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Title: Kommune von Kronstadt
Author: Ida Mett
Date: 1948
Language: de
Topics: Kronstadt, 1900s, 1920s, 1921, Russian Revolution, Russia

Ida Mett

Kommune von Kronstadt

Kommune von Kronstadt

Ida Mett

Vorwort 1971

Am 18.3.1971 jÀhrt sich zum 50. Male der Tag, an dem die Kommunarden von

Kronstadt „wie Enten auf dem Teich“ (Trotzki) zusammengeschossen wurden.

Zur gleichen Zeit tagte in Moskau der 10. Parteitag der KPdSU, der sich

neben der offiziellen EinfĂŒhrung des Staatskapitalismus und des

Fraktionsverbotes innerhalb der bolschewistischen Partei (die militanten

Anarchisten und Syndikalisten saßen in den GefĂ€ngnissen oder waren

liquidiert) dadurch auszeichnete, dass die Parteidelegierten in

Festversammlungen und Ansprachen dem 50 jÀhrigen Bestehen der Pariser

Kommune gedachten.

Die Delegierten der bolschewistischen Partei, die fĂŒr diesen Parteitag,

der fĂŒr die weitere Entwicklung der Parteidiktatur ĂŒber das Proletariat

entscheidend war, durch gekonnte Manipulation ausgesucht waren,

entblödeten sich nicht, sowohl die Festansprache ĂŒber die revolutionĂ€re

Pariser Kommune ĂŒber sich ergehen als sich auch vom ZK der Lenin-Partei

an die „Front“ schicken zu lassen, um die gegen den Schießbefehl auf die

KronstÀdter Kommunarden revoltierenden Rotarmisten moralisch

aufzurĂŒsten.

Die Kommune von Kronstadt wurde liquidiert. Toukhatschewskij, ein

ehemaliger zaristischer General, schrieb einige Jahre spĂ€ter: „Ich bin

fĂŒnf Jahre im Krieg gewesen, aber ich kann mich an ein derartiges

Gemetzel nicht erinnern 
 Eine ganze Kompanie kÀmpfte um ein Haus und

als sie es schließlich eingenommen hatten, fand man nur zwei oder drei

Soldaten mit einem Maschinengewehr.“

Warum war es fĂŒr die Leninisten notwendig, Kronstadt zu liquidieren? Die

Antwort auf diese Frage kann man Punkt fĂŒr Punkt den programmatischen

Forderungen der KronstĂ€dter Kommunarden entnehmen: „Hier in Kronstadt

wurde der Grundstein zur dritten Revolution gelegt, die die letzten

Ketten des Arbeiters zerbrechen und ihm den neuen und breiten Weg des

sozialistischen Aufbaues eröffnen wird. Diese neue Revolution wird die

arbeitenden Massen in Ost und West aufrĂŒtteln. Sie wird das Beispiel

eines neuen sozialistischen Aufbaues im Gegensatz zum mechanischen und

regierungsmĂ€ĂŸigen bolschewistischen „Aufbau“ geben 
 Die Arbeiter und

Bauern gehen unaufhaltsam voran. Sie lassen hinter sich die

Konstituante, mit ihren bĂŒrgerlichen Regime und die kommunistische

Parteidiktatur mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus, der die

Schlinge um den Hals der Arbeiter warf und sie zu erwĂŒrgen drohte. Die

nunmehr vollzogene Änderung gibt den arbeitenden Massen endlich die

Möglichkeit, frei gewÀhlte RÀte zu verwirklichen, die ohne gewaltsamen

Druck einer Partei funktionieren. Diese Änderung wird ihnen auch die

Möglichkeit geben, die verstaatlichten Gewerkschaften in freie

Organisationen der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen zu verwandeln 
“

(Leitartikel der KronstÀdter Iswestija vom 8.3.1921)

Die praktische Kritik der KronstÀdter Kommunarden an der

massenfeindlichen, selbsternannten Avantgarde der Bolschewiki war der

wirkliche Versuch des Volkes, „sich selbst zu befreien und die soziale

Revolution zu verwirklichen“ (Voline). Dieser Schritt kann nicht durch

die SchmÀhung und Denunzierungen der KronstÀdter Kommunarden als

„weißgardistische KonterrevoltionĂ€re“ von der BildflĂ€che gefegt werden.

Vielmehr liegt der Umstand, das Kronstadt nach wie vor – und hier

bewahrheitet sich eine SUPEREINHEITSFRONT aller Parteifetischisten aller

LĂ€nder – als antikommunistische Rebellion, die von Menschewiki,

Anarchisten, SozialrevolutionĂ€ren, Weißgardisten und auslĂ€ndischen

Imperialisten angezettelt wurde, denunziert wird, darin, das der

sozialhistorische Gegensatz zwischen der selbststÀndigen Klassenbewegung

und den bĂŒrgerlichen-revolutionĂ€ren Parteistrategen nach wie vor ein

entscheidendes Hindernis auf dem Weg der sozialen Revolution ist, der

historisch bisher immer mit der Niederlage der RĂ€tebewegung endete. Wenn

wir etwas aus der Geschichte lernen können, so dies, das die Überwindung

der Partei als historisch ĂŒberholter Form der Arbeiterbewegung in den

neuen und notwendigen KĂ€mpfen der heutigen Bewegung der Arbeiter

praktisch und theoretisch erkÀmpft werden muss. Noch mehr als 1930, wo

Karl Korsch diese EinschĂ€tzung ĂŒber die Möglichkeiten des revolutionĂ€ren

Klassenkampfes gab, gilt fĂŒr uns heute, dass die „auf einer neuen Basis

unter neuen Bedingungen ihre Klassenkraft zu neuen unvermeidlichen

KĂ€mpfen sammelnde Arbeiterklasse sich hĂŒten werden muss, den lebendigen

Inhalt ihrer heutigen Aktion noch einmal an jene lÀngst zu leblosen

Formeln erstarrten ideologischen Formen zu binden, mit denen schon

gestern und vorgestern die verschiedenen Richtungen der sogenannten

„revolutionĂ€ren“ Marxorthodoxie vergeblich versucht haben,

reformistische und bĂŒrgerliche Entartung ihrer „Arbeiterpolitik“

aufzuhalten und abzuwenden.“

Die BekÀmpfung des Neo-Leninismus unter seiner dogmatischsten und

borniertesten Form, wie er sich in den zahlreichen Sekten und Zirkeln

der „Liquidierungsbewegung der anti-autoritĂ€ren Phase“ großmĂ€ulig

produziert, ist an historische Jahresfeiern nicht gebunden. Kronstadt

soll fĂŒr uns nur der Anlass sein, die verschiedensten Gruppen, die sich

in ihrer praktischen und theoretischen Arbeit auf den Boden der

selbststÀndigen Klassenbewegung gestellt haben, zu einer solidarischen

Diskussion ĂŒber die Probleme, Bedingungen und Organisation unserer

heutigen Arbeit zusammenfassen.

SelbststĂ€ndige Klassenbewegung heißt fĂŒr uns, dass wir versuchen wollen,

in den gegenwÀrtigen KÀmpfen der Arbeiter, die unter verschiedenen

Formen tagtÀglich stattfinden, die AnsÀtze der neuen Arbeiterbewegung zu

erkennen und von diesen AnsÀtzen her unsere praktische Arbeit zu

bestimmen. FĂŒr uns gilt, dass die Befreiung der Arbeiter das Werk des

Arbeiter selbst sein muss, das die Arbeiter ĂŒber das, was sie

produzieren, ĂŒber wie und warum selbst entscheiden mĂŒssen. Das bedeutet

fĂŒr uns, dass wir all das unterstĂŒtzen werden, was die

Selbstorganisation der Arbeiter, SchĂŒler und Studenten fördern kann und

all das bekÀmpfen, was dieser Selbstorganisation entgegensteht.

Kronstadt-Komitee, Westberlin 1971

Vorwort von 1938

Der Augenblick scheint gekommen, sich ein besseres VerstĂ€ndnis fĂŒr

Kronstadt zu erarbeiten, auch wenn seit 1921 kaum mehr neue Fakten

bekannt geworden sind. Die Archive der russischen Regierung und der

Roten Armee sind fĂŒr eine objektive Analyse nicht zugĂ€nglich. In einigen

offiziellen Veröffentlichungen sind jedoch einige VorgÀnge nÀher

dargelegt worden, wenn gleich stark verzeichnet. Aber schon die Kenntnis

der Sachlage, wie man sie direkt nach dem Ereignis besaß, hĂ€tte

ausgereicht, dessen politischen Kern zu enthĂŒllen und das Symptomatische

und Wesentliche fĂŒr die russische Revolution herauszustellen.

Die militanten Arbeiter der westlichen HemisphÀre hatten ein absolutes

Vertrauen in die bolschewistische Regierung. Sie hatte die Arbeiter in

ihrem umfassenden Kampf gegen die feudal-bĂŒrgerliche Reaktion gefĂŒhrt.

Damit war sie in den Augen der Arbeiter die personifizierte Revolution.

So konnte man nicht glauben, dass eben diese Regierung einen

revolutionÀren Aufstand mit grausamsten Mitteln niedergeschlagen haben

sollte. Es war daher den Bolschwisten ein leichtes, diese Bewegung als

reaktionÀr zu disqualifizieren und die Behauptung zu verbreiten, sie sei

von der russischen und europÀischen Bourgeoisie organisiert und

unterstĂŒtzt worden:

„Eine Meuterei der weißen GenerĂ€le mit Ex-General Koslowskij an der

Spitze“, geiferte die russische Presse damals, wĂ€hrend die Matrosen

Kronstadts einen Apell an die ganze Welt richteten:

„Genossen, Arbeiter, Rotarmisten und Matrosen, wir wollen die Macht der

Sowjets und nicht die Macht einer Partei. Wir wollen die freie

Vertretung der Arbeiter. Genossen, lasst Euch nicht verwirren: In

Kronstadt ist die Macht in den HĂ€nden der Matrosen, der Roten Soldaten

sowie der revolutionĂ€ren Arbeiter, nicht in den HĂ€nden der Weißen Garde

mit General Koslowskij an der Spitze, wie Euch Radio Moskau weißmachen

will.“

Das waren die entgegengesetzten Interpretationen der KronstÀdter

Matrosen und der Kreml-Regierung. – In der Absicht, mit einer objektiven

Analyse der geschichtlichen Ereignisse den vitalen Interessen der

Arbeiterbewegung zu dienen, sind wir entschlossen, diese divergierenden

Thesen im Licht der Fakten und Dokumente zu prĂŒfen und in Zusammenhang

mit den direkt auf die Niederwerfung Kronstadts folgenden Ereignissen zu

setzen.

„Die Arbeiter der ganzen Welt werden ĂŒber uns urteilen“, hieß es im

Radioapell der KronstĂ€dter, „und das Blut der Unschuldigen wird ĂŒber

alle kommen, die im Machtrausch handeln.“ Traf diese Voraussage zu?

Wir bringen im folgenden eine Liste derjenigen kommunistischen

FunktionÀre, die in der Niederwerfung des Aufstandes eine aktive Rolle

gespielt haben; man mag daraus ersehen, wie sich ihr Schicksal

gestaltete.

SINOWJEW, allmÀchtiger Diktator Petersburgs, der den mitleidlosen Kampf

gegen die Streikenden und Matrosen inspirierte: ERSCHOSSEN.

TROTZKI, Volkskommissar fĂŒr Krieg und Marine: von einem stalinistischen

Agenten in Mexiko ERMORDET.

LATSCHWITSCH, Mitglied des revolutionÀren Verteidigungsrates und

Mitglied des Verteidigungskomitees gegen die Streikenden von Petersburg:

SELBSTMORD.

DYBENKOW, ehemaliger Matrose, organisierte vor der Oktoberrevolution die

Zentrale der Baltischen Flotte, tat sich in der militÀrischen

Niederwerfung Kronstadts hervor, bis 1938 Kommandant der Garnison und

Region Petersburg: ERSCHOSSEN.

KUSMIN, Kommissar der Baltischen Flotte: VERBLEIB UNBEKANNT, er wurde

nie wieder erwÀhnt.

KALININ blieb als Strohmann im Amt und WĂŒrden. Starb eines natĂŒrlichen

Todes.

TOUKHATSCHEWSKIJ, Kommandant der 7. Armee, plante und leitete den

Angriff auf Kronstadt: ERSCHOSSEN.

PUTNA, ausgezeichnet fĂŒr seine Teilnahme bei der militĂ€rischen

Niederwerfung, spÀter MilitÀrattaché in London: ERSCHOSSEN.

Delegierte des X. Parteitages, die an den Operationen gegen Kronstadt

teilnahmen:

PIATAKOW: ERSCHOSSEN; RUKIMOWITSCH: ERSCHOSSEN; BUBNOW: ABGESETZT und

VERSCHOLLEN; ZATONSKIJ: ABGESETZT und VERSCHOLLEN.

Einzig WOROSCHILOW spielte im II. Weltkrieg noch eine gewisse Rolle.

Zweites Vorwort – 1948

Die Niederwerfung des KronstÀdter Aufstandes liegt nun mehr als ein

Vierteljahrhundert zurĂŒck. Inzwischen ist auf der ganzen Welt soviel

Blut geflossen, so viele aufwĂŒhlende Ereignisse haben die GemĂŒter

bewegt, dass man sich ĂŒber das immer noch vorhandene Interesse an dem

Drama wundern könnte, das sich seinerzeit auf dem Eis der Ostsee

abspielte. Dennoch erwacht heute – nach dem II. Weltkrieg – angesichts

eines Russlands, das eine von jedem sozialistischen Inhalt entblĂ¶ĂŸte

imperialistische Macht geworden ist, von neuem und in den verschiedenen

politischen Kreisen die leidenschaftliche Debatte um Kronstadt.

Es geht dabei um die erregenden Fragen:

– Seit wann datiert der Machthunger Russlands?

– Herrschte er schon unter Lenin?

– oder ist er charakteristisch erst fĂŒr die stalinistische Phase der

bolschewistischen Diktatur?

Und wann immer man den prÀzisen Ausgangspunkt dieser Neuorientierung

Russlands auszumachen versucht, fÀllt der berechtigte Hinweis auf

Kronstadt. Der Aufstand der KronstÀdter Matrosen markiert tatsÀchlich

eine Zeitwende: vorher die Phase der SpontaneitÀt, der umfassenden

Bewegung im Volk, der Hoffnung auf die Revolution – danach, bis jetzt,

die Phase der Diktatur, des Oktrois.

In den Resolutionen der AufstÀndischen hat sich der russische common

sense zum letzten Mal machtvoll ausgedrĂŒckt und die zwei entscheidenden

politischen Fragen gestellt, von denen jede objektive Beurteilung des

heutigen Russlands ebenso auszugehen hat wie jeder auf die Zukunft

gerichtete Versuch, das totalitÀre Regime zu vermeiden.

Es sind die Fragen:

– Ist der Aufbau des Sozialismus ohne Freiheit denkbar?

Und:

– Heiligt der Zweck die Mittel?

In erbitterten KĂ€mpfen fiel die Antwort: sie war negativ. Deshalb bleibt

die Sache der AufstÀndischen unvergesslich.

Wir haben die tragische Anwendung des Prinzips „Der Zweck heiligt die

Mittel“ sowohl im Deutschland Hitlers als auch im Russlands Stalins

miterlebt. Wir können jene Ereignisse nicht mehr ignorieren und jene

großen Fragen, die uns die revolutionĂ€ren Matrosen Kronstadts aufgegeben

haben, nicht ohne Antwort lassen.

Die vorliegende Studie ĂŒber den KronstĂ€dter Aufstand wurde vor dem Krieg

geschrieben, zu Lebzeiten Trozkis. Ihm haben wir darin, als dem einzigen

autorisierten ReprÀsentanten des Bolschewismus, immer wieder unsere

bohrenden Fragen nach er KronstÀdter Tragödie gestellt. Trotz seines

tragischen Todes wollen wir diesen Text nicht verÀndern, denn die

gestellten Fragen sind nach wie vor gĂŒltig. Wenn dieser Text eines Tages

einigen noch lebenden Altbolschewisten in Russland in die HĂ€nde fallen

sollte , mögen sie wissen, dass wir an sie dachten, als wir diese

Probleme erneut aufwarfen.

Ida Mett – Oktober 1948

I. DIE ROLLE DER FLOTTE IN DER RUSSISCHEN REVOLUTION

I.1 – 1904 – 1906

Die Flotte hat in der revolutionÀren Bewegung Russlands eine

hervorragende Rolle gespielt. In der Revolution von 1905 nahmen die

Matrosen als erste den bewaffneten Kampf auf, um ihn, Jahre spÀter, als

letzte aufzugeben.

Die erste Meuterei der Matrosen am 3. und 4. November 1904 in Sebastopol

hatte keine bestimmte politische Zielsetzung, immerhin aber ein

bestimmtes revolutionÀres Potenzial. Direkter Anlass dieser Revolte war

das an die Matrosen ergangene Verbot, ohne besondere Erlaubnis die

Kasernenhöfe zu verlassen. Es wurden die Flottenkasernen angegriffen,

das See-MilitÀrgericht und WohngebÀude der Offiziere. Durch einige

KanonenschĂŒsse des Panzerkreuzers Pamiat Merkuria wurde der Aufstand

niedergeschlagen. 36 Beteiligte standen am 5. Januar 1905 vor dem

See-MilitÀrgericht von Sebastopol; sie wurden zu harter Zwangsarbeit

verurteilt oder in Strafkompanien eingewiesen.

Dieser Aufstand eröffnete das revolutionÀre Kapitel in der Geschichte

der Schwarzmeerflotte.

1905, aber auch noch 1906, als die revolutionÀre Woge wieder aufzuflauen

begann, kam es gehÀuft in der Marine zu AufstÀnden, die 1905 mehr die

Schwarzmeerflotte, 1906 die Ostseeflotte betrafen.

Im Schwarzen Meer begann die Epoche der AufstÀnde im eigentlichen Sinne

mit der Revolte auf dem Panzerkreuzer Potemkin am 27. Juni 1905; am 30.

Juni schloss sich ihr die Besatzung des Panzerkreuzers Georgij

Pobiedonossiets an, am 2. Juli folgte das Schulschiff Prut. Die

Potemkinergab sich elf Tage darauf in einem rumÀnischen Hafen in

Constanza, die Georgij Pobiedonossiets blieb nur einen Tag im Aufstand,

die Prut drei Tage.

WĂ€hrend der Zeit von Juli bis Oktober 1905 fĂŒhrte die Regierung

Massenverhaftungen durch, allein in Sebastopolwurden im Juli 1905 an die

tausend Seeleute verhaftet.

Die Matrosen schienen sich von diesen Maßnahmen nicht einschĂŒchtern zu

lassen. Im Oktober 1905 erheben sich die KronstÀdter Matrosen, am 25.

November kommt es zum massenhaften Aufstand in Sebastopol, an dem sich

die Mannschaften von elf Kriegsschiffen beteiligen; diese Ereignisse

beeinflussen sehr schnell die Moral der Flotte. Die Bewegung wird mit

unerhörter HÀrte niedergekÀmpft. Trotzdem ergibt sich die Flotte nicht;

die Initiative zum Aufstand kommt nun von der Ostseeflotte. Allein im

Juli 1906 sind drei Meutereien zu verzeichnen: in Sveaborg, wo der

Aufstand auf alle Inseln und sogar die Festung ĂŒbergreift; in

Helsingfors, in Kronstadt (zweiter Aufstand) und in Reval auf dem

Panzerkreuzer Pamiat Asova.

Welchen Grund hatten die langandauernden Unruhen? Anscheinend bestand

ĂŒber die fĂŒr das damalige Russland eigentĂŒmlichen politischen und

wirtschaftlichen VerhĂ€ltnisse hinaus eine besondere Situation fĂŒr die

Flotte. ZunĂ€chst war die Disziplin Ă€ußerst streng und willkĂŒrlich: Die

Offiziere behandelten den Matrosen als Untermenschen. Der Matrose kannte

seinerseits nicht seine Rechte noch wusste er genau, was ihm verboten

war. Alles hing von der Laune der Offiziere ab. Aber das moralische

Niveau der Marineoffiziere, die sich ausschließlich aus dem ungebildeten

Adel rekrutierten, war außerordentlich niedrig. Folgendes Beispiel

findet sich in der damaligen Presse: Trifft in Kronstadt ein Offizier

einen Matrosen und fragt ihn: „Kennst du mich?“ – Jawohl, Euer

Exzellenz“, antwortet der Matrose. „Wie ist mein Name“, will jetzt der

Offizier wissen. „Kennst du meinen Namen nicht?“ „Nein, Euer Exzellenz“,

antwortet der Matrose. „Dann will ich mich vorstellen“ – und er versetzt

dem Matrosen einen Fausthieb. Dieser Vorfall galt gewissermaßen als

normal; das Schicksal des Matrosen hing von der WillkĂŒr der Offiziere

ab, die ungeachtet der Vorschrift, „die menschliche WĂŒrde der

Untergebenen zu achten“, auf körperliche Bestrafung hĂ€rtester Art nicht

verzichteten. Nach Berichten von Besatzungsmitgliedern der Potemkin war

mehreren von ihnen bei SchlÀgen ins Gesicht das Trommelfell geplatzt.

Aus technischen GrĂŒnden wurden meistens Facharbeiter zur Flotte

rekrutiert, die mit der revolutionÀren Propaganda schon stark in

BerĂŒhrung gekommen waren. Dieser Umstand wie auch die im Land

herrschende Stimmung spielte eine wichtige Rolle bei den AufstÀnden der

Flotte. Dies steigerte sich in dem Maße, wie das Proletariat zum

Bewusstsein seiner WĂŒrde und seines sozialen Wertes gelangte. Die

BrutalitĂ€t und Dummheit der Befehlshaber gossen noch Öl in das Feuer.

Die feindliche Einstellung gegenĂŒber den Offizieren wuchs und wurde

durch ihr arrogantes Benehmen weiter genÀhrt.

Ein Beispiel ist der Befehl 184 vom 29. April 1905 des Admirals der

Schwarzmeerflotte: Er verbot den Matrosen bei Arreststrafen, bestimmte

Straßen Sebastopols zu betreten. Einige Tage spĂ€ter befindet sich eine

Gruppe von verwundeten Matrosen, von Port Arthur zurĂŒck, auf dem

Boulevard Istoritscheskij. Hier stand das Denkmal fĂŒr die bei der

Belagerung Sebastopols im Jahre 1855 Gefallenen. Ein Offizier trifft auf

die Matrosen und macht ihnen mit rĂŒden Worten klar, das der Boulevard

fĂŒr „ nijnje tschiny“, fĂŒr einfache Soldaten, gesperrt sei. Die Frage

eines Soldaten: „Haben wir nicht das Recht, Euer Exzellenz, den Boden zu

betreten, auf dem wir unser Blut vergossen haben?“ wird mit einigen

Ohrfeigen beantwortet 
 Solche VorfÀlle ereigneten sich hÀufig und

vertieften von Tag zu Tag den Graben zwischen Matrosen und Offizieren.

Je brutaler die Offiziere in ihrer Reaktion auf den Geist des

Ungehorsams wurden desto entschlossener zeigten sich die Matrosen

aufgeklĂ€rt und unterstĂŒtzt durch die revolutionĂ€re Propaganda. Der

Matrose Retznitschenko von der Potemkin berichtet in seinen

Erinnerungen, dass eines Tages wÀhrend einer illegalen Versammlung der

Matrosen eine von einem Offizier gefĂŒhrte Patrouille zu ihrer Verhaftung

erschien. Ein Matrose fragte den Offizier: „Was wĂŒnschen sie, Euer

Exzellenz?“ – „Ich befehle ihnen, auseinanderzugehen.“ – „Aber wir tun

hier nichts Kriminelles.“ Der Offizier insistierte: „Sie gehen

auseinander oder ich lasse schießen.“ – „Befehlen Sie nur zu schießen?“,

antwortete ihm der Matrose, „Kein Mensch wird Ihnen gehorchen. Denn:

heute bin ich hier, aber morgen bin ich vielleicht in einer Patrouille

unter Ihrem Befehl und wenn Sie mir dann, wie jetzt, befehlen, auf meine

Kameraden zu schießen, werde ich zuerst auf sie schießen.“ Daraufhin zog

der Offizier wortlos mit seiner Patrouille ab.

Es muss betont werden, das von den beiden konfigierenden Gruppen der

Matrosen und Offiziere die Matrosen moralisch und bildungsmĂ€ĂŸig

ĂŒberlegen waren. WĂ€hrend die Offiziere sich ihren Ausschweifungen

hingaben, interessierten sich die weit aufgeschlosseneren Matrosen fĂŒr

politische, moralische und kulturelle Fragen. So brachten sie Helden

hervor, die fĂŒr ihre Klasse zu sterben bereit waren. Um sich ein Bild

davon zu machen, braucht man nur aus dem letzten Brief des Matrosen

Matiutschenkow, des Kronisten des Potemkin-Aufstandes, zu zitieren:

„Heute wird das Urteil gefĂ€llt, stolz sterbe ich fĂŒr die Wahrheit, wie

es sich fĂŒr einen RevolutionĂ€r gehört. Adieu!“ Matiutschenkow war keine

Ausnahme, das russische Volk brachte viele Proletarier seines Formats

hervor. In Àhnlicher Weise lehnte der Matrose Petrow von der Prut, dem

vom Kommandanten Begnadigung und Wahl in die Duma garantiert wurden,

wenn er die Namen seiner Kameraden nannte, dieses Angebot mit Empörung

ab. Er wurde mit dreien seiner Kameraden am 24. August 1905 in

Sebastopol erschossen.

Der Offizier Daschkievitsch Gorbatskij fĂŒrchtete diese Entschlossenheit,

als er am 2. MĂ€rz 1906 an den Kommandanten der Schwarzmeerflotte

schrieb: „Euer Exzellenz, entlassen Sie alle Matrosen und Mechaniker der

Schiffe Otschakow und Pantelejmon; weiterhin alle, die am 15. November

die rote Fahne hissten oder indirekt an dem Aufstand teilhatten. Euer

Exzellenz, die ober erwÀhnten Matrosen sind eine ansteckende Gefahr, ein

Wanzennest fĂŒr die Flotte. Es ist besser, wenn die Matrosen, die sich

durch ihre Handlungen am 15. November bloßgestellt haben, die Marine

verlassen und in ihre Heimat zurĂŒck geschickt werden; fĂŒr sie gibt es

keinen Platz mehr in der Flotte. Es sind bewusste und rachsĂŒchtige

Kanaillen, zu Lebzeiten unverbesserlich. Sie werden nur neuerliche

Unruhen und Meutereien anstiften.“

Die Matrosen litten auch materielle Not. Sie wurden schlecht ernÀhrt,

schlecht gekleidet und ihr Sold war erbĂ€rmlich niedrig, zumal fĂŒr die,

die eine Familie zu ernÀhren hatten. In ihren Flugschriften prangerten

sie die Tatsache an, dass der russische Soldat schlechter ernÀhrt wurde

als der japanische (das war im russisch-japanischen Krieg); wÀhrend der

japanische Staat pro Person umgerechnet 56 Rubel zahlte, waren es in

Russland nur 24 Rubel. Hingegen erhielt Admiral Togo als

Oberbefehlshaber der japanischen Marine 5.6000 Rubel an JahresbezĂŒge,

wĂ€hrend GroßfĂŒrst Alexeij, erster Befehlshaber der russischen Flotte,

eine Jahresapanage von 108.000 Rubeln bezog. Schließlich machen die

Matrosen den Offizieren, die sie zu ernÀhren und zu kleiden hatten, den

schweren Vorwurf, sie zu ĂŒbervorteilen und ihnen lediglich

Nahrungsmittel schlechtester QualitÀt zu liefern. Es ist also kein

Zufall, das der Anlass fĂŒr den Aufstand auf der Potemkin das verdorbene

Fleisch war, das die Matrosen an jenem Mittag erhalten hatten.

In einem heimlichen Zirkular, abgefasst und unterzeichnet von Matrosen

und Panzerkreuzers Jekaterina II in Zusammenarbeit mit der

sozial-demokratischen Partei, werden folgende Forderungen erhoben:

1. VerkĂŒrzung der Wehrdienstzeit auf drei Jahre (damals sieben Jahre);

2. Genaue Festlegung der tĂ€glichen Dienstzeit (einschließlich

militĂ€rischer Übungen und Ausbildungszeiten);

3. Sold in einer den Unterhalt der Familie sichernden Höhe;

4. Kranken- und Unfallversicherung;

5. Direkte Kontrolle der fĂŒr die Beköstigung der Matrosen bestimmten

Gelder;

6. Wahl der Köche aus den Reihen ihrer Kameraden.

Unter den moralischen Forderungen finden sich:

1. Beseitigung militĂ€rischer Titel und der Grußpflicht gegenĂŒber

Vorgesetzten;

2. Behandlung von Delikten der Matrosen durch ordentliche Gerichte;

3. Neubesetzung der MilitĂ€rgerichte – paritĂ€tisch durch Offiziere und

von ihren Kameraden zu wÀhlende Matrosen, wobei die Vertreter der

Matrosen dieselben rechte wie die Richter im Offiziersrang haben

sollten;

4. Das Recht fĂŒr eine Schiffsmannschaft als Kollektiv, ihre Offiziere

vor Gericht zu zitieren.

