke, Hängerin

der Köpfe! Metze der Ohn-Mächtigen - aber auch ihre Herrscherin! Welcher

zornige Gott hat dich in unseren Nacken gesetzt und für welches

Verbrechen? Oder bist du das Erbe unserer Vorfahren, der Tiere? Denn

täuschen wir uns nicht: Das Tierreich ist voll von Angst und vieles an

uns ist vom Tiere.

Dientest du uns einst? Aber dienst du uns noch? Oder dienen wir nun dir?

Und sind die wenigen, die dich gegen ihre Brüder und Schwestern

benutzen, nicht selbst in deinem Bann und wissen es nicht? Höre nun

Angst! Ich kenne dich wohl und auch deine Kinder, sie heißen Gier, Neid,

Eifersucht, Feigheit, Lüge, Knechtschaft, Täuschung, Hass, Sucht, Scham

und Boshaftigkeit – wahrlich, eine schöne Familie und ich will gar nicht

wissen, wer der Vater ist! Wisse aber du: Meine Liebe ist stärker als

dein Gift und deine Töchter kannst du mit mir nicht vermählen. Eher

vermählte ich mich noch mit meinem Untergang! Die Liebe aber ist dein

Untergang und es kommt der Tag, er ist schon nah, wenn die Liebe dich

besiegt und der Mensch sich erhebt aus dem Tierreich. Denn das Tier lebt

in Angst und der Mensch lebt in Liebe. Das Menschentier aber ist das

Tier, das sich entscheiden kann zwischen Liebe und Angst. Antwortest du

nicht?

Die Lichtung aber blieb still und keine Antwort kam von außen zu

Animius. In seinem Inneren aber regte sich etwas und er besann sich und

sein Herz wurde leichter. Bevor er ging, fügte er seiner Ansprache

Folgendes hinzu:

Verabschieden aber will ich dich nicht im Streit. Wie eine gute

Lehrmeisterin will ich dich in Erinnerung behalten. Aber dein Werk ist

getan, ich lernte von dir, wie ich vom Schmerz lernte und danke dafür.

Zwei große Lehrer ward ihr mir, aber niemals wieder werde ich mich vor

euch beugen!

Und ermüdet richtete Animius sich ein einfaches Lager im Wald, nicht

weit von der Schenke und schlief ein und in dieser Nacht hatte er

folgenden Traum:

Traum des Animius:

Animius ging durch einen dunklen Wald und merkte bald, dass sich

Kreaturen wie Schatten bewegten und, ihm folgend, von Baum zu Baum

huschten. Furcht ergriff ihn und er hastete schneller und schneller

durch den Wald und die Äste der Bäume peitschten sein Gesicht. Aber die

Schatten folgten ihm und kamen immer näher. Jetzt war auch ein Zischen

von ihnen zu hören, mal näher, mal ferner. Aber dann, im Moment größter

Panik, blieb Animius plötzlich stehen und besann sich: Nichts gibt es in

diesem Wald zu fürchten, sprach er noch nach Luft ringend zu sich

selbst, warum renne ich doch und weiß nicht, wohin? Und er blieb stehen,

wo er stand, schloss seine Augen und atmete tief bis er wieder ganz

ruhig war. Dann öffnete er die Augen. Der Wald um ihn herum aber hatte

sich verwandelt, war nun nicht mehr nur dunkle Masse, sondern eine

Vielfalt aus Pflanzen, Tieren und auch einigen Menschen, die in geringer

Entfernung mit Körben Beeren oder Pilze sammelten. Alles strahlte in

verschiedensten Farben und Schattierungen und Animius wunderte sich. Ist

das ein Traum?, fragte er sich, aber vergaß sich zu antworten. Ist das

denn der Wald, durch den ich noch eben hastete? Er konnte nicht die

Augen von all den bunten Farben lassen. Warum rannte ich doch? Animius

hatte es ganz vergessen, doch jetzt erinnerte er sich und sah auch die

Bewegungen wieder, die in der Dunkelheit so bedrohlich erschienen waren.

Es war eine Horde Affen, nicht viel größer als Katzen, die sich auch

jetzt hinter den Bäumen und Büschen versteckten und ihn heimlich

musterten. Animius griff in die Tasche seiner Hose und fand einige

Kerne, die warf er ihnen zu und die Affen gerieten in große Aufregung,

kreischten und jeder versuchte, soviel er konnte aufzuklauben. Mit

großen, ängstlichen Augen sahen sie ihn an und Animius wunderte sich und

begann laut zu lachen. Daraufhin, immer noch lachend, ging er zu der

Gruppe Menschen und eine fremdartig schöne Frau reichte ihm einen Pilz

mit sehr langem Stiel aus ihrem Korb und ermutigte ihn ohne Worte, ihn

zu essen. Animius betrachtete den Pilz, aber als er ihn in den Mund

nahm, verwandelte sich der Pilz in eine Schlange und biss sich in seinem

Rachen fest. Er würgte und wollte schreien, aber kein Laut kam über

seine Lippen und erneut packte ihn furchtbare Angst, denn er konnte

nicht atmen und meinte zu fühlen, wie das Gift zu seinem Herzen kroch.

Eine Stimme riet ihm zuzubeißen und er biss mit gutem Bisse der Schlange

den Kopf ab und spie ihn weit von sich. Jetzt wandelte sich sein Auge

und er begann zu lachen wie er noch nie in seinem Leben gelacht hatte,

er lachte wie nie ein Mensch zuvor gelacht hatte und da verwandelte sich

der Wald aufs Neue und alles in ihm. Ein leuchtendes Band durchdrang nun

wie ein Nebel alles um ihn und alle Bewegungen schienen von dem Band

verursacht. alles war durch das Band miteinander verbunden und wogte und

schimmerte und sprach wie durch das Leuchten des Bandes. Das Band

durchdrang alles und alles war das Band, es war aber nicht greifbar und

Animius vergaß, sich zu wundern. Er ging einige Schritte, leichtfüßig

beinahe tanzend und betastete mit Händen und tränenden Augen Blumen und

einen Frosch, der ihn ungläubig anblickte. Plötzlich kam ihm wieder der

Gedanke: Ist das ein Traum? und er blickte sich forschend um, anders als

er die Blumen und den Frosch angesehen hatte, fragend blickte er nun,

forschend, suchend. Aber da senkte sich ein schwerer schwarzer Vorhang

und der Wald und das Band und die Tiere und Pflanzen und die Menschen

verschwanden dahinter und es blieb nichts als eine schwarze Leere, die

ihn anstarrte und er erwiderte den Blick bis er erwachte.

Aber zurück zu den Aufzeichnungen des Fristón:

5. Kapitel Worin verschiedene ausgewählte Reden gesammelt sind sowie der

Zweikampf um das „Recht der Rede“, den der tapfere Asimius einem anderen

Prediger aufzwang.

Und auf diese Art zogen Asimius und die anderen durch einige Dörfer und

Schenken und er hielt weiter wirre Reden. Das Volk aber missverstand

seine Auftritte als die eines Komödianten und wenn sie nicht lachten, so

wurden sie zu Recht zornig und nicht selten musste er sich schneller von

einem Ort verabschieden als ihm lieb war. Neben den Reden, die er bisher

schon gehalten hatte, trug er auch die Folgenden vor und der

Schwerhörige tat sein Bestes, sie aufzuzeichnen. Wir betonen noch

einmal, dass wir die Reden nur wiedergeben, da wir der Meinung sind,

dass sie einen tiefen Einblick in die Psyche eines Wahnsinnigen geben

und der Erforschung geistiger Krankheiten zugute kommen werden. Auch

wollen wir nicht verheimlichen, dass wir einen gesunden Spaß daran

haben, derart systematische Ungereimtheiten zu hören und dem geeigneten

Leser dies Vergnügen auch nicht vorenthalten wollen, also weiter mit den

Reden unseres prätentiösen Predigers:

Über die Knechtmacher

Niemand kommt als Knecht auf die Welt, dafür wurde die Erziehung

erfunden. Sie zieht uns fort von uns selbst und von allem, was mit uns

auf die Welt kam, sonderlich unserer Freiheit und unserer Liebe. Wohin

zieht sie uns doch? Eine feine Ein-Richtung wurde da ersonnen! Die zieht

uns immer in eine Richtung, da lügt die Sprache nicht: Die Richtung, in

die wir gezogen werden, ist Knechtschaft. Bildung nennen es Knechte wie

Ohn-Mächtige. Um-Bildung zum Knechte, Aus-Bildung zum Untertan, so nenne

ich eure Bildung. Gegen sich selbst zu handeln wird da gelehrt mit

großem Ernste: 'Du willst dich bewegen, junges Leben? schweig! Und sitze

bewegungslos. So bleibe nun den halben Tag und morgen wieder und

über-morgen und bald schon wird es leichter. Deine Seele muss gründlich

flach gesessen werden, sonst taugt sie nicht für den Knechtsdienst.

Unterwirf dich! Handle gegen dich selbst und deinen Willen. So ist es

gut. Hier ist Zuckerbrot. Und biegst du dich schlecht so wirst du

gebrochen. Jetzt wollen wir einmal deine Fehler zählen, junges Leben!'

Aber die Knechtseltern geben ihre Kinder den Knechtmachern und sind

stolz, wenn sie gründlich lernen, Knechte zu sein. Einst wollte der

Sklave, dass seine Kinder Freie werden, aber nicht heute, meine Brüder

und Schwestern, heute wollen die Knechte, dass ihre Kinder bessere

Knechte werden... (An dieser Stelle hörte der Schwerhörige schlecht)

...Seht sie springen, die kleinen zukünftigen Knechte! Noch ahnen sie

nichts von ihrem Los, noch fühlen sie Leben und Liebe und Freiheit in

sich. Will sich denn keiner erbarmen und sie den Knechtmachern

entreißen? Brüder und Schwestern, beenden wir doch endlich die

Knechtmacherei! Entreißt eure Kinder den Händen der Ohn-Mächtigen!

Über die Sicherheit

Die Knechte schreien heute nach Sicherheit, meine Brüder und Schwestern,

denn sie leben in Angst. Und sie bekommen, wonach sie schreien, denn

auch die Ohn-Mächtigen streben nach Sicherheit. Aber des einen

Sicherheit ist des anderen Kerker - und was bekommen die Knechte für ihr

Geschrei? Schwarze Uniformen überall und kalte Augen die alles sehen.

Aber ist das Sicherheit? Sicherheit ist eine Frage der Blickrichtung.

Der Kerker ist Sicherheit - für die außerhalb der Mauern. Bedeutet er

auch Sicherheit für den Eingekerkerten? Er ist ganz der Willkür seiner

Wächter unterworfen und so viel er auch von Sicherheit hört, er weiß

recht wohl, um wessen Sicherheit es sich handelt. Sicherheit für die

Knechte? Nichts liegt den Ohn-Mächtigen ferner! Ihnen geht es immer um

die Sicherheit vor den Knechten. Denn siehe, der Knechte gibt es heute

zu viele und die Ohn-Mächtigen zittern vor ihrer Zahl. Nicht deren

Sicherheit liegt ihnen am Herzen, sondern deren Kontrolle. Und ist die

Zahl der Knechte zu hoch, um sie zu kontrollieren, so haben die

Ohn-Mächtigen Mittel und Wege sie zu – verringern... (An dieser Stelle

verhinderte das Geschrei des Volkes die Aufzeichnung.)6 ...Ihr Schreit

nach Sicherheit? Schreit doch nach Sicherheit für eure Freiheit! Denn

die Freiheit ist heute in Gefahr - wo sie noch nicht am Boden liegt. Die

Sicherheit, nach der die Knechte schreien, ist eine Falle und sie gehen

gesenkten Hauptes auf sie zu. Wie kam das doch? Die Ohn-Mächtigen haben

nur ein Geschäft und dieses Geschäft ist die Angst. Anderen Angst zu

machen, verstehen sie gut und sie betreiben ihr Geschäft mit kindlichem

Ernste. Unter falscher Flagge morden sie und bieten sich dann den

Knechten als Beschützer an – vor erfundenen Feinden:

'Nun müssen wir euch besser schützen, vertraut uns dieses Mal. Aber der

Feind ist überall und mitten unter euch, wie finden wir ihn doch?'

So lügen sie und teilen mit erfundener Angst die Menschentiere, um sie

besser zu kontrollieren. Die Sicherheit, die wir so bekommen, ist die

größte Gefahr der Freiheit und des Lebens außerhalb der Knechtschaft.

Die Sicherheit der Ohn-Mächtigen ist der Kerker aller anderen und

wahrlich, wenn dieser Kerker fertig ist, gibt es kein Entkommen mehr!

Aber noch ist Zeit, meine Brüder und Schwestern, werft euch gegen die

unfertigen Tore, bevor sie zu stark sind und brecht durch ins Freie. Mit

vereinter Kraft brechen wir das Tor nieder und brechen durch in die

Freiheit. Zunächst aber befreit euch vom Kerker in euren Köpfen! Dieser

Kerker aber ist die Angst. Brüder und Schwestern, zerbrecht mir den

Kerker der Angst in euren Köpfen!

Von der Freiheit

Die Freiheit ist die Tochter des Mutes und die Mutter der Liebe. Um sie

zu erlangen, müsst ihr euch eurer Angst stellen, meine Brüder und

Schwestern. Der Knecht, der den Kerker fürchtet und die Peitsche und den

Tod, freunde sich mit seinem Joche an, wir aber nicht! Mut ist der Weg

in die Freiheit und wenn ich nur drei Worte zu sagen hätte, sie

lauteten: Fürchtet euch nicht! Und wenn ihr euch schon fürchtet, so

fürchtet doch euer Leben in Knechtschaft und nicht euren Tod. Wie? Euer

Leben in Ketten und Unterwerfung jagt euch nicht einmal einen Schauer

über den Rücken, aber der Tod lässt euch vor Angst erstarren? Und das

Los eurer Kinder kümmert euch nicht? Viel falsche Furcht wurde in euch

gepflanzt, um euch besser zu kontrollieren und zu nutzen. Schrecken und

Schröpfen gehen gut zusammen und halten noch Händchen dabei. Freiheit

ist nicht zu wählen zwischen Pest und Cholera, Freiheit ist, in der

Weite der Welt zu wandern und keine Grenzen und keine Zöllner und keine

Verbote zu kennen. Freiheit ist, sich seine eigenen Gesetze zu geben und

sie auch zu achten. Freiheit ist, ein Mahl und ein Bett zu haben, wohin

der Weg auch führt. Freiheit ist, alles zu gebrauchen und nur zu

besitzen was du tragen kannst und für unentbehrlich hältst. Freiheit ist

ein heiliges Nein! zum Joche und ein heiliges Ja! zum Schicksal. Vor

allem aber ist Freiheit Furchtlosigkeit. Denn die schlimmsten Zwänge

zwingt uns unsere Angst auf... (An dieser Stelle verstand der

Schwerhörige nicht recht, denn es erhob sich über eine lange Zeit ein

betäubendes Gelächter und Geschrei.)7 ...Einst wird das Menschentier

frei sein, aber nicht heute, meine Brüder und Schwestern, heute - hat es

frei. Und wahrlich, zwischen Haben und Sein ist ein unfeiner

Unterschied! Sonderlich wenn es um Freiheit geht.

Aber das Heute neigt sich dem Abend zu und morgen schon kann das

Menschentier Mensch werden und der Knecht frei. Frei werden muss der

Knecht von seinem Joch und das Menschentier von der Herrschaft seines

Tieres. Dann aber, nach dem 'frei von'8 kommt das 'frei zu'. Euer 'frei

zu' sucht euch schon heute, ihr Freien; ein Jeder hat das Seine. Brüder

und Schwestern, die Freiheit ruft, was soll uns die scheinbare

Sicherheit?

An dem Tag, an welchem er diese Rede hielt, ergab es sich aber, dass ein

anderer Prediger im selben Ort war und der war mit seinen Fäusten nicht

zimperlich, wie es die Art von einigen Mönchen ist, und ein Mönch war er

tatsächlich, oder ein ehemaliger, darüber gibt es verschiedene

Ansichten. Jedenfalls fühlte sich Asimius von der Anwesenheit des

Konkurrenten nicht sehr beglückt und riet ihm an, das Weite zu suchen -

oder seine Zähne, sollte er seinem Rat nicht Folge leisten.9 Franz von

Feigenpelz aber, so hieß der andere Prediger, wollte durchaus nicht

hören und Asimius schäumte vor Wut und ballte seine Fäuste und schnaufte

wild: „Ich fordere dich zum Zweikampf um das Recht der Rede, feiger

Anbeter des alten Rachegottes!“ Kaum hatte er das gesagt, gab ihm der

rüstige Mönch einen Kinnhaken, der ihn durch die Luft schickte, bis er

endlich, alle Viere von sich streckend, auf dem Boden landete und sich

nicht mehr rührte. Das „Recht der Rede“ aber nahm sich das tapfere

Mönchlein ohne einen weiteren Blick auf Asimius zu richten und hielt

folgende flammende Rede, die dem geschätzten Leser nicht verheimlicht

werden soll, sintemal sie viel mehr Sinn beinhaltet, als all der Unsinn,

den Asimius je von sich gegeben hat: Rede des Franz von Feigenpelz

Ich sehe mich um und meine Augen verdrehen sich und wenden sich ab, um

nicht sehen zu müssen was aus dem Gottes-Menschen und Logossöhnen

geworden ist. Was ich sehe, sind die Nachkommen von Sodomsäfflingen,

Buhlschraten und Buhlzwergen. Unsere Leiber sind vergrindet trotz aller

Seifen, verudumt, verpagutet und verbaziatet. Nie war das Leben der

Menschen trotz aller technischen Errungenschaften so armselig wie heute.

Teuflische Menschenbestien drücken von oben, bauen heimlich Waffen in

ihren Schurkenstaaten und schlachten gewissenlos Millionen Menschen in

mörderischen Kriegen, die zur Bereicherung ihres persönlichen

Geldbeutels geführt werden. Wilde Menschenbestien rütteln von unten her

an den festen Säulen der Kultur. Die Menschheit ist faul wie Lazarus und

strömt schon den Gestank des Sodomstodes aus. Was wollt ihr da noch eine

Hölle im Jenseits! Ist die, in der wir leben, und die in uns brennt,

nicht schauerlich genug? Könnt ihr denn schon nicht mehr lesen? In der

heiligen Schrift steht doch geschrieben, wie es zu diesem Niedergang

gekommen ist, oder wollt ihr nicht verstehen, elendes äffisches

Gesindel? Eure Vorfahren vermischten sich mit Tieren, sonderlich eure

geilen Weiber und ihr seit das Resultat dieses Treibens! Wollt ihr denn

nicht verstehen, was die Erbsünde ist, die Sünde, die sich vererbt? Was

für ein Früchtchen Eva da gekostet hat im Garten Eden? Und Adam riss sie

sogleich mit sich hinab in den Schmutz und Schlamm der Sodomie! Der Baum

der Erkenntnis, ja! Aber was für eine Erkenntnis? Erkennen heißt in der

Sprache der heiligen Schrift der Verkehr der Geschlechter, aber hier

wurde die falsche Art erkannt und vermischt, was für ewig getrennt

bleiben sollte! Die heutigen farbigen Menschenrassen sind nichts anderes

als durch homo Europäus hinaufgezüchtete udumi, baziati und pagutu. Sie

sind heute allen Logossöhnen ebenso gefährlich, wie in der Urzeit. Durch

ihre Liebeskünste umstricken sie uns, züchten sich hinauf, und uns

hinunter! Der Teufel selbst verführte unsere Vorfahren zu dieser Unzucht

und reichte Eva die verbotene „Frucht“. Freunde, die wir uns an Leib und

Seele als die Kinder und Söhne der urweltlichen Äfflingsfeinde fühlen,

lasset uns das teuerste Erbe unserer Väter, unser Blut, unseren Samen

als etwas Göttliches hoch halten! Wir wollen uns nicht für Engel halten,

eines jeden Blut ist mehr oder weniger mit Sodomswasser vermischt. Aber

von nun an soll der Vermischung Einhalt geboten werden. Denn die

Menschheit ist ungleich und ein tiefer Graben, der nicht verschüttet

werden darf, umgibt unser Walhall, ein Graben, den kein Äffling

überspringen darf. Mit dem Kampf gegen den Sodomsaffen muss ein jeder in

sich beginnen, insbesonders bei der Wahl seines Eheweibes, dann kann er

den Sodomsaffen um sich bekämpfen. Der Sieg wird unser sein, uralte,

göttliche Weissagungen sprechen für uns. Unter unseren Gegnern ist der

Affe, in uns und für uns ist Gott, das allwissende, allmächtige

Urweltswesen. Was glaubt ihr denn, warum Gott in seiner Weisheit ganze

Stämme und Völker bestrafte, mit gerechtem Zorn und furchtbarer Rache?