Es waren verschiedene Parteien, die damals bei den Matrosen Propaganda

machten: Sozialdemokraten, RevolutionÀre Sozialisten, Anarchisten. Die

gezielteste Arbeit wurde von der Krim-Sektion der sozialdemokratischen

Partei geleistet, die eine eigene Zentrale fĂŒr die Flotte organisiert

hatte. Eine organisierte AufstÀndischen-Gruppe auf der Potemkin gehörte

den Sozialdemokraten an, unter ihnen Matiutschenkow. Es muß aber betont

werden, dass der russische Matrose damals in erster Linie Antizarist,

Antifeudalist und Antikapitalist war; fĂŒr die feinen Unterschiede in

Parteiprogrammen war er wenig empfÀnglich. Nach dem Aufstand auf der

Potemkin kam es zu einer Polemik zwischen dem Organ der

Sozialdemokraten, Iskra, und der Zeitschrift der RevolutionÀren

Sozialisten ĂŒber die Frage, welche Partei den grĂ¶ĂŸeren Einfuß in der

Marine habe. Matitutschenkow schrieb dazu in der Emigration, er gehöre

keiner Partei an (vorher war er Mitglied der Sozialdemokraten gewesen),

denn er habe sich unter den verschiedenen Programmen nicht orientieren

können; aber er werde sich jeder Partei anschließen, die einen

wirkungsvollen Kampf gegen die Herrschenden fĂŒhre. Im Pariser Exil wurde

er Mitglied einer anarcho-syndikalistischen Gruppe. SpÀter kehrte er

illegal nach Rußland zurĂŒck, wo er verhaftet und gehenkt wurde.

I.2 – 1917

Der bewaffnete Kampf der russischen Marine gegen den Zarismus und das

feudal-bĂŒrgerliche System endete mit der materiellen Niederlage der

Matrosen. Aber das konnte den kÀmpferischen Geist der Marine nicht

erschĂŒttern; die Matrosen hofften auf die Zukunft, auf die Chance, ihre

Toten rÀchen zu können. So sagte der Matrose Tschastnik (er wurde

zusammen mit Leutnant Schmidt und zwei anderen Matrosen – Gladkow und

Antonekow – nach dem Novemberaufstand 1905 standrechtlich erschossen)

seinen Feinden ins Gesicht: „Jetzt seid ihr es, die uns töten. Aber

wartet nur – in einigen Tagen, in einem Jahr vielleicht, mag sein in

einigen Jahren, werdet ihr dasselbe Schicksal erleiden, wenn nicht ein

schlimmeres. Werde auch nicht ich es sein, andere werden sich finden,

die uns rĂ€chen.“ (Auszug aus der Anklageschrift)

Damit hatte die russische Flotte ihre revolutionÀre Tradition, die ihr

wÀhrend der folgenden reaktionÀren Phase erhalten blieb. Der Weltkrieg

trug nur zu einer VerschÀrfung der revolutionÀren Erbitterung bei. In

einem offiziellen Bericht heißt es: „Seit Juli 1915 wurden alle Matrosen

der ersten Besatzung der Baltischen Flotte wegen ihres politischen

Nonkonformismus unter polizeiliche Bewachung gestellt und anschließend

zum Ausgleich von Verlusten der Marinebataillone an die Front entsandt.“

Die Matrosen, die so an die Front von Riga gelangten, sollten eine

wichtige Rolle in der Zersetzung der Armee spielen.

WĂ€hrend des Krieges wurde die Flotte seit 1915 mit Erfolg von den

MilitÀrorganisationen der Sozialdemokratie, der RevolutionÀren

Sozialisten (dem linken FlĂŒgel der Internationale), der Sektion Nord der

Anarcho-Kommunisten, von Tolstoianern und den verschiedenen religiösen

Sekten agitiert. Aber die Kriegsschrecken, die Niederlage an der Front,

die kritische Situation insbesondere auf dem Land (den Matrosen aus

Briefen ihrer Eltern bekannt) trugen vielleicht mehr als die eigentliche

revolutionÀre Propaganda zur Beschleunigung der politischen Entwicklung

in der Flotte bei. Dennoch blieb die militÀrische Disziplin in der

Flotte genauso streng und unmenschlich wie vor dem Krieg.

All dies hat auf die Moral der Flotte gewirkt, als die Revolution

begann. Der erste revolutionÀre Ausbruch in Kronstadt war dann auch von

besonderer Heftigkeit. Eine KronstĂ€dter Matrose: „Es war eine spontane

Entladung – aber genug, um die Vergangenheit auszuradieren.“

Admiral Virren, Festungskommandant und Organisator des Bagno-Regimes,

unter dem die KronstÀdter Matrosen lebten, wurde getötet. Dies war der

erste Sieg einer spontanen Matrosenrevolte, die von der Nachricht der

Petersburger Revolution ausgelöst wurde. Dasselbe geschah Admiral

Boutakow, Virrens engstem Mitarbeiter, sowie vierzig Marineoffizieren.

Weitere 236 Offiziere wurden in den GefÀngnissen von Kronstadt

festgehalten.

Um auch die letzten Schatten der Vergangenheit zu tilgen, fĂŒhrten die

Matrosen und Garnisonssoldaten die prinzipielle WĂ€hlbarkeit der

KommandotrĂ€ger ein. „Wir Matrosen und Soldaten haben nach dem Willen des

alten Regimes nur mit HĂ€nden und FĂŒĂŸen, freilich nicht mit dem Kopf zu

arbeiten gelernt. Aber Ihre Drohungen (dies richtete sich an Marschall

Schukow, Kriegs- und Marineminister der ersten provisorischen Regierung)

gehen an die falsche Adresse
Hier in Kronstadt haben wir mit unseren

bescheidenen Geistesgaben zu denken begonnen, und wir haben unsere

Vorgesetzten selbst bestimmt, angefangen bei den Kaporalen bis zum

Festungskommandanten. Wollen Sie sich von unseren FĂ€higkeiten

ĂŒberzeugen, so kommen Sie, sehen Sie selbst. Ich versichere Ihnen, dass

die Festung besser als vor dem 1.MĂ€rz auf eine Verteidigung vorbereitet

ist. Dies sagt Ihnen ein einfacher Matrose, Vertreter des freien Volkes.

Dies wird Ihnen Festungskommandant General Gerassimow bestĂ€tigen.“ Diese

Verteidigung des WĂ€hlbarkeitsprinzips wurde am 25. April 1917 in der

KronstÀdter Iswestija veröffentlicht.

Um auch nach außen hin die Demokratisierung der Flotte zu symbolisieren,

wurde in Kronstadt das Tragen von Schulterklappen bei der Marine und der

Festungsgarnison als Zeichen militÀrischer AutoritÀt abgeschafft. Der

Kriegsminister wurde veranlasst, diese Änderungen zu bestĂ€tigen. Admiral

Maximow veröffentlichte die Order: „Da die militĂ€rische Uniform in ihrem

Aussehen an das alte Regime erinnert, befehle ich hiermit allen

Einheiten, das Tragen von Epauletten zu unterlassen. An ihre Stelle

treten Tressen; Muster werden kĂŒrze dafĂŒr ĂŒbersandt.“ Zwei Tage spĂ€ter,

am 30. April 1917, erließ der Kriegsminister eine Order, in der er die

Abschaffung der SchulterstĂŒcke bestĂ€tigte – aber nur fĂŒr die Flotte.

Übergriffe gegen EpaulettentrĂ€ger in der Armee wurde mit strenger Strafe

bedroht.

Bald wurde Kronstadt zum Mekka der Revolution: Delegationen von der

Front, Delegationen aus dem Hinterland pilgerten dorthin. Zum Teil war

es ĂŒbrigens die bĂŒrgerliche Presse, die Kronstadt seinen revolutionĂ€ren

Ruf aufprĂ€gte; sie gab ihm auch die Bezeichnung „Republik Kronstadt“ ,

was den Vorwurf des Separatismus und Anarchismus enthielt.

Die im folgenden abgedruckte Entschließung einer KronstĂ€dter RĂ€tesitzung

vom 26. Mai 1917 musste allerdings auch die Bourgeoisie in besondere

Erregung versetzen (diese Resolution, die erstmals alle Macht in die

HĂ€nde des Sowjets von Kronstadt legte, leitete die MachtĂŒbernahme der

RĂ€te im ganzen Lande ein):

„Die Regierungsgewalt der Stadt Kronstadt liegt von nun an in den HĂ€nden

der DeputiertenrÀte der Arbeiter und Soldaten. Angelegenheiten, die das

ganze Land betreffen, werden von diesen Sowjets im Einvernehmen mit der

provisorischen Regierung beschlossen.

Alle Verwaltungsbehörden der Stadt Kronstadt werden mit Mitgliedern des

Exekutivausschusses besetzt, der zu diesem Zweck um eine entsprechende

Anzahl von Mitgliedern aus den Reihen der Sowjets erweitert wird.

Die einzelnen Funktionen in den Verwaltungsbehörden werden im VerhÀltnis

ihrer StĂ€rke auf die politischen Fraktionen verteilt; diese sind fĂŒr die

GeschĂ€ftsfĂŒhrung ihrer ReprĂ€sentanten verantwortlich.

Der Vorsitzende des Exekutivausschusses des Deputiertenrates der

Arbeiter und Bauern: Deputierter Lamanow

Der SekrĂ€ter: Prisselkow“

(Diese Resolution wurde mit 211 gegen 41 Stimmen bei einer Enthaltung

angenommen.)

Diese Entscheidung des KronstÀdter Sowjets wirkte wie ein Donnerschlag.

Sowohl die provisorische Regierung als auch die Presse starteten eine

Verleumdungskampagne gegen die „Republik von Kronstadt“, warfen ihr die

verschiedensten Ausschreitungen vor, insbesondere eine verbrecherische

Disziplinlosigkeit, die die Sicherheit der Nordfront bedrohte und das

revolutionĂ€re Petersburg strategisch gefĂ€hrdete. Dieses GerĂŒcht breitete

sich an der ganzen Front aus, bis in die entlegensten Provinzen. Aber es

zeitigte eine Reaktion, die die Interessen seiner Urheber durchkreuzte:

die Delegation, die nach Kronstadt kamen, waren desto mehr begeistert

von dem dort herrschenden Enthusiasmus fĂŒr die Arbeiterdemokratie.

Diese Delegationen besichtigten Schiffe, Kasernen, Fabriken und Werften.

Ihre EindrĂŒcke gibt ein Bericht der Nordfront-Delegation wieder:

„Kameraden, an der Front geht ein GerĂŒcht um, das besagt, in Kronstadt

herrsche die vollkommene Anarchie, Petersburg sei den Feinden

ausgeliefert, die dortige Festung sei zerstört. Mit diesem GerĂŒcht

versucht man, unser Vertrauen in Kronstadt zu erschĂŒttern. Unsere

Kameraden haben uns gewÀhlt, um die VorgÀnge in diesem Zentrum der

Revolution zu beobachten. Zu unserer Freude können wir sagen: Wir haben

hier eine vorbildliche Organisation angetroffen.“ (Iswestija Kronstadt,

5. Mai 1917)

In Kronstadt konzentrierte der Sowjet alle Macht auf sich, wobei ihm die

Matrosen und Soldaten bedingungslos Folge leisteten. Er entschied in

politischen Fragen genauso wie in moralischen; beschloss zum Beispiel in

einer Sitzung vom 17.-19. Mai das völlige Verbot des Alkoholgenusses.

Nach zeitgenössischen Berichten wurde dieses Verbot von der Mehrheit der

Matrosen befolgt, was angesichts der Situation von betrÀchtlicher

Bedeutung war.

Der Sowjet stand in stÀndigem Kontakt mit dem Jakornaijaplatz, dem Forum

von Kronstadt. Jeden Abend fanden dort Massenversammlungen statt, in

denen in aller Freiheit die aktuellen politischen Probleme diskutiert

wurden.

Nach Auskunft verschiedener Quellen war die Stimmung in diesem Publikum

von Matrosen und Soldaten weit radikaler als die Ansichten der Redner,

die sich oftmals, wollten sie nicht ihre Beliebtheit verlieren, diesem

allgemeinen Ton anpassen mussten. Den grĂ¶ĂŸten Erfolg hatten wie

gewöhnlich Sprecher aus den Reihen der Bolschewiken, der Anarchisten und

zum Teil der Linken RevolutionÀren Sozialisten. Dieses Forum von

Kronstadt war gewissermaßen ein politisches Stimmungsbarometer, nach

dessen AusschlÀgen die Parteien ihre Taktik richteten.

In Kronstadt hatte man ein wachsames Auge auf die Situation im Land und

an der Front, wobei man stÀndig Kontakt mit Petersburg hielt. In jeder

Situation, die eine rasche Entscheidung erforderte, schickte Kronstadt

seine Delegierten zu den Beratungen. Umgekehrt versicherte sich

Petersburg vor jeder grĂ¶ĂŸeren Unternehmung der UnterstĂŒtzung der

KronstĂ€dter Matrosen. Diese ließen sich nie lange bitten, zumal nach den

Ereignissen im Juli und Oktober.

Am 3. Juli marschierten mehr als 2000 bewaffnete Matrosen durch die

Straßen von Petersburg. Sie verbreiteten Furcht und Schrecken in der

Bourgeoisie der Hauptstadt. Im Oktober schickte Kronstadt neben anderen

Zentren der Baltischen Flotte, beispielsweise Helsingfors, Kriegsschiffe

an die NevamĂŒndung – ein entscheidendes Element in der Entwicklung des

Aufstandes. Dazu Trotzki in seiner Geschichte der Russischen Revolution

(Band 4. Seite 304): „In der Planung des Aufstandes setzte Smolny große

Hoffnungen auf die baltischen Matrosen. Er sah in ihnen Kampftruppen von

proletarischer Entschlossenheit, die zugleich eine vorzĂŒgliche

militĂ€rische Ausbildung besaßen.“ Es waren dann auch die Matrosen, die

im Oktober die Telegraphenzentrale der Regierung, die Staatsbank und

andere Punkte besetzen, die strategische Bedeutung fĂŒr den Ausgang des

Aufstandes hatten. Und es waren die Matrosen, die sich mit am aktivsten

fĂŒr die Stabilisierung des neuen Regimes einsetzten. An allen Fronten

des BĂŒrgerkrieges kĂ€mpften ihre Truppen.

Nach der Niederlage des Juli-Aufstandes glaubte die provisorische

Regierung, ĂŒber den linken FlĂŒgel der Revolution gesiegt zu haben. Ihre

ersten Repressalien waren gegen Kronstadt gerichtet. Am 7. Juli 1917

schickte Kerenskij diese Depesche an den Sowjet von Kronstadt: „Seit dem

Beginn der Revolution sind in Kronstadt und auf einigen Kriegsschiffen

unter dem Einfluss deutscher Agenten stehende Personen aufgetreten, die

zu Handlungen auffordern, welche die Revolution und die Sicherheit des

Vaterlandes gefĂ€hrden. WĂ€hrend unsere wachsende Armee unter großen

Verlusten ihren heldenhaften Kampf mit dem Feind aufnimmt, wÀhrend die

der Demokratie treue Flotte tapfer und unverweilt ihre schweren Aufgaben

versieht, fallen Kronstadt und einige Kriegsschiffe – an ihrer Spitze

die Respublica und die Petropawlowsk – ihren Kameraden in den RĂŒcken.

Sie befĂŒrworten Resolutionen gegen den Angriff an den Fronten, sie

fordern auf zum Ungehorsam gegen die in der provisorischen

demokratischen Regierung verkörperte revolutionÀre Macht, sie versuchen,

den Willen der VolksreprÀsentanten in den DeputiertenrÀten der Arbeiter,

Soldaten und Bauern unter Druck zu setzen. Gleichzeitig mit der

Offensive unserer Armee kam es in Petersburg zu Unruhen, die die

Revolution bedrohten und unsere Armee gefÀhrdeten. Als auf Anforderung

der provisorischen Regierung, im Einvernehmen mit dem Exekutivausschuss

der Deputiertensowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern, rasch und

entschlossen gegen jene KronstÀdter vorgegangen werden sollte, die an

volksfeindlichen Umtrieben teilgenommen hatten und die RĂŒckfĂŒhrung der

Kriegsschiffe nach Petersburg befohlen wurde, haben die Feinde des

Volkes und der Revolution unter Einschaltung des Zentralkomitees der

Baltischen Flotte Uneinigkeit in den Mannschaften provoziert, indem sie

diese Maßnahmen verzerrt zur Darstellung brachten; diese VerrĂ€ter haben

sich der RĂŒckfĂŒhrung revolutionstreuer Schiffe nach Petersburg

widersetzt, sie haben Maßnahme verhindert, die darauf zielten, dem vom

Feind gesteuerten Unruhen ein Ende zu setzen. Dieselben VerrÀter haben

die Mannschaften zu angeblich spontanen Aktionen verleitet, wie zu der

Absetzung des Generalkommissars Onipko, zu der Verhaftung des Adjutanten

des Kriegsministers, KapitÀn Dudorow, zur Vorlage einer ganzen Reihe von

Forderungen an den Exekutivausschuss des Panrussischen Sowjet-Kongress.

Der Verrat einiger Personen zwingt die provisorische Regierung dazu, die

Verhaftung der RĂ€delsfĂŒhrer sowie der nach Petersburg gekommenen

Delegation der Baltischen Flotte zu befehlen.

Aufgrund der angefĂŒhrten Fakten befehle ich:

1. die unverzĂŒgliche Auflösung und Neuwahl des Zentralkomitees der

Baltischen Flotte;

2. sÀmtliche Mannschaften der Baltischen Flotte von meinem Befehl

Kenntnis zu geben, das jeder VerdĂ€chtige unverzĂŒglich zu verhaften ist,

der zu Widerstand gegen die provisorische Regierung auffordert oder sich

öffentlich gegen die Offensive ausspricht. Diese Personen sind zu Verhör

und Verurteilungen nach Petersburg zu bringen;

3. Ich befehle den Mannschaften der Schiffe Petropawlowsk, Respublica

und Slava, innerhalb von 24 Stunden die RĂ€delsfĂŒhrer der Revolte zu

verhaften und zum Zwecke der Einvernahme und Verurteilung nach

Petersburg zu bringen; ich befehle ihnen ferner, sich allen Maßnahmen

der provisorischen Regierung zu unterwerfen.

Falls die Bevölkerung von Kronstadt und die Mannschaften der genannten

Schiffe meinem Befehl nicht nachkommen, werden sie als HochverrÀter ab

Revolution und Vaterland betrachtet und behandelt werden, und die

Regierung wird mit den hÀrtesten Mitteln gegen sie einschreiten.

Genossen, dieser Verrat bringt das Vaterland an den Rand des Abgrundes;

seine Freiheit und die Errungenschaften des Revolution sind tödlich

bedroht. Schon beginnt die deutsche Armee den Angriff auf unsere Front;

jederzeit ist mit einem entscheidenden Vorstoß der feindlichen Flotte zu

rechnen, die sich unsere Verwirrung zunutze macht. Um das zu verhindern,

bedarf es entschiedener und strenger Maßnahmen. Die Armee hat diese

Maßnahmen bejaht, die Flotte wird sie ebenfalls anzunehmen haben.

Im Namen des Vaterlandes, der Revolution, der Freiheit, fĂŒr das GlĂŒck

der arbeitenden Bevölkerung fordere ich euch auf: steht geschlossen

hinter der provisorischen Regierung und den demokratischen,

panrussischen Staatsorganen, pariert die Attacken der Feinde, schĂŒtzt

euch vor dem Dolchstoß der VerrĂ€ter.

Der Minister fĂŒr Krieg und Marine: Kerenskij“

SelbstverstÀndlich lehnte Kronstadt alle Forderungen Kerenskijs ab.

AnlĂ€sslich der Diskussion ĂŒber diese Depesche im KoronstĂ€dter Sowjet

bemerkte der Bolschewik Raskolnokow: „Solange es in Russland eine

Arbeiterbewegung gibt, haben streikende Arbeiter Àhnliche Aufforderungen

zur Denunzierung ihrer AnfĂŒhrer mit dem mutigen Satz beantwortet: ‘Unter

uns gibt es keine RĂ€delsfĂŒhrer, wir alle sind RĂ€delsfĂŒhrer des Streiks.‘

Wenn wir dem Beispiel unserer revolutionÀren VÀter folgen wollen, sind

wir zu der selben Antwort verpflichtet.“

Dreieinhalb Jahre spÀter verlangte die bolschewistische Regierung von

den KronstĂ€dter Matrosen abermals: Nennt eure AnfĂŒhrer! Und die

KronstĂ€dter Matrosen antworteten abermals mit einem kategorischem Nein –

gemĂ€ĂŸ den alten revolutionĂ€ren Traditionen von Flotte und Proletariat.

Das Kronstadt von 1921 stand in der ungebrochenen Tradition von 1917.

Jene, die im Jahre 1921 mitgemordet haben, wollen das nicht wahrhaben.

Aber Trotzkis Theorie , nach der Kronstadt damals seine besten Elemente

schon verloren haben soll, ist nicht aufrechtzuerhalten. Kronstadt war

nicht weniger erschöpft als das ganze Land, das sich mĂŒhsam vom

BĂŒrgerkrieg erholte. Hatten die Matrosen wertvolle KrĂ€fte verloren, so

hatte es die bolschewistische Partei nicht minder. (Aber das hinderte

sie nicht an der AusĂŒbung einer absoluten Herrschaft ĂŒber das Land und

das Proletariat.) Trotzki spricht von „Kulakengeist“ in der Flotte. Wenn

es solches 1921 in einem gewissen Ausmaß tatsĂ€chlich gegeben hat, so

fand es sich auch schon 1917. (Und wie will Trotzki ĂŒbrigens

„Kulakengeist“ identifizieren?) Und das hinderte die Flotte nicht daran,

ihre bedeutende Rolle in der sozialen Revolution zu spielen.

Alle Quellen berichten ĂŒbereinstimmend, das der Hass der KronstĂ€dter

Matrosenauf die provisorische Regierung hauptsÀchlich deren Agrarpolitik

galt. Bei einer Demonstration in der Petersburger Straße verhafteten am

3. Juli KronstÀdter Matrosen den Landwirtschaftsminister Tschernow,

einen Mann des rechten FlĂŒgels der RevolutionĂ€ren Sozialisten,

zweifellos wegen seiner Politik der Sabotage. „Man hegte fĂŒr diesen

‘Minister der Statistik‘ die allergrĂ¶ĂŸte Abneigung“ in der Kreisen

landstÀmmiger Matrosen und Soldaten, die Raskolnikow in seinen

Erinnerungen berichtete. Dieser Vorfall hinderte Trotzki ĂŒbrigens nicht,

der eben noch Tschernow vor der Lynchjustiz der Matrosen gerettet hatte,

sie am selben Tag als den „Stolz und den Ruhm der russischen Revolution“

zu bezeichnen.

TatsÀchlich hatten 1917 weder das russische Proletariat noch

insbesondere die KronstÀdter Matrosen ihre Beziehung zum Land verloren.

Aber es wÀre falsch zu sagen, dass zwischen 1917 der Anteil der Kulaken

in der Flotte zugenommen hÀtte.

Trotzkis Theorie erweist sich mithin als untauglich, die Tragödie von

Kronstadt zu erklÀren. Wir versuchen, Einsicht zu gewinnen, in dem wir

den Akten und Dokumenten folgen, wenngleich Trotzki uns lehrt, die wahre

historische Forschungsmethode bestehe nicht darin, den Dokumenten „aufs

Wort“ zu glauben. Diese Maxime wurde schon vor Trotzki aufgestellt; wir

aber werden ihr nicht folgen.

II. DIE ENTWICKLUNG ZUM AUFSTAND VON KRONSTADT

II.1 – FunktionĂ€rskarrieren und Massenelend

Der KronstÀdter Aufstand ereignete sich drei Monate nach der Auflösung

der letzten Fronten des BĂŒrgerkrieges im europĂ€ischen Russland.

Nach dem siegreichen Ende dieses Krieges befand sich die arbeitende

Bevölkerung in einer permanenten Hungersnot, auf Gnade und Ungnade dem

diktatorischem Regime eines totalitÀren Staates ausgeliefert, der von

einer einzigen Partei beherrscht wurde. Aber der Generation der

OktoberkÀmpfer standen die Parolen der Revolution noch frisch im

GedÀchtnis, erinnerten sie an das Ziel: eine neue Welt zu bauen. Diese

Oktobergeneration, zu der hervorragenden proletarische KrÀfte zÀhlten,

hatte mit blutendem Herzen die zeitweilige Außerkraftsetzung der Parolen

von Freiheit und Gleichheit akzeptiert, die, wenn nicht unvertrÀglich,

so doch schwer vereinbar mit einer kriegerischen Ausnahmesituation

waren. Als aber nun der Krieg siegreich beendet war, gab es fĂŒr das

Stadtproletariat, die Matrosen, die roten Soldaten, die Tagelöhner, fĂŒr

alle, die im BĂŒrgerkrieg ihr Blut gelassen hatten, keinen plausiblen

Grund fĂŒr die Hungersnot und den Zwang zum blinden Gehorsam gegenĂŒber

einer militÀrisch strengen Disziplin.

WÀhrend die einen an der Front kÀmpften, hatten die anderen, die

Organisatoren des Staates, ihre Position gefestigt und dabei zusehens

den Kontakt zur arbeitenden Bevölkerung verloren. Die BĂŒrokratie

hypertrophierte, der Staat geriet immer mehr in die HĂ€nde von

Karrieremachern. Bald galt im Alltagsleben ein Proletarier ohne

Parteimitgliedschaft unendlich viel weniger als ein Angehöriger des

alten Adels oder der Bourgeoisie, wenn dieser nur Parteimitglied war.

Die Freiheit der Kritik war beseitigt. Jeder Proletarier konnte in dem

Versuch, seine Rechte oder seine Klassenehre zu verteidigen, von jedem

beliebigen Kommunisten als konterrevolutionÀr diskriminiert werden.

Mit der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion ging es in

schwindelerregendem Tempo abwÀrts. Den Fabriken mangelte es vollkommen

an Rohmaterialien, die Maschinen waren abgenutzt und vernachlÀssigt. Das

Proletariat verwandte seine ganze Kraft darauf, lediglich den

individuellen Hunger zu stillen. DiebstÀhle in der Fabriken wurde zur

selbstverstĂ€ndlichen EntschĂ€digung fĂŒr unterbezahlte Arbeit; die

tĂ€glichen massenhaften Ausschließungen durch Tscheka-Trupps Ă€nderten

daran nichts.

Die Proletarier, die noch Verbindung zur Landbevölkerung hatten, gingen

auf Hamsterfahrt; Lebensmittel im Tausch gegen alte Kleider, ZĂŒndhölzer,

Salz. Die ZĂŒge waren voll von ihnen, die tausend Schwierigkeiten

meisterten, um Lebensmittel in die ausgehungerten StÀdte zu bringen und

die oftmals erbittert zusehen mussten, wie ihnen Milizstreifen die von

weither transportierte Last Mehl oder Kartoffeln wieder abnahmen.

Bei den Bauern ĂŒberwog die Angst vor hohen Naturalabgaben die Angst vor

Hungersnot nach schlechter Ernte – und sie drosselten die Aussaat.

Schlechte Ernten waren zwar nicht selten, in normalen Zeiten wurden aber

viel grĂ¶ĂŸere AckerflĂ€chen bestellt, um Reserven fĂŒr schlechte Zeiten zu

bringen.

Die Situation vor dem Aufstand von Kronstadt war also durch eine

schreckliche Diskrepanz zwischen Versprochenem und Verwirklichtem

gekennzeichnet. Diese Diskrepanz war die eigentliche Ursache der

Revolte.

FĂŒr die Flotte kam aber noch ein weiterer Konflikt hinzu. Nach dem

Frieden von Brest-Litowsk hatte die Regierung eine totale Reorganisation

der Armee initiiert. Insbesondere wurde eine strenge Disziplin

eingefĂŒhrt, die unvereinbar war mit dem Prinzip der WĂ€hlbarkeit der

Offiziere durch ihre Untergebenen. An die Stelle des demokratischen

Geistes, der zu Beginn der Revolution geherrscht hatte, trat die

Herrschaft einer ganzen neuen Hierarchie. In der Flotte hingegen war aus

sachlichen GrĂŒnden eine entsprechende Reorganisation unmöglich, da

hochqualifizierte KrÀfte nicht einfach ersetzt werden konnten. Hier

hatten die alten revolutionÀren BrÀuche bestand; ein Rest der 1917

errungenen Freiheiten blieb den Matrosen erhalten.

Der Zustand war unvereinbar mit den in der Armee herrschenden

VerhÀltnissen, also konnte er nicht dauern. Diese Spannung zwischen der

Massenbasis der Flotte und dem Oberkommando der Armee verschÀrfte sich

schlagartig mit dem Ende des BĂŒrgerkrieges im europĂ€ischen Russland.

Unzufriedenheit fand sich genauso bei parteilosen Matrosen wie bei

Mitgliedern der Partei. Alle Versuche, die Flotte „durch EinfĂŒhrung des

Geistes der Armee zu disziplinieren“, stießen seit 1920 auf aktiven

Widerstand. Zof, ein Mitglied des RevolutionÀren Kriegsrates der

Baltischen Flotte, wurde öffentlich als „Diktator“ gebrandmarkt. Der

BĂŒrokratismus und die Distanz zwischen Masse und FĂŒhrung wurde

wiederholt seit der II. Konferenz der kommunistischen Matrosen von 1921

kritisiert. Diese Haltung fand auch ihren deutlichen Ausdruck anlÀsslich

der Wahlen zum 8. Sowjet-Kongress im Dezember 1920, als eine große

Anzahl von Marinesoldaten demonstrativ die Wahlversammlung auf dem

Petersburger Ankerplatz verließ, um öffentlich gegen die Wahl von

FunktionÀren des Politotdijel und des Komflott zu protestieren. Diese

beiden Organisationen besaßen die politische Kontrolle ĂŒber die Flotte.

Am 15. Februar 1921 verabschiedete die II. Konferenz kommunistischer

Matrosen der Baltischen Flotte mit einer Beteiligung von 300 Delegierten

diese Resolution:

„Die II. Konferenz kommunistischer Matrosen beurteilt die Arbeitsweise

der Pubalt (der politischen Sektion der Baltischen Flotte) als schlecht

und erkennt in ihr die Ursache folgender MissstÀnde:

1. Der Pubalt hat sowohl den Kontakt zu den Massen als auch zu den

aktiven FunktionĂ€ren verloren. Er ist zu einem bĂŒrokratischen Organ

geworden, dessen AutoritÀt von den Matrosen nicht anerkannt wird;

2. In der Arbeit des Pubalt lÀsst sich ein vollkommener Mangel an

Planung und System erkennen; sie geschieht nicht in Übereinstimmung mit

dem ZK und den BeschlĂŒssen des 9. Parteitages;

3. Der Pubalt hat in seiner Loslösung von den Massen jede lokale

Initiative erstickt und die gesamte politische Arbeit in Papierkrieg

verwandelt, was sich negativ auf die Organisation der Massen in der

Flotte ausgewirkt hat; in der Zeit von Juni bis November haben 20% der

kommunistischen Matrosen die Parteimitgliedschaft aufgegeben, was den

falschen Methoden und Verfahrensweisen des Pulbalt zuzuschreiben ist;

4. Die Konferenz unterstellt, dass die Ursachen dieser MissstÀnde direkt

im Organisationsprinzip des Pubalt zu suchen sind und das dieses Prinzip

in Richtung auf eine grĂ¶ĂŸere Demokratisierung zu modifizieren ist.“

Eine Reihe von Abgeordneten forderte in ihren AusfĂŒhrungen die „völlige

Abschaffung der politischen Sektionen in der Flotte“, eine Parole, die

spĂ€ter von den KronstĂ€dter AufstĂ€ndischen ĂŒbernommen werden sollte. All

dies waren Argumente der berĂŒhmten Syndikalismus-Diskussion, die dem 10.

Allrussischen Parteikongress vorausging.

In den zeitgenössischen Dokumenten erkennt man immer wieder den Willen

der bolschewistischen FĂŒhrer, unter ihnen Trotzki, sich den GrĂŒnden fĂŒr

die Unzufriedenheit der Arbeiter und ehemaligen Soldaten zu

verschließen, neben der Absicht, ihre militĂ€rischen Methoden auf das

Alltagsleben zu ĂŒbertragen, insbesondere in den Fabriken und

Gewerkschaftsorganisationen.

In dieser Syndikalismus-Diskussion bezogen die baltischen Matrosen einen

von Trotzki deutlich abgesetzten Standpunkt. In den Wahlen zum 10.

Parteitag entschied sich die Flotte gegen ihre unmittelbaren FĂŒhrer:

gegen Trotzki, den Volkskommissar fĂŒr Krieg und Marine, und gegen

Raskolnikow, den Chef der Baltischen Flotte, die beiden in der

Gewerkschaftsfrage gleicher Ansicht waren.

Gleichzeitig protestierten die Matrosen gegen die allgemeine Situation

im Lande durch massenhaften Austritt aus der Partei. Allein im Januar

1921 verließen nach Aufzeichnungen Sorins, des Kommissars von

Petersburg, 5000 Matrosen die Partei.

Es steht außer Zweifel, dass die parteiinternen Diskussionen eine

erhebliche psychologische Rolle spielten: das Problem war wichtig genug,

um ĂŒber die Parteiorganisation hinaus die Massen der Arbeiter, Soldaten

und Matrosen zu beschÀftigen. Die leidenschaftliche Diskussion hatte als

Katalysator gewirkt; das Proletariat hatte logisch ĂŒberlegt: Wenn den

Parteimitgliedern Diskussion und Kritik erlaubt waren, warum dann nicht

den breiten Massen, die alle Belastungen des BĂŒrgerkrieges erduldet

hatten?

In seiner Rede auf dem 10. Parteitag unterstrich Lenin sein Bedauern,

diese Diskussion ĂŒberhaupt zugelassen zu haben: „Mit der Zulassung

dieser Diskussion haben wir zweifellos einen Fehler begangen. Zu Beginn

des FrĂŒhjahres voller Schwierigkeiten konnte diese Debatte nur Schaden

stiften.“

II.2 – Die Entwicklung in Petersburg

Der Winter 1920/21 brachte fĂŒr Petersburg besondere HĂ€rten, obwohl die

Bevölkerung der Stadt damals um zwei Drittel abgenommen hatte. Schon vor

der Revolution im Februar hatte ein gewisser Mangel geherrscht, der von

Monat zu Monat zunahm. Die Lage wurde dadurch verschÀrft, dass

Petersburg schon immer zu einem großen Teil durch Einfuhr aus anderen

Landesteilen versorgt worden war. WĂ€hrend der Revolution war die

Landwirtschaft jener Gebiete kaum in der Lage, die Hauptstadt zu

ernÀhren. Zudem machte der katastrophale Zustand der Transportmittel

eine Einfuhr unmöglich. Die unablÀssig wachsende Spannung zwischen Stadt

und Land tat ein ĂŒbriges, auch anderwĂ€rts die Bevölkerung der StĂ€dte

hungern zu lassen.

Dazu kamen noch die SchwerfĂ€lligkeit der BĂŒrokratie und die Habsucht der

fĂŒr die Versorgung zustĂ€ndigen Stellen, deren Funktion in der ErnĂ€hrung

der Bevölkerung fast nur negativ zu werten war. Wenn die Einwohner

Petersburgs damals nicht verhungert sind, so haben sie das nur ihrer

Eigeninitiative zu verdanken. Man besorgte sich zu essen, indem man

nahm, wo man fand.

In Russland blĂŒhte der Tauschhandel. Obgleich auf dem Lande der Anbau

reduziert war, hatte man doch noch VorrÀte, die man allerdings nur gegen

Mangelware wie Salz, ZĂŒndhölzer, Schuhe, Petroleum und Ă€hnliches

einzutauschen bereit war. Diese suchte sich die Stadtbevölkerung mit

allen Mitteln zu beschaffen. Das gelang zwar nur in ganz geringem

Ausmaß, immerhin reprĂ€sentierten diese GĂŒter, wie man damals sagte, die

einzige WĂ€hrung von Wert. DafĂŒr gab es einige Kilo Kartoffeln, ein wenig

Mehl. So hielt man sich am Leben, vorausgesetzt, man entging den

ansteckenden Krankheiten. Damals fuhren lediglich ungeheizte GĂŒterwagen,

dicht gedrÀngt die Menschen darin, Rucksack an Rucksack. Oft blieb der

Zug auf der Strecke stehen, der Brennstoff war ausgegangen, die

Reisenden stiegen aus und sammelten Holz.

Offiziell gab es keine MĂ€rkte mehr. Aber in fast jeder Stadt blĂŒhte der

Schwarze Markt, halb im geheimen, halb unter den zugedrĂŒckten Augen des

Gesetzes. So auch in Petersburg, als plötzlich im Sommer 1920 auf

Anordnung Sinowjews der Handel völlig liquidiert wurde.

Doch der Staat war nicht bereit und in der Lage, die Stadt zu ernÀhren.

Die wenigen noch existierenden GeschÀfte wurden behördlich geschlossen

und versiegelt. In diesem Augenblick nahm das Hungerelend ĂŒberhand, da

es durch keine private Initiative mehr kompensiert werden konnte. Im

Januar 1921 erhielten: Arbeiter am Hochofen – 800 Gramm Schwarzbrot; in

der Metallverarbeitung – 600 Gramm; Inhabern von Lebensmittelkarten

zwischen 400 und 200 Gramm pro Tag. Dabei muss man bedenken, dass

Schwarzbrot damals noch das Hauptnahrungsmittel des russischen Arbeiters

war.

Diese offiziellen Rationen wurden nun aber weder regelmĂ€ĂŸig noch in

voller Höhe ausgeteilt. So kamen etwa Transportarbeiter nur in den

Genuss von 700 bis 1000 Kalorien pro Tag und auch das nur unregelmĂ€ĂŸig.

Dazu kam der Mangel an Heizmaterial, Kleidung und Schuhen.

Nach offiziellen Angaben betrug der Arbeitslohn eines Petersburger

Arbeiters 1920 etwa 8,9% seines Einkommens von 1913 (ca. 3 Rubel

monatlicher Reallohn).

Stadtflucht setzte ein. Was blieb, war jenes echte Stadtproletariat, das

keine Verbindung zur Landbevölkerung hatte. Wer noch Eltern auf dem Land

hatte, ging zu ihnen. Dies muss im Gegensatz zur offiziellen Version

gesagt werden, die die Petersburger Streikbewegung aus der Anwesenheit

eines von der proletarischen Ideologie unzureichend belehrten Landvolkes

herleiten will. Die paar tausend Arbeitsdienstsoldaten in Petersburg

konnten dieses Bild nicht verÀndern. Es waren die Proletarier

Petersburgs, Veteranen zweier vergangener Revolutionen, die das

klassische Klassenkampfproblem zur Anwendung brachten – den Streik.

Am 23. Februar wird in den Trubotschnij-Werken der erste Streik

ausgerufen. Am 24. organisieren diese Streikenden eine

Straßendemonstration. Sinowjew stellt ihnen Offizierskadetten entgegen.

Die Streikenden suchen Kontakt mit der Besatzung der „Finnland-Kaserne“.

Gleichzeitig greift der Streik auf die Baltisky-Werke ĂŒber, auf die

Fabrik Laferm und eine Anzahl anderer Industriebetriebe. Die Arbeiter

der Schuhfabrik Skorokhod legen die Arbeiter nieder, die Belegschaften

drei weiterer Fabriken schließen sich an, am 28. erreicht der Streik die

Putilow_Werft.

Die Streikparolen betrafen die wirtschaftlichen VerhÀltnisse, die

Organisation der Versorgung. Die Belegschaft mehrerer Fabriken forderte

die Wiedereröffnung der MÀrkte, den freien Verkehr innerhalb der

50-km-Zone und die Abschaffung von Milizkontrollen gegen Hamsterer.

Aber auch politische Forderungen wurden erhoben: die Freiheit der

Meinung und der Presse sowie die Freilassung politischer HĂ€ftlinge. In

einigen Fabriken wurde den Kommunisten die Gefolgschaft aufgekĂŒndigt.

Angesichts der verzweifelten Lage des russischen Arbeiters, aus der er

legitimerweise einen Ausweg suchte, fanden Sinowjew (der sich nach

zahlreichen ĂŒbereinstimmenden Quellen in Petersburg wie ein

morgenlÀndischer Satrap gebÀrdete) und sein opportunistisches örtliches

Parteikomitee keine anderen Argumente als die der Waffe. „Es galt“, so

schreibt Poukhow, offizieller Chronist des KronstÀdter Aufstandes,

„entschiedene, klassenbewusste Maßnahmen zu ergreifen. Die Feinde der

Revolution versuchten, Teile des Proletariats zu verfĂŒhren, um mit ihrer

Hilfe der Arbeiterklasse und ihrer Vorhut, der Kommunistischen Partei,

die Macht zu entreißen.“

Am 24. Februar wurde ein dreiköpfiger Verteidigungsausschuss mit

Sondervollmachten ernannt, der ĂŒber einen Stab technischer FunktionĂ€re

verfĂŒgte. Auch in jedem Stadtviertel wurde eine „Troika“, ein

Dreierausschuss, eingesetzt, bestehend aus dem ParteisekretÀr des

Viertels, einem kommunistischen Bataillonskommandanten und einem

Vertreter des MilitĂ€rgerichts. FĂŒr die Distrikte wurden Komitees

ernannt, in denen der zustÀndige ParteisekretÀr, der Vorsitzende des

Exekutivrates des örtlichen Sowjets und der MilitÀrkommissar des Bezirks

saßen.

Der Verteidigungsausschuss rief noch am selben Tag den

Belagerungszustand aus und erließ folgende Anordnung:

„Erlass des Verteidigungsausschusses fĂŒr die Festung Petersburg.

Nach Anordnung des Exekutivrates des Petrosowjets vom 24. Februar ist

der Verteidigungsausschuss verpflichtet, fĂŒr die Stadt Petersburg den

Belagerungszustand auszurufen. In AusfĂŒhrung dieser Anordnung geben wir

der Bevölkerung Petersburgs bekannt:

1. Der Verkehr auf den Straßen ist nach 23.00 Uhr strengstens verboten;

2. SÀmtliche Versammlungen, AuflÀufe und Kundgebungen sind sowohl unter

freien Himmel als auch in geschlossenen RĂ€umen ohne ausdrĂŒckliche

Genehmigung durch den Verteidigungsausschuss verboten;

3. Personen, die diesem Befehl nicht folge leisten, werden nach

Kriegsrecht bestraft.

Diese Anordnung tritt mit ihrer Veröffentlichung in Kraft.

Der MilitÀrkommandant von Petersburg: Awrow

FĂŒr den Verteidigungsrat: Laschewitsch

Der Festungskommandant: Bulin“

Gleichzeitig wurde die Mobilmachung der Parteimitglieder ausgerufen. Die

aktivsten Streikbeteiligten wurden verhaftet, die Spezialeinheiten

wurden in Verteidigungsbereitschaft gesetzt – hingegen stellte am 28.

Februar die Zollmiliz ihre Arbeit im Departement Petersburg ein.

II.3 – Die Resolution der KronstĂ€dter Matrosen

Die Matrosen von Kronstadt waren selbstverstÀndlich an dem Geschehen in

Petersburg interessiert und entsandten am 26. Februar ihre Deligierten

dorthin, um sich ĂŒber den Streik zu unterrichten. Diese Delegation

besuchte eine Reihe von Fabriken und kehrte am 28. Februar nach

Kronstadt zurĂŒck. Am selben Tag fasste die Mannschaft des Kreuzers

Petropawlowsk nach Anhörung der Berichte diese Resolution ab:

„Wir haben den Bericht des Ausschusses angehört, den die Versammlung

aller Matrosen der Ostseeflotte nach Petersburg entsandte, um die Lage

dort zu erkunden, und wir beschließen daraufhin:

1. Da die gegenwÀrtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht

mehr ausdrĂŒcken, augenblicklich neue, geheime Wahlen auszuschreiben und

fĂŒr den Wahlkampf die volle Freiheit fĂŒr die Agitation bei den Arbeitern

und Soldaten zu garantieren;

2. Den Arbeitern und Bauern sowie allen anarchistischen und

linkssozialistischen Gruppen die Rede- und Pressefreiheit zu gewÀhren;

3. Die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit aller Gewerkschaften und

Bauernorganisationen zu garantieren;

4. Eine ĂŒberparteiliche Konferenz der Arbeiter, der Soldaten der Roten

Armee und der Matrosen von Petersburg, Kronstadt und der Petersburger

Provinz einzuberufen, die spÀtestens am 10. MÀrz stattfinden soll;

5. Alle politischen Gefangenen, die sozialistischen Parteien angehören,

freizulassen und alle Arbeiter, Bauern und Matrosen aus der Haft zu

entlassen, die im Zusammenhang mit Arbeiter- und Bauernunruhen

inhaftiert worden sind;

6. Zur ÜberprĂŒfung all jener, die in GefĂ€ngnissen und

Konzentrationslagern festgehalten werden eine ÜberprĂŒfungskommission

einzusetzen;

7. Alle Politotdijel (politischen BĂŒros der Kommunisten) abzuschaffen,

da keine Partei besondere Privilegien zur Verbreitung ihrer Ideen oder

finanzielle Hilfen von seiten der Regierung beanspruchen darf; an ihrer

Stelle sind Kommissionen fĂŒr Kultur und Erziehung zu bilden, die lokal

zu wÀhlen und von der Regierung zu finanzieren sind;

8. Alle Sagraditelnije ortrajdi (bewaffnete Ordnungspolizeitruppen der

Bolschewiki) sind sofort aufzulösen

9. Die Lebensmittelrationen fĂŒr alle Arbeitenden sind gleich hoch

anzusetzen; auszunehmen sind nur diejenigen, die durch ihre Arbeit

gesundheitlich besonders gefÀhrdet sind;

10. Die kommunistischen Spezialabteilungen in allen Formationen der

Roten Armee und die kommunistischen Betriebsschutztruppen sind

abzuschaffen; sie sind – wo nötig – durch Einheiten zu ersetzen, die aus

der Armee selbst hervorgehen und in den Fabriken von den Arbeitern

selbst zu bilden sind;

11. Den Bauern ist die volle VerfĂŒgungsgewalt ĂŒber ihr Land zu geben,

auch das Recht, eigenes Vieh zu halten, unter der Bedingung, dass sie

mit ihren eigenen Mittel, das heißt ohne gedungene ArbeitskrĂ€fte

auskommen;

12. Alle Soldaten und Matrosen sowie die MilitÀrkadetten sind

aufzufordern, sich unseren BeschlĂŒssen anzuschließen;

13. Es ist dafĂŒr zu sorgen, dass unsere BeschlĂŒsse durch die Presse

weithin bekanntgemacht werden;

14. Es ist eine reisende Kontrollkommission zu benennen;

15. Die freie Kustarnoe-Produktion (das heißt die individuelle

Handwerks- und Gewerbearbeit) ist zuzulassen, soweit sie nicht auf der

Ausbeutung von ArbeitskrĂ€ften beruht.“

Diese Resolution, die von der Vollversammlung der KronstÀdter Matrosen

wie auch von Einheiten der Roten Armee angenommen wurde und die

Zustimmung der arbeitenden Bevölkerung fand, verdient als politisches

Programm des Aufstandes eine genauere Analyse.

II.4 – Analyse der Resolution

Die KronstÀdter Matrosen waren sich ebenso wie die Streikenden in

Petersburg darĂŒber im klaren, dass die wirtschaftlichen VerhĂ€ltnisse in

Russland in direkter Beziehung zu den politischen standen. Ihre

Unzufriedenheit bezog sich genauso auf die Hungersnot wie auf die

politischen ZustĂ€nde. Die russischen Proletarier hatten ihre großen

Hoffnungen auf die Sowjets gesetzt und mussten nun enttÀuscht zusehen,

wie deren Macht immer mehr von einer einzigen Partei absorbiert wurde,

die zudem in der AusĂŒbung absoluter Herrschaft und unter dem Einfluss

von Karrieremachern degenerierte. Ihre Resolution wandte sich gegen die

Alleinherrschaft dieser Partei.

Punkt 1 der Resolution kennzeichnet eine Vorstellung, die gerade von den

besten der russischen Arbeiter geteilt wurde; dass nÀmlich die

vollkommen bolschewisierten Sowjets nicht mehr den Willen der Arbeiter

und Bauern ausdrĂŒckten. Daher die Forderung nach Neuwahlen bei gleichen

Chancen fĂŒr alle politischen Richtungen.

Sollte es zu einer solchen Neubelebung der Sowjets kommen, mussten

jedoch alle politischen Richtungen ohne Furcht vor Verleumdung und

Verfolgung zu Worte kommen können. Daher die Forderung nach Rede-,

Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit.

Es ist zu berĂŒcksichtigen, dass die Landbevölkerung damals weitgehend

materiell nivelliert war; die Kulaken waren enteignet. Die Behauptung,

durch Meinungsfreiheit auf dem Lande waren den Kulaken politische Rechte

zugestanden worden, ist also unzutreffend. (TatsÀchlich wurde schon

wenige Jahre spĂ€ter der Landbevölkerung nahegelegt, sich „zu bereichern“

– ĂŒbrigens von Bucharin, dem damaligen Parteiideologen.)

Die Resolution der KronstĂ€dter hatte den Vorzug der Klarheit – nicht der

Neuheit. Ihre Leitidee waren ĂŒberall verbreitet, sie lagen gewissermaßen

in der Luft. Überall fĂŒllten sich die GefĂ€ngnisse und neugegrĂŒndeten

Konzentrationslager mit Arbeitern und Bauern, die sich zu diesen Ideen

bekannt hatten. Die KronstĂ€dter vergaßen diese Kampfgenossen nicht. Sie

widmeten ihnen zwei Punkte ihrer Resolution; mit Punkt 6 ist eine

Kontrolle der unzureichend objektiven Sowjetjustiz beabsichtigt, eine

Forderung, die ganz in alter proletarischer Tradition steht. Als

Kerenskij im Juli 1917 in Petersburg die baltische Delegation verhaften

ließ, hatte Kronstadt unverzĂŒglich eine Delegation geschickt, die ihre

Freilassung erwirken sollte. – Die Resolution von 1921 nimmt diesen

Gedanken wieder auf.

Die Punkte 7 und 10 wenden sich gegen das Monopol einer herrschenden

Partei, die ausschließlich und unkontrolliert von Staatskasse, MilitĂ€r

und Polizei Gebrauch macht.

Punkt 9, in dem gleiche Rationen fĂŒr alle Arbeiter gefordert werden,

widerlegt eine spĂ€tere Äußerung Trotzkis aus dem Jahre 1938, der damals

behauptet (in seiner Antwort an Wendelin Thomas): „WĂ€hrend das Land

Hunger litt, verlangten die KronstĂ€dter Privilegien.“

Punkt 14 greift auf eine alte Forderung des Vor-Oktober zurĂŒck:

Kontrolle durch die Arbeiter. Man erkannte in Kronstadt, dass die Basis

keine echte Kontrollmöglichkeiten besaß und wollte diese nun endlich

einfĂŒhren.

Punkt 11 schließlich bringt Forderungen der Bauern zur Sprache, mit

denen sich die KronstĂ€dter Matrosen – wie Übrigens das ganze russische

Proletariat – nach wie vor verbunden wussten. Diese Verbindung erklĂ€rt

sich aus der besonderen Entwicklung der russischen Industrie, die sich

aufgrund der relativ lang anhaltenden feudalen Strukturen nicht aus dem

stÀdtischen Handwerk, sondern aus der Landbevölkerung rekrutiert hatten.

Bleibt also festzuhalten: Die baltische Matrosen hatten 1921 im

Vergleich zu 1917 eine ungebrochen starke Beziehung zur Landbevölkerung.

Sie nahm eine der großen Parolen der Oktoberrevolution auf, indem sie

das Recht des Bauern auf eigenes Land und Vieh unter der Voraussetzung

unterstĂŒtzen, dass damit keine Ausbeutung von ArbeitskrĂ€ften verbunden

sein durfte.

In der damaligen Situation bedeutete das zugleich einen Versuch, die

nahezu tödliche Versorgungskrise der Bevölkerung, ein Ergebnis

andauernder Requisitionen, zu sanieren.

Es stellt sich die Frage, ob in Punkt 11 tatsÀchlich

konterrevolutionÀres Denken zum Ausdruck kommt, dass den allrussischen

Kreuzzug gegen die KronstÀdter Matrosen rechtfertigen könnte. Ein

Regime, das sich als Staat der Arbeiter und Bauern ausgab und nicht

ausschließlich mit LĂŒge und Terror arbeiten wollte, musste die Belange

der Bauern berĂŒcksichtigen könnten, ohne damit seine revolutionĂ€ren

Charakter einzubĂŒĂŸen. Übrigens standen die KronstĂ€dter mit diesen

Forderungen fĂŒr die Bauern nicht allein. Auch in der Ukraine gab es

jener Zeit eine Machno-Bewegung, die auf revolutionĂ€re UrsprĂŒnge

zurĂŒckging, ihre eigenen Forderungen aufstellte und sie mit dem

unbestreitbaren Hinweis auf ihr Mitwirken bei der Niederschlagung der

feudalen Söldnertruppen unterstrich. Damit, meinten die MachnoanhÀnger,

hĂ€tten sie das Recht erworben, ĂŒber ihr Zusammenleben selbst zu

bestimmten. Diese Machno-Bewegung war, entgegen den zwar sehr

kategorischen, aber unbewiesenen Behauptungen Trotzkis, nicht von

Kulaken inspiriert. Kubanin, ihr bolschewistischer Chronist , weist

vielmehr mit Hilfe von Statistiken nach, dass diese Bewegung in solchen

Gebieten entstand und sich entwickelte, wo allergrĂ¶ĂŸte Armut herrschte.

Die Machno-Bewegung wurde blutig niedergeschlagen.

Es steht jedenfalls fest, dass die inkonsequente Agrarpolitik der

Bolschewisten schĂ€dlich war; 1931, zehn Jahre nach Kronstadt, mĂŒndete

sie schließlich in die berĂŒchtigte Kulakenverfolgung. In seiner sehr

differenzierten Untersuchung dieser Angelegenheit kommt Suwarin zu

diesem Schluss: „Es wurden wenigstens fĂŒnf Millionen Dorfbewohner ohne

Ansehen des Geschlechts oder Alters aus ihren HĂ€usern vertrieben und

damit zu unverdientem Elend, wenn nicht dem Tod verurteilt.“ Und auch

das konnte ĂŒbrigens die Agrarprobleme nicht lösen denn die heutigen

Kolchosen scheinen nur unter dem Zwang der allmÀchtigen GPU zu

funktionieren. Es steht zu vermuten, dass dieser „Sozialismus mit der

Knute“ keine großen FrĂŒchte tragen wird.

Die Forderung des Punktes 15 schließlich nach der Freistellung

handwerklicher Produktion hatte augenscheinlich keinen prinzipiellen

Stellenwert. Das Handwerk sollte nach Absicht der KronstÀdter lediglich

vorĂŒbergehend den totalen Produktionsausfall der Industrie ĂŒberbrĂŒcken

helfen.

III. Der Aufstand von Kronstadt

III. 1 – Der Anlass (1. und 2. MĂ€rz 1921)

Der Sowjet von Kronstadt war jeweils am 2. MĂ€rz zu wĂ€hlen. FĂŒr den 1.

MĂ€rz war ein Meeting der 1. und 2. Brigade der Linienschiffe

ordnungsgemĂ€ĂŸ durch Veröffentlichung in der KronstĂ€dter Tageszeitung

einberufen worden.

Bei dieser Gelegenheit sollten unter anderen Kalinin, PrÀsident des

Allrussischen Exekutivrates der Sowjets, und Kusmin, Politkommissar der

Baltischen Flotte, öffentlich sprechen. Kalinin wurde bei seiner Ankunft

mit Musik, Fahnen und militÀrischen Ehren empfangen. 16.000 hatten sich

zu dem Meeting unter Vorsitz des örtlichen SowjetprÀsidenten Wassilijew

eingefunden. Die am Vortag nach Petersburg entsandte Delegation

erstattete Bericht; ebenfalls wurde die am 28. Februar von der

Petropawlowsk-Besatzung verabschiedete Resolution verlesen. Kalinin, der

mit Kusmin die Resolution ablehnte, wies darauf hin, dass „Kronstadt

nicht fĂŒr ganz Russland sprechen könne“. Dennoch votierte die ganze

Versammlung fĂŒr diese Resolution, bei zwei Gegenstimmen, denen von

Kalinin und Kusmin. Weiter wurde die Entsendung einer dreißigköpfigen

Delegation nach Petersburg beschlossen; gleichzeitig wurde eine

Petersburger Delegation eingeladen, die VerhÀltnisse unter den

KronstĂ€dter Matrosen kennenzulernen. Schließlich wurde fĂŒr den folgenden

Tag eine Versammlung einberufen, an der Delegierte der Kriegsschiffe,

der Roten Armee, der Behörden, der Werften, Fabriken und Gewerkschaft

teilnehmen sollten, um ĂŒber die Frage der Neuwahlen zum örtlichen Sowjet

zu beraten. Kalinin gelangte ĂŒbrigens unbehelligt nach Petersburg

zurĂŒck.