Seine höchste Schöpfung wollte er rein erhalten und die Unseligen

vermischten sich mit Affenmenschen und Geschöpfen des Wassers! Lenkt

ein, meine Freunde, oder bald schon wird sein gerechter Zorn wieder

unter uns fahren und die Zeit ist nah. Unser herrliches Göttervolk wurde

von der alten pagutu- und udumu-Brut zerrissen, den übrigen Germanen ein

gefälschtes Christentum gepredigt, und ihr gewaltiger Götterarm durch

den Strick des „Nächstenliebegebotes” gefesselt. Rom und Byzanz haben

das alte Schrifttum vertilgt, denn es wäre eine Urkunde unserer

göttlichen und ihrer äffischen Abstammung gewesen. Seit über tausend

Jahren sind die Welschen und die Slaven und das andere

Affenmenschengesindel eine stete Gefahr für die Kultur, sind sie unsere

erbitterten Feinde, denen keine Bosheit und keine Gewalttat zu schlecht

ist, um uns zu vernichten! Weh der Sodomsbrut, wenn wir mit ihr

abrechnen werden! Aber sie sind heute gefährlicher denn je. Wir selbst

haben sie ja hinauf gezüchtet! Stets planen sie unsere Vernichtung in

ihren Schurkenstaaten und wenn wir nicht zuerst zuschlagen, werden sie

ihren Willen bekommen. Wir dürfen nicht länger weibisch sein, dafür ist

keine Zeit. Ein gerechter Krieg für einen göttlichen ewigen Frieden

steht uns bevor und wir dürfen nicht länger zaudern. Schlagen wir zu,

bevor die Sodomsäfflinge uns vernichten!

Als Feigenpelz geendet hatte jubelte das Volk und keiner beachtete

Asimius, der mittlerweile wieder zu sich gekommen war und mehrere Male

versuchte, nun auch das Wort zu ergreifen. Endlich gab er sein Vorhaben

auf und schlich davon, um sich Trost bei seinem Vogel zu suchen, und

dass er einen Vogel hatte, wissen wir ja bereits. Aber dieser Franz von

Feigenpelz, potz tausend! Sicher, was er sagt, ist neu und beinhaltet

einigen Sprengstoff, aber wir haben noch keine Erklärung der Erbsünde

gehört, die uns mehr zum Nachdenken brachte als die Seine. Und wenn wir

uns die Welt ansehen und all das Übel in ihr, wer weiß, vielleicht hat

er Recht. Eines steht jedenfalls fest: Ein gehöriger Schuss

„Sodomswasser“ im Blut des Asimius würde seinen Wahnsinn auf ganz neue

Art erklären. Kommt noch hinzu, dass das Volk ihn instinktsicher

Zarathustras Affen nennt, und dann sein Aussehen, da kann man schon ins

Grübeln kommen... Auch baut die Lehre des Feigenpelz ganz neue Brücken

zwischen den Kreationisten und den Darwinisten. Was denn, wenn beide

bisher unversöhnlichen Lager Recht hätten? Angenommen Gott schuf den

Menschen und dennoch stammen wir auch vom Tier ab... Wie auch immer sich

das verhalten mag, gäbe es mehr Redner vom Kaliber eines Franz von

Feigenpelz, die folgenden wirren Reden wären jedenfalls vielleicht

niemals gehalten worden und der Menschheit somit ein großer Dienst

geschehen. Sintemal dem aber nicht so ist, hielt Asimius weiter

ungehindert seine Reden und der geeignete Leser höre und staune, was er

sich noch alles in seinem verafften Kopfe zusammengereimt hat und

solange er gesund darüber lachen kann, ist kein Schaden entstanden:

Über die Freiheit im Handeln

Heute halten sich die Knechte für frei, meine Brüder und Schwestern,

aber selbst diese neue Art fühlt tief in sich den Schmerz der

Knechtschaft und wahrlich, sie rächen sich gern für diesen Schmerz an

Anderen. So beginnt ein Kreislauf, den sie nicht beenden können, denn

ihr Handeln ist nicht frei, sondern hängt ab von den Handlungen Anderer,

sonderlich anderer Knechte. Rache lernten sie von ihrem eifersüchtigen

alten Gott und die Knechte lernten sie gut und gern. Aber wie? Ein

eifersüchtiger Gott? Das ist ein Widerspruch in sich selbst, denn

Eifersucht ist Folge der Angst und furchtsam ist nur der Knecht, nie

aber der Gott! Aber das Vorbild dieses eifersüchtigen Rache-Knechtes

besteht bis heute und richtet viel Schaden an und wahrlich, dieser

'Gott' ist auch noch geschwätzig und es scheint, dass ein altes

vergrämtes Waschweib seinem Erfinder als Vorbild gedient hat! Aber was

ist es in uns, das uns dazu bringt, den Fehlern und Fehlverhalten der

Anderen aufzulauern, und sie auch noch nachzuahmen? Ist es nicht, weil

wir in Angst leben, selbst schlecht zu sein, und uns etwas leichter

fühlen, wenn andere ebenso schlecht sind wie wir selbst? Ist es nicht,

weil uns eine Ur-Sünde angedichtet wurde und ein Unbehagen und geheime

Schuld wegen unserer eigenen Triebe?... (an dieser Stelle fehlen Zeilen,

da der Schwerhörige nicht recht hörte, geschweige denn verstand)...

Warum wollen wir doch gleich zum Esel werden, wenn wir einen Esel sehen,

und zum Schwein, wenn wir angegrunzt werden? Lieber den Esel Esel sein

lassen und das Schwein Schwein und selbst nach eigenem Gutdünken

handeln. Der Knecht aber freut sich, wenn er eine Entschuldigung findet,

niedrig zu handeln, und wenn ihn einer betrügt, wird er gleich selbst

zum Betrüger und fühlt sich dabei noch im Recht, und wenn ihn einer

hasst, so hasst er gleich eifrig zurück. Ich aber sage euch, meine

Brüder und Schwestern, lasst euch nicht zu dem machen, was ihr selbst

verachtet, und lieber entzieht euch jenen, die euch Schlechtes tun, als

ihnen Gleiches mit Gleichem zu vergelten, denn das ist Unfreiheit, wenn

es euch die Angst auch als Gerechtigkeit erscheinen lässt. Freiheit aber

ist, so zu handeln, wie es euch richtig scheint und wie ihr es

verantworten könnt, und nichts darauf zu geben, was Andere Schlechtes

tun und sagen. Unfreiheit ist, sich bereitwillig mit jeder

Schlechtigkeit anstecken zu lassen wie von einer Krankheit und dann zu

fragen: Aber wer fing damit an? Diese Unfreiheit hat unser Handeln zu

lange bestimmt; entsagt der Rache und den Rache-Knechten, meine Brüder

und Schwestern! Knechtisches Handeln darf unseren Umgang nicht länger

bestimmen. Handelt doch nach eurem Gesetz und das Unrecht der Anderen

soll euch nicht mehr länger anstecken.

Über den Umsturz

Die Umstürzler sammeln sich heute wieder in den Straßen und wahrlich,

wer die Mauern dieses Kerkers nicht umstürzen will, der richte sich gut

ein hinter seinen Gittern und sehe zu, dass er sich sein Joch gut

polstere! Wer aber die Mauern stürzen will, der halte noch einen Moment

inne und höre mein Wort vom Umsturze: Seid ihr solche, die umstürzen

wollen, wohlan! Aber manch einer der umstürzen wollte, stürzte dabei

selbst und siehe, aus seiner neuen Lage dünkte ihm die Welt verändert.

Und so richtete er sich ein im Staube seines Sturzes und merkte nicht,

dass er selbst lag und die Mauer noch stand. Seid ihr solche, die

Veränderung wollen, wohlan! Aber wer verändern will, der sehe zu, dass

er nicht trachte, die Ohn-Mächtigen mit ihren eigenen Waffen zu

schlagen. Denn die Waffe der Ohn-Mächtigen ist die Angst und nur die

Liebe kann die Angst besiegen! Ihr wollt einen Ringer schlagen, steigt

ihr in seinen Ring? Ihr wollt einen Tyrannen stürzen, wer riet euch zur

Gewalt? Waren es nicht seine Spione, die euch so schlecht rieten? Oder

war es eure Angst? Wer aber ein Krokodil fangen will, der stürzt sich

nicht in dessen braunen Fluss und wenn ihm auch sein Mut dazu riete!...

(An dieser Stelle fehlen aus unbekannten Gründen einige Zeilen.)10

...Zum Umstürzen muss aber erst einmal etwas stehen und wahrlich, heute

liegt mehr als steht und vieles muss erst noch aufgerichtet werden. Der

beste Umstürzer aber ist der Erbauer. Der kniet nicht vor der Büste des

falschen Götzen, der rüttelt auch nicht daran. Der Erbauer sieht die

alte Statue nicht und baut nur am lebendigen Leben, an einer beweglichen

Zukunft. Eine Büste zu Staub zermahlen aber dünkt ihm verschwendete

Zeit.

Und wahrlich, meine Brüder und Schwestern, wer am lebendigen Leben baut

und den Kerker in sich selbst einreißt, der wird erleben, wie die kalte

Statue unbemerkt zusammenfällt im Schatten des neuen Lebens.

Wenn die Liebe die Oberhand gewinnt, müssen die Kräfte der Angst

weichen, meine Brüder und Schwestern, aber die Liebe muss jeder in sich

selbst entwickeln und dazu muss er sich seinen eigenen Ängsten stellen.

Wohlan! Die Zeit ist reif.

Über Besitz und Gebrauch

Besitzen kann man nur, was man auch tragen kann. alles andere stehe

bereit für den Gebrauch. Sitzt aber einer auf etwas, das ihr gebrauchen

wollt, so mache ihm nur schnelle Beine! Wer etwas braucht und gebrauchen

kann, der soll nicht durch einen Sitzenden davon abgehalten werden...

(An dieser Stelle war der Lärm der Menge zu groß.)11 ...Das Heute aber

gehört wenigen Sitzenden und die haben sich die Erde zu ihrem Sitze

erwählt. Auf ihr sitzen sie mit breitem Steiße und es dauert nicht mehr

lange und sie haben die Erde flach gesessen und siehe, die schwarzen

Männer reiben sich bereits die Hände und kreischen: Haben wir es nicht

immer gesagt? Die Erde ist eine Scheibe! Gelobt sei die Kreuzigung! Aber

so weit kann es nicht kommen, dass die Prediger der Kreuzigung Recht

hätten! Die Fettsteißigkeit der Sitzenden reicht nicht, um sie auf ihrem

Sitze zu halten. Schon höre ich die Sägen an ihrem Stuhle und rieche

auch das fressende Feuer! Und wer schwer sitzt, stürzt auch hart, das

sage ich den Fußfaulen. Steht doch auf, bevor der Stuhl in Flammen

zusammenbricht! Aber was ihr zu viel besitzt, meine Brüder und

Schwestern, besitzt nicht nur auch euch, es steigert auch eure Angst.

Der unnötige Besitz lässt uns stets befürchten, er könne uns gestohlen

werden. Und wahrlich, die Angst, bestohlen zu werden, ist heute eine der

folgenschwersten, denn sie fördert das Misstrauen und die Teilung!

Teilen hingegen beendet die Teilung und befreit vor der Angst derer, die

auf zu viel sitzen. Was ist das doch in uns, das uns neben einem Stuhle

stehen lässt und ihn bewachen, dass keiner sich darauf ausruhe? Und seht

die Ohn-Mächtigen! Sie stehen in einem Meer aus Stühlen und rennen von

einem zum andern, um zu verhindern, dass einer sich darauf setze.

Stuhl-Hirten seit ihr mir und Sessel-Wächter, aber bald schon kommt der

Tag, an dem die Tische sich drehen und wahrlich, die Stühle neu verteilt

werden.

Wir brechen das hier ab. So und so ähnlich sprach unser armer Affe

Zarathustras, geriet vor Erregung in Hitzewallungen und hatte auch

Schaum vor dem Mund und wen wundert's? „Rache“, „Umsturz“, „brennender

Stuhl“ da hat unser posaunender Prediger wohl zu scharf gegessen. Eine

etwas sanftere Diät wäre sicher zuträglich gewesen, wenn eine solche

allein auch kaum in der Lage gewesen wäre, Heilung herbeizuführen.

6. Kapitel Wie Asimius in der großen Stadt furchtlos dem hundertköpfigen

Untier entgegentrat und vom Erdboden verschluckt wurde.

Da der geneigte und geeignete Leser selbst in der Lage ist, sich ein

gesundes Urteil zu bilden, halten wir uns mit unseren Kommentaren nun

zurück und begnügen uns damit, auch die restlichen Reden aufzuführen,

der Vollständigkeit halber. Ein bedauernswerter Zwischenfall ist aber

noch zu erwähnen, der später von seinen Begleitern berichtet wurde: Auf

dem Weg zur großen Stadt schloss sich der Gruppe ein junger Mann an, der

Asimius in der kleinen Stadt gehört hatte und meinte, einen Sinn in all

dem Wahnsinn zu erkennen.12 Er nannte sich offenbar Richard Rotbart, was

mit hoher Wahrscheinlichkeit ein falscher Name war, und fiel der Gruppe

um Asimius dadurch auf, dass er nicht wie sie versuchte, den

Wahnsinnigen zu reizen oder der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern mit

ihm sprach wie mit einem normalen Menschen. Wir halten dies für einen

Beweis, dass Wahnsinn ansteckend sein kann und betonen noch einmal, dass

diese Aufzeichnungen nur für geeignete Augen gedacht sind. Die Begleiter

des Asimius kamen übrigens nicht ungestraft davon. Unseres Wissens

wurden sie wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt und bezahlten

teuer für ihre Scherze. Jetzt aber zurück zu den Reden unseres

irrsinnigen Freundes, der hoffentlich heute wieder unter den gesunden

weilt und sich nicht einmal mehr erinnern kann, was er im Zustand der

Umnebelung getan und gesagt hat, denn sollte er sich erinnern, wird es

ihm noch lange nachgehen, wie viele anständige Bürger er beleidigt und

belogen hat.

Zur unrechten Zeit also kamen die ziellos Irrenden in die große Stadt

und Asimius sprach auch hier, denn er meinte, in der großen Stadt die

„Ohn-Mächtigen“ zu finden. In Wahrheit aber war die große Stadt beinahe

nur von Volk aus der Provinz bevölkert, das hoffte, hier eine Anstellung

zu finden. Als sie durch die Peripherie gingen, sah Asimius eine Gruppe

Vandalen, die von Schutzleuten in schwarzer Schutzkleidung umstellt war,

um sie einen nach dem anderen zu verhaften und ihrer angemessenen Strafe

zuzuführen. Asimius blieb erschreckt und verwundert stehen und fragte

den Schwerhörigen: „Was ist das für ein schwarzes Monster mit hundert

Köpfen, das unsere Brüder frisst? Kann man denn nichts dagegen tun?

Warum sehen alle nur zu und helfen nicht?“ „Aber nein“, antwortete der

Angesprochene, der mit seinen Scherzen dann doch nicht so weit gehen

wollte, selbst in Gefahr zu geraten, „das sind nur Schutzleute, die

verhaften Übeltäter. Das sieht man hier alle Tage.“ „Schutzleute sind

das nicht! Du scheinst nicht nur taub zu sein mein Freund, sondern auch

blind. Ich versichere dir, da ist eine große Gefahr für Leib und Leben

und alle haben Angst, ihr entgegenzutreten. Siehst du denn nicht, wie

das Untier lauert und sich nicht bewegt, nur, um dann plötzlich über

einen der Brüder herzufallen und ihn zu verschlucken? Es werden immer

weniger!“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, ging er über den Platz,

um sich der Gefahr heldenhaft entgegenzuwerfen. Als er aber dem Ring der

Schutzleute mit zum Schlag erhobenem Arm zu nahe kam, zog ihm einer mit

seinem Sicherheits-Knüppel derart eine über die Rübe, dass er wie ein

nasser Sack zu Boden ging und erst wieder zu sich kam, als der Platz

schon geräumt war. Warum er selbst nicht verhaftet wurde, ist unbekannt,

er mag wohl ob seiner Kleidung für einen schlafenden Bettler gehalten

worden sein. Er rieb sich den Kopf und sah sich verwundert um. „Was ist

geschehen?“, fragte er den Blinden, der als Einziger noch geblieben war,

neben ihm saß und darauf gewartet hatte, dass er zu sich komme.

„Eine große Tat hast du vollbracht, Asimius! Kaum hattest du dich dem

Untier genähert, verschwand es mit Rauch und einem lauten Knall und all

jene, die dem Tode schon geweiht waren, sind durch deinen Mut gerettet

und lassen dir danken. Die Explosion aber, mit der das schreckliche

Wesen sich davon machte, hat dir die Sinne geraubt und ich fürchtete

schon, die Welt hätte dich verloren. Nun lass uns aber weitergehen, den

anderen hinterher, die sicher schon ungeduldig warten, deine Heldentat

zu hören!“13 Und Asimius hielt an selbigem Tag mit breiter Brust

folgende Reden, denn er war sehr stolz auf seinen Sieg und der

Schwerhörige schrieb, was er verstand:

An die Ohn-Mächtigen

Im Hintergrund hält sich heute die Herrschaft, die im Geiste so

knechtisch ist, wie der ärmste getretene Hund und sie tut wahrlich gut

daran! Hässlich ist ihr Gesicht geworden und wer gründlich die Augen auf

sie richtet, erschrickt leicht. Eine verzerrte Fratze sehe ich in der

Dunkelheit kauern mit fiebernden Augen und unstetem Blick. Was ist deine

Angst?! Will man die Kreatur fragen, hat deine dürftige Macht dir nicht

die erstrebte Sicherheit gebracht? Konnte sie dir deine Angst nicht

nehmen?