Am 2. MĂ€rz tagte die Delegiertenversammlung. Nach Angaben der

KronstĂ€dter Iswestija waren diese Delegierten ordnungsgemĂ€ĂŸ gewĂ€hlt. Man

kam ĂŒberein, ordentliche Wahlen durchzufĂŒhren. Als erste sprachen Kusmin

und Wassilijew. Kusmin betonte in seinen AusfĂŒhrungen, die Kommunisten

wĂŒrden ihre Macht nicht kampflos aufgeben. Die beiden Reden waren so

aggressiv und provokant, dass die Versammlung die Entfernung und

Arrestierung der beiden Sprecher verlangte. Andere anwesende Kommunisten

kamen jedoch ausfĂŒhrlich zu Wort.

Die Delegiertenversammlung nahm mit großer Mehrheit die Resolution der

Petropawlowsk an. Danach wollte man die Frage der Neuwahlen detailliert

untersuchen. Dazu kam es jedoch nicht; plötzlich verbreitete sich das

GerĂŒcht, die Bolschewisten planten einen bewaffneten Angriff auf die

Versammlung. In dieser alarmierenden Situation wurde ein provisorisches

Revolutionskomitee durch die Versammlung ernannt, dem alle Vorsitzenden

der Delegiertenversammlung angehörten und das seine Beratungen auf der

Petropawlowsk aufnahm, wo auch Kusmin und Wassilijew festgehalten

wurden.

Das Provisorische Revolutionskomitee bestand aus folgenden 15

Mitgliedern:

Petritschenkow – Obermaat auf der Petropawlowsk;

Jakowenkow – Telefonist im Bezirk Kronstadt;

Ososow – Maschinist auf der Sewastopol;

Archipow – Maschineningenieur;

Perepelkin – Mechaniker auf der Sewastopol;

Patruschew – Erster Mechaniker auf der Petropawlowsk;

Kupolow – Ärztlicher Oberassistent;

Werschinin – Matrose auf der Sewastopol;

Tukin – Elektriker;

Romanenkow – Vorarbeiter im Trockendock;

Oreschin – Leiter der 3. Technischen Schule;

Walk – Zimmermann;

Pawlow – Arbeiter bei den Seeminen-WerkstĂ€tten;

Bajkow – Fuhrmann beim Festungsbau;

Kilgast – Vollmatrose.

Diese Liste macht deutlich, dass die Mitglieder des Komitees zum großen

Teil altgediente Matrosen waren. Die offizielle Version lautet hingegen,

dass die Revolte von Elementen angefĂŒhrt wurde, die erst vor kurzem in

die Marine eingetreten waren und nichts mit den Helden von 1917 gemein

hatten.

WĂ€hrend des 2. MĂ€rz besetzten die KronstĂ€dter unter der FĂŒhrung des

Komitees die strategischen Punkte der Stadt, die GebÀude der staatlichen

Verwaltung, des Generalstabs, die Telegraphen- und TelefonbĂŒros. Auf den

Schiffen und in den Armeekorps wurden Dreiergremien (Troikas)

eingesetzt. Gegen 9 Uhr abends hatte sich ein Großteil der

Festungsbesatzung und der roten Armeekorps angeschlossen. Es erschien

eine Delegation von Oranienbaum und erklÀrte die Bereitschaft der

dortigen Garnison, sich dem Komitee zu unterstellen.

Am selben Tage wurde die Druckerei des Iswestija besetzt, am folgenden

Tag erschien die erste vom Provisorischen Revolutionskomitee

herausgegebene Nummer mit der Mitteilung: „Die Kommunistische Partei,

als Herrscher im Staat, hat sich von den Massen gelöst. Sie hat ihre

UnfĂ€higkeit bewiesen, das Land aus dem Chaos herauszufĂŒhren. Die Unruhen

in Petersburg und Moskau machen deutlich, dass sie das Vertrauen der

Arbeitermassen verloren hat. Sie kĂŒmmert sich nicht um die Forderungen

der Arbeiter, denn sie sieht in ihren Unruhen nur konterrevolutionÀre

Umtriebe. Das ist ihr grundlegender Irrtum. Am 2. MĂ€rz hatten sich die

Delegierten aller Arbeiterorganisationen, der Flotte und der Roten Armee

im Kulturhaus mit der Absicht versammelt, die Voraussetzungen fĂŒr

Neuwahlen zu schaffen, um den friedlichen Wiederaufbau der Herrschaft

der Sowjets zu beginnen. Veranlasst aber durch Drohungen der

ReprÀsentanten der Macht, Kusmins und Wassilijews, und in der Furcht vor

Repressalien, beschloss die Versammlung die Einsetzung eines

Provisorischen Revolutionskomitees, dem sie fĂŒr alle Angelegenheiten der

Stadt und der Festung die volle Verantwortung ĂŒbertrug.

Das Provisorische Revolutionskomitee hat die Absicht, kein Blut zu

vergießen. Es hat zu außergewöhnlichen Maßnahmen gegriffen, die in der

Stadt, der Festung und in den Bastionen eine revolutionÀre Ordnung

garantieren. Das Komitee will, vereint mit den KrÀften von Stadt und

Festung, die Voraussetzungen fĂŒr ordentliche Wahlen zum neuen Sowjet

schaffen.“

Am selben Tag verbreitete Radio Moskau diesen „Aufruf zum Kampf gegen

das Komplott der Weißen Garde“: „Die Meuterei General Koslowskijs und

des Kriegsschiffes Petropawlowsk ist ebenso wie andere AufstÀnde der

Weißen Garde das Werk von Agenten der Entente; das erhellt aus der

Tatsache, dass die französische Zeitung „Le Matin“ zwei Wochen vor dem

Aufstand General Koslowskijs folgende Depesche aus Helsingfors

veröffentlichte: ‚Wie wir aus Petersburg erfahren, haben die

militÀrischen Befehlshaber der Bolschewisten infolge der letzten Revolte

in Kronstadt eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die diese Stadt

isolieren und den Matrosen und Soldaten aus Kronstadt den Aufenthalt in

Petersburg untersagen.‘ Es liegt auf der Hand, dass der Aufstand in

Kronstadt von Paris aus gesteuert wird 
, dass die französische

Gegenspionage ihre HĂ€nde im Spiel hat. Die Geschichte wiederholt sich

immer. Die RevolutionÀren Sozialisten mit ihrer Zentrale in Paris

bereiten den Boden fĂŒr einen neuen Aufstand gegen die Macht der Sowjets.

Ist ihnen das gelungen, so taucht hinter ihnen als wirklicher FĂŒhrer der

zaristische General auf. Genauso war es, als Koltschak nach Vorarbeit

der RevolutionĂ€ren Sozialisten die Macht an sich reißen konnte.“

So verschieden stellten sich die Fakten und deren Interpretation bei den

beiden Antagonisten dar.

Der Aufruf von Radio Moskau kam zweifellos von der Spitze des PolitbĂŒros

der Partei. Er war mit Genehmigung Lenins lanciert worden, der ĂŒber die

Situation in Kronstadt unterrichtet sein musste. Selbst wenn er

RatschlÀge von Sinowjew eingeholt haben sollte, dessen panische

Ängstlichkeit er kennen musste, ist nicht anzunehmen, dass ihm der

wirkliche Tatbestand unbekannt war, denn Kronstadt hatte am 2. MĂ€rz eine

Delegation zu ihm geschickt, die er nach den wahren Motiven des

Aufstandes hĂ€tte fragen können. Es steht außer Zweifel, dass Lenin,

Trotzki und die ganze Parteispitze sehr genau wussten, dass es sich

nicht um eine Revolte der GenerÀle handelte. Warum erfand man die

Legende vom General Koslowskij als angeblichem Kopf der Meuterei? Die

Antwort findet sich in der den Bolschewiken eigenen Moral, die manchmal

ĂŒbrigens sehr blind ist, da sie nicht sieht, dass eine LĂŒge sich auch

gegen ihren Urheber wenden kann. Die Legende von General Koslowskij

ebnete einer spÀteren Legende den Weg, die in den Jahren 1928/1929

Trotzki eine „Verschwörung“ mit einem Wrangel-General andichtete. Wer

war ĂŒberhaupt dieser General Koslowskij, den der offizielle Sender als

FĂŒhrer des Aufstandes ausgab? Er war Artilleriegeneral, einer der

ersten, der sich vonseiten der Roten anschloss. Als einfacher Techniker

schien er ĂŒber keinerlei FĂŒhrungsqualitĂ€ten zu verfĂŒgen. Als es zum

Aufstand kam, kommandierte er die KronstÀdter Artillerie, hÀtte aber

nach der Flucht des kommunistischen Festungskommandanten gemĂ€ĂŸ dem

herrschenden Festungsreglement dessen Stelle einnehmen mĂŒssen. Er

weigerte sich mit dem Vorwand, die Festung stĂŒnde unter dem Befehl des

Provisorischen Revolutionskomitees, damit sei das alte Reglement außer

Kraft gesetzt. Koslowskij blieb also in Kronstadt, aber lediglich als

Artillerie-Spezialist. Übrigens machte er nach dem Fall Kronstadts in

Interviews mit finnischen Zeitungen den Matrosen den Vorwurf, sie hÀtten

wertvolle Zeit mit anderen Fragen vertan, als mit der Verteidigung der

Festung. Er erklÀrte das mit der Absicht der KronstÀdter, jedes

Blutvergießen zu verhĂŒten. SpĂ€ter beschuldigten auch andere Offiziere

der KronstÀdter Garnison die Matrosen der militÀrischen UnfÀhigkeit und

des absoluten Misstrauens ihren technischen Beratern gegenĂŒber. –

Koslowskij war also der einzige in Kronstadt verbliebene General, dessen

Namen sich die Regierung bedienen konnte und bediente.

Dennoch stimmt es, dass die KronstÀdter teilweise auf die militÀrischen

FĂ€higkeiten von Offizieren zurĂŒckgriffen, die sich im Augenblick des

Aufstandes in der Festung befanden. Es ist möglich, dass diese Offiziere

den AufstÀndischen ihren Rat nur aus Feindschaft gegen die Bolschewisten

zur VerfĂŒgung stellten. Aber auch die Regierungstruppen bedienten sich

der militÀrischen Erfahrung alter Offiziere bei ihrem Angriff auf

Kronstadt. Wenn also auf der einen Seite ein Koslowskij, ein Salomianow,

ein Arkannikow und einige andere wenig bekannte Offiziere standen, so

setzte man auf der Gegenseite Toukhatschewskij, Kamenew, Amrow und

andere MilitÀrspezialisten des alten Regimes ein. Auf beiden Seiten aber

wirkten die Offiziere niemals als unabhÀngige, eigenstÀndige Kraft.

III.2 – Der Höhepunkt (2. bis 7. MĂ€rz 1921)

Am 2. MÀrz hatten die KronstÀdter im Bewusstsein ihrer Rechte, ihrer

Pflichten und der moralischen Kraft ihrer revolutionÀren Tradition mit

der Wiederherstellung des von der Einheitspartei korrumpierten

RĂ€tesystems begonnen.

Am 7. MÀrz eröffnete die Zentralregierung ihre militÀrischen Operationen

gegen Kronstadt.

Was war in der Zwischenzeit geschehen?

In Kronstadt organisiert das um 5 kooptierte Mitglieder erweiterte

Provisorische Revolutionskomitee das Leben in der Stadt und der Festung.

Es beschließt, zur inneren Verteidigung der Stadt das Proletariat zu

bewaffnen. Es setzt weiterhin Neuwahlen innerhalb einer Frist von 3

Tagen fĂŒr die Leitungsorgane der Gewerkschaften und den Gewerkschaftsrat

an, dem es wichtige Aufgaben zugedacht hatte.

Einfache KP-Mitglieder verließen massenhaft die Partei, um ihr Vertrauen

in das Provisorische Revolutionskomitee zu manifestieren. Das von einer

Fraktion von ihnen gegrĂŒndete provisorische ParteibĂŒro verfasste einen

Aufruf:

„Traut nicht den absurden GerĂŒchten von Elementen, die nur Blutvergießen

provozieren wollen. Sie behaupten, verantwortliche Kommunisten wĂŒrden

hingerichtet und daher sei aus ihren Kreisen mit einem militÀrischen

Angriff zu rechnen.

Das ist eine absurde PropagandalĂŒge von Ententeagenten mit der Absicht,

die Macht der Sowjets zu stĂŒrzen.

Das provisorische BĂŒro der Kommunistischen Partei hĂ€lt die Neuwahl zum

Sowjet fĂŒr unabdingbar und forderte alle Mitglieder zur Teilnahme auf.

Das provisorische BĂŒro der Kommunistischen Partei fordert weiterhin alle

Mitglieder auf, ihre Posten nicht zu verlassen und nichts gegen die

Maßnahmen des Provisorischen Revolutionskomitees zu unternehmen.

Es lebe die Macht der Sowjets.

Es lebe die weltweite Union der Arbeiter.

FĂŒr das provisorische BĂŒro der Kommunistischen Organisation von

Kronstadt

Ilin (ehem. Versorgungskommissar)

Perwuschin (ehem. Vorsitzender des lokalen Exekutivrates)

Kabanow (ehem. Vorsitzender des BezirksbĂŒros der Gewerkschaft)

Poukhow sagt in einer Stellungnahme zu diesem Dokument:

„Man kann dieses Dokument nur als Verrat betrachten: ein

opportunistischer Schritt zur Kollaboration mit den RĂ€delsfĂŒhrern des

Aufstandes, der tatsĂ€chlich konterrevolutionĂ€ren Charakter hatte.“

Poukhow bestÀtigt den Einfluss dieses Dokuments auf die Massenaustritte

an der Parteibasis; nach seinen Angaben verließen 780 Kommunisten die

Organisation.

Die Iswestija empfing eine Reihe von Zuschriften, in denen

Parteiaustritte begrĂŒndet wurden. Hier der Brief des Lehrers Denissow:

„Ich erklĂ€re öffentlich vor dem Provisorischen Revolutionskomitee, dass

ich mit dem ersten Kanonenschuss auf Kronstadt meine Mitgliedschaft in

der Partei fĂŒr beendet halte und mich der Parole der Arbeiter Kronstadts

anschließe: ‚Alle Macht den RĂ€ten – nicht der Partei!‘.“

Ein anderer Kommunist, Baranow, Chef der Hafenwache, schreibt:

„Die Partei reprĂ€sentiert nicht mehr den Willen weiter

Bevölkerungskreise; das wird u. a. in Briefen aus der Provinz bestÀtigt,

die von dem UnglĂŒck und der Verfolgung berichten, die den Bauern von der

Partei zugefĂŒgt werden. Ich will nicht mehr als Mitglied der KP

betrachtet werden; Ich schließe mich der Resolution vom 1. MĂ€rz an und

werde die Anordnungen des Provisorischen Revolutionskomitees befolgen.“

Mitglieder einer Spezialkompagnie fĂŒr Disziplin erklĂ€ren:

„Die Unterzeichneten sind in die Partei mit der Annahme eingetreten,

dass diese den Willen der Massen der Arbeiter ausdrĂŒckt. TatsĂ€chlich

betÀtigt sich aber die Partei als Folterknecht der Arbeiter und Bauern.

Das beweisen die letzten VorfÀlle in Petersburg, die den unehrlichen

Charakter der ParteifĂŒhrer demaskieren, denen nach Moskauer

Radioberichten jedes Mittel zur Erhaltung ihrer Macht genehm ist.

Wir wollen fortan nicht mehr als Mitglieder der Partei gelten und

schließen uns vorbehaltlos der Resolution an, wie sie von der

Versammlung der KronstÀdter Garnison am 2. MÀrz verabschiedet wurde.

Auch bitten wir alle Genossen, die ihren Irrtum einsehen, dies

öffentlich zuzugeben.

Gezeichnet: Gutman, Jerimow, Kudriatzew, Andrejew“

(Iswestija vom 7. MĂ€rz)

Die Kommunisten der Festung „Rif“ veröffentlichen diese Resolution:

„In den letzten drei Jahren hat unsere Partei vielen Karrieremachern und

Revolutionsgewinnlern Aufnahme gewĂ€hrt und damit BĂŒrokratismus und

Sabotage im Kampf gegen das wirtschaftliche Debakel ins Kraut schießen

lassen. Unserer Partei lag immer der Kampf gegen die Feinde des

Proletariats und der Arbeiterklasse am Herzen; wir erklÀren öffentlich,

dass wir auch weiterhin als Söhne des Volkes die Errungenschaften der

Arbeiter verteidigen werden.

Wir werden es keiner Weißen Garde erlauben, dass sie sich die schwierige

Situation der Sowjetrepublik zunutze macht und werden ihr schon beim

ersten Versuch die gehörige Antwort erteilen.

Wir erklÀren abermals, dass wir uns dem Provisorischen

Revolutionskomitee unterstellen, dessen Ziel die Schaffung der Sowjets

der Arbeiter- und Bauernklasse ist.

Es lebe die Macht der RĂ€te, der wahren Verteidiger der Arbeiterrechte.

Gezeichnet: Der Vorsitzende der Versammlung der Kommunistischen Festung

„Rif“

Gezeichnet: Der SekretĂ€r“

(Iswestija vom 7. MĂ€rz)

Gewiss könnte man glauben, dass derartige ErklÀrungen von

Parteimitgliedern unter dem Diktat oder Zwang eines in Kronstadt

herrschenden Terrorregimes zustande gekommen wÀren. Aber wÀhrend der

ganzen Zeit des Aufstandes ist in Kronstadt kein einziger inhaftierter

Bolschewist hingerichtet worden, obwohl sich unter ihnen die

verantwortlichen Flottenchefs, Kusmin und Batys, befanden. Bleibt noch

zu erwĂ€hnen, dass die Mehrheit der Bolschewisten sich ĂŒberhaupt in

Freiheit befand.

In der Iswestija vom 7. MĂ€rz finden wir einen Artikel unter der

Überschrift: „Wir rĂ€chen uns nicht!“.

„Die lang erduldeten Repressionen der bolschewistischen Diktatur haben

in der Masse zu einer verstĂ€ndlichen VerĂ€rgerung gefĂŒhrt, die sich an

einigen Orten im Boykott oder der Entlassung der Eltern von

Bolschewisten Luft macht. Das darf nicht geschehen! Wir rÀchen uns

nicht; wir verfolgen lediglich unsere Interessen als Arbeiter. Wir

mĂŒssen uns ZurĂŒckhaltung auferlegen und lediglich die Saboteure

entfernen sowie die lĂŒgnerischen Agitatoren, die die Wiederherstellung

der Macht und der Rechte der Arbeiter zu verhindern suchen.“

In Petersburg hatte man ganz andere Vorstellungen von HumanitÀt. Auf die

Nachricht von der Verhaftung Kusmins und Wassilijews verfĂŒgte das

Verteidigungskomitee die Verhaftung aller in Petersburg ansÀssigen

Familienangehörigen von KronstĂ€dter Matrosen. Über Kronstadt wurden vom

Flugzeug aus Zettel mit dieser Warnung abgeworfen:

„Das Verteidigungskomitee gibt die Verhaftung von Familien von

KronstĂ€dter Matrosen bekannt, die als Geiseln fĂŒr unsere von den

AufstÀndischen verhafteten Genossen, insbesondere den Flottenkommissar

Kusmin und den Vorsitzenden des KronstÀdter Sowjet, Wassilijew,

festgehalten werden. Wenn ihnen auch nur ein Haar gekrĂŒmmt wird, werden

diese Geiseln es zu bĂŒĂŸen haben.“ (Iswestija vom 5. MĂ€rz)

Das Provisorische Revolutionskomitee antwortet auf diese Botschaft ĂŒber

Radio:

„Im Namen der Garnison von Kronstadt verlangt das Provisorische

Revolutionskomitee innerhalb von 24 Stunden die Freilassung jener

Familien von Arbeitern, Matrosen und Soldaten, die vom Petrosowjet als

Geiseln festgehalten werden. Die Garnison von Kronstadt betont, dass in

Kronstadt die Kommunisten volle Freiheit genießen und dass ihre Familien

absolut unangetastet bleiben; sie weigert sich, dem Beispiel des

Petrosowjet zu folgen, denn sie betrachtet eine solche Handlungsweise,

selbst wenn sie von Hass diktiert ist, als unendlich niedrig und

verwerflich.

Gezeichnet: Der Vorsitzende des PRK: Petritschenkow, Matrose; Kilgast,

SekretĂ€r“

(Iswestija vom 7. MĂ€rz 1921)

Um GerĂŒchten zu begegnen, wonach inhaftierte Kommunisten gefoltert

wurden, beschloss das Provisorische Revolutionskomitee die Einsetzung

einer Spezialkommission zur Untersuchung aller FĂ€lle von

Kommunistenvehaftungen. In diese Kommission wollte man auch einen

Vertreter der KP aufnehmen, wie die Iswestija vom 4. MĂ€rz meldet. Diese

Kommission scheint sich jedoch nie konstituiert zu haben, da schon 2

Tage spÀter die Bombardierung Kronstadts begann. Tatsache ist jedoch,

dass das Provisorische Revolutionskomitee eine KP-Delegation empfing,

die zur Inspektion der Gefangenen auf der Petropawlowsk autorisiert

wurde. Die dort Festgehaltenen hatten ĂŒbrigens Versammlungsfreiheit und

sogar das Recht zur Herausgabe einer Wandzeitung ‚Aus dem GefĂ€ngnis der

Kommunarden‘ (nach Zaikowakij, „Kronstadt 1917 – 1922“).

Man darf also den Schluss ziehen, dass in Kronstadt kein Terror

herrschte und dass die AufstÀndischen sich unter den schwierigen und

tragischen UmstĂ€nden alle MĂŒhe gaben, ihre Begriffe von

Arbeiterdemokratie aufrecht zu erhalten.

Auch die massenhaften Ergebenheitsadressen von Angehörigen der

Parteibasis an das Provisorische Revolutionskomitee drĂŒckten diesen

Willen der arbeitenden Bevölkerung aus. Im RĂŒckblick erscheint dieser

demokratische Wille der KronstÀdter beinahe unerhört angesichts des

Denkens und der Taten jener, die in Petersburg und Moskau herrschten:

verstĂ€ndnislos, taub und blind fĂŒr die Forderungen der KronstĂ€dter und

der arbeitenden Massen in der UdSSR.

Ein objektiver Beobachter wird nicht verstehen können, wie man in jenen

tragischen Tagen, da sich die Katastrophe noch hÀtte abwenden lassen,

eine solche Sprache sprechen konnte wie das Verteidigungskomitee von

Petersburg, es sei denn in der festen Absicht, ein Blutbad zu

provozieren und die bedingungslose Übergabe der Matrosen durchzusetzen.

Am 5. MĂ€rz richtete das Verteidigungskomitee von Petersburg einen Appell

an die AufstÀndischen:

„Das habt ihr nun erreicht! – Man will Euch einreden, Petersburg,

Sibirien und die Ukraine stĂŒnden auf Eurer Seite. Das ist eine

unverschĂ€mte LĂŒge! In Petersburg wird Euch auch der letzte Matrose im

Stich lassen, sobald er erfÀhrt, dass Ihr von GenerÀlen vom Schlage

eines Koslowskij gefĂŒhrt werdet.

Sibirien und die Ukraine stehen fest zur Macht der Sowjets. Petersburg

lacht ĂŒber die unglĂŒcklichen Anstrengungen einer Handvoll RevolutionĂ€rer

Sozialisten und Weißgardisten.

Ihr seid von allen Seiten eingeschlossen. In wenigen Stunden werdet Ihr

Euch ergeben mĂŒssen. Kronstadt hat kein Brot und Brennmaterial. Weigert

Ihr Euch, so wird man Euch wie Enten auf dem Teich abschießen.

Alle GenerÀle vom Schlage Koslowskij und Bourkser, solche Canaillen wie

Petritschenkow und Turin werden sich im letzten Augenblick zu den

Weißgardisten nach Finnland absetzen. Wo aber werdet Ihr hingehen, die

einfachen Matrosen und Soldaten? Wenn Ihr an die versprochene Aufnahme

in Finnland glaubt, tÀuscht Ihr Euch. Habt Ihr nicht gehört, wie es den

Wrangelsoldaten ergangen ist, die nach Konstantinopel gebracht wurden

und dort hungrig und krank wie Fliegen starben? Gleiches droht Euch,

wenn Ihr nicht schnell zur Besinnung kommt! Verliert keine Minute und

ergebt Euch sofort. Sammelt die Waffen ein und kommt zu uns. Entwaffnet

und verhaftet die RĂ€delsfĂŒhrer und vor allem die zaristischen GenerĂ€le.

Wer sich sofort ergibt, wird nicht bestraft!

Ergebt Euch sofort!

Das Verteidigungskomitee“

Gleichzeitig gab der Petrosowjet einen Aufruf an die Arbeiter, Matrosen

und Soldaten Kronstadts heraus:

„Eine Handvoll Abenteurer und KonterrevolutionĂ€re hat Kronstadt in

Verruf gebracht.

Im RĂŒcken der Petropawlowsk-Matrosen treiben sicherlich Agenten der

französischen Gegenspionage ihre Machenschaften.

Sie reden den Matrosen ein, es ginge um den Kampf fĂŒr die Demokratie,

sie wĂŒrden kein Blut vergießen, nicht ein Schuss werde fallen und all

das im Namen irgendeiner Demokratie. FĂŒr so eine Demokratie können

Agenten der französischen Kapitalisten, zaristische GenerÀle und ihre

ergebenen Helfershelfer, die Menschewiken und RevolutionÀren

Sozialisten, kĂ€mpfen. Die AufrĂŒhrer des Komplotts behaupten, ohne einen

Schuss an die Macht gekommen zu sein. Das war nur möglich, weil die

Sowjetmacht den Konflikt friedlich lösen wollte. Aber dabei kann sie es

lÀnger nicht belassen: die internationale Bourgeoisie wird schon

aufmerksam, im Lager der Feinde des Proletariats wird Jubel laut, jedem

Tag ist mit einem neuen Kreuzzug gegen das Russland der RĂ€te zu rechnen.

Unsere Errungenschaften sind bedroht. Die Abenteurer, die behaupten, die

Kommunisten wĂŒrden mit dem wirtschaftlichen Aufbau nicht fertig, drĂ€ngen

Sowjetrussland in einen neuen Krieg. Der Petrosowjet und die

Zentralregierung können und dĂŒrfen das nicht zulassen. Die Sache der

belagerten KonterrevolutionÀre in Kronstadt ist hoffnungslos. Sie stehen

ohnmĂ€chtig dem Russland der Sowjets gegenĂŒber. Ihr Aufstand ist in

kĂŒrzester Frist zu liquidieren.

Genossen Arbeiter, Matrosen und Soldaten seht ein:

Man hat Euch getÀuscht; von Euch allein hÀngt der mögliche blutige

Ausgang dieses Abenteuers ab, in das Euch die Weißen Garden verwickelt

haben; von Euch hĂ€ngt es ab, dass die Banden der Weißgardisten nicht

ungestraft davonkommen.

Genossen, verhaftet auf der Stelle die AnfĂŒhrer des konterrevolutionĂ€ren

Komplotts. Setzt unverzĂŒglich den KronstĂ€dter Sowjet wieder ein. Die

Regierung der Sowjets wird zwischen arglos verfĂŒhrten Arbeitern und den

vorsÀtzlichen KonterrevolutionÀren zu unterscheiden wissen.

Genossen, abermals sagt Euch der Sowjet von Petersburg:

Auf Euch kommt es an, dass Bruder nicht auf Bruder schießt, dass die

mörderischen Absichten des Feindes der Arbeiterklasse auf ihn selbst

zurĂŒckfallen. Dies ist unsere letzte Aufforderung; die Zeit vergeht,

entschließt Euch und zögert nicht; zieht mit uns gegen den gemeinsamen

Feind oder Ihr werdet gemeinsam mit den KonterrevolutionÀren klÀglich

zugrunde gehen.

Gezeichnet: Der Arbeiter-, Bauern- und Soldatensowjet von Petersburg“

(nach: Radio Novaja Hollandia)

Diese Meldung beantwortete das Provisorische Revolutionskomitee mit

einem Aufruf:

„An Alle, an Alle, an Alle! –

Genossen Arbeiter, Soldaten und Matrosen. Wir in Kronstadt wissen, was

Ihr, Eure Frauen und Kinder unter der Kommunistischen Diktatur erlitten

habt. Wir haben den kommunistischen Sowjet gestĂŒrzt und das

Provisorische Revolutionskomitee eröffnet heute die Wahlen zu einem

neuen Sowjet, der frei gewÀhlt wird und der den Willen der gesamten

arbeitenden Bevölkerung und der Garnison vertreten soll, nicht nur den

einer Handvoll wahnsinniger Bolschewisten.

Unsere Sache ist gerecht:

Wir sind fĂŒr die Macht der RĂ€te, gegen die Macht einer einzigen Partei;

wir sind fĂŒr die frei gewĂ€hlte Vertretung der arbeitenden Massen. Die

korrupten, von der KP gekauften Sowjets, waren fĂŒr unsere Forderungen

taub, SchĂŒsse waren ihre einzige Antwort.

Nun, da die Geduld der Arbeiter erschöpft ist, will man uns mit Almosen

den Mund stopfen. Auf Anordnung Sinowjews sind die Milizpatrouillen im

Bezirk Petersburg eingestellt worden. Moskau wendet 10 Millionen

Goldrubel auf, um im Ausland Lebensmittel und BedarfsgĂŒter zu kaufen.

Wir aber wissen: mit solchen Almosen lÀsst sich das Proletariat von

Petersburg nicht bestechen; ĂŒber die Köpfe der Kommunisten hinweg

reichen wir Euch die brĂŒderliche Hand des revolutionĂ€ren Kronstadt.

Genossen, man erzĂ€hlt Euch nicht nur einfach LĂŒgen; Ihr erfahrt die

durch schÀbigste Verleumdungen entstellte Wahrheit. Lasst Euch durch

diese Taktik nicht verwirren!

In Kronstadt ist die Macht in den HĂ€nden der Matrosen, der Roten

Soldaten sowie der revolutionĂ€ren Arbeiter, nicht in HĂ€nden der Weißen

Garde mit General Koslowskij an der Spitze, wie Radio Moskau Euch

weismachen will.

Gezeichnet: Das Provisorische Revolutionskomitee“

AuslÀndische Kommunisten, die sich damals in Petersburg und Moskau

aufhielten und in Regierungskreisen verkehrten, bestÀtigen, dass die

Regierung ĂŒberstĂŒrzt Nahrungsmittel im Ausland aufkaufte (es wurde sogar

Schokolade angeschafft, was fĂŒr russische VerhĂ€ltnisse immer schon Luxus

war). Moskau und Petersburg hatten abrupt die Taktik gewechselt. Und die

Regierung war psychologisch den KronstĂ€dtern ĂŒberlegen: sie wusste, wie

bestechend Weißbrot auf eine ausgehungerte Bevölkerung wirken musste.

Vergebens predigten die KronstÀdter den Petersburgern, das Proletariat

lasse sich nicht mit Almosen kaufen. Die Almosen taten ihre Wirkung

zweifellos, zumal im Verein mit anderen Maßnahmen, wie der konsequenten

Verfolgung der Streikenden.

Immerhin blieb ein Teil des Petersburger Proletariats noch wÀhrend der

KronstÀdter Revolte im Ausstand. Ihre Streikforderung war: Freilassung

der politischen HĂ€ftlinge.

In einigen Betrieben fand man die KronstÀdter Iswestija an den WÀnden;

in den Straßen Petersburgs verkehrte sogar ein Lieferwagen, der

Flugschriften aus Kronstadt abwarf. In einigen Fabriken, wie etwa der

26ten Staatsdruckerei lehnten die Arbeiter eine Resolution zur

Verurteilung der KronstÀdter Matrosen ab. In den Arsenal-Betrieben

organisierten die Arbeiter am 7. MĂ€rz (als Kronstadt zum ersten Male

bombardiert wurde) eine Versammlung, die die Resolution der

aufstÀndischen Matrosen annahm. Diese Versammlung bestimmte eine

Spezialkommission, die von Betrieb zu Betrieb ziehen und zum

Generalstreik auffordern sollte.

Die grĂ¶ĂŸten Betriebe Petersburgs wurden weiterhin bestreikt: Putilow,

Baltiskij, Oboukow, Niewskaja Manufactura und andere. Die Leitung der

Betriebe entließ das Personal der bestreikten Fabriken und ĂŒbertrug die

Direktion auf die örtlichen Troikas. Diese begannen sofort mit

Neueinstellungen, setzten aber zugleich die Verfolgung der aktivsten

Streikenden fort.

Zur gleichen Zeit wie in Petersburg brachen in Moskau, Nijni Nowgorod

und anderen StĂ€dten Streiks aus. Aber auch hier fĂŒhrte die sofortige

Ausgabe von Lebensmitteln, repressive Maßnahmen und das ausgestreute

GerĂŒcht ĂŒber zaristische GenerĂ€le in Kronstadt zu einer Desorientierung

des Proletariats und die Kommunisten erreichten ihr Ziel. In Petersburg

und den anderen IndustriestÀdten geriet das Proletariat in Verwirrung.

Die KronstÀdter aber, die mit der Hilfe der ganzen Arbeiterbevölkerung

gerechnet hatten, standen einsam einer Regierung gegenĂŒber, die

entschlossen war, sie um jeden Preis zu vernichten.

III. 3 – Das Eingreifen der Roten Armee

Am 6. MĂ€rz erhielt das Provisorische Revolutionskomitee ein

Radiotelegramm aus Petersburg:

„Bittet in Petersburg um die Entsendung einiger Sowjetmitglieder,

jeweils einiger Parteilosen und KP-Mitglieder nach Kronstadt, um die

Lage zu diskutieren.“

Die umgehende Antwort des Provisorischen Revolutionskomitee lautete:

„Wir haben kein Vertrauen in Eure angeblichen Parteilosen. Wir schlagen

daher vor, im Beisein unserer Delegierten in den Betrieben sowie unter

den Soldaten und Matrosen eine Anzahl Parteiloser wÀhlen zu lassen.

ZusÀtzlich könnt Ihr, im VerhÀltnis von 15 Prozent, Kommunisten

benennen.

Wir erbitten Antwort bis spÀtestens 6. MÀrz, 18 Uhr, mit Angaben des

Termins fĂŒr den Austausch von Delegationen. Sollte dieser Termin nicht

eingehalten werden können, bitten wir um Mitteilung unter Angabe von

GrĂŒnden. Transportmittel werden Euren Delegierten zur VerfĂŒgung

gestellt.

Das Provisorische Revolutionskomitee“

Die Depesche des Petrosowjet scheint in krassem Widerspruch zu dem Ton

des o.a. Appells zu stehen, in dem nur von bedingungsloser Unterwerfung

die Rede war. Offenbar trafen im Petersburger Rat verschiedene EinflĂŒsse

aufeinander. Die Regierung war aber nach wie vor Entschlossen, mit

eiserner Faust aufzurĂ€umen. Trotzki erließ am selben Tag einen Befehl an

die Garnison von Kronstadt:

„Die Regierung der Arbeiter und Bauern ist entschlossen, Kronstadt und

die Schiffe unverzĂŒglich wieder unter die VerfĂŒgungsgewalt der

RĂ€terepublik zu stellen. Daher befehle ich allen, die gegen ihr

sozialistisches Vaterland sich erhoben haben, die Waffen niederzulegen.

Wer sich weigert, wird entwaffnet und den sowjetischen Behörden

ĂŒbergeben. Die verhafteten Kommissare und andere Vertreter der

Staatsmacht sind unverzĂŒglich freizulassen. Nur wer sich bedingungslos

ergibt, kann auf die Gnade der Sowjetrepublik rechnen. Gleichzeitig

befehle ich alle nötigen Vorbereitungen fĂŒr die Niederwerfung der

AufstĂ€ndischen mit Waffengewalt. Die Verantwortung fĂŒr das der

Zivilbevölkerung zugefĂŒgte UnglĂŒck werden die Weißen Garden in jeder

Konsequenz zu tragen haben. Der Vorsitzende des militÀrischen

Revolutionsrates der Sowjetrepublik: Trotzki“

Der Oberbefehlshaber: Kamenew

WĂ€hrend also noch am 6. MĂ€rz der Petrosowjet ĂŒber die Entsendung einer

Untersuchungskommission unterhandelte, entsandte am 7. MĂ€rz das

Oberkommando bereits Truppen der Roten Armee zur militÀrischen Einnahme

der Festung.

Kommuniqué der Iswestija am 8. MÀrz:

„Um 6 Uhr 45 haben die Batterien von Sestroretzk und Lissinios das Feuer

auf die Bastionen von Kronstadt eröffnet.

Die Bastionen nahmen die Herausforderung an und brachten die GeschĂŒtze

der Regierung schnellstens zum Schweigen.

Daraufhin eröffnete die Bastion ‘Krasnaja Gorka‘ das Feuer, das von dem

Panzerkreuzer Sebastopol erwidert wurde. Das Artilleriegefecht dauert

an.

Kronstadt, 7. MĂ€rz 1921 – Das Provisorische Revolutionskomitee“

Am 8. MĂ€rz wird die erste Fliegerbombe ĂŒber Kronstadt abgeworfen. In den

folgenden Tagen hÀlt die Artillerie der Regierung die Festung und die

umliegenden Bastionen weiterhin unter Beschuss, wobei sie auf energische

Gegenwehr stĂ¶ĂŸt. Auf den fortgesetzten Abwurf von Bomben reagiert die

Zivilbevölkerung mit so erbittertem Gewehrfeuer auf die Flugzeuge, dass

das Provisorische Revolutionskomitee einen Befehl zur Unterbindung von

Munitionsverschwendung erlassen muss.

Welche Verteidigungsmittel besaß Kronstadt?

Kronstadt liegt auf der Insel Kotlin, 26,5 km von Petersburg, 7 km von

Oranienbaum, 13 km von Lissi Nos und 21 km von Terioki entfernt. Es

wurde 1711 von Pierre Le Grand zur Verteidigung Petersburgs gegen

Angriffe von See erbaut.

Kronstadt besaß eine große Artillerie, allerdings von geringer

Reichweite. Die modernsten GeschĂŒtze hatten einen Aktionsradius von 15

km. Somit lag Petersburg bereits außer ihrer Reichweite. Zudem waren die

Batterien zur Seeseite hin installiert und nur einige wenige GeschĂŒtze

waren beweglich. Eine Anzahl von 12-Zoll-GeschĂŒtzen befand sich u.a. in

der Bastion ‘Krasnaja Gorka‘ auf der Höhe von Oranienbaum, aber diese

Festung war regierungstreu.

Zur Zeit der Revolte standen vier Panzerkreuzer zur VerfĂŒgung: die

Petropawlowsk, Sebastopol, Gangout und Poltawa, die jeweils mit

12-Zoll-GeschĂŒtzen bestĂŒckt waren; die Schlachtschiffe Riurik und Rossia

mit 10-Zoll-Kanonen und die Baijan, Bogatir und Aurora mit 6-Zöllern.

Doch man hatte keine Eisbrecher, und alle Schiffe waren durch das Eis

praktisch nicht einsatzfÀhig. Hinzu kam, dass die Sebastopol und

Petropawlowsk direkt nebeneinander lagen, so das die eine nur das

rechte, die andere nur das linke Schussfeld belegen konnte. Man konnte

aber auch nicht trennen, denn die Sebastopol hatte keine eigenen

Brennstoffe und war an das Stromnetz der Petropawlowsk angeschlossen.

Die Garnison von Kronstadt war 1921 stark dezimiert. Nach den Zahlen der

Stabsabteilung der KronstÀdter Verteidigung betrug die StÀrke der

Infanterie maximal 3.000 Mann. Nach Angaben Koslowkijs war die gesamte

Artillerie der Festung fĂŒr die Verteidigung Kronstadts eingesetzt (mit

Ausnahme der Bastion Krasnaja Gorka und des Armeeregiments 560, das sich

gleich zu Anfang ergab). Hinzu kam eine aus Matrosen bestehende

KĂŒstenwache und bunt zusammengewĂŒrfelte Bataillone, die sich aus den

Behörden und Schulen rekrutierten. In der Verteidigungslinie der

KronstÀdter Infanteristen betrug die Distanz von Mann zu Mann nicht

weniger als zehneinhalb Meter!

Der Vorrat an Munition und Granaten war ebenfalls höchst gering. Um die

bescheidene Anzahl der GeschĂŒtze auszugleichen, verdreifachten die

Matrosen die Schussfrequenz – von 150 Schuss normal auf 450 Schuss.

Am Nachmittag des 3. MĂ€rz hatte das Provisorische Revolutionskomitee mit

einigen MilitÀrspezialisten konferiert. In dieser Sitzung wurde ein

militĂ€rischer Verteidigungsrat eingesetzt, der einen Abwehrplan fĂŒr die

Festung erstellte. Als aber die militÀrischen Berater eine Offensive auf

Oranienbaum empfahlen, wo sich in der Station ‘Spassatelnaija‘ ein

ziemlich umfangreiches Nahrungsmitteldepot befand, lehnte das

Provisorische Revolutionskomitee ab; es setzte seine ganze Hoffnung

nicht in die militÀrischen FÀhigkeiten seiner Matrosen, sondern in die

SolidaritÀt der ganzen Arbeiterbevölkerung des Landes. Man muss

annehmen, dass die KronstÀdter bis zum ersten Kanonenschuss nicht an die

Entschlossenheit der Regierung zu einem militÀrischen Angriff glaubten.

Deshalb wohl ließ das Provisorische Revolutionskomitee nicht rings um

die Festung das Eis brechen, was den Infanterieangriff ĂŒber das Eis

unterbunden hÀtte. Deshalb auch wohl wurden die voraussichtlichen

Einfallswege nicht mit armierten Barrikaden versehen.

Die KronstÀdter hatten recht: militÀrisch konnten sie nicht siegen. Sie

konnten höchstens hoffen, sich zwei Wochen lang zu halten, bis

erfahrungsgemĂ€ĂŸ das Eis schmolz, was Kronstadt zu einer ziemlich

uneinnehmbaren Festung gemacht hÀtte. Man darf aber nicht vergessen,

dass ihre Mannschaftsreserven minimal waren im Vergleich zur Zahl der

Soldaten, die die Rote Armee gegen sie ins Feld schickte.

Wie aber stand es mit der Kampfmoral dieser Soldaten?

III.4 – Die Moral der Roten Armeeregime

In einem Interview mit der Krasnaja Gasetta sagte Dybenkow damals, dass

alle militÀrischen Einheiten, die bei Kronstadt eingesetzt wurden,

vorher einen Revirement unterzogen werden mussten. Das war absolut

notwendig, denn in den ersten Gefechtsphasen zeigte die Rote Armee einen

starken Widerwillen, gegen die Matrosen, die „baltischki“, die

BrĂŒderchen, wie ihr volkstĂŒmlicher Spitzname lautete, zu kĂ€mpfen. Denn

gerade den aufgewecktesten Vertretern der russischen Arbeiterklasse

galten diese Matrosen als engagierte BannertrÀger der Revolution.

Außerdem hatten die Soldaten der Roten Armee dieselben Sorgen, die die

KronstÀdter zum Aufstand veranlasst hatten: Hunger, KÀlte, mangelhafte

Kleidung und schlechtes Schuhwerk, was im russischen Klima einiges

bedeutet, zumal wenn man in Eis und Schnee marschieren und kÀmpfen soll.

In der Nacht zum 8. MĂ€rz, als der Angriff der Roten Armee auf Kronstadt

begann, fegte ein fĂŒrchterlicher Schneesturm ĂŒber die Ostsee. Dichter

Nebel verhĂŒllte den Weg. Die Soldaten trugen weiße Schneehemden, die sie

vor dem verschneiten Hintergrund nahezu unsichtbar machten. Im sĂŒdlichen

Abschnitt, wo man sich Kronstadt von Oranienbaum her nÀherte, war die

Leitung dem Regiment O.N. (Regiment fĂŒr Spezialaufgaben) und dem 561.

JĂ€gerregiment ĂŒbertragen. Über die geistige Verfassung dieses Regimentes

weiß Poukhow zu berichten: „Zu Beginn der militĂ€rischen Operation hatte

das 2. Bataillon die Teilnahme am Kampf verweigert. Schlecht und recht

konnte man die Soldaten mit Hilfe der Kommunisten ĂŒberzeugen; endlich

waren sie bereit, das Eis zu betreten. Kaum bei der ersten Batterie im

SĂŒd-Abschnitt angelangt, lief eine Kompanie des 2. Bataillons zum Feind

ĂŒber, die Offiziere kehrten allein zurĂŒck.

Das Regiment machte halt. Es begann zu tagen. Man hatte keine Nachricht

vom 3. Bataillon. Dieses Bataillon aber marschiere in Richtung 1. und 2.

Batterie im SĂŒd-Abschnitt: zunĂ€chst wurde in Kolone vorgerĂŒckt, als man

von den Bastionen unter Beschuss genommen wurde, bildete man Kette und

begab sich nach Erreichen von Hörweite der 2. Kompanie auf die linke

Seite der Batterie der Bastion Miljutin, woher mit roten Flaggen Zeichen

gegeben wurde. Bei einer AnnÀherung auf 40 Schritt erkannte man

MG-Stellungen der AufstÀndischen. Diese drohten, die Soldaten zu

erschießen, wenn sie sich nicht ergeben. Alle ergaben sich, mit Ausnahme

des Bataillonskommissars und drei oder vier Soldaten. Diese kehrten um

und konnten und konnten auf dem RĂŒckweg das 7. Bataillon zur Umkehr

bewegen, das ebenfalls ĂŒberlaufen wollte.“

Dieses Zitat war eine Passage aus dem offiziellen Heeresbericht!

Ähnliche VorfĂ€lle wurden bei den Kadetten-Einheiten im Nord-Abschnitt

beobachtet, die Poukhow immerhin fĂŒr die fĂ€higsten KrĂ€fte hielt. Um

Ouglanow, Kommissar fĂŒr den Nord-Abschnitt, schreibt am 8. MĂ€rz an das

Bezirkskomitee der Partei (in Petersburg):

„Ich halte es fĂŒr meine Pflicht als RevolutionĂ€r, Aufschluss ĂŒber die

Lage im Nordabschnitt und die Moral der dort KĂ€mpfenden zu geben. Bei

den Kadetten herrscht Angst vor dem Plan, ĂŒber das Eis anzugreifen.

Diese Haltung setzte sich auch heute morgen durch, als der Angriff auf

die Bastionen begann. Am Anfang brachen nur die Kommunisten und einige

mutige Gruppen der Parteilosen auf. Es gelang erst den vereinten

Argumenten von Kommandant, Politkommissaren und Offizieren, die Kadetten

zum Angriff zu bewegen, der dann unter starkem Beschuss von seiten der

Bastionen und Kronstadts erfolgte. Dieser Angriff, der die Besetzung der

7. Bastion zum Ziel hatte, musste heute – angesichts der depressiven

Moral der Truppe – abgeblasen werden.

Es ist unmöglich, die Armee einen zweiten Angriff auf die Bastionen

ausfĂŒhren zu lassen. Ich habe bereits die Genossen Laschewitsch, Avrow

und Trotzki von der Moral der Kadetten unterrichtet. Ich musste ihnen

diese Tendenzen mitteilen: sie, die Kadetten, wollen die Absichten der

KronstÀdter kennenlernen und beabsichtigen, Delegierte in die Stadt zu

schicken. Die Anzahl der Politkommissare auf diesem Abschnitt ist

vollkommen unzureichend!“

Die Moral der Armee wird auch deutlich im Falle der 79. Brigade und der

27. Division von Omsk. Diese aus drei Regimentern bestehende Division

hatte sich im Kampf gegen Koltschak militÀrisch ausgezeichnet. Am 12.

MÀrz wurde sie an der KronstÀdter Front eingesetzt. Ein Regiment, das

von Orschan, weigerte sich, gegen die KronstÀdter zu kÀmpfen. Am

nÀchsten Tag hielten die beiden anderen Regimenter Versammlungen ab und

diskutierten, welche Haltung sie einnehmen sollten. Zwei Regimenter

mussten gewaltsam entwaffnet werden und wurden vom „revolutionĂ€ren“

Tribunal mit schweren Strafen belegt.

Bezeichnend ist auch der Fall der Unteroffiziersschule der 93.

Infanteriebrigade der 11. Division, die am 8. MĂ€rz dem 95. Regiment

unterstellt wurde. Als der Kommandant und der Politkommissar die Front

abschritten, tönte ihnen der Sprechchor entgegen: „Warum hat man uns

hierher gefĂŒhrt?“ Zwei Tage spĂ€ter verweigerte die Schule den Befehl,

und das MilitÀrgericht griff abermals ein.

Ähnliche FĂ€lle waren sehr zahlreich. Denn die Soldaten weigerten sich

nicht nur, weil sie es ablehnten, gegen ihre Klassenangehörigen zu

kÀmpfen, es war ihnen auch unheimlich, im MÀrz auf dem Eis zu operieren.

Manche Einheiten waren aus anderen Landesteilen abgestellt, wo das Eis

um Mitte MĂ€rz zu schmelzen begann und waren dementsprechend misstrauisch

gegen das Eis der Ostsee. Außerdem hatten die ersten Gefechtsteilnehmer

mitansehen mĂŒssen, wie die Granaten der KronstĂ€dter enorme Löcher in das

Eis rissen, in denen manch unglĂŒcklicher Verteidiger der Regierung

versank. Solche Szenen waren recht entmutigend und trugen zum Misserfolg

der ersten Angriffe bei.

III.5 – Reorganisation und Repression in der Roten Armee

Die letzten KĂ€mpfe

Der Kommandant der Roten Armee setzte in dieser Situation verstÀrkt die

Luftwaffe ein und ergriff Maßnahmen, um die Schlagkraft der Armee zu

verstÀrken. Die auf Kronstadt angesetzten Einheiten wurden völlig neu

organisiert. Alle, die offen mit Kronstadt sympathisiert hatten, wurden

entwaffnet und auf andere Einheiten verteilt. Einige wurden durch die

„revolutionĂ€ren“ Tribunale mit strengen Strafen belegt. Die Mitglieder

der KP wurden mobilisiert und zu Propaganda- und Überwachungszwecken in

die Armee eingeschleust. Der 10. Parteitag der KP fand vom 8. bis 15.

MĂ€rz in Moskau statt, wĂ€hrend in Kronstadt KanonenschĂŒsse das Eis

aufwĂŒhlten. Er entsandte mehr als 300 Deputierte an die Front. Dort

wurden sie zu Politkommissaren ernannt, auf die einzelnen

Frontabschnitte verteilt und in den Organen der Spezialabteilungen der

Tscheka oder in Kommissionen zur BekÀmpfung der Desertion eingesetzt.

Einige von ihnen kÀmpfen auch als einfache Soldaten. Unter diesen

Deputierten befanden sich Woroschilow, Boubnow, Zatonskij, Rukimowitsch,

Piatakow und andere prominente Kommunisten. In einigen militÀrischen

Einheiten betrug die Anzahl der KP-Mitglieder zwischen 15 und 30%,

manche verfĂŒgten sogar ĂŒber einen Anteil von bis zu 70%.

Die „revolutionĂ€ren“ Tribunale entwickelten eine emsige AktivitĂ€t.

Poukhow berichtet, dass „die Tribunale gegen alle schĂ€dlichen Tendenzen

einschritten. ÜberfĂŒhrte Unruhestifter und Provokateure empfingen

unverzĂŒglich ihre Strafe. Die Urteile wurden den Soldaten sofort

bekanntgegeben, teilweise auch in der Presse veröffentlicht“.

Aber ungeachtet dieses Instrumentariums von Propaganda-,

Reorganisations- und Repressionsmaßnahmen blieb die Haltung der Soldaten

widerspenstig. Noch am 14. MĂ€rz wurden FĂ€lle von Befehlsverweigerung

beim Angriff verzeichnet. So blieb zB das 561. Regiment auch nach seiner

am 8. MĂ€rz erfolgten Reorganisation „renitent“. „Wir wollen nicht gegen

unsere BrĂŒder aus den Heimatdörfern kĂ€mpfen“, argumentierten die

Soldaten des Regiments, das zum Großteil aus Ukrainern und Kosaken

bestand – genauso wie das 560. Regiment, das an der Seite der

AufstÀndischen kÀmpfte.

Nicht wenige Soldaten, die sich den AufstÀndischen ergeben hatten,

setzten auf der Gegenseite den Kampf fort. Das Rote Oberkommando ging

daraufhin unnachsichtig gegen alle potentiellen ÜberlĂ€ufer vor.

Augenzeugen berichten, dass einige VerbĂ€nde beim VorrĂŒcken schon die

HĂ€lfte ihrer MĂ€nner verloren hatten, ehe sie ĂŒberhaupt in das feindliche

Schussfeld gelangten: die Kommunisten der eigenen Seite hatten sie wegen

Befehlsverweigerung oder Desertionsverdacht erschossen.

Die Desertion breitete sich ĂŒberhaupt massenhaft in der Roten Armee aus.

Immer wieder verschwanden Gruppen von 20 – 30 Soldaten, bewaffnet, unter

Mitnahme weiterer Gewehre und Granaten. Um das zu verhindern, setzte die

Regierung Spezialkommission ein: sie bestanden aus mobilisierten

Parteimitgliedern und versuchten, sich der Mithilfe der Bauern im Bezirk

Petersburg und in den umgebenden Bezirken als „Hilfsgendarmen“ zu

versichern.

Nach offiziellen Angaben wurde in der Roten Armee die KronstÀdter

Iswestija mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Auch kursierten

Flugschriften, deren Verbreitung den KronstÀdtern auf immer neuen

Schleichwegen gelang. Zwar wachten Politkommissare darĂŒber, dass diese

Publikationen nicht in die Kasernen drangen, aber ihre BemĂŒhungen

verstĂ€rkten im Gegenteil nur das Interesse fĂŒr die literarische

Konterbande. Andererseits hatten, wie Poukhow zugeben muss, offiziellen

Zeitungen mit ihrer Siegespropaganda nur einen höchst fragwĂŒrdigen

Effekt. Die Propaganda konzentrierte sich besonders auf die

zurĂŒckgebliebenen Truppen in der Etappe. Die unerschöpflichen

Menschenreserven des ganzen Landes waren, selbst wenn man ihre

widerspenstige Haltung berĂŒcksichtigt, ĂŒberwĂ€ltigend im Vergleich zu den

schwachen KrĂ€ften der KronstĂ€dter. WĂ€hrend die ZĂŒge nach Petersburg

unaufhörlich neuer KÀmpfer an die Front brachten, unter ihnen Kirgisen

und Baschkiren, mit einer den aufstÀndischen Matrosen völlig

unverwandten MentalitÀt, nahm die Zahl der Verteidiger Kronstadts nicht

nur durch Kampfverluste ab, ihre Kraft erschöpfte sich auch zusehens.

Schlecht gekleidet und noch schlechter ernÀhrt, verharrten die

KronstĂ€dter in achtstĂŒndigen Schichten an ihren GeschĂŒtzen. Die meisten

konnten sich kaum mehr auf den Beinen halten.

Davon wusste, Toukhatschewskij, als er, nachdem alles Nötige an

Organisation, Munitionsversorgung und Anhebung der Truppenmoral erledigt

war, diesen Befehl herausgab (Nr. 534/0444, Serie B):

„An den Kommandanten des Abschnitts Nord, Kazanski an den Kommandanten

des Abschnitts SĂŒd, Sediakin durchschriftlich an das Glawkom

Petersburg, den 15. MĂ€rz, 23.45 Uhr

Ich befehle: in der Nacht vom 16. bis 17. MĂ€rz ist die Festung Kronstadt

im Blitzangriff einzunehmen.

Hierzu:

1. Am 16. MÀrz ist um 14 Uhr das Artilleriefeuer zu eröffnen und bis zum

Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen.

2. Aufbruch der nördlichen Marschkolonne am 17. MÀrz um 3 Uhr, der

sĂŒdlichen Kolonne um 4.30 Uhr.

3. Der nördliche Verband greift die nord-westlichen, der sĂŒdliche

Verband die nord-östlichen und sĂŒd-westlichen Teile der Stadt an.

4. Die VerbÀnde haben nur jene Bastionen zu besetzen, die andernfalls

den Vormarsch unmöglich machen wĂŒrden.

5. Der Kommandant des sĂŒdlichen Verbandes benennt einen Befehlshaber fĂŒr

die StraßenkĂ€mpfe in Kronstadt.

6. Der Kommandant des sĂŒdlichen Verbandes betreibt die Einnahme des

nord-östlichen Teiles der Insel Kotlin zur beabsichtigen Zeit.

7. Die Disposition der VerbÀnde ist sorgfÀltig zu beachten.

8. Der Erhalt des Befehls ist zu bestĂ€tigen, ĂŒber die ergriffenen

Maßnahmen ist Mitteilung zu machen.