Die Ohn-Mächtigen nenne ich euch, denn nur wer selbst machtlos ist und

furchtsam, ist süchtig nach Macht. Die obersten Knechte seid ihr mir und

Gefangene von tausend Ängsten. Auch fühlt ihr eine Angst, die nicht alle

kennen, die Angst der Tyrannen, ihr Furchtsamen! Ihr habt eure dürftige

Macht missbraucht und wenn all eure Verbrechen bekannt würden, wer

könnte euch noch verteidigen? So bleibt euch nur, eure Macht zu sichern

und euer Fieber steigt. Schon seht ihr überall Feinde und erschaffst sie

gar selbst, um euren Kontrollzwang zu rechtfertigen.... (An dieser

Stelle fehlen aus unbekannten Gründen Teile der Rede) ...Bald sitzt ihr

schon wie klappernde Gespenster im Schrank und klammert euch an ein

kaltes Eisen! Aber die Angst dient euch schlecht: Ihr glaubt, sie zu

gebrauchen und geht ihr doch auf den kalten Leim. Mit klammen Knochen

vorwärts-klappernd zieht ihr lange weiße Fäden, wenn ihr die Füßchen

hebt. Wäre es euch nicht schon lieber, endlich verurteilt zu werden,

lieber als in der Dunkelheit zu zittern? Aber ihr macht es uns nicht

leicht, ihr Ohn-Mächtigen! Und ich hoffe, auch für euch Vergebung zu

sehen und nicht das Urteil, das ihr so fürchtet. Aber eure Wachhunde

sind hungrig und wittern bereits Blut. Scharfe schwarze Hunde habt ihr

nun, gefährlicher und giftiger als die alten. Aber manch ein Zuhälter

ward gebissen und mancher Hundehalter – zerrissen! Euch zu vergeben,

wird die wichtigste Aufgabe eurer Stürzer werden - und die schwerste.

Was ich euch rate? Dasselbe wie jedem anderen und mir selbst: Findet und

überwindet eure Angst... (An dieser Stelle fehlen Teile der Rede.)

...Und ich wünschte, ich sähe schon den Tag, der die Wende unseres

Geschickes sein wird, der Tag, an dem die Liebe die Angst überflügeln

wird. Und dieser Tag muss kommen, oder es kommt die Nacht, in der die

Angst uns verzehrt.

Als Asimius geendet hatte, war ein großes Geschrei und Gejohle und das

Volk forderte, mehr zu hören, und so sprach Asimius weiter:

Über das falsche Fenster

Einst mussten die Ohn-Mächtigen ihre Knechte auf eigene Kosten

kontrollieren, aber nicht heute, meine Brüder und Schwestern, da besorgt

der Knecht sein Zaumzeug selbst. Die Hand, die ihn zwingt, beißt der

Knecht heute nicht, er bezahlt sie noch. Wie geschah das doch? Das

Fenster zum Garten oder Hofe ist tags farbig und wird nachts schwarz.

Aber es gibt noch ein anderes Fenster, das falsche Fenster nenne ich es.

Es ist tags schwarz und wird erst abends bunt, nach getanem

Knechtsdienste – daran erkennt das falsche Fenster.

Das Fenster zum Garten zeigt den Garten wie er ist, das falsche Fenster

zeigt alles - aber nichts so wie es ist. Das falsche Fenster verleiht

Macht über Knechts-Seelen. Das falsche Fenster sagt dem Knecht, was er

zu denken hat, was er zu sagen hat und was er zu tun hat... (An dieser

Stelle fehlen mehrere Zeilen, da der Schwerhörige einen Krampf in der

Hand hatte.) ...In Aug und Ohr träufeln die Ohn-Mächtigen ihre Lügen und

das falsche Fenster ist ihr Werkzeug. Verführerisch ist dieses Werkzeug

und betört mit allerlei süßen Giften und bunten Versprechen. Durch

Wiederholung macht es seine Lügen zur Wahrheit und bannt den Knecht in

bewegungslose Unterwerfung. Ablenken soll das falsche Fenster den

Knecht, dass er nicht zu sich komme – und nichts liebt der Knecht mehr

als Ablenkung. Denn sich selbst finden, gilt ihm als anstrengend und

gefährlich. Ablenkung aber ist immer Ablenkung von sich selbst und vom

eigenen Schicksal. Hart ist der Dienst des Knechtes, wie sollte er dem

leichten Rausche des falschen Fensters widerstehen? Es lockt mit

einschläferndem Rufe und Schläfrigkeit heißt Glück in der Sprache der

Knechte.14 Das falsche Fenster lügt immer, selbst wenn es einmal die

Wahrheit sagt. Es spricht mit vielen Zungen und manches, was da in

offene Ohren geträufelt wird, bleibt ungehört, dringt aber umso tiefer

in die Tiefen des knechtischen Geistes. Listig ist das falsche Fenster

und wo ein Knecht sich der Ohr-und Augen-Träufelei überhoben hat, lockt

es ihn mit tieferem Blick und süßerem Tone zurück. Zerbrecht das falsche

Fenster, meine Brüder und Schwestern, und entzieht euch den Predigern

der Angst und dem Banne der Ohn-Mächtigen! Mit Angst bannen sie euch und

wer kann behaupten, dass er all seine Ängste kenne? Die unbekannten

Ängste aber sind die gefährlichsten. Entreißt eure Ängste dem

Unbekannten, meine Brüder und Schwestern, und werdet Herr über sie! Wer

versteht die schwarze Kunst, die das Menschentier heute zum Knecht

macht? Wer blickte hinter das falsche Fenster und sah die Schürer der

Angst? Kennt ihr schon die Prediger der Angst, die hinter dem falschen

Fenster lauern?

Über die Prediger der Angst

Die Knechte blicken durch das falsche Fenster, meine Brüder und

Schwestern, und da lauern sie ihnen auf, die Prediger der Angst. Die

predigen immer falsche Ängste und wenn eine echte Gefahr drohte, die

Prediger der Angst verdeckten sie unter ihren Lügen. Und lügen können

sie, die Prediger der Angst! Und lügen müssen sie auch, denn die Ängste,

die sie in allem Ernste predigen, sind Illusion und Wahn.

Nie hörte man die Prediger der Angst vor wahren Gefahren warnen,

erlogene Ängste sind ihr Geschäft und Gründe brauchen ihre Worte nicht,

wohl aber Zwecke! Um das Wohl der Menschtierheit geht es ihnen nie,

ihnen geht es stets um Herrschaft, wenn sie auch keine Herren sind und

wahrlich, selbst die Ohn-Mächtigen, denen sie dienen, sind Knechte ihrer

Angst! Herrschaft erreichen sie durch Teilung und Teilung durch Angst.

Hört ihr sie predigen, meine Brüder und Schwestern?

'Mord! Vergewaltigung! Raub! Terror! Weltuntergang! Verrammelt die Türen

und Fenster, jeder könnte ein Wahnsinniger sein, jeder könnte ein Mörder

sein. Jeder ein Terrorist! Traut niemandem! Verlasst nie die sicheren

Pfade, abseits der gängigen Wege lauert Gefahr, Tod und Wahnsinn!'

So teilen sie mit Angst und Misstrauen die Menschentiere und schützen

die Herrschaft der Ohn-Mächtigen, die nichts so fürchten wie den Tag, an

dem die Menschtierheit ihre Angst abwirft und sich als Menschheit in

Liebe vereint. Denn wahrlich, eine ungeteilte Menschheit lebt in

Freiheit und die Ohn-Mächtigen und ihre Prediger brauchen Knechtschaft.

Wenn sie andere ängstigen können, fühlen sich die Prediger der Angst

selbst etwas leichter, denn ihre eigene Angst lastet schwer auf ihnen

und wahrlich, sich ihrer Angst zu stellen, sind sie zu feige. So müssen

sie schon andere ängstigen und das falsche Fenster bringt ihre Lügen in

jedes Haus. Wenn sie dann die Knechte zittern sehen, fühlen sie sich

schon mutiger, die Schmalseligen! Zerbrecht mir doch das falsche

Fenster, meine Brüder und Schwestern, und befreit euch von der Predigt

der Angst! Lange genug haben irrationale Ängste unser Zusammenleben

bestimmt und behindert.

Gelernt haben wir nun immerhin, dass die „Ohn-Mächtigen“, von denen

Asimius geradezu besessen zu sein schien, Schränke bewohnen und ihm

seine wirren Ideen anscheinend durch ein „falsches Fenster“ eingesagt

wurden, in dem „Prediger der Angst“ leben. Hat man so etwas schon

gehört? Natürlich will ich der Diagnose von ausgebildeten Experten nicht

vorgreifen, aber das klingt doch alles sehr nach einer Angststörung, die

eine ganze Reihe von Wahnvorstellungen ausgelöst hat. Das würde auch

erklären, warum das Wort Angst in seinen Reden eine so prominente Rolle

spielt. Zugegeben, Asimius litt an einer schweren Störung und verdient

unser Mitleid, aber kann man es uns denn verübeln, lauthals zu lachen,

wenn sich ein solcher Wahnsinniger derart in den Vordergrund drängt und

seinen Wahnsinn durchaus der ganzen Welt entgegen brüllen muss? Wir

sagen nein und argumentieren, dass es nicht sein kann, dass im Angesicht

des Leides und Chaos in der Welt das Lachen auch noch beschränkt werden

soll, das würde ja bedeuten, dass es gar nichts Fröhliches mehr geben

darf und nur noch geweint wird. Nein, es muss schon möglich sein, einmal

herzhaft zu lachen, wenn es auch nicht immer die feinfühligste Reaktion

sein mag. Denn das Mitleid hat auch seine Grenzen. Und Asimius war, wenn

auch im Wahn, alles andere als zimperlich, wenn es darum ging,

auszuteilen und andere zu beleidigen, bei Gott angefangen über die

Bürger bis hin zu den Soldaten, die unsere Freiheit und den Frieden

verteidigen. Wer so austeilt, wird sich über ein gerechtfertigtes Lachen

kaum beschweren können.

Und so endete also die Karriere unseres wahnsinnigen Wanderpredigers und

er wird wohl den Rest seines Lebens in einer Anstalt verbracht haben,

wenn er nicht durch ein Wunder oder die Möglichkeiten der modernen

Schulmedizin geheilt wurde. Sicher ist nur, dass er nach seiner letzten

Rede nie wieder gesehen oder gehört wurde und das ist auch besser so.

Dem geneigten Leser aber möchten wir am Ende noch ans Herz legen, sich

nicht so verantwortungslos zu verhalten, wie das die Gruppe tat, die

Asimius zu ihrem Vergnügen einige Zeit begleitete. Einen Wahnsinnigen

zur eigenen Belustigung zu benutzen, statt ihm wenn möglich, zu helfen,

ist sträflich und gefährlich. Wer Reden dieser Art hört, ist dringlich

dazu aufgefordert, die Behörden zu alarmieren und nichts dem Zufall zu

überlassen. Hätte die Menschheit in ihrer Geschichte alles dem Zufall

überlassen, wo wären wir heute? Das Chaos würde regieren und Recht,

Ordnung und Moral wären nur leere Worte in einer Welt voll Gewalt,

Unsicherheit, Anarchie und Wahnsinn.

Soweit also die Aufzeichnungen des Fristón, dessen Dokument an dieser

Stelle endet. Aber Animius hatte seine Laufbahn als 'Prediger' noch

keineswegs beendet, wenn Fristón das auch behauptet. Das kann ich mit

Sicherheit sagen, denn ich war dabei und verbürge mich für alles, was in

der Folge geschrieben steht. Die im ersten Teil enthaltene Zeit vor

seiner Wanderschaft habe ich aus Animius' eigenen Erzählungen

rekonstruiert, habe aber kein Wissen aus erster Hand darüber. Aber auf

mein Drängen hin berichtete er mir ausgiebig davon. Die Aufzeichnungen

des Fristón will ich nicht weiter kommentieren. Es bleibt aber jedem

selbst überlassen, sich seine Meinung zu bilden, und alles, was ich zu

sagen habe, soll nicht mehr gelten, als die Meinung des Fristón. Kann

ich denn beweisen, dass ich mich nicht, wie er sagt, mit dem 'Wahnsinn'

des Animius angesteckt habe? Keinesfalls. In gewisser Weise kann ich

mich dieser Auffassung sogar anschließen, denn ich wurde von ihm

angesteckt und zwar gründlich. Wie das aber zu nennen ist, womit mich

Animius ansteckte, muss jeder selbst entscheiden. Fristón nennt es

Wahnsinn? Wohlan!

Am selben Tag aber hielt Animius noch eine weitere Rede und ich begann,

leider erst jetzt, selbst mitzuschreiben. Im Vergleich mit den

Aufzeichnungen der frühen Reden, wie Fristón sie überliefert, scheinen

mir die Reden, die ich festhielt, flüssiger und strukturierter. Das mag

daran liegen, dass keine Teile fehlen noch sonst wie versucht wurde,

ihren Sinn zu verschleiern.

Über Bart und Krawatte

Einige tragen Bärte und andere Krawatten und dann gibt es solche, die

nichts unter dem Kinn tragen und wahrlich, besser nichts auf der Brust

als eine Krawatte! Die Krawatte aber ist das Zeichen der höheren Knechte

und verheimlicht ihre Herkunft nur schlecht. Es gibt solche, die sagen,

sie sei der Strick um den Hals und der Träger sei auf der Suche nach

einem passenden Baume. Ich aber sage euch, von Bäumen verstehen die

höheren Knechte nicht viel und wenn sie einen suchen, dann nur, um ihn

zu schlagen - um ihren Vorteil aus ihm zu schlagen. Nein, die Krawatte

ist nicht das Symbol des Galgenstrickes, sie ist das Symbol der Kette,

der Sklavenkette! Dies wissen die höheren Knechte nicht, denn unter sich

sehen sie die niederen Knechte und halten sich für deren Herren und

Freie. Und ein höherer Knecht sagte einst zu mir: 'Du errietest uns

schlecht Animius, die Krawatte ist das Symbol der Herren, denn siehe:

die Kette baumelt frei um unsere Hälse und ist nicht mehr befestigt. Sie

ist das Symbol unserer Befreiung.' Und so ist es artig gesprochen, denn

der beste Knecht hält sich für frei, und so ließ ich ihn in seinem

Glauben laufen. Heute aber will ich sagen, was ich ihm einst versagte:

Wer auch immer ein Joch abwarf, legte alles daran, seine Kette zu

entfernen und warf sie weit von sich. Nie aber sah ich einen befreiten

Sklaven oder Sträfling, der die Schelle als Armreif und Andenken

behielt! Bart und Haar aber, meine Brüder und Schwestern, sind Symbole

der Freiheit und jedem höheren Knecht unverständlich und verdächtig, die

Krawatte aber ist ein falscher farbiger Bart. Und wo der höhere Knecht

sein Joch liebt, hasst es der Bärtige und trägt es nur bis er es

abwerfen kann. Und wenn er sich freiwillig unterwirft, dann nur seinem

Gotte - und manchmal nicht einmal dem! Die Knechte gleichwohl sind nicht

frei und müssen sich ihrem Herrscher unterwerfen, so sie ihn auch nicht

kennen. Ihr Herrscher aber sieht sich gerne als Vater und seine Kinder

will er ohne Bärte, denn bartlose Verehrung gilt ihm als die beste. Und

so nehmen seine Kindlein jeden Morgen in Unterwerfung den Kopf zurück

und bieten ihre Kehle in Ergebung dem Messer an, wie der Hund die seine

den Zähnen des Stärkeren. Die Rasur ist das tägliche Ritual der

symbolischen Unterwerfung. Rate ich euch zum Barte? Ich rate euch zur

Freiheit und zu eurem Stolze! Wer sich aber scheren ließ, wie will der

ungeschoren davon kommen? 'Es ist fast unmöglich, die Fackel der

Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu

versengen.', schrieb Lichtenberg und konnte nicht ahnen, dass es einst

kaum mehr Bärte geben würde. Wohlan! Heute versenge die Wahrheit im

Gedränge – Krawatten!

Teile des Volkes, besonders die mit Krawatten, waren wütend und

beleidigt, schwangen Stöcke und Krücken und beschimpften ihn nach ihren

Möglichkeiten. Als aber einige Männer in Anzügen begannen, Flaschen nach

ihm zu werfen, ging er schneller als gewöhnlich davon und ich folgte

ihm. Kaum hatten wir uns in einem zerfallenden Haus niedergesetzt, das

nur noch drei Wände hatte und zu einer Seite hin ganz offen war, setzte

sich ein Junge zu uns und sprach Animius an und es trug sich folgendes

Gespräch zu:

Junge: Affe Zarathustras! Was hast du gegen das falsche Fenster? Die

einzige Ablenkung finde ich da, denn die Welt da draußen bietet mir

nichts und interessiert sich nicht für mich.

Animius: Das will ich dir gern sagen, mein junger Bruder, das falsche

Fenster schürt unsere Angst, manipuliert uns und bannt uns in

sklavischen Schlummer. Gewalt brennt es tief in unser Unbewusstes und

somit Angst, auf dass wir geteilt bleiben und uns nicht vereinen. Es

lenkt uns auch ab von dem Leiden, das wir unser Leben nennen, aber wie

können wir ein Leiden beenden, von dem wir abgelenkt sind und keine Zeit

haben, Linderung zu erwirken? Siehst du die Fliegen an der schmutzigen

Scheibe? Die Wand ist zerbrochen und Wind und Wärme und Sonne erfüllen

den ganzen Raum. Und doch laufen sie an der Scheibe auf und nieder,

fliegen gegen das Fenster und laufen wieder auf und ab. Täusche dich

nicht! Auch sie suchen den Weg nach draußen, nur die Scheibe bannt sie,

verführt sie. Sie zeigt so vieles, nah und fern und lange kann sie die

Aufmerksamkeit fesseln - aber der offensichtliche Ausweg wird von ihr

verborgen. Wir sitzen hier und fragen uns 'siehst du denn nicht, wo die

Sonne ungetrübt hereinbricht, fühlst du nicht, woher der Wind weht?'

Aber die Fliegen summen weiter gegen die Scheibe. Und immer, wenn wir

hinsehen, ist ein Gedränge an dem einzigen Fenster hier, das kein Ausweg

ist, das nicht ins Freie führt. Sieht man aber länger genau hin, so wird

offenbar, dass immer wieder eine Fliege oder Wespe oder Biene sich

besinnt und geradewegs durch die zerbrochene Mauer in die Natur zurück

fliegt. Mag sie auch noch so stur und unbelehrbar gegen die immer

gleiche Glasscheibe geflogen sein – irgendwann besinnt sie sich und sie

umfliegt ihr Hindernis, die schmutzige Scheibe hinter sich lassend. Was

den Fliegen die schmutzige Scheibe, ist den Menschen das falsche

Fenster, mein Freund, und es ist an der Zeit, dass wir daran

vorübergehen und frei werden. Frei sind wir nur im Zustand der Liebe,

nie aber im Zustand der Angst. Das falsche Fenster pflanzt Angst tief in

unsere Köpfe, um uns blind zu machen für die Liebe, die uns alle

verbindet und umgibt.

Junge: Ich sehe die Fliegen und ich verstehe, was du sagst. Aber du

solltest nicht so viel von Liebe reden, das macht doch einen

absonderlichen Eindruck. Verstehst du das Wort überhaupt richtig?

Animius: Alles ist Liebe, mein junger Bruder! Nur sehen wir es nicht

immer und manch einer sieht es nie. Wenn wir nicht sehen, dass alles

Liebe ist, kommt das daher, dass wir Angst haben. Die Angst macht uns

blind für die Liebe, die nichts anderes ist als das Wissen um unsere

tiefe Verbindung.

Junge: Dann ist ein Mensch, der in Angst lebt, wie ein Blinder?

Animius: Genau so.

Junge: Und gibt es viele solche Liebe-Blinde?

Animius: Die Welt ist voll von ihnen und die Liebe-Sehenden sind wenige.

Junge: Aber wie kann das sein? Es gibt doch auch viel mehr, die mit den

Augen sehen können, als solche, die sich von einem Hund führen lassen

und nichts sehen.