Der Chef der 7. Armee: Toukhatschewskij

Chef des Generalstabs: Peremytov“

Toukhatschewskij Operationsplan sah den entscheidenden Schlag von SĂŒden

her vor, die endgĂŒltige Einnahme der StĂ€dte sollte dann von drei Seiten

erfolgen. Der Einbruch sollte durch das Petersburger Tor geschehen, das

nach Petersburg hin lag, nicht befestigt war und so die Achillesferse

der Festung bildete. Zur selben Zeit sollte der Nördliche Verband von

Nord-West angreifen, um die KrÀfte der AufstÀndischen in den dortigen

Bastionen zu binden; der SĂŒdliche Verband unternahm gleichzeitig einen

Scheinangriff gegen die Bastion „Totleben“, um weitere KrĂ€fte der

KronstÀdter abzulenken.

Am 16. MĂ€rz um 14.20 Uhr eröffnete die Artillerie im SĂŒdlichen Abschnitt

das Feuer, um 17 Uhr schloss sich die Nördliche Batterie an. Von

Kronstadt wurde zurĂŒck geschossen, das Gefecht dauerte ungefĂ€hr vier

Stunden. Dann wurden Fliegerbomben eingesetzt, um die Zivilbevölkerung

in Panik zu versetzen. Gegen Abend verstummte die Artillerie, die

KronstÀdter versuchten nun, mit Scheinwerfern die Sammelpunkte der

Regierungstruppen auf dem Eis zu orten. Gegen Mitternacht brachen die

Truppen nach Toukhatschewskijs Plan auf. Um 2.45 Uhr hatten die

Nördlichen VerbÀnde das verlassene Fort Nummer sieben eingenommen. Um

4.30 Uhr nahm die KronstÀdter

Artillerie Truppen unter Beschuss, die die Bastionen vier und sechs

angriffen. Um 6.40 Uhr war die Bastion sechs nach hartem Kampf in den

HĂ€nden der Kadetten die nur geringe Verluste erlitten hatten. Die

KronstÀdter hatten erbittert Widerstand geleistet, als sich die Kadetten

den Stacheldrahtverhauen nÀhrten. Zu dieser Zeit endete das

Artilleriefeuer der Bastion da die MunitionsvorrÀte erschöpft waren.

Lediglich ein mobiles MG war noch im Einsatz. Ähnlich spielte sich die

letzte Verteidigung Kronstadts auch an anderen Punkten ab.

Um 5 Uhr morgens griff die sĂŒdliche Abteilung die SĂŒd-Batterie an und

zwang die KronstĂ€dter zum RĂŒckzug auf die Stadt. Damit begannen die

StraßenkĂ€mpfe. Die Matrosen verteidigten jedes Haus und jede Lagerhalle.

In der Innenstadt kamen zur VerstÀrkung der Matrosen Kampfabteilungen

der Arbeiter, mit deren Hilfe es einmal gelang, die Regierungstruppen

aus der Stadt zu werfen, die sich daraufhin in der Vorstadt

verschanzten.

UnterstĂŒtzt von Munitionsarbeitern, glĂŒckte den Matrosen auch die

Wiedereinnahme der Technischen Schule, die bereits von der 30. Brigade

gehalten wurde.

Die StraßenkĂ€mpfe wĂŒteten furchtbar. Die Roten Soldaten bĂŒĂŸten ihre

Offiziere ein, KronstÀdter und Regierungstruppen gerieten durcheinander,

die feindlichen BrĂŒder verloren jede Orientierung. Die Zivilbevölkerung

versuchte noch jetzt, mit den Regierungstruppen Kontakt aufzunehmen und

verteilte FlugblÀtter des Provisorischen Revolutionskomitee und bis

zuletzt unternahmen die Matrosen Fraternisierungsversuche mit den

Regierungssoldaten.

Die Regierungstruppen erlitten in den StraßenkĂ€mpfen hohe Verluste, ein

Teil von ihnen ergriff die Flucht, zu ihrer Festnahme wurde das 27.

Kaukasische Regiment eingesetzt. Gleichzeitig gelang es den aus

Oranienbaum nachgeschobenen Reservetruppen im Verein mit einer

kommunistischen Einheit, die Technische Schule abermals einzunehmen.

Der nördliche Verband war wÀhrend des ganzen 17. MÀrz mit der Einnahme

der Bastionen beschÀftigt. Gegen Abend waren mit Ausnahme der Bastion 4

alle dortigen Bastionen in der Hand der Regierungstruppen.

In den Straßen wurde noch bis spĂ€t in die folgende Nacht (17. bis 18.

MÀrz) gekÀmpft. Die Angriffe auf die verbliebenen Bastionen Miljutin,

Constantin und Obrutschew wurden noch am 18. fortgesetzt. Als

schließlich die Festung und alle Bastionen genommen waren, als die

Verteidigung der KronstÀdter zusammengebrochen war, gelang es noch einer

Gruppe von 150 Matrosen, am Tolbukin-Leuchtfeuer die Regierungstruppen

mit einigen MGs hartnÀckig aufzuhalten.

III.6 – Repressalien und Massaker

Betrachten wir die Verlustbilianz des KronstĂ€dter Cemetzels fĂŒr die

russischen Arbeiter:

Nach Angaben des Petersburger MilitÀrischen SanitÀtsdienstes wurden in

den KrankenhÀusern der Stadt zwischen dem 3. und 21. MÀrz

4.127 Verwundete

158 schwere Quetschungen

527 TodesfÀlle

verzeichnet. Unbekannt ist die Zahl der Ertrunkenen und der zahlreichen

auf dem Eis zurĂŒckgelassenen Verletzten, die dort erfroren sind.

Unbekannt auch die Zahl der Opfer, die zur „Anhebung der Truppenmoral“

von den „revolutionĂ€ren“ Tribunalen hingerichtet wurden.

Über die Verluste auf KronstĂ€dter Seite liegen ĂŒberhaupt keine

einigermaßen genauen Angaben vor; sie waren jedenfalls sehr hoch und

erhöhten sich noch um die Zahl der Opfer des anschließenden Massakers

bei der Liquidierung der AufstĂ€ndischen. HierĂŒber kann man nur

Vermutungen anstellen. Vielleicht werden eines Tages die Archive der

Tscheka, der Ossoby Otdijel und der Tribunale die grausame Wahrheit

enthĂŒllen.

Hierzu Poukhow: „Gleichzeitig mit den ersten Maßnahmen zur

Normalisierung des Lebens und zur Liquidierung der letzten

AufstÀndischen hatte das revolutionÀre Tribunal seine Arbeit auf breiter

Basis fortgesetzt. 
 Die strafende Hand der Proletarier-Justiz machte

mit den VerrÀtern kurzen Prozess. 
 Die Urteile wurden in der Presse

veröffentlicht, was eine starke erzieherische Wirkung hatte.“

Diese Zitate sprechen wohl eine ebenso deutliche Sprache wie Zahlen, Aus

offizieller Quelle ĂŒberfĂŒhren sie die LĂŒgen der Trotzkisten, wonach die

Festung „unter geringen Verlusten eingeschlossen und eingenommen wurde“.

In der Nacht vom 17. zum 18. MĂ€rz verließ ein Teil des Provisorischen

Revolutionskomitee die Stadt in Richtung auf die finnische Grenze. 8000

Personen, Matrosen und die aktivsten Zivilisten, gingen den gleiche3n

Weg ins Exil.

Am 18. MÀrz, als noch um die Bastionen gekÀmpft wurde, kam schon das

„revolutionĂ€re“ Tribunal aus Oranienbaum, um in einer „fliegenden

Sitzung“ an den „Wiederaufbau der revolutionĂ€ren Ordnung“ zu gehen.

Die Verteidiger der Macht der Sowjets hielten es fĂŒr das beste, in

Kronstadt keine neuen Sowjets einzusetzen und ĂŒbertrugen dessen Aufgaben

an die Abteilung fĂŒr Politik und Zivilwesen beim Sekretariat des

Festungsadjutanten.

Die ganze Flotte wurde radikal reorganisiert. ZunÀchst wurde eine

bedeutende Anzahl von baltischen Matrosen an die SchwarzmeerkĂŒste, an

das Kaspische Meer und auf Marinestationen in Sibirien verlegt. Diese

Maßnahme traf, nach Poukhow, „die unsichersten Elemente, die am

anfĂ€lligsten waren fĂŒr den Geist von Kronstadt. Sie gingen allerdings

nicht freiwillig. Aber mit dieser Maßnahme wurde die ungesunde

AtmosphĂ€re wenigstens einigermaßen gereinigt.“

Im April begann dann das neue Oberkommando der Flotte mit der

„individuellen Reinigung“:

Eine „Spezialkommission zur Selektion“ wurde eingesetzt und entließ

nacheinander „15.000 Matrosen der Kategorien V, G und D, dh entweder

Leute, die leicht ersetzbar waren oder aber politisch völlig untragbar.“

Nach dieser Reorganisation rekrutierte sich die Flotte nahezu

ausschließlich aus Inhabern der Unbedenklichkeitsausweise A und B,

ausgestellt von der „Spezialabteilung zur Selektion“.

So wurde nach der materiellen Vernichtung Kronstadt auch noch sein Geist

in der Flotte exorziert.

IV. KRONSTADT UND DIE POLITISCHEN TENDENZEN.

IV.1 – Die Anarchisten

Hatten die KronstÀdter ihre Forderungen und Resolutionen selbst

formuliert — oder handelten sie unter dem Einfluss politischer Gruppen,

die ihnen die Parolen lieferten? Diese Frage lost meist einen Hinweis

auf den Einfluss der Anarchisten aus. Aber gab es sie wirklich?

Sicherlich fanden sich unter den Mitgliedern des Provisorischen

Revolutionskomitees und Überhaupt in der KronstĂ€dter Bevölkerung manche

Individualisten, die sich zum Anarchismus bekannten. Wenn man aber, wie

wir, lediglich den vorliegenden schriftlichen Belegen folgt, lÀsst sich

ein direkter Einfluss anarchistischer Gruppen schwerlich feststellen.

Der Menschewist Dan, der in Petersburg lÀngere Zeit mit einer Gruppe von

KronstÀdtern zusammen inhaftiert war, erzÀhlt in seinen Memoiren, dass

Perepelkin, Mitglied des Provisorischen Revolutionskomitees, innerlich

zum Anarchismus neigte. Er erwÀhnt auch, dass diese KronstÀdter Matrosen

enttĂ€uscht und verbittert waren ĂŒber die Politik der KP und von Parteien

ĂŒberhaupt nur mit Abneigung sprachen. In ihren Augen waren Menschewisten

und RevolutionÀre Sozialisten um nichts besser als die Bolschewisten,

wenn es darum ging, im Besitz der einmal mit dem Vertrauen des Volkes

errungenen Macht dieses Volk zu hintergehen. „Ihr steckt ja doch alle

unter einer Decke. Wir brauchen keine Regierungsmacht, was wir brauchen,

ist die Anarchie“, sagten die Matrosen in ihrer EnttĂ€uschung ĂŒber die

politischen Parteien zu Dan.

Vereinzelte Anarchisten haben sich fĂŒr die KronstĂ€dter engagiert; aber

man darf annehmen, dass im Falle einer geschlossenen Teilnahme ihrer

Organisationen am Aufstand dies seinen Niederschlag in der

anarchistischen Presse gefunden hatte. In den Periodika der Anarchisten

ist davon aber keine Spur zu entdecken.

Auch der alte Anarcho-Syndikalist Yartschouk, der zur Zeit der

Oktoberrevolution großen Einfluss bei der Bevölkerung und den Matrosen

Kronstadts besaß, erwĂ€hnt nichts EinschlĂ€giges davon in seiner Schrift

ĂŒber den Aufstand, die er unmittelbar noch unter dem Eindruck der

Ereignisse verfasste.. Auch das ist wohl ein beweiskrÀftiges Indiz.

Zur Zeit des Aufstandes hatte die Anarchistenverfolgung schon ihren

Höhepunkt erreicht; die wenigen isolierten LibertÀren und noch

existierenden Einzelgruppen unterstĂŒtzten aber moralisch die Sache der

AufstÀndischen, wie aus einer Flugschrift an das Petersburger

Proletariat hervorgeht:

„
 Der Aufstand von Kronstadt ist eine Revolution. Tag und Nacht hart

Ihr den LĂ€rm der GeschĂŒtze, aber Ihr unternehmt nichts gegen die

Regierung, dass sie ihre Truppen von Kronstadt abzieht. Dabei ist doch

die Sache Kronstadts ebenso gut die Eure!

Die KronstÀdter ergreifen immer wieder die Initiative des Aufstandes. 


Dem Aufstand von Kronstadt muss der Aufstand in Petersburg folgen!

Danach die Anarchie!“

Vier Anarchisten, die sich damals in Petersburg aufhielten und den

blutigen Ausgang der Ereignisse voraussahen, Emma Goldmann Alexander

Berkman, Perkus und Petrowkij, schrieben am 5. MĂ€rz an den „Rat fĂŒr

Arbeit und Verteidigung in Petersburg“ folgenden Brief:

„Jetzt zu schweigen, ist unmöglich, ja es ist verbrecherisch. Die

jĂŒngsten Ereignisse zwingen uns Anarchisten, zu sprechen und unsere

Haltung in der gegenwÀrtigen Situation zu erklÀren. Es gart unter den

Arbeitern und Matrosen. Die Grunde dafĂŒr verdienen eine ernsthafte

PrĂŒfung. Die Arbeiter und Matrosen sind unzufrieden. Sie leiden unter

KĂ€lte und Hunger. Gelegenheit zur Diskussion und zur Kritik wird ihnen

nicht gegeben. Deshalb gehen sie auf die Straße.

Die Weißgardisten werden versuchen, diese Unruhe fĂŒr ihre eigenen

Klasseninteressen auszunutzen. Hinter dem RĂŒcken der Arbeiter und

Matrosen geben sie Parolen zu Gunsten der verfassungsgebenden

Versammlung, der freien Wirtschaft usw. aus.

Wir Anarchisten haben von jeher gesagt, dass diese Parolen Schwindel

sind, und wir erklÀren vor aller Welt, dass wir jedem

konterrevolutionÀren Putsch, zusammen mit allen AnhÀngern der sozialen

Revolution und Hand in Hand mit den Bolschewisten, mit der Waffe

entgegentreten werden.

Was den Konflikt zwischen Arbeitern und Matrosen und der Sowjetnacht

betrifft, so sind wir der Ansicht, dass er mit Waffengewalt nicht,

sondern nur durch Verhandlungen zwischen Genossen beigelegt werden kann.

Wenn die Sowjetregierung zum Blutvergießen schreitet, werden sich in der

gegebenen Lage die Arbeiter dadurch weder einschĂŒchtern noch beruhigen

lassen. Ein solcher Schritt kann die Lage nur verschÀrfen. Er kam nach

außen hin den feindlichen kapitalistischen Machten und nach innen hin

der Gegenrevolution zugute.

DarĂŒber hinaus wird jede Gewaltanwendung der Regierung gegen die

Arbeiter und Matrosen die ganze internationale revolutionÀre Bewegung

demoralisieren und ihr unermesslichen Schaden zufĂŒgen.

Genossen Bolschewisten, ĂŒberlegt, ehe es zu spĂ€t ist! Ihr spielt mit dem

Feuer. Ihr seid im Begriff, einen Schritt zu tun, der nicht wieder

gutzumachen ist. Wir unterbreiten Euch folgenden Vorschlag: Es soll eine

Kommission gewĂ€hlt werden, die aus fĂŒnf Personen, darunter zwei

Anarchisten, besteht.

Diese Kommission soll nach Kronstadt gehen, um den Konflikt auf

friedlichem Wege zu regeln. Unter den gegebenen UmstÀnden ist dies die

beste Losung. Sie wird fĂŒr die ganze internationale revolutionĂ€re

Bewegung von großer Tragweite sein.“

Diese Anarchisten haben mit dem Schreiben zweifellos als Anarchisten

gehande1t, aber auf eigene Faust, ohne ersichtliche organisatorische

Verbindung zu den AufstĂ€ndischen. Außerdem beweist ihr

Vermittlungsvorschlag, nÀmlich eine Delegation nach Kronstadt zu senden,

dass sie nicht in direkter Verbindung mit den Matrosen stehen konnten,

die ja bereits ihrerseits eine Delegation nach Petersburg geschickt

hatten, mit der solche Unterhandlungen hatten gefĂŒhrt werden können. Und

wenn sich schließlich in der Resolution der KronstĂ€dter die Forderung

nach Rede- und Pressefreiheit auch fĂŒr die Anarchisten findet, so

beweist das lediglich, dass die KronstÀdter auch 1921 ihren Traditionen

und Ideen aus der Oktoberrevolution treu blieben.

Vor der Oktoberrevolution hatten die Anarchisten neben den Bolschewisten

eine so fĂŒhrende Rolle in Kronstadt gespielt, dass Trotzki im Sommer

1917 bei einer Sitzung des Petersburger Sowjet sagen konnte: „Ja, die

KronstÀdter sind Anarchisten. Wenn es aber zur Entscheidungsschlacht in

dieser Revolution kommt, werden dieselben Herren, die Euch jetzt zur

Vernichtung der KronstĂ€dter ĂŒberreden wollen, Euch ebenso wie uns den

Strick drehen – und es werden die KronstĂ€dter sein, die um unser Leben

kĂ€mpfen!“

Wirklich waren die Anarchisten in Kronstadt als RevolutionĂ€re berĂŒhmt.

Deshalb hatten die AufstÀndischen, als sie allen politischen

Schattierungen die Mitarbeit im Sowjet ermog1ichten, zuerst an die

Anarchisten und die Linken RevolutionÀren Sozialisten gedacht.

Die Forderungen der Resolution vom 1. MĂ€rz – demokratische Freiheit fĂŒr

Arbeiter und alle Bauern, die keine LohnabhÀngigen ausbeuteten;

Beseitigung des politischen Monopols der KP — fanden sich auch in den

Programmen anderer, inzwischen in die IllegalitÀt verbannter

sozialistischer Parteien. Die Anarchisten waren mit diesen Parolen

einverstanden, aber sie hatten sie nicht erfunden.

Andererseits wiederholten die KronstĂ€dter unermĂŒdlich, dass sie fĂŒr die

Herrschaft der Sowjets eintraten. Es gab in Russland auch eine kleine

Minderheit von LibertĂ€ren, die unter der Bezeichnung „sowjetische

Anarchisten“ fĂŒr die enge Zusammenarbeit mit staatsintegrierten Sowjets

warben. Die Machnobewegung hingegen, die nicht ausschließlich

anarchistisch war, aber geprÀgt von dem starken persönlichen Einfluss

Machnos (selbst Anarchist seit frĂŒher Jugend), sprach nicht von der

Herrschaft der Sowjets. Ihre Formel lautete auf „freie Sowjets“,

worunter sie Rate verstanden, in denen die verschiedenen politischen

Strömungen koexistieren sollten und die keine staatlichen Hocheisrechte

ausĂŒbten.

Wenn die KronstÀdter den Gewerkschaftsorganen eine tragende Rolle

zudachten, so war auch dies keine rein anarchistische Idee. Die Linken

RevolutionÀren Sozialisten, die Arbeiter- Opposition innerhalb der KP

(Kollontai und Kliapnikow) kĂ€mpften auch dafĂŒr. SpĂ€ter ĂŒbernahmen andere

oppositionelle Strömungen innerhalb der KP – so die Sapronowisten –

diese Parole. Es war letztlich die Parole aller, die als Ergebnis der

russischen Revolution die Arbeiterdemokratie wĂŒnschten und sich gegen

das Monopol einer Einheitspartei wandten, die alle anderen

Organisationen entweder liquidierte oder absorbierte.

IV.2 – Die Menschewisten

Die Menschewisten hatten bei den Matrosen nie großen Einfluss genossen.

Die Zahl ihrer Delegierten im KronstÀdter Sowjet stand in keinem

VerhÀltnis zu ihrer geringen PopularitÀt in der Marine. Die Anarchisten

hingegen, die nach der 2. Wahl lediglich drei oder vier Sitze hatten,

besaßen einen unvergleichlich grĂ¶ĂŸeren Einfluss. Dieses MissverhĂ€ltnis

fĂŒr die Anarchisten ergab sich aus deren schwacher Organisation und der

Tatsache, dass fĂŒr die Masse der Unterschied zwischen Anarchismus und

dem Bolschewismus von 1917 kaum wahrnehmbar war, den viele Anarchisten

damals fĂŒr eine bakuninsche AusprĂ€gung des Marxismus hielten.

Die Menschewisten oder zumindest ihre offizielle Fraktion, waren

ungeachtet ihrer feindlichen Einstellung zum Bolschewismus doch auch

einem Kampf gegen die Herrschaft der Sowjets abgeneigt und daher fĂŒr

keine bewaffnete Intervention zu gewinnen. Sie versuchten, innerhalb der

Sowjets und der Gewerkschaftsorganisation die Rolle einer legalen

Opposition zu spielen. Als Gegner der Diktatur des Proletariats oder

einer Einheitspartei und in der Überzeugung, dass Russland noch eine

kapitalistische Durchgangsphase bevorstehe, betrachteten sie

militÀrische Interventionen nur als Hindernis auf dem Wege der

demokratischen KrÀfte Russlands. Sie hofften, dass nach Beendigung des

Kampfes die Sowjetherrschaft den Prozess allmÀhlicher demokratischer

Transformation werde zulassen mĂŒssen.

Zum KronstĂ€dter Aufstand Ă€ußerte sich ihr (illegales) Petersburger

Komitee in einer Flugschrift: „An die Arbeiter, Rotarmisten und Kadetten

Petersburgs! Verhindert ein Attentat! Kanonen donnern: Kommunisten einer

angeblichen Arbeiterpartei schießen auf die Arbeiter und Matrosen

Kronstadts.

Wir kennen nicht die Einzelheiten. Aber soviel wissen wir: die

KronstÀdter haben freie Wahlen zum Sowjet gefordert, die Freilassung der

verhafteten Sozialisten sowie der parteilosen Arbeiter und Soldaten und

fĂŒr den 10. MĂ€rz eine Konferenz, auf der die Arbeiter, Soldaten und

Matrosen ohne ParteirĂŒcksichten die kritische Lage diskutieren können,

in der sich Sowjetrussland befindet.

Eine Arbeiterregierung hĂ€tte die wahren BeweggrĂŒnde des Geschehens

aufdecken mĂŒssen. Eine wahre Arbeiterregierung hatte sich vor dem

Russland der Arbeiter einer Diskussion mit den Arbeitern und Matrosen

Kronstadts stellen mĂŒssen. Statt dessen haben die Bolschewisten mit

Belagerung und Artilleriefeuer reagiert.

Genossen. wir können und dĂŒrfen nicht ruhig bleiben im Donner der

GeschĂŒtze. Jede Salve kann Dutzende von Menschenleben fordern. Wir

mĂŒssen. eingreifen und dem Gemetzel Halt gebieten! Erzwingt die

sofortige Beendigung der militÀrischen Operationen gegen die Arbeiter

und Matrosen Kronstadts. Zwingt die Regierung, sofort Verhandlungen

aufzunehmen. Beginnt sofort mit der Wahl dieser Delegierten!

Verhindert ein Attentat!“ (7. MĂ€rz 1921)

Auch das Zentralkomitee der menschewistischen Partei hatte einen Aufruf

herausgegeben:

„Line Politik der Harte gegen die Bauern ist verfehlt, es bedarf einer

Politik der VerstÀndigung. Dazu ist erforderlich, dass sich die Macht

wirklich in HĂ€nden der arbeitenden Massen befindet. Und dazu ist

wiederum erforderlich: die freie Neuwahl der Sowjets. Mit einem Wort: zu

realisieren ist endlich die Arbeiterdemokratie, von der so viel

gesprochen wurde, von der bislang keine Spur zu sehen ist.“

Zur Bedeutung des Aufstandes nahm Sozialistitscheski Vestnik, der

offizielle Pressebeauftragte der russischen Sozia1demokratie (der

Menschewisten) fĂŒr das Ausland Stellung:

„Es sind die Massen selbst, auf denen bislang der Bolschewismus fußte,

die nun den Entscheidungskampf gegen das gegenwÀrtige Regime aufgenommen

haben.“

Martow, FĂŒhrer der russischen Menschewisten verneint (in der Emigration)

in einem Artikel der „Freiheit“ vom 1. Mai 1921 eine Teilnahme von

Menschewisten am Aufstand und schreibt die Initiative jenen Matrosen zu,

die mit der Partei zwar in organisatorischen, nicht aber in

prinzipiellen Fragen gebrochen hatten.

Sozialistitscheski Vestnik halt die Parolen der KronstĂ€dter fĂŒr

menschewistische. Er fugt hinzu, dass die russische Sozialdemokratie „um

so mehr Grund zur Freude hat, als die Partei keine Verbindung zum

Aufstand unterhÀlt, da es in der Flotte keine einzige menschewistische

Organisation gibt.“

Poukhow fuhrt ein anderes, von einer Menschewisten Gruppe

unterzeichnetes Dokument an (es stammt wahrscheinlich von einer der

vielen dissidenten Gruppen, die mit dem Zentralkomitee nicht konform

gingen):

„Hort bloß mit dem Gerede von Konterrevolution auf: wer sind denn die

wirklichen KonterrevolutionÀre? Das sind doch die Bolschewisten, die

Kommissare, die „Macht der Sowjets“. Gegen sie wendet sich die wahre

Revolution, die wir alle unterstĂŒtzen mĂŒssen. Kronstadt muss geholfen

werden, und wir sind aufgefordert, diese Hilfe zu leisten.

Es lebe die Revolution! Es lebe die Verfassungsgebende Urversammlung“

Das Zentralkomitee der Menschewisten lehnte jede Verantwortung fĂŒr die

Äußerungen dissidenter Gruppen ab.

IV.3 – Die Rechten RevolutionĂ€ren Sozialisten

Die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung der Konstituante,

war tatsÀchlich die Parole einer bestimmten Partei, nÀmlich der Rechten

RevolutionÀren Sozialisten. In ihrem Parteiorgan Revolutzionnaija

Rossija, das in der Emigration herausgegeben wurde, schreibt im MĂ€rz

1921 Victor Tschernow, ehemaliger PrÀsident der aufgelösten Konstituante

und FĂŒhrer der Rechten RevolutionĂ€ren Sozialisten:

„Um Kronstadt mĂŒssen. sich jetzt alle scharen, die das abscheulich

blutige Regime der bolschewistischen Diktatur ĂŒberwinden und den Weg der

Freiheit zu einer Demokratie ebnen wollen, deren Krönung die

Verfassungsgebende Versammlung ist.“

Tschernow wusste, was die aufstÀndischen Matrosen in Nr. 6 der Iswestija

geschrieben hatten: „Die Arbeiter und Bauern schreiten unaufhaltsam

voran. Hinter sich lassen sie die Outschredilka (pejorative Bezeichnung

fĂŒr die Konstituante) mit ihrem bourgeoisen System ebenso wie die

kommunistische Diktatur mit ihrer Tscheka und ihrem Staatskapitalismus,

der die arbeitende Masse im WĂŒrgegriff halt und sie bald ganz zu

erdrosseln droht.“ Tschernow jedoch tat den die Konstituante

betreffenden Gehalt dieser Zeilen als Überbleibsel bolschewistischer

Ideen ab.

In Absprache mit seinen politischen Freunden richtete Tschernow, dessen

persönliche und politische Haltung derjenigen der Menschewisten absolut

kontrÀr war, einen flammenden Appell an die Matrosen:

„Die Bolschewisten haben Freiheit und Demokratie zu schaden gemacht, als

sie dem Volk einredeten, Sowjets und Konstituante seien unvereinbare

GegensÀtze. Statt die Sowjets zur Stutze der Konstituante zu machen, zu

einem starken Band zwischen ihr und dem Land, haben sie die Sowjets

gegen die Verfassungssehende Versammlung ausgespielt und damit beiden,

der Konstituante, genauso aber den Sowjets, einen schlechten Dienst

erwiesen. Ihr musst das endlich begreifen, Ihr hintergangenen Arbeiter,

Soldaten und Matrosen. Möge Eure Parole ’Freie Wahl der Sowjets!‘ lauter

ertönen, möge sie auffordern, ĂŒber die Sowjets zu einer

Verfassungsgebenden Versammlung zu gelangen!“

Tschernow ging noch weiter. Von seinem Privatschiff aus depeschierte er

an das Provisorische Revolutionskomitee von Kronstadt:

„Der PrĂ€sident der Verfassungsgebenden Versammlung, Victor Tschernow,

sendet den heroischen Genossen Matrosen, Rotarmisten und Arbeitern,

seine brĂŒderlichen GrĂŒĂŸe, ihnen, die zum dritten Male seit 1905 das Joch

der Tyrannei zerbrechen. Erbietet UnterstĂŒtzung an Menschen sowie seine

Vermittlung, um die Versorgung Kronstadts mit Hilfe russischer

Genossenschaften im Ausland sicherzustellen. Teilt mit, was Euch fehlt

und in welcher Menge. Ich bin bereit, meine persönliche Kraft und

AutoritÀt in den Dienst der Revolution des Volkes zu stellen. Ich

vertraue in den Endsieg des werktĂ€tigen Volkes. Von ĂŒberall her

erreichen mich Nachrichten von dem Willen der Massen, sich im Namen der

Verfassungsgebenden Versammlung zu erheben; Lasst Euch nicht durch die

Unterhandlungen mit den bolschewistischen Machthabern tauschen. Sie

wollen nur Zeit gewinnen, um Kronstadt mit den zuverlÀssigsten Einheiten

der privilegierten Sowjetgarde zu umzingeln. Mögen jene leben, die als

erste die Standarte der Volksbefreiung entrollt haben. Nieder mit dem

Despotismus der Linken und der Rechten. Es lebe die Freiheit und die

Demokratie.“

Ein zweiter Aufruf wurde gleichzeitig durch Boten nach Kronstadt

gebracht:

„Die Delegation der RevolutionĂ€ren Sozialistischen Partei im Ausland –

einer Partei, die sich aller Putschversuche enthalten hat und die immer

wieder in Russland den Volkszorn besÀnftigte, indem sie den

Kreml-Diktatoren durch den Willen des Volkes ZugestÀndnisse abzuringen

versuchte – kann jetzt, da das Gefaß des Zornes am Überlaufen ist, da in

Kronstadt das Banner der Revolution entfaltet wird, nicht umhin, den

AufstĂ€ndischen die Hilfe aller ihr zur VerfĂŒgung stehenden KrĂ€fte fĂŒr

den Kampf um Freiheit und Demokratie anzubieten. Die RevolutionÀren

Sozialisten sind bereit, Euer Los zu teilen und in Euren Reihen Tod oder

Sieg zu suchen.