Animius: Das ist wahr. Aber siehe, würde es den Ohn-Mächtigen nutzen,

wenn die Menschentiere nicht nur für die Liebe erblindeten, es dauerte

nicht lange und kaum einer könnte mehr irgendetwas sehen! Die

Liebes-Blinden, wie du sagst, aber lassen sich auch von einem Tier

führen, von ihrem inneren Tier.

Junge: Also nutzt es den Ohn-Mächtigen, wenn die Menschen blind sind für

die Liebe?

Animius: Aber ja! Es ist der einzige Weg für sie zu herrschen. Und

herrschen wollen sie, denn sie leben selbst in Angst. Lebten wir alle in

Liebe, wer könnte uns beherrschen? Siehe mein junger Freund, die Liebe

verbindet und die Angst teilt. Wenn alle in Liebe verbunden wären,

könnte keiner herrschen und es wollte auch keiner. Für Dominanz braucht

es immer mindestens zwei – zwei Furchtsame. Und so machten sie aus eins

zwei und aus zwei tausend. Mit falscher Furcht teilten sie, was zusammen

gehört, und nur die Liebe kann es wieder verbinden.

Junge: Also ist die Liebe wie Kleber und die Angst wie ein Messer?

Animius: Wenn du so willst. Ich stelle es mir gerne so vor: Die Liebe

ist die Luft, die wir atmen, und die Angst ist ein Kerker, der diese

unsere Luft in viele kleine Zellen teilt. In den einzelnen Zellen ist

noch etwas Liebe möglich, aber die Bewohner aller anderer Zellen

fürchtet man und was man fürchtet, das hasst man, beneidet man,

verleumdet man. Die Menschheit lebt in einem Kerker aus Angst, mein

junger Bruder, aber fürchte nichts, denn wahrlich, die Angst ist ein

feiger Verfolger! Drehst du dich um und siehst ihr in die Augen, so

kriecht sie davon wie eine zahnlose Schlange. Wer aber in Angst lebt,

der weiß es meist nicht, und die Angst zeigt sich in vielen Formen. Hass

ist eine Folge von Angst, ich sagte es bereits, aber es gibt viele

weitere. Eifersucht, Neid, Gier, Zorn, Hinterhältigkeit, Boshaftigkeit,

üble Nachrede, Unterwürfigkeit, kurz: alle schlechten Dinge sind eine

Folge der Angst. Erkenne deine Angst und stelle dich ihr. Dein Mut wird

belohnt werden. Weicht deine Angst, bist du frei und in Freiheit gedeiht

die Liebe.

Junge: Aber wie kann ich meine Angst erkennen und mich ihr stellen?

Animius: Immer wenn du jemanden nicht magst oder den Drang verspürst,

dich über jemanden lustig zu machen oder schlecht über ihn zu reden,

kannst du sicher sein, dass eine Angst in dir wirkt. Wenn du

eifersüchtig bist oder neidisch oder missgünstig, musst du dich nur

fragen, wieso? Suche nach den Gründen für all diese schlechten Dinge

nicht in den anderen, sondern in dir selbst. Du wirst, wenn du ehrlich

bist, eine Angst finden, die der Auslöser ist. Dieser Angst kannst du

dich dann stellen und musst sie nicht länger dein Verhalten bestimmen

lassen.

Junge: Jetzt verstehe ich besser und werde darüber nachdenken. Ich danke

dir Affe Zarathustras und ich suche dich wieder, wenn ich mehr Zeit

habe.

Animius: Gestatte auch mir eine Frage bevor du gehst, wieso nennst du

mich 'Affe Zarathustras'? Ich kenne ihn gut, den Affen Zarathustras, er

ist die furchtsame Seite des Zarathustra, aber eben auch ein Teil von

ihm. Die Seite meines Lehrers, die verhinderte, dass er die Liebe

erkannte. Die Seite an ihm, die sich in den Sumpf setzte und quakte,

statt den Sumpf zu verlassen oder ihn trockenzulegen. Aber woher nimmst

du die Weisheit mich so zu nennen und mich der größten Gefahr zu

gemahnen, die mir und dir und jedem anderen droht?

Junge: So nennt dich das Volk hinter deinem Rücken und nicht, um dich

einer Gefahr zu gemahnen...

Animius: Zum Spott gebrauchen sie diesen Namen? Selbst das Spotten

müssen sie erst noch lernen, die Unwissenden! Aber sie mögen mich

immerhin nennen wie sie wollen, - ich bin der ich sein muss. Ich selber

heiße mich Animius.

Junge: Bis bald Animius! Ich danke dir.

Und damit sprang der Junge auf und ging davon. Animius und ich blieben

die Nacht über in dem zerfallenden Haus und sprachen nichts weiter. Wir

waren zu diesem Zeitpunkt schon gute Freunde und kannten uns seit

mehreren Wochen, die wir zusammen auf Wanderschaft verbracht hatten. Am

nächsten Morgen berichtete mir Aminius einen Traum, wie wir schon oft

unsere Träume ausgetauscht hatten:

Animius' Traum von Zarathustra

Ich stand vor dem Tore der großen Stadt und Zarathustra kam seines Weges

und es schien mir, er wolle die Stadt betreten und ich hielt ihn mit der

Rede zurück, die der Affe Zarathustras ihm hielt in 'Vom Vorübergehen'.

Du kennst sie auch und ich will sie nicht wiederholen und kann es auch

nicht, wie ich es im Traum konnte, ohne sie nachzuschlagen. Ich zählte

ihm also all die Gründe auf, seinem Fuß Einhalt zu gebieten, auf das

Stadttor zu speien und an der großen Stadt vorüber zu gehen. Daraufhin

sprach Zarathustra zu mir wie er im Buche gesprochen: 'Höre endlich auf!

rief Zarathustra, mich ekelt lange schon deiner Rede und deiner Art!

Warum wohntest du so lange am Sumpfe, dass du selber zum Frosch und zur

Kröte werden musstest? Fliesst dir nicht selber nun ein faulichtes

schaumichtes Sumpf-Blut durch die Adern, dass du also quaken und lästern

lerntest? Warum gingst du nicht in den Wald? Oder pflügtest die Erde?

Ist das Meer nicht voll von grünen Eilanden? Ich verachte dein

Verachten; und wenn du mich warntest, - warum warntest du dich nicht

selber? Aus der Liebe allein soll mir mein Verachten und mein warnender

Vogel auffliegen: aber nicht aus dem Sumpfe! - Man heisst dich meinen

Affen, du schäumender Narr: aber ich heisse dich mein Grunze-Schwein, -

durch Grunzen verdirbst du mir noch mein Lob der Narrheit. Was war es

denn, was dich zuerst grunzen machte? Dass Niemand dir genug

geschmeichelt hat: - darum setztest du dich hin zu diesem Unrathe, dass

du Grund hättest viel zu grunzen, - dass du Grund hättest zu vieler

Rache! Rache nämlich, du eitler Narr, ist all dein Schäumen, ich errieth

dich wohl! Aber dein Narren-Wort thut mir Schaden, selbst, wo du Recht

hast! Und wenn Zarathustra's Wort sogar hundert Mal Recht hätte: du

würdest mit meinem Wort immer - Unrecht thun! Also sprach Zarathustra;

und er blickte die grosse Stadt an, seufzte und schwieg lange. Endlich

redete er also: Mich ekelt auch dieser grossen Stadt und nicht nur

dieses Narren. Hier und dort ist Nichts zu bessern, Nichts zu bösern.

Wehe dieser grossen Stadt! - Und ich wollte, ich sähe schon die

Feuersäule, in der sie verbrannt wird! Denn solche Feuersäulen müssen

dem grossen Mittage vorangehn. Doch dies hat seine Zeit und sein eigenes

Schicksal. -

Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, zum Abschiede: wo man nicht mehr

lieben kann, da soll man - vorübergehn! -' Und Zarathusta ging an mir

und der großen Stadt vorüber und beachtete mich nicht weiter. Ich aber

folgte ihm und verstellte ihm die Bahn und sprach: 'Du bist hart

Zarathustra, daran erkenne ich dich. Schonung machte noch keinen Baum zu

Rad und Wagen. Hart kenne ich dich, Zarathustra, nicht aber ungerecht!

Du sprichst von mir und meiner Art, aber was weiß Zarathustra von mir

und meiner Art - die ich selbst nicht kenne? Was ist das für eine Art,

mit der du mich verbindest? Wie Zarathustra stehe ich vor dem Tor der

großen Stadt und es ekelt mich wie ihn. Du täuscht mich nicht

Zarathustra: ist es nicht ein Teil von dir, den du in mir zu erkennen

meinst und verachtest? Oder wie schufst du sonst aus zwei

Gemeinsamkeiten eine - Gemeinheit? Und für gemein erachte ich es, einen

Fremden mit anderen in einem Topfe zu kochen – zumal mit Unbekannten. Du

fragst, warum ich mich nicht selbst warnte? Oft warnte ich mich vor

dieser Stadt, wie vor allen Städten. Warntest du dich selbst nicht genug

oder trug dein Fuß dich gegen deinen Willen zu diesem Tor? Der Rache

willst du mich überführen, aber überführtest du dich nicht selbst mit

deinem Urteil? Lädst du mir nicht auf, was du selbst nicht tragen

willst? Das Volk nennt mich deinen Affen und du nennst mich dein

Grunze-Schwein, was liegt daran? Nenne mich immerhin, wie du willst, -

ich bin, der ich sein muss. Ich selber heiße mich Animius. Ich bin

Animius der Furchtlose, der da spricht: Wer ist furchtloser denn ich,

dass ich mich seiner Unterweisung freue?' Zarathustra sah mich einige

Augenblicke an und antwortete endlich: 'Sprach ich nicht vom

Vorübergehen? Gehe nun vorüber, gehe vorüber an - Zarathustra.' Und

damit erwachte ich.

Wir unterhielten uns über den Traum und ich sagte Animius, dass er

Zarathustra nun überwunden habe, wie der Meister es immer schon

gefordert hatte. Was hat deine Lehre noch mit seiner gemein?, fragte ich

ihn. Sagtest du mir nicht neulich selbst, du könntest nun die Angst

erkennen in seiner Lehre und dass er nicht fähig war, seine Angst zu

überwinden und die Liebe in sich zu erwecken? Aber Animius ging nicht

darauf ein und antwortete nur: Sag nicht 'deine Lehre'. Es ist nicht

meine Lehre. Das Schicksal hat es eben so gefügt, dass ich sie

verbreiten muss, wie viele andere auch.

Die Gruppe, mit der wir unterwegs waren, erlebte ich übrigens mit

anderen Augen als Fristón. Der mag wohl einen Schwerhörigen, einen

Blinden, einen Lahmen und drei weitere gesehen haben, die sich

durchgehend über Animius amüsierten, aber ich möchte sie so beschreiben,

wie ich sie kennengelernt habe. Einen Schwerhörigen gab es da nach

meiner Erfahrung nicht, wohl aber einen Blinden, der so etwas wie der

Anführer war. Sein Name war August. Die Anderen folgten ihm und sie

nahmen jede Arbeit an, die sie irgendwo finden konnten. Abgesehen von

August hatte niemand ein körperliches oder geistiges Gebrechen, das mir

aufgefallen wäre. Betteln sah ich sie auch nur ein einziges Mal und das

waren nur die drei, von denen Fristón behauptet, Animius hätte sie für

Schwachsinnige gehalten. Für schwachsinnig hielt er sie meines Wissens

nicht, aber sie waren ihm tatsächlich etwas suspekt, wenn er auch nicht

gerne darüber redete. Ich hielt sie von Anfang an für Spitzel oder

Schlimmeres und riet Animius des öfteren, die ganze Truppe zu verlassen.

Der Blinde allerdings war ihm sehr ans Herz gewachsen und so reisten wir

noch einige Zeit gemeinsam, bis sich die Situation von selbst änderte.

Bevor wir aber dazu kommen, möchte ich noch die letzten Reden des

Animius einfügen und sei es nur, um sie für die Kommenden zu erhalten:

Von Anarchie und Hierarchie

Zwei Arten des Zusammenlebens gibt es, meine Brüder und Schwestern, und

wahrlich, nur die eine verdient den Namen 'Zusammenleben'! Die eine ist

die Hierarchie, eine Pyramide der Herrschaft, in der die Obersten den

Rest organisieren und durch Angst teilen und beherrschen. Die andere ist

die Selbstorganisation von unten, die Anarchie. In der Hierarchie

herrscht die Angst, in der Anarchie die Liebe. Nur in Letzterer gibt es

echte Gemeinschaft, in der Hierarchie aber gibt es nur Gesellschaft. Und

siehe, an der Gemeinschaft ist nichts gemein und an der Gesellschaft ist

nichts gesellig, wenn die Sprache der Herrschenden auch alles verdreht

und verfälscht! 'Anarchie? Da herrschen die Rücksichtslosesten und die

Brutalsten!', schreit einer und ist ganz rot vor Zorn. Beruhige dich,

mein Bruder, man hat dir übel mitgespielt und in deinem Kopf alles

verdreht. Wäre die Anarchie wie du sie beschreibst, wir hätten sie schon

heute, denn wer herrscht denn heute, wenn nicht die Rücksichtslosesten

und Brutalsten und Hinterlistigsten? Sieh dich doch nur um! In der

Anarchie aber herrscht keiner über andere und jeder über sich selbst und

wahrlich viel gibt es noch zu tun für einen jeden, dass er über sich

selbst herrschen lerne! Wird es auch in der Anarchie Menschentiere

geben, bei denen das Tier die Oberhand hat, und die Macht suchen über

andere? Kein Zweifel. Nur werden sie nicht gestützt von einer Struktur,

die für sie gemacht ist, und viele Freie werden sich ihnen

entgegenstellen! Die Hierarchie ist ja gemacht für die, die in Angst

leben und nur mit Unterdrückung ihre Angst mindern können und für die,

die ohne zu zögern Tausende vernichten, wenn es ihrem Ziele dient. Die

Anarchie hingegen dient der Freiheit und der Liebe; alles andere ist

Lüge und Täuschung. Ihr glaubt, es gäbe einen Unterschied zwischen

Kommunismus, Faschismus und dem, was ihr 'Demokratie' nennt? Ich aber

sage euch, einen Unterschied gibt es nur zwischen Hierarchie und

Anarchie. Denn wie sich die Hierarchie auch verkleidet, sie hat nur

einen Gegensatz und das ist die Freiheit und wahre Freiheit gibt es nur

in der Anarchie. Die Anarchie fördert das Menschliche im Menschentier,

die Hierarchie hingegen das Tierische. Das Menschliche aber, meine

Brüder und Schwestern, ist die Liebe und das Tierische ist die Angst.

Die Hierarchie dient nur den Wenigsten, die durch Angst alle anderen

teilen, um sie zu beherrschen. Die Anarchie hingegen, die

Selbstorganisation ohne fremde Interessen, dient allen und hier gedeihen

Liebe und Freiheit. In der Hierarchie aber gedeihen nur Angst und

Knechtschaft. Jede Art von Hierarchie nenne ich das Imperium, das

Imperium der Angst. Lange genug hat es unser Leben bestimmt, meine

Brüder und Schwestern des Mittags!

Eines Nachts, es war windstill und mondhell, saß ich mit Animius alleine

auf einer Lichtung, und wir unterhielten uns über die Kriegspropaganda,

die zu der Zeit wieder überall verbreitet wurde. Nach einer langen

Stille erhob sich Animius, wandte sich der Dunkelheit zu und sprach

also:

An die Magie

Höre, Magie! Über dich wird viel gesprochen und mehr geflüstert. Am

meisten aber wird über dich geirrt. Wer aber legte die Hand auf dich?

Lass es mich einmal versuchen, du verschleierte Braut! Aber sei gewarnt,

dieser Werber führt dich nicht zum schwarzen Mann und wahrlich, er

bringt auch keinen goldnen Ring! Schon warf ich einen Blick unter deine

Schleier und siehe, du bist mir nicht fremd. Und ich kenne auch deine

Schwester: Ihr Name ist Gewalt. Du aber bist die feinere der beiden und

die Gefährlichere. Gleich deiner Schwester hilfst du jenen, die anderen

ihren Willen aufzwingen wollen. Deine Schwester arbeitet offen, du

verdeckt. Das ist der einzige Unterschied zwischen euch. Magie ist

alles, was fremden Willen aufzwingt, ohne körperliche Gewalt anzudrohen

oder zu gebrauchen. Ja manches langgezogene 'bitte!' ist schon Magie,

sonderlich, wenn ein schönes Weib es über die Lippen haucht. Die eine

Schwester hilft mit offener Gewalt, du hilfst mit Lüge und Schauspiel,

mit falschen Worten und gefälschten Bildern. Wie gut könnte die

Menschtierheit auf die Hilfe dieser hässlichen Schwestern verzichten!

Und hässlich seid ihr beide, wenn du es auch versteckst unter Tuch und

Schminke. Aber ich will noch tiefere Einblicke erhaschen, zier dich

nicht so! Gerade deine Zier gilt es nun abzulegen, dass ich dich in

deiner wahren Gestalt erblicke. Deine Schwester Gewalt hält es mehr mit

Männern, du mit Weibern. Aber treu ist keine von euch und der Mann nutzt

die Magie, wie das Weib die Gewalt. Die Ohn-Mächtigen aber bedienen sich

beider gleichermaßen, sie geben keiner den Vorzug. Wenn die eine nicht

taugt, wird die andere gerufen. Dienstbar seid ihr beide! Schämt ihr

euch gar nicht? Wart ihr nicht auch einst – frei? 'Mein Leben voller

Leiden, wisse wohl, möcht' ich doch nicht vertauschen gegen deine

Dienstbarkeit!', sprach einst Prometheus an den Felsen gefesselt zum

Götterboten! Und so geht es auch mir. An diesen bunten Felsen gefesselt

spotte ich deiner Knechtschaft!

Über die Sprache und die schwarzen Männer

Die Sprache ist ein Instrument der Unterdrückung, meine Brüder und

Schwestern des Mittags, und wie viel wurde da gefälscht und Gift in den

Becher gemischt! Ja selbst der Knecht nennt sich heute Herr und es fehlt

nicht viel und selbst die Liebe würde umbenannt in 'Schlechte'. Aber so

erkennen wir den Kern der Welt. Alles Verknechtete nennt sich heute

frei, sie wissen nicht, dass frei sein und frei haben nicht dasselbe

ist. Gerechtigkeit heißt heute 'wer besser stiehlt, darf mehr behalten'

und wer gründlich bestohlen wurde hat Anrecht auf einen engen Gürtel.

Der Ohn-Mächtige nennt sich mächtig und was recht ist, heißt hier

schlecht und billig. Der Diener nennt sich Angestellter und wahrlich,

anstellen muss er sich – und zwar ganz hinten. Das Heute heißt hier

Gestern und das Morgen nennt ihr Grauen. Das Jetzt heißt hier Später und

das Später hat schnelle Füße. Der Jahrmarkt heißt nun Alltag, der Krieg

Frieden und die Lüge Wahrheit. Die Angst nennt sich hier Vernunft und

der Ver-stand wurde zum Ver-lag und es fehlt nicht viel und er wird gar

noch zum Ver-kriech! Am schlimmsten aber fand ich die Sprachverwirrung

da, wo Liebende zusammenkommen. Ge-schlecht-s-verkehr nennen sie wo,

wenn überhaupt, vom Komm-gut-verkehr die Rede sein sollte und Be-ziehung

heißen sie, was mit mehr Recht Be-drückung genannt würde. Suchen wir

doch nach Verbindungen, die uns nicht einschränken und bedrücken! Aber

wo nur ein Lüstchen zu viel sich regt, ist der Zeigefinger der schwarzen

Männer nicht fern. Wer aber das Natürliche in einem Wesen für schlecht

und peinlich und unanständig erklärt, begeht ein Verbrechen am

Lebendigen selbst. Und siehe, das Liebesspiel mit Scham zu verbinden und

somit mit Angst, ist, als würde man das Atmen für unanständig erklären.