Sagt, wie wir Euch helfen können. Es lebe die Revolution des Volkes, es

leben die freien Sowjets und die Verfassungsgebende Versammlung.“

Auf seine verbindlichen VorschlÀge hin erhielt Tschernow folgendes

Antworttelegramm aus Kronstadt:

„Das Provisorische Revolutionskomitee von Kronstadt hat den Gruß des

Genossen Tschernow aus Reval erhalten. Es druckt allen seinen Freunden

im Ausland seinen tief empfundenen, Dank fĂŒr ihre Sympathiebezeugungen

aus. Das Provisorische Revolutionskomitee fĂŒhlt sich verpflichtet, dem

Genossen Tschernow fĂŒr sein Anerbieten zu danken, bittet ihn aber,

vorlÀufig, dh bis zur KlÀrung der Frage, nicht zu kommen. Sein Vorschlag

wird jedoch in nÀheren Betracht gezogen.

3. MĂ€rz 1921 gez.: Der PrĂ€sident des PRK Petritschenkow“

Die Bolschewisten haben behauptet, das Provisorische Revolutionskomitee

habe seine prinzipielle Zustimmung zu Tschernows Kommen gegeben,

Tschernow aber habe sein Hilfsangebot davon abhÀngig gemacht, dass die

AufstĂ€ndischen die Parolen der Konstituante ĂŒbernahmen. Der Kommunist

Komarow behauptete am 20. MĂ€rz 1921 in einer Sitzung des Petersburger

Sowjet, das Provisorische Revolutionskomitee habe Tschernow gebeten, 12

Tage zu warten, bis die Versorgungssituation in Kronstadt so zugespitzt

sein werde, dass die Parolen der RevolutionÀren Sozialisten akzeptabel

erschienen. Komarow gab vor, diese Information aus den Verhören

Perepelkins zu haben, der den Bolschewisten in die HĂ€nde gefallen war.

Perepelkin habe sogar bestÀtigt, dass der PrÀsident des Provisorischen

Revolutionskomitees heimlich eine positive Antwort an Tschernow

geschickt habe. Der Matrose Perepelkin wurde erschossen, seine

„GestĂ€ndnisse“ können also nicht ĂŒberprĂŒft werden. Jedenfalls aber traf

er im GefÀngnis mit dem Menschewisten Dan zusammen, dem er jedoch in

ihren sonst offenen und detaillierten GesprÀchen auf dem GefÀngnishof

nichts derartiges mitgeteilt hat. Es ist also zu vermuten, dass die

bolschewistische „Justiz“ schon damals Lugen zu fabrizieren wusste.

Petritschenkow bestÀtigt in einem Artikel in der Znamia Borby vom Januar

1922 (die Znamia war das Organ der Linken RevolutionÀren Sozialisten)

die vom Provisorischen Revolutionskomitee an Tschernow ergangene Antwort

und erklÀrt, das Provisorische Revolutionskomitee habe diese Frage nicht

losen können und wollte sie dem neu zu wÀhlenden Sowjet vorlegen.

Petritschenkow fugt hinzu:

„Ich teile diesen Sachverhalt unbeeinflusst Von meiner politischen

Stellungnahme dazu mit.“ Tschernow seinerseits dementiert, den

AufstÀndischen irgendwelche Bedingungen gestellt zu haben. Er erklÀrt,

die Parolen der Konstituante offen vertreten zu haben, nÀmlich in der

Annahme, die AufstĂ€ndischen wurden sie frĂŒher oder spĂ€ter ohnehin

Übernehmen.

IV.4 — Die Linken RevolutionĂ€ren Sozialisten

Die Linken RevolutionÀren Sozialisten haben in einem programmatischen

Artikel in der Znamia Borby vom Juni 1921 ihren politischen Standpunkt

definiert:

„Das eigentliche Ziel der Linken internationalistischen RevolutionĂ€ren

Sozialisten besteht in der Wiederherstellung des RĂ€tesystems, der

Wiederherstellung der wahren Macht des wahren Sowjets
.

Wir werden dafĂŒr. arbeiten, dass jeden Tag und jede Stunde die verletzte

Verfassung der Sowjetrepublik vom 10. Juni 1918 wieder in Kraft treten

kann. 
 Die Bauernschaft muss als RĂŒckgrat der russischen

Arbeiterbevölkerung einen wĂŒrdigen Platz in der Sowjetrepublik

einnehmen, sie muss das Recht haben, selbst ĂŒber ihr Schicksal zu

bestimmen. 
 Eine andere wesentliche Forderung ist: die

Wiederherstellung der Handlungsfreiheit fĂŒr die werktĂ€tige Bevölkerung

der StÀdte. Man kann von ausgehungerten und halbtoten Menschen keine

intensive Arbeit erwarten. Man muss ihnen erst einmal zu essen geben –

und darum ist es notwendig, die Interessen der Arbeiter und Bauern

aufeinander abzustimmen.“

Unbestreitbar ist der Geist der Petropaw1owsk-Reso1ution dieser

„Plattform“ der Linken RevolutionĂ€ren Sozialisten eng verwandt. Diese

dementierten aber kategorisch jede Beteiligung am Aufstand. In derselben

Nummer der Znamia schreibt einer ihrer Moskauer Korrespondenten:

„Es gab in Kronstadt keinen einzigen Kampfer der linken Volksbewegung,

das Geschehen lief ohne unsere Beteiligung ab; am Anfang hielten wir uns

fern, und dennoch war die Bewegung im Kern mit der linken Volksbewegung

identisch; in all ihren Parolen und ihrer Vorstellungswelt ist sie uns

verwandt.“

In unserer erklÀrten Absicht, die historische Wahrheit herauszuarbeiten,

werden wir zwei weitere authentische Zeugnisse wiedergeben. Das eine

stammt von Lenin, aus seiner Schrift ĂŒber die „Naturaltsteuer“, das

andere ist ein Auszug aus einem Artikel Petritschenkows in der Znamia

Barby vom Januar 1926.

IV. 5 – Das „Urteil“ Lenins

„Das FrĂŒhjahr 1921 brachte ïżœïżœïżœ hauptsĂ€chlich infolge der Missernte und der

Viehseuche – die Ă€ußerste VerschĂ€rfung in der Lage der Bauernschaft, die

infolge des Krieges und der Blockade ohnehin außerordentlich schwer war.

Die Folge der VerschÀrfung waren politische Schwankungen, die allgemein

gesprochen, zur eigentlichen „Natur“ des Kleinproduzenten gehören. Der

krasseste Ausdruck dieser Schwankungen war die Meuterei in Kronstadt.

Die kennzeichnendsten an den KronstÀdter Ereignisse sind gerade die

Schwankungen des kleinbĂŒrgerlichen Elements. Etwas Festgeformtes,

Klares, Bestimmtes ist kaum zu merken. Nebelhaft Losungen wie

„Freiheit“, „freier Handel“, „Befreiung vom Joch“, „Sowjets ohne

Bolschewisten“ oder „Neuwahl der Sowjets“ oder „Befreiung von der

Parteidiktatur“ und so weiter und so fort. Sowohl die Menschewisten als

auch die RevolutionÀren Sozialisten proklamieren, die KronstÀdter

Bewegung sei „ihre“ Bewegung. Victor Tschernow sendet seinen Eilboten

nach Kronstadt: auf Vorschlag dieses Boten stimmt in Kronstadt der

Menschewist Walk, einer der KronstĂ€dter FĂŒhrer, fĂŒr die „Konstituante“.

Im Nu macht das gesamte Weißgardistentum geradezu mit der

Geschwindigkeit der Funktelegrafie „fĂŒr Kronstadt“ mobil. Die

weißgardistischen MilitĂ€rspezialisten in Kronstadt, eine Reihe von

Spezialisten, nicht Koslowskij allein, arbeiten den Plan einer Landung

in Oranienbaum aus, einen Plan, der die schwankende

menschewistisch-sozialrevolutionÀre-parteilose Masse in Schrecken

versetzt hat. Mehr als ein halbes Hundert im Ausland erscheinender

weißgardistischer russischer Zeitungen entwickeln mit rasender Energie

eine Kampagne „fĂŒr Kronstadt“. Die Großbanken, alle KrĂ€fte des

Finanzkapitals, veranstalten Sammlungen fĂŒr UnterstĂŒtzung von Kronstadt.

Der kluge FĂŒhrer der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer, der Kadett

Miljukow, setzt geduldig dem Dummkopf Victor Tschernow direkt (und den

wegen ihrer Verbindung mit Kronstadt im Petersburger GefÀngnis sitzenden

Menschewisten Dan und Roschkow indirekt) auseinander, dass es keinen

Sinn habe, sich mit der Konstituante zu ĂŒberstĂŒrzen, dass man sich fĂŒr

die Sowjetmacht – nur ohne Bolschewisten – aussprechen könne und mĂŒsse.

Es ist natĂŒrlich nicht schwer, klĂŒger zu sein also solche

selbstgefĂ€lligen Narren wie Tschernow, dieser Held der kleinbĂŒrgerlichen

Phrase, oder wie Martow, der Ritter des „marxistisch“ zurechtgestutzten

bĂŒrgerlichen Reformismus. Nicht darum handelt es sich eigentlich, dass

Miljukow als Person klĂŒger ist, sondedrn darum, dass der ParteifĂŒhrer

der Großbourgeoisie infolge seiner Klassenstellung den Klassensinn der

Sache und die politischen Wechselbeziehungen klarer sieht und besser

erfasst als die FĂŒhrer des KleinbĂŒrgertums – wie Tschernow und Martow.

Denn die Bourgeoisie ist tatsÀchlich eine Klassenmacht, die unter dem

Kapitalismus unvermeidlich herrscht, sowohl unter der Monarchie als auch

in der allerdemokratischsten Republik und ebenso unvermeidlich auch die

UnterstĂŒtzung der Weltbourgeoisie genießt. Das KleinbĂŒrgertum aber, das

heißt alle Helden der II. Internationale und der Internationale

„Zweieinhalb“, kann dem ökonomischen Wesen nach nichts anderes sein als

der Ausdruck der Klassenohnmacht. Daher die Schwankungen, die Phrasen,

die Hilfslosigkeit. 


Wenn Martow in seiner Berliner Zeitschrift erklÀrt, Kronstadt habe nicht

nur menschewistische Parolen durchgefĂŒhrt, sondern auch den Beweis

geliefert, dass eine antibolschewistische Bewegung möglich sein, die

nicht vollstĂ€ndig den Weißgardisten, den Kapitalisten und Gutsbesitzern

diene, so ist das geradezu das Musterbeispiel eines in sich selbst

verliebten spießbĂŒrgerlichen Narziss. Lasst uns einfach die Augen vor

der Tatsache verschließen, dass alle echten Weißgardisten den

KronstÀdter AufstÀndischen zujubelten und durch die Banken Gelder zur

UnterstĂŒtzung von Kronstadt sammelten! Miljukow hat gegenĂŒber Tschernow

und Martow recht, denn er verrÀt die wirkliche Taktik der wirklichen

weißgardistischen Kraft, die Kraft der Kapitalisten und Gutsbesitzer:

wir wollen jeden, wer immer es auch sei, sogar Anarchisten, jede

beliebige Sowjetmacht unterstĂŒtzen, damit nur die Bolschewisten gestĂŒrzt

werden, damit nur eine Verschiebung der Macht herbeigefĂŒhrt wird!

Einerlei, ob nach rechts oder links, ob zu den Menschewisten oder zu den

Anarchisten hin, nur eine Verschiebung der Macht weg von den

Bolschewisten, das ĂŒbrige aber – das ĂŒbrige werden „wir“, die Miljukow,

„wir“, die Kapitalisten und Gutsbesitzer, schon „selber“ besorgen; die

Anarchistlein, die Tschernow und die Martow werden wir schon

hinausprĂŒgeln, wie wir es in Sibirien mit den Tschernow und Maiski, wie

wir es in Ungarn mit den ungarischen Tschernow und Martow getan haben. 


Diese spießbĂŒrgerlichen Narzisse – Menschewisten, RevolutionĂ€re

Sozialisten und Parteilose – hat die wirkliche, geschĂ€ftstĂŒchtige

Bourgeoisie in allen Revolutionen dutzende Male in allen LĂ€ndern zu

Hunderten ĂŒbertölpelt und davongejagt. Das ist geschichtlich bewiesen.

Das ist durch die Tatsachen belegt. Die Narzisse werden schwatzen. Die

Miljukow und die Weißgardistenbande aber werden handeln.“

IV.6 – Die Stellungnahme Petritschenkows

„KĂŒrzlich las ich die Korrespondenz zwischen der Organisation der Linken

RevolutionÀren und den Kommunisten Englands. In ihr wird auch der

KronstÀdter Aufstand behandelt.

Als PrĂ€sident der KronstĂ€dter Revolte fĂŒhle ich mich verpflichtet, dem

PolitbĂŒro der Englischen KP in aller KĂŒrze einige AufklĂ€rungen zu geben.

Ich weiß, dass Sie aus Moskau informiert wurden, weiß aber auch, wie

einseitig und parteiisch diese Informationen waren. Es wÀre daher nicht

schlecht, wenn Sie auch die Ansicht der Gegenseite kennen wĂŒrden. 


Sie haben selbst anerkannt, dass der KronstÀdter Aufstand nicht von

außen inspiriert war; mit anderen Worten: was hier zum Ausbruch kam, war

die lang angestaute Ungeduld der werktÀtigen Massen, der Matrosen, der

Rotarmisten, der Arbeiter und Bauern. Dieser Zorn des Volkes ĂŒber die

Diktatur der KP, genauer: ĂŒber ihre BĂŒrokratie, nahm die Form des

Aufstandes an; so kam es, dass kostbares Blut vergossen wurde; nicht um

Klassen- oder KastengegensÀtze ging es: auf beiden Seiten der Barrikaden

standen WerktÀtige. Der einzige Unterschied war, dass die KronstÀdter

bewusst und freiwillig, die Angreifer aber unter dem Einfluss, wenn

nicht Zwang, der Herren der KP kÀmpften. Ich will noch mehr sagen: die

KronstÀdter hatten keine Lust, zur Waffe zu greifen und Blut zu

vergießen!

Welcher UmstÀnde bedurfte es dann, dass die KronstÀdter den

Parteidiktatoren schließlich in deren Sprache, der Sprache der Kanonen,

antworteten?

Die Matrosen von Kronstadt haben eine aktive Rolle bei der Schaffung

jener Regierung gespielt, aus der jene Diktatoren erwuchsen. Sie haben

sie gegen alle Angriffe der Konterrevolution verteidigt; nicht nur

bewachten sie die Tore Petersburgs; des Herzens der Revolution – ihre

Einheiten kĂ€mpften an unzĂ€hligen Fronten gegen die Weißgardisten,

angefangen bei Kornilow bis zu den GenerÀlen Youdienitsch und

Neklioudow. Und dann wÀren diese selben KronstÀdter mit einem Schlag

Feinde der Revolution geworden? Die Regierung „der Arbeiter und Bauern“

hat sie als Agenten der Entente, als französische Spione, als

SteigbĂŒgelhalter der Bourgeoisie, als RevolutionĂ€re Sozialisten, als

Menschewisten und was nicht alles hingestellt. Es ist doch erstaunlich,

dass die KronstÀdter ausgerechnet zu dem Zeitpunkt gefÀhrliche Feinde

wurden, als die Gefahr von seiten der konterrevolutionÀren GenerÀle

beseitigt war; ausgerechnet in dem Augenblick, da es Zeit wurde, das

Land wieder aufzubauen, Zeit, die FrĂŒchte der Oktoberrevolution zu

ernten, Zeit, den wahren Wert der Dinge zu zeigen und die politischen

Errungenschaften auf den Tisch zu legen (Versprechen reichten nicht mehr

aus, es galt, sie zu erfĂŒllen), an die wĂ€hrend des BĂŒrgerkrieges niemand

zu denken gewagt hatte. Ausgerechnet in diesem Augenblick also hÀtten

sich die KronstÀdter als Feinde entpuppt? Welches Verbrechen gegen die

Revolution hat Kronstadt denn begangen?

Als die Fronten des BĂŒrgerkrieges aufgelöst waren, erlaubten sich die

Arbeiter Petersburgs, den Sowjet dieser Stadt daran zu erinnern, dass

nun wohl die Zeit gekommen sei, an die wirtschaftliche Lage zu denken

und endlich die Verwaltungsformen kriegerischen Ausnahmezustandes

zugunsten zivilerer Methoden aufzugeben.

Der Sowjet von Petersburg erklÀrte diese zugleich friedliche und

berechtigte Anfrage fĂŒr konterrevolutionĂ€r. Taub und stumm blieb er fĂŒr

diese Forderungen, aber er befahl Verfolgung und Verhaftung unter

Arbeitern, die er als Spione und Agenten der Entente diskriminierte.

Diese BĂŒrokraten wurden wĂ€hrend des BĂŒrgerkrieges korrumpiert, als

niemand ihnen zu widersprechen wagte. Aber den Wandel der VerhÀltnisse

hatten sie nicht bemerkt. Die Antwort der Arbeiter hieß Streik. Der

Sowjet ließ daraufhin diese ausgehungerten und erschöpften Arbeiter von

seiner Leibwache in die Zange nehmen und mit allen Mitteln zur Arbeit

pressen. Und diese Leibgarde aus Rotarmisten und Matrosen, die selbst

Mitleid hatten mit den Arbeitern, wagte kein Wort zu ihrer Verteidigung

– denn die Herren hatten sie gewarnt: Kronstadt werde gegen jeden

eingreifen, der sich der Sowjetregierung widersetzt. Aber diesmal hatte

sich die Regierung der „Arbeiter und Bauern“ in Kronstadt getĂ€uscht:

Dank seiner geografischen Lage bei Petersburg hatte Kronstadt, wenn auch

mit gewisser Verzögerung, den wahren Stand der Dinge in Petersburg

erfahren.

Insofern haben die englischen Genossen in der Annahme recht, dass

niemand den KronstÀdter Aufstand inspiriert hatte.

Dann wĂŒrde ich noch gern wissen, worin sich die UnterstĂŒtzung der

konterrevolutionĂ€ren russischen Auslandsorganisationen fĂŒr Kronstadt

gezeigt hat. Ich wiederhole abermals, dass der Aufstand nicht von

irgendeiner politischen Organisation ausgelöst wurde – und ich denke,

dass es derartige Organisationen in Kronstadt nicht einmal gegeben hat.

Die Revolte entstand spontan aus der Stimmung der werktÀtigen

Bevölkerung und der Garnison. Das können wir aus der Resolution ersehen

und aus der Zusammensetzung des Provisorischen Revolutionskomitee.

Nichts darin deutet auf das Vorherrschen irgendeiner anti-sowjetischen

Partei. Die KronstÀdter waren der Ansicht, unter dem Diktat der UmstÀnde

zu handeln. Die AufstÀndischen setzten ihre Hoffnung auf niemand; nicht

auf das Provisorische Revolutionskomitee, nicht auf die

Deligiertenversammlung, nicht auf meetings oder was auch immer. Das

Provisorische Revolutionskomitee unternahm nichts in dieser Richtung,

obwohl die Möglichkeit dazu bestanden hÀtte. Das Komitee war bestrebt,

sich strikt nach dem Willen des Volkes zu richten. Ob das ein Verdienst

oder Fehler war, kann ich nicht entscheiden, aber die Tatsache ist, dass

die Masse dem Komitee die Richtung vorschrieb und nicht umgekehrt. Wir

hatten keine berĂŒhmten politischen KĂ€mpfer unter uns, die die Zukunft

auf drei Meilen gegen den Wind riechen und daraus Nutzen hÀtten ziehen

können. Die KronstÀdter haben ohne Plan und Programm gehandelt, haben

sich in der in der Resolution angegebenen Richtung und nach Maßgabe der

UmstÀnde vorgetastet. Von der ganzen Welt abgeschnitten, wussten wir

nicht, was außerhalb Kronstadts geschah, sei es in Sowjetrussland oder

im Ausland. Es ist möglich, das mancher fĂŒr unseren Aufstand hĂ€tte

Perspektiven entwickeln können (wie ĂŒblich)-aber das wĂ€re in unserem

Fall vergebens gewesen. Wir konnten keine Hypothesen ĂŒber mögliche

Konsequenzen möglicher Ereignisse aufstellen, denn diese Ereignisse

hÀtten auch ganz anders ablaufen können. Aber die KronstÀdter wollten

ihre einmal gegebene Chance zur Initiative nicht versÀumen.

Die Kommunisten haben uns vorgeworfen, dass wir das Angebot des

russischen Roten Kreuzes in Finnland betreffend Lebensmittel und

Medikamente angenommen haben. Wir mĂŒssen sagen, dass wir an diesem

Angebot nichts bedenklich fanden. Dabei hatten wir die Zustimmung des

ganzen Provisorischen Revolutionskomitees und der

Delegiertenversammlung. Wir betrachten diese Organisation als eine rein

philanthropische, die uns neutral und ohne Hintergedanken ihre Hilfe

anbot. Nach dem Entschluss, eine Delegation des Roten Kreuzes die Stadt

betreten zu lassen, wurden deren Mitglieder mit verbundenen Augen zum

Generalsstab gebracht.

Bei der ersten Sitzung haben wir ihnen erklĂ€rt, wir wĂŒrden ihre Hilfe

als die einer philanthropischen Organisation dankbar annehmen, uns dabei

aber als von jeder Verpflichtung ihn gegenĂŒber frei betrachten. Wir

haben ihrem Verlangen Rechnung getragen, einen stÀndigen Beobachter in

Kronstadt zu haben, der die ordnungsgemĂ€ĂŸe Verteilung der Lebensmittel,

die hauptsĂ€chlich fĂŒr Frauen und Kinder bestimmt waren, zu ĂŒberwachen

hatte. Dies war KapitÀn Wilken; er wurde in einem stÀndig bewachtem

Appartement untergebracht und konnte keinen Schritt ohne Genehmigung

tun. Inwiefern konnte Wilken gefÀhrlich sein? Er konnte lediglich die

Stimmung zur Zivilbevölkerung und der Garnison in Erfahrung bringen.

Bestand etwa darin die Hilfe der internationalen Bourgeoisie? Oder in

dem Grußtelegramm Victor Tschernows an das aufstĂ€ndische Kronstadt? War

das die UnterstĂŒtzung der russischen und internationalen

Konterrevolution? Kann man den wirklich annehmen, dass sich die

KronstÀdter jeder beliebigen anti-sowjetischen Partei an den Hals

geworfen hÀtte?

Als die aufstÀndischen erfuhren, dass die Rechten tatsÀchlich eigene

PlĂ€ne bezĂŒglich des Aufstandes schmiedeten, kamen sie ihnen zuvor. Das

beweist der Artikel in der Iswestija vom 6. MĂ€rz mit der Überschrift:

‘Sehr geehrte Herren – oder: Liebe Genossen‘.“

V. KRONSTADT – EIN LETZTER VERSUCH DER SOWJETS

Wie ist der KronstÀdter Aufstand zu beurteilen?

– Als konterrevolutionĂ€rer Aufstand?

– Als Revolte ohne eigenes konterrevolutionĂ€res Ziel, die aber einer

möglichen Konterrevolution Vorschub geleistet hÀtte?

– Oder lediglich als Versuch der Arbeiterklasse, die Versprechen der

Oktoberrevolution einzufordern?

Und:

– War dieser Aufstand unabwendbar?

Und schließlich:

– War sein blutiger Ausgang unabwendbar?

Diese Fragen sind im Schlusskapitel unserer Betrachtung zu diskutieren.

V.1 – Die Version Trotzkis

Die Anklagen, die Poukhow 1931 gegen Kronstadt erhebt, sind mit der

bolschewistischen Beurteilung des Aufstandes identisch, wie sie bereits

1921 erfolgte. Auch Trotzki orientierte sich daran, seine AnhÀnger tun

es selbst heute noch. Trotzkis eigene Äußerungen zu den Ereignissen sind

ĂŒbrigens höchst sparsam und uneinheitlich. Niemals hat er ausdrĂŒcklich

Stellung bezogen, seine Meinung zu den VorfÀllen tat er nur sporadisch

kund. 1937 sprach er erstmals ausdrĂŒcklich zu diesen Thema in der Presse

(in seinen BĂŒchern, in denen die russische Revolution behandelt wird,

Ă€ußert er sich fast gar nicht dazu). Damals schrieb er: „
 das Land litt

Hunger, aber die Matrosen Kronstadts forderten Privilegien. Ihr Aufstand

erwuchs aus der Forderung nach Vorzugs-Rationen.“ Es erĂŒbrigt sich der

Hinweis, dass die KronstÀdter derartige Forderungen niemals erhoben

haben. Diesen Vorwurf lÀsst Trotzki spÀter auch tatsÀchlich fallen.

Dennoch ist festzuhalten, dass seine erste Stellungnahme eine falsche

Behauptung enthielt.

In einem Artikel vom 26. Februar 1938 in der belgischen Zeitung „Lutte

Ouvriùre“ schreibt er:

„Unter dem Gesichtspunkt der Klasse – der ungeachtet aller Elektriker

doch das fundamentale Kriterium sowohl der Politik als auch der

Geschichtsschreibung bleibt – ist es von besonderer Bedeutung, die

Haltung der KronstÀdter mit derjenigen der Petersburger zu vergleichen.

Auch in Petersburg hatte die Arbeiterklasse ihre fĂŒhrenden KrĂ€fte

verloren. In der verlassenen Hauptstadt regierten Hunger und KĂ€lte

womöglich noch grausamer als in Moskau 
 Die KronstĂ€dter Zeitungen

schreiben, dass es in Petersburg Barrikaden und Tausende von Toten

gegeben habe, eine Behauptung, die von der Weltpresse nachgebetet wird.

Das genaue Gegenteil tritt zu. Der KronstÀdter Aufstand wirkte auf die

Petersburger Arbeiter viel eher abstoßend als anziehend. Die Grenze (das

Engagements fĂŒr Kronstadt) fiel mit der Klassengrenze zusammen. Die

Arbeiter erkannten sofort, dass die Rebellen von Kronstadt auf der

anderen Seite der Barrikaden standen. Sie unterstĂŒtzten die Macht der

Sowjets.“

Wieder einmal schlÀgt hier Trotzki der Wahrheit ins Gesicht. Wir haben

am Beginn unserer Studie klargestellt, daß es in Petersburg war, wo die

ersten Streiks ausbrachen, denen sich Kronstadt dann erst anschloß. Das

von der Zentralregierung eingesetzte Verteidigungskomitee war zunÀchst

auf die Streikenden von Petersburg angesetzt. Und es waren die Arbeiter

von Petersburg, gegen die sich die Repressalien richteten und gegen

deren Demonstrationen die Kadettenkorps marschierten.

Nur: die Petersburger Arbeiter hatten keine Waffen, wÀhrend die

KronstÀdter sich verteidigen konnten. Die militÀrischen Aktionen gegen

Kronstadt verfehlten auch ihren Eindruck auf die Petersburger Arbeiter

nicht, deren Verhalten wir bereits dargestellt haben. Die „Grenze“

verlief jedenfalls nicht entlang der Klassengrenze, sie markierte

vielmehr die EinflußsphĂ€re der bolschewistischen Zwingherren. Wenn die

Petersburger Arbeiter sich nicht den KronstÀdtern anschlossen, beweist

das noch lange keine verschiedene Einstellung. Als – in spĂ€teren Jahren

– das russische Proletariat sich nicht scharenweise den oppositionellen

Gruppen anschloß, brachte es damit auch nicht seine Begeisterung fĂŒr

Stalin zum Ausdruck. In solchen Situationen ist es eben nur die rohe

Gewalt, die die politische Landkarte bestimmt.