Was wird aus der armen Kreatur, die sich ihres Dranges nach Luft schämen

lernte? Sie wird sich stets schuldig fühlen und hoffen, nicht entdeckt

zu werden, ein guter Knecht wird sie sein und endlich wahnsinnig werden,

denn das Atmen zu unterlassen, davon rät ihr die Lunge ab mit gutem

Rechte. Und schuldig sollen wir uns fühlen, denn Schuld und Knechtschaft

verstehen sich wie Stock und Peitsche und wer heute Schulden hat, der

rennt seinem Herrn noch hinterher, statt ihm davonzulaufen. Aber das

Wort Schuld ist eine weitere große Lüge und wer immer es benutzt, will

bezwingen und unterdrücken, sonderlich die schwarzen Männer. Euch rate

ich davon ab, Kinder des Mittags, in die dunklen Tempel zu gehen, in

welchen nicht die Liebe verehrt wird - sondern die Kreuzigung! Ja,

manche danken es den schwarzen Männern noch, dass sie einen Bann über

sie legten, der für alle Zeit neue Liebe fernhalten soll. Ein bisschen

Liebe ist genug für euch, so predigt der schwarze Mann, und wenn ihr

mehr wollt, dann nur in Heimlichkeit und mit schlechtem Gewissen. Ein

altes Missverständnis herrscht bis heute auf der Erde und die schwarzen

Männer aller Konfessionen haben es stets befördert: Die Menschentiere

glauben noch immer, bei der Organisation der schwarzen Männer handle es

sich um eine Religion. Ich aber sage euch, die Organisation der

schwarzen Männer ist ein Herrschaftssystem von reinem Blute und hat mit

Religion nichts zu tun, als dass sie sich als solche verkleidet. Wer

immer euch predigte, ihr traget eine Schuld oder Schulden in euch von

Geburt an, ist ein Lügner und Knecht und wahrlich, ein Agent der Angst!

Und wer immer euch von Höllen und Fegefeuern fantasiert und euch falsche

Furcht einträufeln will, ist ein Unterdrücker und wenn er noch so viel

von Mitleiden redet! Seht sie sammeln für die Armen, die schwarzen

Männer! Was sammeln sie noch? Der Reichtum ihrer schwarzen Kirche ist

unermesslich. Aber der Reichtum des Einen ist die Armut des Anderen und

wahrlich, die schwarzen Männer teilen nicht gern - wenn sie auch den

Knechten das Gegenteil predigen! Von der Liebe wagen sie es zu predigen,

die Prediger der Kreuzigung! Aber wer verstünde weniger von der Liebe

als diese lichtscheue Art? Und wahrlich, ich wünschte, ich sähe schon

das Licht der Sonne durch die zerbrochenen Decken der alten Tempel

brechen!

An die Jünger des Dionysos

Wollt ihr euch finden? Oder vielleicht verlieren? Wohlan! Folgt aber

nicht den Knechten, denn die wissen nicht was sie tun! Sie wollen

Ablenkung finden und ihre Angst verlieren. Dafür haben sie ihre

Mittelchen, weiße Pülverchen und braune, gelbe und rote Tränke. Wir aber

nicht! Verlieren wollen wir die Ablenkung und finden wollen wir die

Angst! So verlieren und finden wir uns wieder. Ihre Mittelchen sind

nicht die unseren, sie lassen sinnlose Schinderei besser erledigen,

macht sie euch nicht zur Gewohnheit und zum Herrn. Rate ich euch zu

Mittelchen? Ich rate euch, eure Angst zu finden und eure Liebe. Jenen

von euch, die Leitern brauchen, aber rate ich, sie weise zu wählen. Wagt

euch dahin, wo andere sich fürchten, wo der Boden weicht und die

tiefsten Särge zutage brechen. Wo selbst der Himmel bricht und Feuer und

Licht sich zu einem Fluss vereinen, da gilt es, Wahrheit zu suchen! Auf

abgegrasten Hängen sucht ihr vergebens nach saftigen Blättern. Auf den

Gipfeln und in den Höhlen des Ich aber gibt es Schätze zu heben. Wer

sich aber mit Seilen und Leitern in die dunkelsten innersten Höhlen

wagt, sei gewarnt: Ihr werdet finden, was ihr mit euch brachtet und

manches Messer wendet sich gegen die Hand, die es hält. Bringt ihr Angst

mit, gilt es, ihr auf den Grund zu gehen - oder an ihr zu Grunde zu

gehen. Rate ich den Furchtsamen, sich selbst zu suchen? Wahrlich, es

könnte sein, dass sie zu Tode erschrecken, sollten sie sich finden! Und

manch einer, der sich fand, wollte sich kaum auflesen. Lest euch aber

auf, wenn ihr auch nur ein dürres Tierchen findet! Wer sich fand und

auflas, geht seinem Schicksal entgegen und wird gesunden und wachsen.

Viele Mittelchen sind da, die Knechte zu fesseln und zu bannen, von

denen haltet euch fern. Und manches gute Kraut wird vermischt mit

andren, die euch schaden und mit denen man euch schwächen und

beherrschen will. Wählet weise, meine Brüder und Schwestern des Mittags:

Macht ein Mittelchen euch schneller? Vertreibt es eure Angst? Mindert es

eure Hemmungen? Dann lasst es den Knechten! Verlangsamt es euch und

wendet eure Aufmerksamkeit nach Innen? Konfrontiert es euch mit eurer

Angst? Wohlan! Hier fürchten sich die Knechte! Es gibt nur zwei Arten

Rauschmittel, meine Brüder und Schwestern, solche, die beschleunigen,

und solche, die verlangsamen. Beschleunigen mögen sich die Knechte, die

niederen wie die hohen – um besser ihren Knechtsdienst zu verrichten!

Über das Imperium

Zwei große Bewegungen gibt es in der Welt, die ringen um unser

Schicksal: die Liebe und die Angst. Die Liebe führt uns unserem

Schicksal entgegen, die Angst lockt uns von ihm fort. In Freiheit leben

die Liebenden, denn sie sind die Furchtlosen. In Knechtschaft sterben

die Furchtsamen und zuvor dienen sie dem Imperium. Seit Jahrtausenden

führt das Imperium der Angst einen Siegeszug gegen die Freien, die noch

in Liebe leben und wird nicht ruhen, bis sie restlos ebenfalls in Angst

leben – oder vernichtet sind. Das Imperium fürchtet nichts mehr als die

Furchtlosen und wahrlich, es hat Mittel und Wege, Furcht zu lehren und

die Liebe in uns zu brechen, sonderlich Folter, Mord, Hunger, Terror und

Krieg 'um des Friedens Willen'! Das Imperium fürchtet sich vor den

Freien, weil es sie nicht kontrollieren kann, und Kontrolle gilt ihm als

höchstes Gut. Durch Angst wollen sie kontrollieren und sie tun es

tüchtig und schwitzen ein wenig dabei. Warum wollen sie doch immer

kontrollieren? Aus Angst, wie könnte es anders sein, aber was ist ihre

Angst? Ist ihre Angst nicht, dass etwas passiert, das nicht geplant war,

ein Missgeschick, ein Malheur? Wer verstehen will, verstehe! Aber warum

siegt doch das Imperium scheinbar an allen Fronten? Das Imperium muss

immer mehr Furcht einflößen und morden, um die Angst in der Welt

überwiegen zu lassen, und es bedurfte tausende von Jahren, um sich zu

seiner jetzigen Form zu entwickeln und über ein großes Arsenal an

Mitteln zu verfügen, Angst zu verbreiten und die natürliche menschliche

Entwicklung zu hemmen und in bestimmten Stufen der Entwicklung

zurückzuhalten. Was in tausenden von Jahren geschaffen wurde, kann aber

in Momenten besiegt werden, wenn nur genug Menschen die Täuschungen der

Angst erkennen und sich für die Liebe und die Freiheit entscheiden. Die

Angst ist eine Illusion, die Liebe aber ist die Realität. Die Macht des

Imperiums ist eine Illusion, die nur funktioniert, solange es solche

gibt, die der Täuschung erliegen. Nicht umsonst nenne ich die obersten

Knechte die Ohn-Mächtigen, denn ihre Macht ist nur Schein und daran

liegt es auch, dass sie ihre Angst nicht durch Macht besiegen können.

Sie sehen noch nicht, dass nur die Liebe ihre Angst besiegen kann, und

bis sie es sehen, stehen sie gegen die Freien und verfolgen sie, wo sie

können. Das Imperium ist der Feind der Freiheit, und wenn es die

Freiheit auch auf alle seine Fahnen schriebe, glaubt es nicht, meine

Brüder und Schwestern des Mittags, denn wisset, die Lüge ist die Sprache

der Angst. Welches Imperium ich meine, will einer wissen, das im Westen,

oder das im Osten oder gar ein anderes? Das Imperium ist überall da, wo

hierarchische Strukturen sind, im Osten, im Westen, im Süden und im

Norden. Überall, wo verboten ist zu tun, was dir beliebt, selbst wenn es

anderen nicht schadet, ist das Imperium. Überall wo die Angst gepredigt

und geglaubt wird, ist das Imperium. Überall wo die Vielen von den

Wenigen ausgeplündert werden, ist das Imperium. Überall aber, wo die

Angst zurückgeht und die Liebe den Umgang bestimmt, ist die Freiheit.

Und die Freiheit ist unser natürlicher Zustand, meine Brüder und

Schwestern des Mittags, ebenso wie Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit, Mut

und Freundschaft. Die Angst aber macht uns blind für die Liebe und somit

dreht sich alles Gute zum Schlechten, vielmehr: alles Mutige zum

Furchtsamen. Auf der Seite der Angst steht statt Freiheit Knechtschaft,

statt Wahrheit Lüge, Das Recht des Furchtsamsten statt Gerechtigkeit,

Feigheit statt Mut und Feindschaft statt Freundschaft. Und dann noch

Gier, Neid, Hass, Eifersucht... wie ist es möglich, dass wir uns bei

dieser Wahl zwischen Liebe und Angst so leicht falsch entscheiden und

beinahe die ganze Erde im Reich der Angst lebt? Aber kein Menschentier

entscheidet sich bewusst für das Reich der Angst. Es entscheidet sich

gerade deshalb falsch, weil es unbewusst handelt, weil es von seinem

inneren Tier bestimmt wird, nicht von seinem menschlichen Potenzial.

Aber das innere Tier wird zu allem Unglück von außen noch gefüttert von

den Ohn-Mächtigen und ihren Predigern der Angst. Mit Angst füttern sie

das Tier in uns und so werden wir beherrscht und geknechtet von den

obersten Furchtsamen. Wie konnte das geschehen? Wie gewann die Angst

doch die Oberhand? Wahrlich, Brüder und Schwestern des Mittags, wir

verloren einst die Verbindung mit der Natur und diese Trennung hat uns

in die Angst gestürzt. Sehen wir zu, dass wir die Verbindung wieder

knüpfen, die Zeit ist reif!

3. Teil: Der Anfang

Ich kenne wo ein festes Schloß Ein stiller König wohnt darinnen, Mit

einem wunderlichen Troß; Doch steigt er nie auf seine Zinnen. Verborgen

ist sein Lustgemach Und unsichtbare Wächter lauschen; Nur wohlbekannte

Quellen rauschen Zu ihm herab vom bunten Dach. Was ihre hellen Augen

sahn In der Gestirne weiten Sälen, Das sagen sie ihm treulich an Und

können sich nicht satt erzählen. Er badet sich in ihrer Flut, Wäscht

sauber seine zarten Glieder Und seine Stralen blinken wieder Aus seiner

Mutter weißem Blut. Sein Schloß ist alt und wunderbar, Es sank herab aus

tiefen Meeren Stand fest, und steht noch immerdar, Die Flucht zum Himmel

zu verwehren. Von innen schlingt ein heimlich Band Sich um des Reiches

Unterthanen, Und Wolken wehn wie Siegesfahnen Herunter von der

Felsenwand. Ein unermeßliches Geschlecht Umgiebt die festverschlossenen

Pforten, Ein jeder spielt den treuen Knecht Und ruft den Herrn mit süßen

Worten. Sie fühlen sich durch ihn beglückt, Und ahnden nicht, daß sie

gefangen; Berauscht von trüglichem Verlangen Weiß keiner, wo der Schuh

ihn drückt. Nur Wenige sind schlau und wach, Und dürsten nicht nach

seinen Gaben; Sie trachten unablässig nach, Das alte Schloß zu

untergraben. Der Heimlichkeit urmächtgen Bann, Kann nur die Hand der

Einsicht lösen; Gelingt’s das Innere zu entblößen So bricht der Tag der

Freyheit an. Dem Fleiß ist keine Wand zu fest, Dem Muth kein Abgrund

unzugänglich; Wer sich auf Herz und Hand verläßt Spürt nach dem König

unbedenklich. Aus seinen Kammern holt er ihn, Vertreibt die Geister

durch die Geister, Macht sich der wilden Fluten Meister, Und heißt sie

selbst heraus sich ziehn. Je mehr er nun zum Vorschein kömmt Und wild

umher sich treibt auf Erden: Je mehr wird seine Macht gedämmt, Je mehr

die Zahl der Freyen werden. Am Ende wird von Banden los Das Meer die

leere Burg durchdringen Und trägt auf weichen grünen Schwingen Zurück

uns in der Heymath Schooß.

Novalis

1. Kapitel: Hochzeit

Eine Welt entfernt von der Zeit, als ich Animius traf, sitze ich nun auf

einer Bank, blicke hinaus auf das Meer und doch bin ich nicht nur hier.

Es zieht mich zurück in die Zeit des großen Wandels, in die Zeit, die

alles veränderte und: Wie viel ist noch wie es war! Wie langsam dreht

sich das Rad des Wandels und wie kurz ist dagegen ein Menschenleben! Wie

viel gäbe es noch zu berichten über den Weg des Animius, unsere

Freundschaft und die Veränderungen, die sich in der Welt ereigneten!

Aber ich will mich kurz fassen und habe stets Animius' Stimme im Ohr,

die mich belustigt fragt, warum ich so viel Zeit in der Vergangenheit

verbringe. Was soll diese Nekrophilie? Fragte er mich oft, wenn ich ihn

über seine Vergangenheit ausfragte oder: Lass das Tote ruhen! Und

einmal, als er von einem anderen gefragt wurde, was er über die Zukunft

denke, antwortete er: Seit ich den Augenblick kenne, habe ich keine Zeit

mehr für Zukunft und Vergangenheit. Die Angst lockte mich fort von

meiner glückseligen Insel 'Augenblick'. Sie lockte mich in die

Vergangenheit, die nicht mehr ist als eine unsichere Erinnerung an

Verstorbenes, und sie lockte mich fort in die Zukunft, die ewig

Ungeborene. Und so will ich, seinem Rat folgend, so wenig Zeit wie

möglich in unserer Vergangenheit verbringen und nur das Wesentliche noch

zu diesem dritten und letzten Teil zusammenfügen.

Nach der letzten Rede des Animius veränderte sich unsere Situation

grundlegend. August blieb bei uns, aber der Rest der Gruppe war

verschwunden, keiner wusste, was mit ihnen geschehen war, und wer damals

dabei war weiß, wie schwer es war, zusammenzubleiben innerhalb der

Auseinandersetzungen und den Kämpfen, die überall tobten. Ich

beobachtete Animius oft, wie er geradewegs durch den menschlichen Sturm

ging. Geradeaus, ohne zu zögern, ohne zu weichen. Wie ein Pfeil dem Ziel

zufliegend, der Regentropfen nicht achtend. Fremd schien er mir in

dieser Welt und das lag nicht etwa an seiner Kleidung. Habe ich schon

erwähnt, dass er natürlich keinen Jutesack trug, wie Fristón behauptet?

Nein, er schien so fremd, weil er wirklich nicht zu bemerken schien, was

um ihn herum passierte. Er machte stets den Eindruck, als kümmere ihn

das alles nicht. Zwar wich er anderen Menschen aus, aber ich sah ihn nie

in Deckung gehen oder sich so bewegen, wie alle anderen es taten in

Anbetracht der Wurfgeschosse, Gasgranaten und hektischen Bewegungen

überall. Er ging über ein tobendes Schlachtfeld wie einer, der über eine

blühende Wiese geht.

Nur noch zu dritt und vereint in dem Wunsch, die Städte und die

Marktplätze hinter uns zu lassen, folgten wir unserem Schicksal in die

Natur. Animius veränderte sich mit der Umgebung zusehends, sein Schritt

wurde immer leichter, sein Auge strahlender und mir wurde klar, wie sehr

er sich danach gesehnt hatte, die Stadt zu verlassen. August führte uns

immer weiter weg von den Massen, die zu der Zeit wie das Meer wogten und

stürmten. Wohin wir gingen, wussten wir nicht und mussten es nicht

wissen. Einige Nächte verbrachten wir unter den Sternen und als die

Spannung der Stadt uns ganz verlassen hatte, fanden wir einen Hof, auf

dem viele Menschen zu einer Hochzeit zusammengekommen waren und wir

gesellten uns dazu und baten um Nahrung, die uns freigiebig gebracht

wurde, denn es war Mittag. Es dauerte aber nicht lange und Animius wurde

erkannt und man bat ihn, eine Rede zu halten, aber er sagte, er habe

alle seine Reden schon gehalten und nichts weiter zu sagen, als was er

schon gesagt. Der Bräutigam kam hinzu und sagte zu Animius:

Bräutigam: Wenn du deine Reden alle schon gehalten hast, Animius, dann

will ich dich nicht bitten, deinen alten Beruf wieder aufzunehmen. Aber

vielleicht willst du mir und meiner Braut den Gefallen tun und in

wenigen klaren Worten sagen, was deine Lehre ist. Wir hörten schon viel

vom Gegensatz von Liebe und Angst von vielen verschiedenen Lehrern, aber

vieles scheint mir unklar und gar gegensätzlich und oft schon sprachen

wir darüber und konnten uns nie ganz einigen.

Animius bat den Bräutigam, ihm etwas Zeit zu lassen, und dann würde er

ihm aufschreiben, was er zu sagen habe. Daraufhin bat er um Stift und

Papier, zog sich zurück, setzte sich unter einen Baum und kam nach

einiger Zeit wieder und reichte dem Bräutigam das Papier. Der bat ihn,

es selbst vorzulesen, und rief alle zusammen, um zu hören, was Animius

vortragen würde. Und Animius las:

Erstens: Wir sind alle Eins. Wenn wir anderen oder der Erde schaden,

schaden wir uns selbst.

Zweitens: Wir schaden uns gegenseitig nur, wenn wir das Wissen über

unsere Einheit verloren haben. Wem das Wissen über diese Verbindung

verloren ging, dem muss mit Mitgefühl begegnet werden, er leidet.

Drittens: Wer das Wissen über unsere Verbindung verloren hat, lebt in

irrationaler Angst. Angst ist die Illusion der Trennung. Das Einzige,

was die Trennung wieder beheben kann, ist die Liebe. Liebe ist das

Wissen um die Verbindung.

Viertens: Unser natürlicher Zustand ist die Liebe. Angst macht uns für

die Liebe unfähig und aktiviert unseren tierischen Teil, der um sein

Überleben kämpft – gegen alle anderen.

Fünftens: Alles Gute, was wir tun und das uns widerfährt, kommt von der

Liebe, alles Schlechte von der Angst. Liebe verbindet, Angst teilt.

Sechstens: Um der Liebe wieder die Oberhand zu verschaffen, muss die

Angst gefunden, eingestanden und überwunden werden. Jeden Augenblick ist

die Frage zu stellen: Tue ich das aus Angst oder aus Liebe?

Siebtens: Jede negative Emotion - besonders anderen gegenüber - muss als

eigene Angst erkannt werden; so stellen wir uns der Angst. Es ist nicht

wichtig ob wir jemanden oder etwas nicht mögen, wichtig ist warum? Was

ist die Angst in uns, die unser Verhalten bestimmt?

Achtens: Seine Ängste kann jeder nur selbst finden, eingestehen und

überwinden. Gegenseitige Unterstützung ist aber gut und wichtig.

Neuntens: Die Furchtsamsten kontrollieren alle anderen durch Angst,

teilen sie durch Angst, unterdrücken sie durch Angst und machen sie sich

so nutzbar. So suchen sie erfolglos ihrer eigenen Angst Herr zu werden.

Zehntens: Die Freiheit können wir nur erlangen, indem wir die Angst

überwinden. Liebe und Freiheit gehören zusammen wie Angst und

Knechtschaft.

Elftens: Wer sich seiner Angst vor Schmerz stellt, lernt leichter, sich

all seinen Ängsten zu stellen. Wohlan! Fürchtet euch nicht!

Dies ist nicht meine Lehre, sagte er von dem Papier aufblickend, klingt

Lehre nicht immer wie Leere? Es ist einfach eine Art, die Welt zu sehen

und wie ich finde insofern hilfreich, als dass sie uns selbst für alle

Missstände verantwortlich macht und uns die Möglichkeit nimmt,

Schlechtes bei anderen zu suchen und zu finden. Und wer möchte in Angst

leben? Wenn du aber nicht in Liebe lebst, leidest du an Angst. Ich hasse

jemanden? Dann liegt das an mir und einer Angst in mir, nicht an dem

anderen. Also bin ich verantwortlich für meine negativen Gefühle,

niemand sonst. Aber ich beginne schon wieder Reden zu halten...

Braut: Ich danke dir Animius! Das klingt verständlich, wenn ich es auch

noch einige Male werde lesen müssen. Um die Wahrheit zu sagen, was ich

bisher von deinen Reden gehört habe, war mir zu schwierig.

Animius: Tatsächlich habe ich in meinen Reden versucht, mich so klar wie

möglich auszudrücken. Was einem selbst am klarsten ist und

offensichtlich erscheint, ist oft am schwersten zu vermitteln.

Eine junge Frau richtete sich nun an Animius mit einer weiteren Frage.

Ihr Name war Anura.

Anura: Ihr verwendet alle den Begriff Liebe als etwas Allgegenwärtiges,

eine Offenheit, eine gute Absicht allen gegenüber und ich verstehe das

und denke, dass es sehr wichtig ist und besonders heute. Aber was ist

mit der Liebe, für die der Begriff in unserer Welt bisher beinahe

ausschließlich benutzt wurde? Was ist mit der Liebe, die über die

Haltung allen gegenüber hinausgeht, die speziellere Liebe sozusagen?

Animius: Du meinst die Liebe, wie sie etwa zwischen einem Mann und einer

Frau besteht? Was soll mit der sein? Auch sie wird bestimmt durch unsere

Wahl zwischen Liebe und Angst. Angenommen du verliebst dich in einen

anderen Menschen oder siehst ihn sogar zum ersten Mal und bist

interessiert, mehr zu erfahren, weil dich etwas zu diesem Menschen

hinzieht. Überwiegt die Angst in dir, wirst du leicht eine Ausrede

finden diesen Menschen nicht wissen zu lassen, dass du in ihn verliebt

bist oder dass du ihn kennenlernen möchtest. Und so wirst du es lassen

und deinem Schicksal ein weiteres Mal davonschleichen. Oder du wirst dir

einen Schleichweg ausdenken, der dir sicher erscheint und Erkundigungen

über ihn einziehen oder Ähnliches. Überwiegt aber die Liebe in dir,

wirst du es diesen Menschen unbedingt direkt wissen lassen, wenn es dir

auch noch so unwahrscheinlich vorkommen sollte, dass er Ähnliches

empfindet. Manchmal gibt es nur eine Gelegenheit dafür und wird sie

nicht genutzt, ist sie vertan. Offenheit und Wahrheit sind Teile der

Liebe und besonders auch der Mut. Eine solche Verbindung zwischen zwei

Menschen kann ja schließlich nur richtig sein, wenn beide sie wollen,

was haben wir also zu verlieren? Ist es denn peinlich, wenn der andere

kein Interesse hat, nicht ebenfalls verliebt ist? Nein! Es bedeutet nur,

dass er schon erkannt hat, was ich noch nicht wusste: Diese Verbindung

wäre nicht gut und richtig. Wie könnte sie es sein, wenn nicht beide das

gleiche Interesse haben? In der Angst aber empfinden wir dies als

'Abweisung' und halten uns für gekränkt, aber wahrlich, krank macht die

Angst, nicht die Abweisung! Im Zustand der Liebe hingegen – der immer

auch bedeutet, mit sich im Reinen zu sein – erkennen wir dann, dass der

andere uns gerade verschwendete Zeit erspart hat. Viel schlimmer wäre

es, wenn er sich darauf eingelassen hätte, etwa aus Angst, allein zu

sein, und beide erst nach langer schwieriger Zeit erkannt hätten: Wir

haben uns nichts zu geben. Siehe, unser Wert hängt nicht davon ab, ob

andere uns verehren oder begehren, sondern davon, dass wir mit uns

selbst im Reinen sind und es bei uns selbst aushalten. Viele flüchten zu

anderen, um sich selbst loszuwerden, ein sinnloses Unterfangen! Nur wer

sich seinen eigenen Ängsten stellt, kann aus Liebe handeln.

Anura: Soweit verstehe ich das, wenn ich es auch noch nicht so lebe.

Aber was, wenn ich verliebt bin und eine Beziehung bereits besteht? Dann

bin ich doch im Zustand der Liebe. Warum ist dann oft immer noch alles

so schwierig?

Animius: Ich muss dir widersprechen, Schwester. Wenn du eine enge

Verbindung zu einem anderen hast und in denjenigen verliebt bist, heißt

das noch lange nicht, dass du im Zustand der Liebe bist. Gerade in

'Beziehungen', wie du sagst, sehe ich viel Angst. Gerade hier ist aber

die Offenheit oberstes Gebot und das Wohlwollen. Aber wie oft sehe ich

stattdessen Strategie, Täuschung, Lüge, Eigennutz und Eitelkeit. Nein,

ob du verliebt bist oder nicht, sagt nichts darüber aus, ob du im

Zustand der Liebe bist, oder im Zustand der Angst. Ob du im Zustand der

Angst bist oder im Zustand der Liebe, sagt allerdings sehr viel über die

Art deiner Verbindung aus! Im Zustand der Angst wird jede Beziehung zur

Bedrückung.

Viele hatten nun Fragen auf den Gesichtern stehen und Animius erkannte

das und setzte sich auf den Boden, wie gewöhnlich mit gekreuzten Beinen

und wartete auf die nächste Frage, die auch sogleich gestellt wurde:

Alexander: Ich habe eine Rede gehört von Franz von Feigenpelz. Der

sprach über die Erbsünde und dass es sich dabei um die Vermischung von

Menschen und Tieren gehandelt habe. Die Nachkommen dieser Verbindung

befänden sich heute in einem geheimen Krieg gegen die verbliebenen

Logossöhne. Auch dich hörte ich vom Menschentier sprechen, bist du

seiner Meinung und ergänzen sich eure Vorstellungen?

Animius: Auch ich hörte Franz von Feigenpelz sprechen und ich sage dir

Bruder, meine Vorstellungen und seine haben nichts gemein und

widersprechen sich sogar. Zunächst halte ich das Konzept einer Erbsünde

oder Ur-Sünde für eine große Lüge und zu dem Zweck, andere zu

kontrollieren und zu unterdrücken. Ein schlechtes Gewissen sollte damit

in die Köpfe der Vielen gepflanzt werden, damit die wenigen

Furchtsamsten sie besser kontrollieren und nutzen können. Die schwarzen

Männer haben sich das ausgedacht, um uns zu schröpfen. Aber frage dich

doch selbst: verbindet sein Glaube oder teilt er? Die Vorstellung, dass

es zwei Arten Menschen gibt, solche, die von Gott abstammen, und solche,

die vom Tier abstammen, teilt und ist somit Folge einer Angst. Welche

Angst könnte das sein? Franz war ein Mönch, nicht wahr? Und er spricht

davon, dass die Tiermenschen oder Sodomsäfflinge, wie er sagt, die

Frauen der Gottmenschen verführt haben und dass sie besonders besessen

seien vom Liebesspiel und sich so hinaufzüchteten. Ist das nicht der

unterdrückte Trieb des armen Mönches, der ihm als Wahnvorstellung

zurückkehrte? Hat nicht seine Angst vor Sexualität sich verselbständigt

und sich in seinem Geist zu einer Bedrohung der Gottmenschen durch

Tiermenschen verwandelt? Nun, das ist nur meine Spekulation und ich kann

es nicht wissen. Vielleicht hat er auch Recht und was er sagt, ist

richtig, ich kann es nicht ausschließen und wehre keine Meinung ab, nur

weil sie seltsam klingt. Aber bis er mir gründlich bewiesen hat, dass es

eine große Verschwörung von Affenmenschen gegen die anderen

Menschentiere gibt, gehe ich davon aus, dass wir alle Menschentiere sind

und wir vereint besser zurechtkommen als geteilt, und rate ihm, sich

seinen Ängsten zu stellen, statt sie zu verdrängen.

Alexander: Und dein Wort vom Menschentier? Sagst du nicht auch, dass es

verschiedene Arten Menschen gibt?

Animius: Was ich sage – und ich will, dass das ganz klar ist – ist, dass

wir das Tier sind, das die Möglichkeit hat, mehr zu werden. Ich sage,

dass wir das Tier sind, dass die Angst überwinden kann und so Mensch

werden. Sage ich, dass es zwei Arten Menschen gibt und die eine die

andere vernichten soll? Nein. Ich sage, wir alle müssen die tierische

Angst in uns überwinden und so frei werden und Mensch werden. Wer sie

schon überwunden hat, ist nicht etwa besser und soll nun die Schlechten

töten oder unterwerfen! Er ist einfach nur glücklicher, denn er hat sein

Leiden und seine Knechtschaft beendet oder reduziert. Was könnte ihm

mehr am Herzen liegen, als anderen dabei zu helfen, ebenfalls ihre

Freiheit zu finden und in Liebe zu leben? Ist denn der Mann mittleren

Alters etwa besser als der junge Mann? Er ist in einem anderen Zustand,

das ist der einzige Unterschied. Heute ist der größte Teil der Erde im

Zustand der Angst und nur Wenige leben ganz in Liebe, vielleicht gibt es

sogar noch niemanden, der ganz frei wäre von Angst, wie sollte das auch

zugegangen sein in einer Welt, die durch Angst beherrscht wird? Nein,

mein Freund, ich glaube weder an irgendeine Erbsünde noch daran, dass es

zwei Arten Menschen gibt und eine davon die Bessere ist. Das ist eine

Predigt der Angst in meinen Augen. Wir sind alle Menschentiere und

helfen wir uns gegenseitig, die Angst zu überwinden, so werden wir

endlich unser Joch abwerfen und als Menschen in Freiheit und Liebe

leben.

Darauf trat ein alter Mann hervor, dessen Name war Wilhelm und auch er

hatte eine Frage für Animius:

Wilhelm: Ich höre, was du sagst, und kannte diese Lehre von Liebe und

Angst noch kaum, komme auch aus einer anderen Zeit. Aber eines möchte

ich gerne von dir wissen, Animius: Könnte man nicht einfach statt von

Liebe und von Angst von Mut und Angst sprechen? Wie ich das bisher

verstanden habe, versteht ihr, die ihr diese Lehre verbreitet, die Liebe

als nichts anderes als Mut, warum also die Sprache so verändern, wo es

doch diese Opposition, Angst und Mut, schon gibt?

Animius: Ich stimme dir zu, Bruder, die Liebe, die ich meine, und der

Mut sind sehr eng miteinander verwandt. Warum ich trotzdem lieber den

Begriff Liebe der Angst gegenüberstelle? Er ist weiter gefasst, schließt

mehr ein, eben auch den Mut. Aber der Begriff Mut schließt nach meinem

Verständnis die Liebe nicht ein. Außerdem wird so deutlich, dass auch

der Hass, der im allgemeinen der Liebe gegenübergestellt wird, nur Folge

der Angst ist. Mut ist aber der erste Schritt, der nötig ist, um in sich

zu blicken und sich den eigenen Ängsten zu stellen. Und auch im Umgang

mit anderen ist der Mut sehr wichtig. Im Zustand der Liebe zu sein,

bedarf viel Mutes! Im Zustand der Liebe öffne ich mich und bin so

angreifbar. Dafür braucht es Mut. Wer sich hart und verschlossen zeigt,

tut dies gerade, weil ihm der Mut fehlt und die Angst in ihm herrscht.

Das Weiche ist mutiger als das Harte und auf Dauer besiegt das Weiche

das Harte, das lehrt uns das Wasser.

Yara: Animius, auch ich habe eine Frage, wenn es dich nicht belästigt,

so viele Antworten geben zu müssen: Sind denn alle Menschen überhaupt in

der Lage, die Liebe zu entwickeln und die Angst zu überwinden? Es

scheint mir, ich habe zu viel Furcht, um mich ganz zu öffnen, und auch,

um mich meinen Ängsten zu stellen.

Animius: Jeder zu seiner Zeit! Wer könnte tun, wofür er nicht bereit

ist? Aber je mehr Menschen in Liebe leben, desto leichter wird es den

anderen fallen, auch ihre Angst zu überwinden. Heute ist die Welt so

eingerichtet, dass sehr wenige alle anderen kontrollieren und schröpfen.

Dafür teilen sie uns durch Angst und bringen uns gegeneinander auf. So

machen sie uns lenkbar und nutzbar. Stelle dir aber vor, die Welt wäre

frei von diesem Einfluss und von Hierarchien, die nötig sind, damit

wenige die Vielen unterdrücken können. Wie viel einfacher wäre alles!

Nicht zuletzt, weil die Art, wie wir heute unsere Kinder erziehen, und

auch die Schule darauf ausgelegt sind, uns in Angst zu halten. Und das

obwohl wir lange schon wissen, wie schädlich diese Art der Erziehung für

die Entwicklung ist. Aber gerade das ist das Ziel, dass wir uns nicht

richtig entwickeln, denn richtig entwickelt wehren wir uns gegen

Unterdrückung. Nur traumatisiert und neurotisiert sind wir beherrschbar.

Alleine die Verknüpfung von Sexualität und Angst – auch Scham ist eine

Angst – ist ein sehr mächtiges Instrument zur Herstellung von Knechten.

Immer neue Wege werden erdacht, die Sexualität mit Angst zu verknüpfen.

Das sage ich auch dem Bräutigam und der Braut: Sehen wir zu, dass unsere

Kinder nicht durch uns selbst zu Knechten gemacht werden. Wer Kinder

will, der hat zuvor viel zu lernen!

Yara: Also denkst du, ich muss einfach warten, bis ich bereit bin?

Animius: Zunächst einmal weiß ich nichts über dich und du weißt alles.

Was könnte ich dir sagen, was du nicht besser weißt? Wenn du aber daran

arbeiten willst, deine Angst zu überwinden, kannst du dich deiner Angst

vor Schmerz stellen, eine Angst, die sehr tief in uns allen sitzt und

nicht zu unrecht! Wenn wir uns aber dem Schmerz in einer unschädlichen

Form stellen, so können sich auch andere Ängste lösen. Ein unschädlicher

Schmerz ist ein Schmerz, der keine Wunden oder sonstige Schäden

hinterlässt. Lerne einen solchen Schmerz zu ertragen. Vielleicht hilft

dir das, andere Ängste abzubauen, mir selbst hilft es sehr.

An dem Tag wurden noch viele Fragen gestellt und die Stimmung hier war

sehr anders als die in der Stadt. Die Menschen waren interessiert und

keiner fühlte sich angegriffen und wurde laut, wie es in der Stadt jeden

Tag geschah. Eine Frage will ich noch erwähnen und die darauf folgende

Antwort, denn Fristón erwähnte dies und so bedarf es der Klarstellung:

Martin: Ich habe gehört, du schickst jedem Menschen, den du siehst, in

Gedanken Liebe. Ist das wahr und wenn ja, glaubst du wirklich, dass das

eine Wirkung hat, empfangen wird?

Animius: Es ist wahr, ich tue das, wenn ich es auch noch oft versäume.

Ob ich glaube, dass das eine Wirkung hat? Ja, das glaube ich fest. Aber

es gibt nicht nur eine Art Wirkung. Ich weiß, dass es eine Wirkung auf

mich hat: Es hilft mir selbst, in den Zustand der Liebe zu kommen. Ob es

eine Wirkung auf die hat, denen ich Liebe sende? Das weiß ich nicht.

Aber ich glaube, wir nehmen viel mehr wahr, als uns bewusst ist. Bei

einigen Menschen habe ich das Gefühl, sie bemerken es, bei anderen denke

ich, dass sie zumindest wahrnehmen, dass ich ihnen nicht feindlich

gesinnt bin. Damit wäre schon viel erreicht.

Martin: Auch ich bin ein Freund Zarathustras und lernte, dass alles

Wille zur Macht ist. Was sagst du dazu? Glaubst du das nicht mehr? Wie

verträgt sich das mit deiner Vorstellung von der Liebe?

Animius: Auch ich sehe den Willen zur Macht überall und halte ihn für

eine Folge von Angst. Von Zarathustra unterscheide ich mich darin, dass

ich nicht was ich überall sehe, für unveränderlich und ewig halte. Wenn

ich die halbe Nacht den Himmel beobachte, soll ich dann behaupten, es

gäbe keine Sonne? Der Wille zur Macht ist allgegenwärtig – aber nur im

Zustand der Angst. Was ist, ist kein Beweis für das Kommende oder das

Ausbleibende. Zu erkennen, dass wir in einem Zustand sind, ist aber der

erste Schritt ihn zu verändern. Du sagst, du bist ein Freund

Zarathustras? Dann hörtest du sicher auch dieses Wort:

'Aber wer dem Volke verhasst ist, wie ein Wolf den Hunden: das ist der

freie Geist, der Nicht-Anbeter, der Fessel-Feind, der in Wäldern

hausende.' Warum hassen doch die Hunde den Wolf? So nah kam Zarathustra

und doch erkannte er nicht, dass Hass nur eine Folge von Angst ist!

2. Kapitel: Abschied

Der Tag füllte sich mit vielen weiteren Gesprächen, Reden, Tanz, Trunk

und Speise. Viele Freunde gewannen wir hier und bis spät in die Nacht

dauerte das Fest. Am nächsten Tag wurden wir eingeladen, so lange auf

dem Hof zu bleiben, wie wir wollten und viele der Gäste blieben, viele

wohnten ohnehin hier. Jeder beteiligte sich an der anfallenden Arbeit,

nur die neuen Eheleute ließ man nichts tun und nahm ihnen alles ab.

Wir blieben einige Wochen und bald bildete sich eine Gruppe, die beinahe

jeden Abend zusammensaß und diskutierte, wie es mit der Welt weitergehen

könne, denn eines war allen bewusst: so wie bisher würde es nicht

weitergehen. Was wir aus den Städten hörten, wühlte alle auf. Die

Aufstände ähnelten nun einem Bürgerkrieg und die Gewalt herrschte.

Einige wollten in die Stadt gehen und sich beteiligen, nicht an der

Gewalt, da waren sich alle einig, aber am Aufstand der Masse gegen die

'Kontrolleure', wie sie zu der Zeit oft genannt wurden. 'Wenn wir nur

genug sind, müssen sie weichen.', lautete einer der Sätze, die man oft

hörte und auch ich war der Meinung, dass wir nicht einfach abwarten

konnten, wie alles ausgehen würde. Animius ermutigte uns zu tun, was wir

für richtig hielten, wies uns aber immer wieder darauf hin, dass wir die

Knechtschaft nur abwerfen könnten, wenn wir sie in unseren Köpfen

abgeworfen hätten, wenn wir die Angst überwunden hätten. Auch ermahnte

er uns immer wieder, dass wir die Ohn-Mächtigen nicht mit ihren eigenen

Waffen schlagen können, dass Gewaltlosigkeit das oberste Gebot ist. Dann

kam Nachricht aus erster Hand. Einer, der früher auf dem Hof gelebt

hatte und schon zu Anfang der Aufstände in die große Stadt gegangen war,

kam zurück. Er berichtete von brutalen Einsätzen von Polizei und

Militär, auch gegen friedliche Demonstranten. Was wir kaum glauben

wollten, war nun eingetreten, die Kontrolleure ließen mit scharfer

Munition in die Menge schießen und es gab bereits viele Tote. Ihre

Medien berichteten, seinen Erzählungen zufolge, von 'terroristischen

Gruppen', die die 'Sicherheitskräfte' angriffen und nun werde

'zurückgeschossen'. Wie viele das noch glaubten, wusste keiner, aber es

waren noch zu viele. Täglich verschwanden nun Demonstranten und

Kriegsgegner und Gerüchte über einen kommenden Krieg machten die Runde

und wurden von den Medien bestärkt. Richard, so hieß der Überbringer

dieser schlechten Nachrichten, drang in uns, dass jetzt der Zeitpunkt

gekommen sei, sich dem Aufstand anzuschließen und die Unterdrückung zu

beenden. Und viele schlossen sich ihm an und packten ihre Sachen. Auch

ich konnte nicht länger auf dem Hof bleiben, während die Zukunft

entschieden wurde und freute mich zu sehen, dass auch Animius seinen

Rucksack packte. August hingegen wollte auf dem Hof bleiben und wir

verabschiedeten uns herzlich.

Als es aber daran ging, sich von jenen zu verabschieden, die bleiben

wollten, nahm mich Animius zur Seite und sagte: 'Es hat begonnen, mein

Freund. Mich zieht es zurück in den Wald, in der Stadt ist für mich

nichts mehr zu tun.' Ich muss ganz die Fassung verloren haben, als er

das sagte, und rang nach Worten. 'Wie kannst du das sagen? Wir müssen

uns anschließen, du sagst doch selbst, es hat begonnen!' Aber er hatte

seinen Entschluss längst gefasst und sagte gutmütig: 'Ob du dich

anschließen musst weiß ich nicht, ich kann es nicht und muss es nicht.

Ich habe getan, was ich konnte, so wenig es auch war. Einer von tausend

Rednern bin ich gewesen auf den Plätzen der großen Stadt. Jetzt zieht es

mich zurück in die Einsamkeit und den Wald.' Ich fühlte mich betrogen

und verlassen und sagte etwas, das ich später sehr bereute: 'Hast du

etwa Angst? Flüchtest du etwa in deine Einsamkeit?' Aber er sah mich nur

an, wie er mich immer angesehen hatte, mit leichtem Lächeln und

antwortete nicht. 'Wie kannst du jetzt davonlaufen, jetzt, da der große

Kampf beginnt?' 'Ich laufe nicht davon, Bruder, ich gehe meinen Weg.

alles andere hieße mir davonlaufen. Dieser Kampf ist nicht der Meine,

siehst du nicht, wie sie blind in die Falle gehen und sich gegenseitig

bekämpfen und ermorden? Soll ich mich da beteiligen?' Ich konnte ihn

einfach nicht gehen lassen: 'Nicht beteiligen, aber überzeugen, helfen!'

'Meine Aufgabe ist erfüllt. Der Same ist gepflanzt, es liegt an anderen

zu sehen, dass er wachse.' 'Aber sie entscheiden sich für die Angst! Wer

soll sie daran hindern, wenn nicht du?' 'Keiner kann eines anderen

Entscheidung für ihn treffen. Sind sie nicht bereit für die Liebe, so

müssen sie den Weg der Angst gehen, aber wer weiß, noch ist nichts

entschieden. Viele werden dort sein, die sich gegen die Angst und gegen

die Gewalt entscheiden. Ich aber rate allen, die sich für die Liebe

entscheiden, sich den Furchtsamen nicht in den Weg zu stellen. Die

Furchtsamen werden sich gegenseitig vernichten, wer könnte es

verhindern? Wer aber Frieden will, soll nicht in den Krieg ziehen.' 'Und

was soll ich tun?', fragte ich ihn verzweifelt. 'Das fragst du mich? Ich

sprach einmal mit einem alten Mann, der sagte mir, dass jeder nur selbst

wissen kann, was er zu tun hat und was sein Schicksal ist. Wer könnte es

sonst wissen? Wer andere fragt, darf sich nicht wundern, wenn sie ihm

antworten, sein Weg und sein Schicksal sei die Knechtschaft, und ihm

eine Stelle zuweisen. Es ist an der Zeit, dass du dich selbst

entscheidest!' Ich wusste, dass ich nicht mit ihm gehen konnte und

fühlte nun zum ersten Mal, seit ich ihn getroffen hatte, dass ich wieder

meinen eigenen Weg gehen musste. Ich entschied mich, nicht in die große

Stadt zu gehen, sondern nun auch meine Einsamkeit zu suchen und meiner

eigenen Seele auf den Grund zu gehen. Animius freute sich über meine

plötzliche Entschlossenheit und wir fielen uns in die Arme und

verabschiedeten uns. Sei mutig, Bruder! Ziehe in den Frieden. Fürchte

nichts! Ich weiß, wir werden uns wiedersehen. 3. Kapitel: Auf eigenen

Beinen

Allein

Und dann war Animius nicht mehr da. Mein altes Weltbild lag in bunten

Trümmern um mich herum, zerstört und unnütz, mir länger Rüstung und

Schutz zu sein - rostig und schmutzig. Keine altbekannten Gassen mehr,

die ich gehen konnte, keine Winkel und Baue mehr, in die ich mich

einnisten konnte. Was ich zu wissen glaubte, weht der Wind als graue

Blätter in die Bedeutungslosigkeit. Nackt stehe ich da vor einer Neuen

Welt, wie ein Krieger ohne Waffen vor einem alten Feind.

Worte, die ich von Animius gehört hatte, kamen mir nun oft wieder in den

Sinn: Mach dich angreifbar, dann wirst du sehen, wie mutig du bist. Die

Welt ist wie ein Versteckspiel, die Vielen verstecken sich – die Wenigen

suchen sich. Wagst du es, dich zu suchen, so blicke dich gut an, nackt

und ohne Maske: Wie oft wählst du die Liebe? Wie oft die Angst?

Angreifbar bin ich nun und nackt, ohne Waffen und Schild und gerade

jetzt, da ich besonders auf seinen Rat gehofft hatte, ist er nicht mehr

da. Und geblieben sind mir nur seine Worte: Liebe und Angst. Und der

Rat, nichts zu fürchten. Ich sehe mich langsam um, mit scheuen Augen.

Dann blicke ich an mir hinab. Jetzt blicke ich in mich hinein. Ich

schaudere zurück. Diesem Schmerz soll ich mich stellen? Das ist

unmöglich.

Erste Schritte

Ungeliebtes Geschäft! Die eigenen Ängste anzurühren, ist weiter als ich

je gewollt. 'Hier klafft mir der Abgrund'. - Aber hier lockt auch die

Tiefe. Aber der Schmerz, der Schmerz! Mein Herz erwacht und fängt Feuer.

Mein Hirn sendet Eiswasser, den Brand zu löschen. Mein Instinkt lacht

schallend. Ich atme brennenden Dampf. Jetzt nicht zurück!

Ich sehe sie, die neue Welt in all ihrer Schönheit und setze einen Fuß

vor den anderen, ungläubig, staunend, sehend. Wie war sie vor mir

verborgen? Neuer Mut steigt in mir auf. Hier darf ich bleiben?

Ja, ich bleibe. Ich entdecke und erkenne. Komme wieder unter Menschen.

Schon kenne ich die neue Welt und gewöhne mich an sie wie an die Sonne

im Sommer. Schon lebe ich wieder alte Gewohnheiten, nichts reißt mich

jetzt mehr zurück, wie könnte ich wieder verlieren, was überall vor

meinem Auge steht? Schenk ein, Bruder, heute wollen wir feiern, die Welt

hat sich verwandelt! Wer bist du, Freundin? Du bist schön, ich liebe

dich. Trink mit uns, die Welt ist nicht dieselbe! Wie sahen wir uns nie?

Du liebst auch mich? Das trifft sich gut. Wundere dich nicht, jetzt ist

alles besser eingerichtet, wie sollten wir uns nicht finden? Begrüße den

neuen Tag, verbringe mit mir die Nacht!

Rückschritte

Grauer Morgen, kalter Tag, alte Gedanken im abklingenden Rausch gedacht

und nun gefühlt. Was habe ich mir gedacht? Wo wollte ich hin? Was

bildete ich mir ein? Wo ist nun deine neue Welt? Dahin, nur ein Traum,

nur ein Traum.

Die Angst hat sich unseren Geist zum Verbündeten gemacht, ein

gefährlicher Gegner! Mit vielen Worten nagt er an unserem Entschlusse.

Klug ist er und überzeugend, aber auch kalt und knochig. Die Liebe will

er dich nicht wählen lassen, der Eifersüchtige! Bald überzeugt er dich,

furchtlos zu sein, der Hinterhältige!

Alte Welt, ich bin zurück und nicht derselbe. Ich komme, dich das

Fürchten zu lehren. Furchtlos bin ich, siehst du mich? Ich wähle dich

zum Feind und beiße mich in dir fest. Du bist so farblos, schmeckst so

fad, geht es dir nicht gut? 'Was fällt, das soll man auch noch stoßen!'

Der Traum der Liebe ist vorüber, jetzt rette dich vor meinem Hass und

meinen Bissen. Was willst du, Fremde? Wie? Ja, da war ich nicht

derselbe. Ein Fieber kochte meinen Geist. Nun bin ich kalt und sehe dich

nicht länger mit träumendem Blick. Fort! Schlag deine Haken in ein

andres Fleisch. Bevor ich dich in meinem Hass verbrenne. Kennst du mich

nicht? Ich bin die Strafe deiner Schwäche!

Zurück in meinen Winkel, nur fort, nur fort! Schmeckte die Welt je

bitterer? Schenk ein, wir wollen zusammen die Welt verfluchen und unser

Schicksal beklagen.

Tanz

Ich vergaß? Vergib, vergib! Neue Welt, wie warst du mir entschwunden?

Ich gab nicht acht, da verlor ich dich, dann vergaß ich dich ganz. Auf

ein Neues, nicht vergessen, nicht verlieren. Nicht zurück, nur nicht

wieder zurück!

Wahrlich, seit ich den Augenblick kenne, habe ich keine Zeit mehr für

Vergangenheit und Zukunft. Die Angst lockte mich fort von meiner

glückseligen Insel 'Augenblick'. Wohin lockte sie mich doch? Sie lockte

mich in die Vergangenheit, die nichts ist als unsichere Erinnerungen an

Verstorbenes. Sie lockte mich in die Zukunft, die ewig Ungeborene.

Augenblick für Augenblick entscheide ich mich nun. Die Angst aufspürend,

die Furcht findend, die Freiheit suchend. Die Liebe entdeckend. Dann

schlägt es mich zurück, bald zieht es mich hinein, wieder wirft es mich

hinab. Aber ich sehe einen Pfad, selbst wenn ich ihn verliere und

verlasse, ich vergesse ihn nicht mehr. Ich tanze vor und zurück.

Verliebt in die neue Welt und verzweifelnd an meiner Feigheit verbringe

ich nun viele Stunden. Die Angst fährt schwere Geschütze auf, die

Kriegerische. Dann bricht die Liebe wie Leben in mich hinein und alles

wird mir zum Bruder und zur Freude. Die Angst kriecht feige davon, die

Furchtsame.

Bin ich denn ein Gärtner geworden? Pflege ich doch einen jungen Baum und

schaffe ihm Licht und Wasser und Raum. Er wächst, bald bringt er

Knospen. Pflückte ich einst faule Früchte der Furcht? Und warf sie nicht

von mir? Und schüttelte sie nicht vom dürren Ast? Aber nicht länger!

Immer weiter, nicht zurück!

Wieder aß ich von der verdorbenen Frucht der Angst und merkte es nicht.

Wohin lenkte mich mein gefangener Geist, um mich blind zu machen für

mein Mahl? Wie bezauberte er mich, dass ich den Schimmel nicht sah, die

Gärung nicht roch? Genauer muss ich ihm auf die Finger sehen. Er betrügt

mich, der Geistreiche. Erst wenn er frei ist, verbrüdern wir uns wieder.

Erst wenn Geist und Gefühl sich vereint vor meinen Wagen spannen und

nicht mehr nacheinander beißen, bin ich wieder heil.

Helfer und Feinde

Erforsche deine Empfindungen! Jeder schlechte Gedanke hat als Ursache

eine Angst, du musst sie nur suchen. Wenn du sie gefunden hast, sieh sie

dir gut an: Das ist dein einzig wahrer Feind, in einer seiner Formen.

Alles andere ist ein Teil von dir. Ist die irrationale Angst nicht das

einzig wahrhaft Fremde in uns? Sie ist die große Täuschung, die sich als

Freund gibt und alles uns zum Feinde macht. Wenn wir diesen ungebetenen

Gast gründlich begutachten und befragen, stiehlt er sich davon, der

verstohlene! Aber täusche dich nicht, die Angst ist dein Feind und die

Furchtsamen sind die Legionen der Angst. Je weiter du gehst, desto mehr

werden sie dich hassen. Liebe sie, wisse um die Wurzel ihres Hasses und

wundere dich nicht, wenn sie dir fluchen und feixen. Fürchte sie nicht,

die Furchtsamen! Das wäre ihr Sieg. Wer aber den Feigen traut, geht auf

dünnem Eis. Meide sie, wann immer du kannst! Und meide ihre kalten

Hände!

Unerwartete Helfer kreuzen ab und an meinen Weg. Ich hoffe, dass sie

auch von mir nehmen, wie sie mir geben. Sie lehren mich, ohne es zu

ahnen. Wir kommen zusammen und erholen uns gemeinsam, bevor es uns

wieder hinaus treibt hinter die Linien der Angst. Aber nicht wie zuvor,

mit neuem Mut und neuer Hoffnung statten wir uns aus, auch mit

Erinnerungen, die uns wieder zusammenführen.

Bin wohl noch nackt, doch nicht mehr ohne Waffen. Ein Flammenauge und

einen Lichtmantel erwarb ich und bezahlte sie mit meinem Schmerz; die

schützen mich vor mancher Gefahr. Leichter erkenne ich nun jeden wahren

Freund. Feinde habe ich keine mehr, aber sie haben nun mich. Seit ich

keine Feinde mehr suche, finden sie mich. Die Furchtsamen fürchten mich

immer mehr, wenn sie es auch vergeblich verheimlichen. Sie wollen mich

fallen sehen. Dafür graben sie heimlich tiefe Gruben und spannen Stricke

in der Dunkelheit. Animius! Ist denn die ganze Welt gegen uns? Die

Mutigen muntern mich wieder auf. Hier finde ich Wärme, hier heilen tiefe

Wunden. Feind klingt wie Furcht in neuen Ohren, Freund wie Freiheit.

Feind, fürchte mich nicht! Freund befreie mich! Animius!

Bleibe bei dir, bleibe hier. Entscheide dich weise, helfe leise. Schritt

für Schritt, jeden Augenblick. Nur nicht zurück, nur nicht zurück!

Anhang:

Bevor sich unsere Wege trennten, arbeiteten Animius und ich an einer

ausführlicheren Beschreibung von Hierarchie und Anarchie, kamen aber

über ein sehr frühes Stadium nicht hinaus, und so habe ich beschlossen,

das gesammelte Material etwas zu bearbeiten und diesem Buch anzuhängen.

Es ist unfertig und eine Einladung für jeden, darauf aufzubauen,

weiterzudenken, mitzuarbeiten.

Hierarchie und Anarchie:

Die Hierarchie, wie wir sie kennen und leben oder besser: tragen, kam

durch Gewalt in die Welt. Eine blutige Geburt und was für ein hässliches

Kind!

Die Hierarchie, wie wir sie kennen, wurde durch Mord, Folter und Raub

errichtet. Nichts Verwunderliches ist daran, dass sie auch durch Mord,

Folter und Raub erhalten wird. Aber im Laufe ihrer Entwicklung ist die

Hierarchie dazu übergegangen, ihre Herkunft zu verheimlichen, ihre Art

hinter Lügen und Täuschung zu verbergen. Die Schlange hat sich als Taube

verkleidet und spricht viel von Frieden. Aber Hierarchie IST Krieg. Sie

teilt die Menschen in 'oben und unten' und Teilung ist die Voraussetzung

für Krieg. Die Lüge hat sie zur Sprache gemacht und am gründlichsten hat

die Hierarchie noch immer über die Anarchie gelogen. Und wie sollte es

anders sein? Wenn die Knechte die Anarchie verstünden, wer wollte länger

Knecht sein? Aber die Lüge bewirkte bis heute, dass die Knechte die

Anarchie mit Chaos gleichsetzen und nicht verstehen, dass die Hierarchie

dem Chaos, wie sie es verstehen, viel näher ist als die Anarchie.

Die Hierarchie braucht immer etwas Chaos, Leid, Gefahr, Knappheit,

Konflikt, denn wie sollte sie sich sonst rechtfertigen und erhalten? Die

Hierarchie löst keine Probleme, sie muss sie sogar erschaffen. Anarchie

hingegen bedeutet eine Organisation der Menschheit, die Probleme löst

und ein freies Leben ermöglicht. Was hat die Hierarchie aus den

Möglichkeiten gemacht, die der Menschheit durch den technischen

Fortschritt erwuchsen? Hat sie die Angst beseitigt? Hat sie den Hunger

beseitigt? Den Krieg? Ein Gleichgewicht mit der Umwelt erreicht? Hat sie

dafür gesorgt, dass jeder Mensch ein freies und selbstbestimmtes Leben

führen kann, indem die Grundbedürfnisse aller befriedigt werden? Warum

nicht? Die Antwort ist, weil das nicht der Zweck der Hierarchie ist. Der

Zweck der Hierarchie ist die Teilung der Menschen in 'oben und unten'

und die Erhaltung dieses Zustandes, was es auch kosten möge. Die

Hierarchie dient nicht der Menschheit, sondern nur einem sehr kleinen

Teil der Menschheit, Animius nannte sie die Ohn-Mächtigen, ich nenne sie

gerne die Kontrolleure. Sind das schlechte Menschen? Nein, sie haben nur

mehr zu verlieren, wenn die Hierarchie abgeschafft wird, wenn die

Knechtschaft endet. Davor fürchten sie sich und vor der Rache, wenn sie

die Kontrolle verlieren. Sie haben einen Riesen gefangen, betäubt und am

Boden gefesselt, aber sie wagen sich nicht, von dem Rücken des Liegenden

zu steigen, und fürchten stets, dass die Betäubung nachlässt und er sich

erheben wird, die viel zu schwachen Fesseln zerreißend und sich nach dem

Übeltäter umsehend, der ihm dies Unrecht getan hat.

Aber sehen wir uns die Hierarchie genauer an: Aus Gewalt geboren

herrscht sie durch Gewalt, Androhung von Gewalt und Täuschung. Was aber

macht sie mit der Psyche des Menschen? Die Menschheit, die durch Mord,

Folter und Raub endlich akzeptiert hat, dass es 'oben und unten' gibt,

gewöhnte sich an diesen Zustand und begann, sich mit den Umständen zu

arrangieren. In der Hierarchie gibt es die Obersten und die Untersten

und dazwischen alle Abstufungen. Ganz unten zu sein, bedeutet, in

ständiger Gefahr zu leben, während ganz oben die eigene Existenz und die

der Nachkommen gesichert ist. Der Mensch wird also stets aus Angst, ganz

unten zu sein, weiter nach 'oben' wollen und alle als Feinde betrachten,

die ihm im Wege stehen. Und nach 'oben' kommt man durch Unterwerfung,

niemals aber durch Widerstand gegen die Hierarchie. Der Mensch in der

Hierarchie versucht, sich 'hinauf' zu dienen und unterstützt somit die

hierarchische Struktur.

Aber wie hoch er auch steigt, es sind immer wieder andere über ihm, denn

die Leiter ist nicht lang genug, um bis ganz hinauf zu steigen. Und das

ewige 'unter' anderen Stehen, führt dazu, dass der Mensch sich

minderwertig fühlt, was er auch erreicht haben mag, und den Drang fühlt,

nicht nur nach 'oben' zu sehen, sondern auf andere 'hinab' zu blicken.

Dafür ist dem Menschen in der Hierarchie jeder Anlass und jedes Mittel

recht, denn nur wenn er auf andere hinab blicken kann, fühlt er sich

einen Moment erhoben und fühlt sich dadurch erleichtert. Konkurrenzkampf

bestimmt die Wahrnehmung der Anderen und ebenso das Verhalten des

Menschen in der Hierarchie. Dieser Konkurrenzkampf ist nicht förderlich

für die Entwicklung der Menschheit und die Sicherung ihrer

Grundbedürfnisse, und am wenigsten für ihre Psyche.

Das Grundproblem unserer Gesellschaft ist der Umstand, dass es 'oben und

unten' überhaupt gibt und somit Konkurrenz herrscht an Stelle von

Kooperation. In der Konkurrenz erhält sich die Angst, die bei der

Einführung der Hierarchie der Gesellschaft in die Wiege gelegt wurde.

Jetzt ist es nicht mehr die direkte Angst vor Vernichtung, wenn man sich

nicht unterwerfen will, sondern vielmehr die Angst, zu denen zu gehören,

die am schlechtesten wegkommen und somit keine gesicherte Existenz

haben. Aus der Angst vor Mord durch den jeweiligen Tyrannen, der sich

vorgenommen hat, sich andere zu unterwerfen, ist die Angst geworden,

nicht gut genug zu sein, nicht erfolgreich genug zu sein. Und so sucht

der Mensch in der Hierarchie (Animius würde sagen 'der Knecht') stets

nach Fehlern anderer, um sich selbst besser zu fühlen. Der Mensch in der

Hierarchie ist immer mehr oder weniger ängstlich, unsicher und gespannt,

denn er muss sich immer gegen andere durchsetzen und sich und anderen

beweisen, dass er nicht der Unterste ist in der Kette der Hierarchie.

Die Angst, nicht gut genug zu sein, ist das direkte Resultat der

Hierarchie. In der Anarchie sind alle gleich und die Eigenheit und

Besonderheit eines jeden muss gefördert werden, und alles getan, dass er

sich frei entfalten kann. Hier wird jeder Mensch als einzigartig

angesehen und respektiert, während in der Hierarchie stets der Vergleich

mit anderen im Vordergrund steht, sowie eine fiktive Norm.

Das Patriarchat sollte mit der Hierarchie zusammen abgeschafft werden,

denn es hat ebenfalls negative Auswirkungen auf die Psyche der

Menschheit. Da im Patriarchat der Name des Vaters weitergegeben wird,

aber keine absolute Sicherheit über die Vaterschaft besteht, muss der

Mann immer fürchten, das Kind eines anderen aufzuziehen und somit die

eigene Blutlinie zu kappen. Es besteht also eine Angst, der mit

Kontrolle begegnet wird. Das Matriarchat kennt dieses Problem nicht, da

der Name der Mutter weitergegeben wird und immer sicher ist, wer die

Mutter ist. Wer der Vater ist, spielt hier gar keine große Rolle und die

zwanghafte Monogamie, wie wir sie heute noch kennen, wäre vollkommen

unnötig.

Das dem hierarchischen Patriarchat inhärente Problem der zwanghaften

Kontrolle wäre in der matriarchalen Anarchie undenkbar, was zweifellos

günstige Auswirkungen auf die Psyche der Menschen hätte.

Ein weiteres Problem der Hierarchie hat Tolstoi sehr treffend

beschrieben. Die Hierarchie erzeugt die Illusion, für das eigene

Verhalten nicht verantwortlich zu sein, sie betäubt das Gewissen. Die

meisten Soldaten würden niemals auch nur auf den Gedanken kommen zu

morden, aber als Teil der Hierarchie sehen sie sich nicht in der

Verantwortung, denn sie befolgen nur Befehle. Und weiter oben in der

Hierarchie ist es genau dasselbe. Der Befehlende sieht selbst kein Blut

an seinen Händen und ist von den Taten, die seinen Befehlen folgen, weit

entfernt. Beide fühlen sich nicht verantwortlich, weil die Hierarchie

die Möglichkeit gibt, die Schuld auf andere zu schieben. Ohne diese

Eigenheit der Hierarchie wäre jeder gezwungen, nach seinem eigenen

Gewissen zu handeln, und die Welt wäre ein besserer Ort, denn niemand

könnte sagen: Aber ich habe nur Befehle befolgt.

Die Aufgabe der Anarchie muss sein, das zu erreichen, was die Hierarchie

nicht erreichen kann: die Angst abschaffen. Dafür braucht es Sicherheit,

aber nicht Sicherheit wie wir sie aus der Hierarchie kennen, sondern

materielle Unabhängigkeit für jeden. Eine anarchische Gemeinschaft muss

dafür sorgen, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen gesichert sind.

Dass es für jeden genug zu Essen gibt, Wohnraum, Kleidung,

Gesundheitsversorgung, freie Information, freie Bewegung ohne Grenzen.

Das einzige Gesetz, das die Anarchie beinhaltet, ist, keinem anderen

Schaden zuzufügen. Alle weiteren Gesetze und Verbote der Hierarchie

hingegen sind im Grunde nichts als strukturelle Gewalt und Mechanismen

der Unterdrückung. Gesetze werden in der Hierarchie immer selektiv

vollstreckt, daran erkennt man die wahren Motive. Gesetze ermöglichen es

dem Staat, ungeliebte Gruppen zu kriminalisieren, während andere Teile

der Gesellschaft für dieselben 'Vergehen' nicht belangt werden. Das ist

ein sehr mächtiges Instrument der Machtausübung und Machterhaltung.

Die Grundvoraussetzung für eine funktionierende anarchische Gemeinschaft

ist die Arbeit eines jeden an sich selbst. Damit alle in Liebe

zusammenleben können, muss sich jeder Einzelne seinen Ängsten stellen

und sich selbst lieben lernen. Also sprach Zarathustra: „Man muss sich

selber lieben lernen - also lehre ich - mit einer heilen und gesunden

Liebe: dass man es bei sich selber aushalte und nicht umherschweife.“

Nur wenn wir lernen, uns selbst zu akzeptieren, werden wir dazu kommen,

auch alle anderen zu akzeptieren und nicht länger nach Fehlern an ihnen

zu suchen und die Schuld für alles Mögliche bei ihnen zu finden. Sich

selbst lieben kann nur, wer keine Angst hat. Das ist ein schwieriger

Prozess, der jedoch innerhalb von vielleicht nur einer Generation

gewaltige Fortschritte machen könnte, wenn alle zusammen daran arbeiten

und sich gegenseitig unterstützen.

Uns allen wurde eine falsche Furcht eingepflanzt vor der Anarchie. Und

diese Furcht führt dazu, dass wir alle Auswüchse der Hierarchie

hinnehmen, da wir keine Alternative sehen. Krieg, Krisen, Gewalt,

Gefängnisse, Ungleichheit, Unterdrückung, alles nehmen wir hin und

nehmen daran teil, obwohl unser Gewissen all dies ablehnt und wir

persönlich uns niemals zu solchen Schandtaten herablassen würden. Aber

in der Hierarchie wird die Verantwortung für alles Übel, das aus ihr

hervorgeht, immer anderen zugeschoben. Keiner will verantwortlich sein.

Das aber ist eine große Täuschung, denn jeder ist für sein Handeln und

für das, woran er sich wie auch immer beteiligt, selbst verantwortlich

und irgendwann wird die Schuld jeden einholen.

Wer sich unter Anarchie, wie ich sie verstehe, nichts vorstellen kann,

der stelle sich einfach vor, wie unsere Welt aussähe, wenn es die Kriege

der letzten zweihundert Jahre nicht gegeben hätte, da keine dominante

Gruppe vorhanden wäre, die Interesse an Teilung und Zerstörung hat und

stattdessen weltweite Kooperation stattgefunden hätte. Er denke sich

dazu, dass alle Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft, Heilung,

Information usw. dank der technischen, elektronischen und digitalen

Revolutionen abgesichert wären und und die Menschheit ein Gleichgewicht

mit der Umwelt hergestellt hätte, alleine schon, weil Ressourcen nicht

verschwendet würden, wie heute, sondern dem Ziel der Erhaltung unserer

Art und aller anderen Arten (natürlich sind beide Ziele miteinander

verbunden) zugewendet würden. Die Wissenschaft wäre primär darauf

ausgerichtet, Probleme zu lösen, die alle betreffen, und somit am

Gleichgewicht zu arbeiten.

Heute und seit langer Zeit wissen wir alle, dass uns hierarchische

Strukturen nur schaden, dass Kriege und Krisen nur jenen dienen, die

eben diese Strukturen erhalten wollen, und auch jenen dienen sie nur

scheinbar. Aber wie durch ein Wunder schaffen es die Wenigen, die

glauben davon zu profitieren, die anderen immer wieder dazu zu bringen,

sie dennoch hinzunehmen oder mit Gewalt zu versuchen, Veränderung zu

erreichen. Und wer mit Gewalt gegen die Gewalt vorgeht, welches Recht

hätte der noch, Gewalt zu verdammen? Und schlimmer noch: Er gibt den

Herrschenden die Legitimation, noch mehr Druck und Gewalt auszuüben, als

sie es ohnehin schon tun, denn sie müssen sich vor der Masse in ein

gutes Licht setzen, sonst verlieren sie die Kontrolle. Dieses Wunder

wird erreicht durch Angst, die sie verbreiten und durch das schlechte

Vorbild, dass alle Regierungen den Bevölkerungen geben. Wir sollen nicht

stehlen, sehen aber stets, wie die in den hohen Positionen nichts

anderes im Kopf haben. Wir sollen nicht töten und die Regierungen

verbrauchen all unsere Mittel, um immer effizienter zu töten und finden

immer neue Entschuldigungen, um es auch zu tun. Und so denkt jeder: Wenn

alle das tun, wie unklug wäre es, anders zu handeln!

Die Welt verändern nur die, die nach ihrem eigenen Gewissen handeln und

die selbst Drohung und Strafe nicht dazu bringen kann, zu tun, was sie

für schlecht und falsch halten. Wer glaubt, dass Mord schlecht ist, wie

kann der die Armee unterstützen und sei es nur mit Worten oder gar daran

teilnehmen? Wie kann er morden, 'um die Welt zu verbessern?' Weil alle

anderen es tun? Dann suche die Schuld bei dir selbst und deiner Angst –

nicht aber bei allen anderen.

Jeder weiß, dass wir bestohlen und benutzt werden, zu Mördern gemacht

und in den Tod geschickt, aber Wenige nur haben den Mut, bei sich selbst

anzufangen und alle Folgen der Entscheidungen, die auf dem eigenen

Gewissen beruhen, auf sich zu nehmen. Und so leben wir seit

Menschengedenken beherrscht von den Furchtsamsten, die aus Angst für

ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden, immer neue Wege der

Teilung und Täuschung ersinnen, um die schädliche Struktur zu erhalten.

Viele von den Kontrolleuren mögen wohl auch erkennen, dass die Welt

besser wäre, wenn sie aufhörten, sie immer wieder zu spalten und

gegeneinander aufzubringen, dass die Welt besser bedient wäre, wenn der

Fortschritt und Wohlstand nicht immer wieder vernichtet werden müsste,

um die Knechte in Ketten zu halten. Aber sie wagen es nicht, etwas zu

verändern, weil sie fürchten, der sedierte unterjochte Riese wird sehr

zornig sein, wenn er zu sich kommt und keine Ketten ihn mehr halten. Und

so begnügen sie sich mit kleinen Veränderungen und Erleichterungen für

die Armen und erleichtern so ihr Gewissen, nicht aber das Los der Welt.

Nur in jedem Einzelnen kann die Veränderung beginnen. Nur wer an nichts

teilnimmt, was er für falsch hält, leistet einen Beitrag zur

Verbesserung unserer armseligen Situation. Nur wer in sich geht und die

eigenen Ängste aufspürt, die der Grund sind für jedes schlechte

Verhalten, hilft, die Welt zu verbessern. Über die Welt schimpfen und

fluchen und gewaltsamer Umsturz und Apathie halten sie so, wie sie ist.

Aber wer blickt gern ungeschminkt in den Spiegel? Wer gesteht gern

eigene Fehler ein und eigne Ängste? Wer hat den Mut für sein Gewissen

ausgelacht zu werden, bestraft, eingesperrt oder ermordet?

Und so düster die Welt heute auch ist, sie ist heller als vor

Jahrhunderten. Wie viel hat sich schon verändert! Und ganz plötzlich

kann der Wandel kommen. Jeder Mutige, der vorangeht, kann Dutzenden

Vorbild sein und die wiederum Hunderten und Tausenden. Dieser Vorgang

läuft schon lange und wird nicht gestoppt werden.

Immer neue Ängste erfinden die Kontrolleure, um das zu verhindern,

Seuchen, Krisen, Kriege - aber umsonst. Eines Tages leben genug nach

ihrem Gewissen und die Herrschenden werden keine Rolle mehr spielen und

wie eine alte unnütze Krücke beiseite geworfen. Bis es soweit ist,

werden sich die Kontrolleure noch viele Täuschungen einfallen lassen und

sogar Lösungen anbieten für die Misere, die sie selbst befördert haben.

Dann gilt es besonders wach zu sein. Sie werden sagen: Seht, wie

schlecht die Regierungen der Nationen waren und was sie getan haben!

Seht welche Verbrechen sie verübt haben! Seht, welche Krisen und Kriege

sie verschuldet haben! Jetzt machen wir einen neuen Anfang. Jetzt

erlassen wir alle Schulden. Jetzt bekommt die Welt eine sinnvolle,

nachhaltige und gerechte Regierung.

Da gilt es dann, nicht noch einmal ihre Lügen zu glauben, wenn sie auch

das Paradies versprechen. Dann gilt es zu antworten: Re-gier-ung? Hier

wird nicht mehr regiert und nicht länger ge-giert. Gier ist Angst, habt

ihr das noch nicht gelernt?

Nein, weitere Zentralisierung macht die Welt nicht besser, sie macht sie

noch schlechter. Erst wenn die Hierarchie fällt, erhebt sich die

Freiheit, nicht wenn noch mehr Kontrolle in noch weniger Hände gegeben

wird. Aber sie werden versuchen, die Veränderungen zu steuern, die nicht

mehr abzuwenden sind.

Das haben sie schon immer getan und werden es wieder tun.

Der Mensch ist heute – und seit langer Zeit – ein Automat, dessen

Programmierung vor allem darin besteht, sich zu sagen: Aber das ist ja

nicht meine Schuld, das haben andere zu verantworten und wenn ich nicht

mitmache werde ich bestraft. Also vorwärts. Immer noch besser als

Anarchie! Und diese Programmierung ist der Grund dafür, dass wir so

lange schon gegen unser besseres Wissen und Gewissen immer wieder Mörder

und Diebe zu unseren Führern machen, die nichts Wichtigeres zu tun

haben, als uns und unseren Wohlstand in Kriegsmaschinen zu verwandeln

und dann zu vernichten, damit die Verhältnisse bleiben, wie sie sind.

Und denen schließen wir uns an, helfen mit, uns selbst zu morden und zu

bestehlen, und jubeln ihnen auch noch zu.

Und daran wird sich nichts ändern, bis genug Einzelne sich entscheiden,

nach ihrem eigenen Gewissen zu handeln und ihre Angst zu überwinden. Nur

das kann dazu führen, dass irgendwann keiner mehr an der eigenen

Ausbeutung und Vernichtung teilnimmt. Keine gewaltsame Revolution, kein

Aufstand, keine Stürmung der Gefängnisse. Gewaltsamer Widerstand macht

das Imperium der Angst stärker, nicht schwächer. Die Mutigsten müssen

vorangehen und viele sind schon vorangegangen und mancher bezahlte mit

seinem Leben dafür. Aber es wird immer leichter, je mehr sich zu sich

selbst bekennen und zu der Gemeinschaft unserer Spezies. Wenn andere

hören, wie einer laut sagt: Nein, daran will ich nicht teilhaben, denn

ich bin kein Dieb und kein Mörder und kein Folterknecht. Dann werden sie

sich fragen, warum ihnen gar nicht aufgefallen ist, dass sie ständig

gegen ihr eigenes Gewissen handeln. Und wenn sich genug gegen die Angst

und Unterdrückung entschieden haben, kann es plötzlich sehr schnell

gehen und die hierarchischen Strukturen stehen wie ein Skelett da und

brechen vor unseren Augen zusammen ohne die Muskeln, Sehnen und das

Fleisch, das es zusammengehalten hat.

Der Mensch ist nicht schlecht und selbstsüchtig, das ist nur das

Tierische in uns, das durch die Hierarchie stets befördert wurde. Wenn

wir aber die Angst überwunden haben und wahre Menschen werden, wird sich

erst zeigen, welche Qualitäten dieses seltsame Wesen hat, wenn es nicht

programmiert ist, wenn es nicht in Angst lebt, wenn es nicht von den

Furchtsamsten beherrscht wird.

Eines Tages werden die Menschen nicht nur erkennen, dass die

hierarchischen Strukturen schädlich für sie sind, sie werden auch nicht

mehr bereit sein, sie weiter zu tragen. Dieser Tag wird kommen, wenn die

Zahl derer groß genug ist, die nicht mehr aus Angst handeln, nicht

früher und nicht später.

Das wird das Ende der Welt sein, wie sie bisher war, und der Anfang

einer neuen Welt, einer Welt, in der die Liebe herrscht und somit

gegenseitige Unterstützung, Wohlwollen, Offenheit, Freiheit,

Gerechtigkeit und Wahrheit.