Im gleichen Artikel wiederholt Trotzki auch sein Argument, daß die

KronstÀdter ihre revolutionÀren KrÀfte verloren hÀtten. WÀhrend die

Matrosen 1917 und 1918 auf einem höheren ideologischen Niveau als die

Rote Armee agierten, hĂ€tten sie 1921 um so mehr „nachgelassen“. Dieses

Argument wird durch die offizielle Akten der Roten Armee entkrÀftet, in

denen gerade die starke Sympathie in den Reihen der Roten Armee fĂŒr die

KronstÀdter moniert wird.

Schließlich wirft Trotzki seinen Gegnern vor, ĂŒbertrieben nachtragend zu

sein: „In manchen Kreisen dauern die KĂ€mpfe um Kronstadt noch an. Da

hĂ€lt man es manchmal kaum fĂŒr möglich, daß dieser Aufstand immerhin

siebzehn Jahre zurĂŒckliegt.“

Uns bedeutet siebzehn Jahre allerdings im Maßstab der Weltgeschichte

sehr wenig; heute ĂŒber Kronstadt zu sprechen, ist kein RĂŒckgriff auf die

„Pharaonen“. Außerdem scheint es uns logisch, an diesem plastischen und

symptomatischen Ereignis die GrĂŒnde der russischen Katastrophe zu

erhellen. Denn damals wurde die werktÀtige Klasse nicht durch Stalin,

sondern durch die CrĂšme des russischen Bolschewismus, durch Lenin und

Trotzki, unterdrĂŒckt. An diese Zeiten zu rĂŒhren, bedeutet deshalb noch

lange nicht, wie Trotzki meint, „die einzige wahre revolutionĂ€re Tendenz

zu diskreditieren, die niemals ihre Fahne im stich ließ, noch

Kompromisse mit den Feinden schloß, und die als einzige die Zukunft

reprĂ€sentiert.“

Trotzki selbst hat in diesen siebzehn Jahren seine Einstellung zu den

AufstÀndischen nicht korrigiert. Aber immer noch hat er keine Argumente,

stĂŒtzt sich aufs Hörensagen. So schreibt er etwa:

„In der Garnison von Kronstadt, die nichts mehr leistete und von der

Vergangenheit lebte, hatte die Demoralisation weit um sich gegriffen.

Als sich die Situation im ausgehungerten Petersburg immer mehr zuspitze,

erwog man im PolitbĂŒro mehrfach eine ‘innere Anleihe‘ bei Kronstadt, das

von frĂŒher her noch ĂŒber reichhaltige VorrĂ€te verfĂŒgte. Aber die

Delegierten aus Petersburg warnten uns: ‘Freiwillig werden die Euch

nichts geben – mit ihren Tuch, ihrer Kohle, ihrem Brot spekulieren sie;

in Kronstadt herrscht das letzte Lumpenpack‘.“

Das Trotzki guten Glaubens mit diesen angeblichen VorrÀten

argumentierte, ist wohl sehr zweifelhaft, wenn man an den Aufruf des

Petersburger Verteidigungskomitee vom 5. MĂ€rz denkt, in dem es hieß: „


Ihr werdet euch ergeben mĂŒssen. Kronstadt hat kein Brot und kein

Brennmaterial 
 “ Was ist denn aus den fraglichen Reserven geworden?

Am 8. MĂ€rz verteilt man in Kronstadt als Ration fĂŒr vier Tage vier Liter

Hafersuppe, am 9. MĂ€rz ein Viertelpfund Schwarzbrot, das zur HĂ€lfte aus

Kartoffelmehl bestand. Am 10. MĂ€rz beschließt das Regionalkomitee der

Metallurgisten, das den Arbeitern zustehende Pferdefleisch der

hungernden Bevölkerung zukommen zu lassen. WÀhrend des Aufstandes wurde

dann noch einmal eine Dose Kondensmilch pro Person verteilt, ein zweites

Mal Fleischkonserven und ein drittes und letztes Mal je ein halbes Pfund

Butter fĂŒr jedes Kind. Das sind zweifellos die „reichhaltigen VorrĂ€te“,

die man nach Trotzkis Ansicht hÀtte ausleihen und zur Linderung der

Hungersnot in ganz Russland hÀtte einsetzen könne.

Übrigens wĂ€ren diese VorrĂ€te vor dem KronstĂ€dter Aufstand (also zur

fraglichen Zeit) ohnehin nur mit Zustimmung kommunistischer FunktionÀre

zugÀnglich geworden; die einfachen Matrosen hÀtten, selbst wenn sie das

gewollt hĂ€tten, gar nichts gegen diese „Anleihe“ unternehmen können.

Damit ist diese Frage wohl geklĂ€rt – zugleich die Beweiskraft der gegen

die KronstĂ€dter vorgebrachten Argumente hinre3ichend gewĂŒrdigt.

Es beweist wohl nur den Mangel an stichhaltigen GrĂŒnden auf seiten der

Bolschewisten, dass sie Argumente von der eben geschilderten Art in

einer derart wichtigen Diskussion vorbringen – und dann auch noch eine

Polemik ĂŒber die spanische Revolution damit verbinden.

Gleiche Schuld trifft allerdings auch die Arbeiter-Opposition, die nach

Auskunft damals in Russland weilender auslÀndischer Kommunisten absolut

nicht mit den Maßnahmen gegen die AufstĂ€ndischen einverstanden war, es

aber auch nicht wagte, zu deren Verteidigung etwas zu sagen. Auf dem 10.

Parteitag protestierte niemand gegen die Ermordung der AufstÀndischen.

Der Arbeiter Loutowinow, designiertes Mitglied des Zentralen

Exekutivrates der Sowjets, einer der OppositionsfĂŒhrer, sagte im MĂ€rz

1921 in Berlin (wohin er angeblich diplomatischer Mission, tatsÀchlich

aber ins Exil gekommen war):

„Die letzten Berichte der auslĂ€ndischen Presse ĂŒber die Ereignisse von

Kronstadt sind stark ĂŒbertrieben. Die Sowjetregierung ist durchaus in

der Lage, mit den Rebellen fertig zu werden. Ihr zögerndes Vorgehen

erklĂ€rt sich aus der Absicht, die KronstĂ€dter Bevölkerung zu schonen.“

(nach L‘HumanitĂš vom 18. MĂ€rz 1921)

Trotzki bedient sich noch eines anderen Argumentes, das fĂŒr alle

Oppositionellen in Russland sehr gefÀhrlich werden sollte; er wirft den

KronstĂ€dter vor, „von ihrer revolutionĂ€ren Vergangenheit zu leben“.

Stalin sollte das selbe Argument gegen Trotzki und die Altbolschewisten

benutzen, um ihnen bald darauf vorzuwerfen, dass sie von Anbeginn der

Revolution als Agenten der internationalen Bourgeoisie fungiert hÀtten.

In den ersten Kampfjahren habe Trotzki der Revolution zwar unschÀtzbare

Dienste erwiesen, um dann jedoch in das Lager der Gegenrevolution

ĂŒberzuwechseln. Man mĂŒsse, fuhr Stalin fort, einen Menschen nach seinem

gegenwÀrtigen Verhalten und nicht nach seiner Vergangenheit beurteilen,

wie das Beispiel Mussolini beweise.

Was Trotzki uns mit all seinen Argumenten nicht erklÀren kann, ist der

ideologische Dissens Kronstadts und der ganzen Flotte und die

Einstellung der Kommunisten in der Flotte wÀhrend der

Gewerkschaftsdebatte, die mit der Wahl zum 8. Allrussischen

Sowjetkongress begann und bis zur II. Kommunistischen Konferenz der

Baltischen Flotte kurz vor dem Aufstand dauerte. Genau die aber sind die

Angelpunkte der Diskussion.

Wenn Trotzki behauptet, dass alle, die auf seiten der Regierung standen,

echte proletarische und progressive KrÀfte waren, alle anderen hingegen

dem konterrevolutionĂ€ren Lager der Landbevölkerung angehörten, mĂŒsste er

die Behauptung erst in einer ernstzunehmenden Analyse der Fakten

beweisen.

Die Entwicklung hat gezeigt, dass im Ablauf der Revolution einige Wichen

falsch gestellt waren, was zur Kompromittierung und Zerstörung aller

sozialen, politischen und moralischen Errungenschaften fĂŒhrte. War der

Aufstand von Kronstadt ein Versuch, die russische Revolution wieder in

die richtigen Geleise zu lenken.

Das ist die entscheidende Frage, aus der sich erst die ĂŒbrigen

zweitrangigen Fragen ableiten lassen.

Es war sicher nicht die Vernichtung Kronstadts, die zu einem vorzeitigen

Ende der Revolution fĂŒhrte, aber es waren uE die auf Kronstadt und im

großen Rahmen auf ganz Russland angewandten politischen Methoden, die

aus den TrĂŒmmern der sozialen Revolution ein oligarisches System

erwachen ließen, das mit den ursprĂŒnglichen Erwartungen seiner

Wegbegleiter nichts mehr gemein hatte.

V.2 – Die Version der Bolschewisten

1921 behauptete die bolschewistische Regierung, der KronstÀdter Aufstand

sei vorgeplant gewesen. Diese Version entstand aus einer Meldung, die am

15. Februar 1921 in einigen französischen Zeitungen erschien (Le Matin,

L’Echo de Paris) und in der die Insurrektion angekĂŒndigt wurde. Daher

auch die Behauptung, der Aufstand sei von der Entente inszeniert.

Dieses fragwĂŒrdige Argument brachte auch Lenin auf dem 10. Parteitag

vor. „Wir haben gesehen, wie auf die Bolschewisten ein undurchsichtiges

politisches Konglomerat folgte; wahrscheinlich mit Elementen von rechts,

besonders und jedenfalls aber mit Elementen aus der Richtung ‚links‘ von

den Bolschewisten. Die Gesamtheit aller politischen Gruppen, die in

Kronstadt an die Macht wollen, lÀsst sich gar nicht genau festlegen.

Aber es herrscht kein Zweifel, dass auch weißgardistische GenerĂ€le eine

große Rolle gespielt haben, das ist sogar bewiesen. Zwei Wochen vor den

Ereignissen in Kronstadt veröffentlichte die Pariser Presse bereits die

Nachricht vom KronstĂ€dter Aufstand.“

(Lenin, Ges. Werke, engl. Ausg., XXVI, S 124)

Tatsache ist, dass Falschmeldungen aus Russland keine Seltenheit waren,

nach dem Aufstand ebensowenig wie vorher. Unbestreitbar beeilte sich die

Weltbourgeoisie als Feind der russischen Revolution, alle schlechten

Nachrichten aus Russland jeweils zu ĂŒbertreiben. Als daher am 15.

Februar die II. Kommunistische Konferenz der Baltischen Flotte ihre

Kritik an der politischen FĂŒhrung der Flotte anmeldete, konnte diese

Nachricht leicht von der bĂŒrgerlichen Presse ĂŒberinterpretiert werden,

wobei, wie hÀufig, der Wunsch zum Vater einer Falschmeldung wurde. Auf

einen derartigen „Beweis“ seine Anklage zu stĂŒtzen, ist also unzulĂ€ssig

und unmoralisch.

In seinem Artikel von 1938 bezieht sich Trotzki auch nicht auf diese

Beschuldigung durch Lenin, sondern auf eine von dem amerikanischen

Trotzkisten John G. Wright veröffentlichte Studie zum Aufstand. Wright

seinerseits greift in diesem im Februar 38 in „The New Internationalist“

erschienenen Artikel auf das Argument zurĂŒck, dass der Aufstand

vorbereitet gewesen sein musste, da ihn ja die französische Presse am

15. Februar bereits annoncierte. Er schreibt:

„Eine Verbindung zwischen Kronstadt und der Konterrevolution lĂ€sst sich

nicht nur nach Aussagen von Feinden des Bolschewismus konstruieren – sie

ergibt sich auch aus beweiskrĂ€ftigen Fakten.“ Und diese beweiskrĂ€ftigen

Fakten sind abermals Zitate aus der bĂŒrgerlichen Presse (Le Matin,

Vossische Zeitung, The Times) mit ihren Falschmeldungen ĂŒber den

KronstÀdter Aufstand.

Es ist, wie gesagt, leicht, diese Argumente zu entkrÀften. Was schwerer

wiegt, ist die Tatsache, dass sie nicht nur damals in der Hitze des

Gefechts, sondern auch noch siebzehn Jahre danach Anwendung finden.

Trotzki und die Trotzkisten sollten mit der Formulierung derart

unbegrĂŒndbarer Argumente vorsichtiger sein: Stalin wusste bei gegebenem

Anlass diesem Beispiel zu folgen.

Warum – wenn die bolschewistische Regierung damals wirklich stichhaltige

Beweise fĂŒr die Verbindung mit der Konterrevolution besaß – warum hat

sie dann kein öffentliches Verfahren gegen die AufstÀndischen

angestrengt und Russland die wahren GrĂŒnde des Aufstands zu sehen

gegeben? Doch wohl nur, weil diese Beweise nicht vorlagen.

Man sagt uns von anderer Seite, dass eine zeitigere EinfĂŒhrung des Neuen

Ökonomischen Programms (NEP) den Aufstand verhindert hĂ€tte. Aber: Wie

oben gezeigt, gab es keinen Plan fĂŒr den Aufstand, und niemand konnte

vorher wissen, ob es ĂŒberhaupt dazu kommen musste. Wir besitzen keine

Theorie ĂŒber das Entstehen spontaner Bewegungen; es ist leicht möglich,

dass unter anderen wirtschaftlichen und politischen VerhÀltnissen, als

sie im FrĂŒhjahr 1921 herrschten, der Aufstand sich nicht ereignet hĂ€tte.

Umgekehrt hÀtte er aber auch in anderer Form und an anderem Ort

entstehen können, etwa in Nijni Nowgorod, wo gleichzeitig mit der

Petersburger Streikwelle erhebliche Unruhen auftraten. Die besondere

Situation der Flotte und die revolutionÀre Vergangenheit Kronstadts

haben sicher eine Rolle gespielt, man kann aber nicht mit Sicherheit

angeben, wie ausschlaggebend diese Rolle war. Umgekehrt gilt das

Entsprechende fĂŒr das Argument, die rechtzeitige EinfĂŒhrung des NEP

hĂ€tte die Revolte verhindern mĂŒssen.

Das Neue Ökonomische Programm wurde tatsĂ€chlich in dem Augenblick

proklamiert, als das KronstÀdter Massaker begann. Aber nichts spricht

dafĂŒr, dass es auf die von den Matrosen erhobenen Forderungen

tatsÀchlich einging. Denn in der KronstÀdter Iswestija vom 14. MÀrz

finden wir diese charakteristische Bemerkung: „ 
 Kronstadt verlangt

nicht den freien Handel, sondern die wahre Macht der RĂ€te!“.

Auch die streikenden Arbeiter Petersburgs unterstrichen immer wieder, so

sehr sie auch die Wiederherstellung der MĂ€rkte und die Abschaffung der

Milizpatrouillen forderten, dass dies allein ihre Probleme nicht lösen

könne.

Sicherlich erfĂŒllte das NEP einige Forderungen der KronstĂ€dter und der

streikenden Arbeiter Petersburgs insofern, als es die

Zwangsrequisitionen durch Naturalsteuern ersetzte und den Binnenhandel

wieder eröffnete. Soweit das NEP die Lebensmittelrationierung und die

willkĂŒrlichen Konfiskationen aufhob, ermöglichte es den Kleinproduzenten

wieder, ihre Waren auf die neuerdings offenen MĂ€rkte zu bringen, womit

die Hungersnot beseitigt war. Damit erschien das NEP vor allem als

Rettungsmaßnahme.

Gleichzeitig entfesselte das NEP aber die kapitalistischen KrÀfte auf

dem Land, wÀhrend die Diktatur der Einheitspartei dem Stadt- und

Landproletariat keine Handhabe gegen diese kapitalistischen Elemente

gab. „Die herrschende Klasse der Arbeiter besitzt in Wirklichkeit nicht

einmal die elementarsten politischen Rechte“, schrieb 1922 das Organ

einer oppositionellen kommunistischen Gruppe, wÀhrend ein anderer

Artikel die Situation so charakterisiert: „Das Proletariat besitzt

absolut keine Rechte, wĂ€hrend die Gewerkschaften ein gefĂŒgiges

Instrument in den HĂ€nden der FunktionĂ€re sind.“

Solche Entwicklungen hatten sich die KronstÀdter allerdings nicht

gewĂŒnscht; vielmehr sannen sie auf Mittel, der Arbeiterklasse und der

werktÀtigen Landbevölkerung den ihr zukommenden Platz im Regime zu

sichern. Aus diesem Programmkatalog haben die Bolschewisten nur die

unwichtigen Forderungen erfĂŒllt, die in der Resolution auf dem 11. Platz

rangierten – die Forderung nach der Arbeiterdemokratie jedoch haben sie

ignoriert.

Aber diese Forderung in der Resolution der Petropawlowsk war weder

fantastisch noch gefĂ€hrlich, wie es etwa V. Serge in „Proletarische

Revolution“ vom 10. September 1937 behauptet: „ 
 spĂ€ter, als sie (die

Matrosen) sich in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt sahen,

stellten sie eine damals Ă€ußerst gefĂ€hrliche Forderung auf, die

allerdings aufrichtig revolutionÀr und ohne Eigennutz war: die Forderung

nach freier Wahl der Sowjets. 
 Indem sie einen reinigenden Sturm

entfesseln wollten, hÀtten sie tatsÀchlich nur der Konterrevolution des

Landes TĂŒr und Tor geöffnet, an der die weißen auslĂ€ndischen

Intervenisten prompt teilgenommen hÀtten. Das aufstÀndische Kronstadt

war nicht konterrevolutionÀr; sein Sieg hÀtte jedoch unausweichlich die

Konterrevolution nach sich gezogen.“

Entgegen dieser Auffassung glauben wir, dass die Forderungen der

Matrosen von großer politischer Weisheit zeugen, die nicht aus

abstrakten Theorien, sondern aus einem profunden VerstĂ€ndnis fĂŒr das

russische Leben stammt.

V.3 – Die Warnung Rosa Luxemburgs

Es ist sinnvoll, in diesem Zusammenhang an die in der ganzen Welt als

bedeutende KĂ€mpferin fĂŒr den Sozialismus bekannte Rosa Luxemburg zu

erinnern, die bereits 1918 in der Tendenz der russischen Revolution

einen Mangel an demokratischem Denken bemerkte:

„Hingegen ist es eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, dass ohne

freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und

Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen undenkbar

ist.

Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und

Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische

Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung. Freiheit nur fĂŒr die

AnhĂ€nger der Regierung, nur fĂŒr Mitglieder einer Partei – mögen sie noch

so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit

des Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘,

sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen

Freiheit an diesem Wesen hÀngt und seine Wirkung versagt, wenn die

‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“

Weiter schreibt sie: „Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie

gewesen, das heißt nur: Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von

der politischen Form der bĂŒrgerlichen Demokratie 
“

Und sie fĂ€hrt fort: „Es ist die historische Aufgabe des Proletariats,

wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bĂŒrgerlichen Demokratie eine

sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie

abzuschaffen. 



 diese Diktatur (des Proletariats) besteht in der Art der Verwendung

der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung. 
 Aber diese Diktatur muss

das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, fĂŒhrenden Minderheit im

Namen der Klasse sein. 
 Mit dem ErdrĂŒcken des politischen Lebens im

ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen.

Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit,

freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen

Institution, wird zum Scheinleben, in der die BĂŒrokratie allein das

tĂ€tige Element bleibt.“

(nach: Die Russische Revolution, hier zitiert nach R:L: Schriften zur

Theorie der SpontaneitÀt, Hamburg 1970, S 186 ff)

Wir haben diesen Exkurs ĂŒber Rosa Luxemburg gebracht, um zu zeigen, dass

sie mit ihrem Nachweis der Notwendigkeit demokratischer Formen sehr viel

weiter als die KronstÀdter ging, die ihre demokratischen Forderungen nur

auf das Proletariat und die werktÀtige Landbevölkerung beschrÀnkten.

Rosa Luxemburg schrieb ihre Kritik der Revolution 1918, mitten im

BĂŒrgerkrieg, wĂ€hrend die Resolution der Petropawlowsk zu einem Zeitpunkt

verabschiedet wurde, als der bewaffnete Kampf eigentlich beendet war.

Nun wĂŒrde aber niemand wagen, Rosa Luxemburg wegen ihrer Kritik einer

Verbindung zur Weltbourgeoisie zu bezichtigen. Warum werden dann die

Forderungen der Matrosen als gefÀhrlich, als unfehlbar zur

Konterrevolution fĂŒhrend, verketzert? Hat die geschichtliche Entwicklung

nicht schließlich den KronstĂ€dtern und Rosa Luxemburg Recht gegeben?

Hatte Rosa Luxemburg nicht Recht mit der Feststellung, das Proletariat

mĂŒsse die „Diktatur der Klasse“ verwirklichen und „nicht einer Partei

oder einer Clique, Diktatur der Klasse, d.h. in breitester

Öffentlichkeit, unter tĂ€tigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen,

in unbeschrĂ€nkter Demokratie“.

V.4 – Eine dritte sowjetische Revolution

Als die AufstÀndischen ihre Forderungen aufstellten, kannten sie die

Schriften Rosa Luxemburgs wahrscheinlich nicht. Aber sie kannten die

Erste Verfassung der Sowjetrepublik, wie sie am 10. Juli 1918 vom V.

Allrussischen Sowjetkongress beschlossen worden war. Sie garantierte in

den Artikeln 13 bis 16 den Arbeitern die demokratischen Freiheiten

(Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit,

Pressefreiheit) und verbot in den Artikeln 22 und 23 jedes Privileg

einer Gruppe oder Partei. GemĂ€ĂŸ dieser Verfassung konnte keinem Arbeiter

das aktive und passive Wahlrecht streitig gemacht werden, wenn er den

Anforderungen der Artikel 64 und 65 genĂŒgte, d.h., wenn er nicht von der

Ausbeutung AbhĂ€ngiger oder von EinkĂŒnften lebte, die ihm aus anderen

Quellen als seiner eigenen Arbeit zuflossen.

Die Parole des KronstÀdter Aufstandes:

„Alle Macht den RĂ€ten, nicht der Partei“

stammte eigentlich aus einem Verfassungsartikel, nach dem die AusĂŒbung

der zentralen und lokalen Macht bei den Sowjets liegen sollte.

Die bolschewistische Diktatur verletzte diese Verfassung von Anfang an

bzw. brachte sie niemals zur Anwendung. Erinnern wir uns, dass die

Kritik Rosa Luxemburgs nur wenige Monate nach der Verabschiedung dieser

Verfassung geschrieben wurde. Als die Matrosen spÀter die Verwirklichung

dieser 1918 erworbenen Rechte forderten, wurden sie als

konterrevolutionÀr und als Agenten der Weltbourgeoisie diskriminiert.

Sechzehn Jahre spÀter meint Serge, diese Forderungen hÀtten unweigerlich

die Konterrevolution zur Folge gehabt. Das zeigt, wie weit die

Bolschewisten von ihrer ursprĂŒnglich zurĂŒckhaltenden Beurteilung der

demokratischen „Gefahren“ abgewichen waren.

Die Grundgesetze der Sowjetrepublik, seinerzeit das juristische ResĂŒmee

der Oktoberrevolution, waren am Ende des BĂŒrgerkrieges derart in

Vergessenheit geraten, dass es einer dritten sowjetischen Revolution

bedurft hÀtte, sie in Kraft zu setzen. In diesem Sinne sprechen die

KronstĂ€dter von einer dritten Revolution: „In Kronstadt wird der

Grundstein zu einer dritten Revolution gelegt, die die letzten Ketten

der Arbeiterklasse sprengen und einen neuen Weg zum Sozialismus bahnen

wird“, schreiben die AufstĂ€ndischen in der Iswestija vom 8. MĂ€rz.

Wir wissen nicht, ob die Errungenschaften der Oktoberrevolution auf

einem demokratischen Weg hÀtten bewahrt werden können und ob die

wirtschaftliche Situation, zumal auf dem Lande, fĂŒr das Experiment einer

ersten Anwendung des Sozialismus reif war. Diese Frage mĂŒsste

ausfĂŒhrlich diskutiert werden und ist zu komplex, als dass man sie bei

dem gegenwĂ€rtigen Stand der Sozialwissenschaften im RĂŒckblick

beantworten könnte. Aber wer die Wahrheit sucht, muss sie ungeschminkt

darstellen. Es reicht nicht aus, sich selbstzufrieden ein

wissenschaftliches MÀntelchen umzuhÀngen und derart die historischen

PhÀnomene erklÀren zu wollen.

Wo Trotzki das Entstehen der BĂŒrokratie, die das ganze Leben in den

Institutionen des Sowjetstaates paralysierte, zu erklÀren versucht,

scheint ihm das ganz mĂŒhelos zu gelingen. In seinem Buch „Die verratene

Revolution“ fĂŒhrt er alles darauf zurĂŒck, dass die entlassenen Offiziere

der Roten Armee die leitenden Positionen in den örtlichen Sowjets

okkupierten und dort mit militÀrischer Strenge vorgingen, wÀhrend das

Proletariat nach der revolutionÀren Anstrengung erschöpft war. Und so

entstand, nach Trotzki, die BĂŒrokratie. Bleibt zu erwĂ€hnen, dass Trotzki

selbst militĂ€rische Strenge in den Gewerkschaften einzufĂŒhren versuchte.

Wohl um dem Proletariat seine MĂŒdigkeit auszutreiben? Wenn das

Proletariat doch so erschöpft war, wie konnte es dann noch in den

wichtigsten IndustriestÀdten die Anspannung eines Streiks ertragen, der

fast ein Generalstreik war? Und wenn die KP TrÀger der Sozialrevolution

war: Warum hat sie dann nicht das Proletariat in seinem Kampf gegen die

noch junge, aber schon erstarkte BĂŒrokratie unterstĂŒtzt; statt es

umzubringen, als es nach drei Jahren imperialistischen Krieges und

weiteren drei Jahren BĂŒrgerkrieg erschöpft war? Warum hat sich diese KP

mit dem diktatorischen Staat verbunden?

Dazu ist zu sagen: Die Partei war damals ebensowenig mehr proletarisch

wie revolutionĂ€r – und genau das warfen ihr die KronstĂ€dter vor. Deren

Verdienst ist es, das 1921 offen ausgesprochen zu haben, als man die

Situation noch hĂ€tte Ă€ndern können und nicht fĂŒnfzehn Jahre spĂ€ter, als

die Niederlage endgĂŒltig war.

TatsĂ€chlich ist die BĂŒrokratie so etwas wie eine russische Erbkrankheit,

vielleicht so alt wie der russische Staat. Als die Bolschewisten an die

Macht kamen, erbten sie nicht nur die zaristische BĂŒrokratie, sondern

auch deren Geist und AtmosphĂ€re. Sie hĂ€tten wissen mĂŒssen, dass der

Staat jetzt, da er seine Funktion auch auf den Sektor der Wirtschaft

ausdehnte und zum EigentĂŒmer der BodenschĂ€tze und der Industrie wurde,

nur noch anfĂ€lliger fĂŒr die bĂŒrokratische Gefahr geworden war.

In der Therapie eines erblich vorbelasteten Kranken ist diesen

ErbschÀden Rechnung zu tragen. Aber inwiefern trugen die Bolschewisten

der bĂŒrokratischen Erbkrankheit Rechnung? HĂ€tte es ein anderes Mittel

gegeben, als die AtmosphĂ€re durch konsequent demokratische Maßnahmen zu

reinigen und einem RĂŒckfall durch rigorose und effektive öffentliche

Kontrolle vorzubeugen?

Man hatte zwar daran gedacht, aber das zustÀndige Kommissariat der

Arbeiter- und Bauerninspektion vertraute seine Kontrollfunktion

ausgerechnet den zu kontrollierenden BĂŒrokraten an.

Die GrĂŒnde des BĂŒrokratismus liegen auf der Hand:

Der Fehler wurzelte in der bolschewistischen Vorstellung von einem

absolutistischen Staat, der selbst wieder von einer absolutistisch und

bĂŒrokratisch organisierten Partei kommandiert und kontrolliert wird,

deren schĂ€dliche Neigungen dann noch durch die bĂŒrokratische Tradition

Russlands verstĂ€rkt wurden. Falsch wĂ€re es, die Landbevölkerung fĂŒr das

Fehlschlagen der Revolution und die RĂŒckentwicklung in ein

bĂŒrokratisches System verantwortlich zu machen. Es ist nĂ€mlich nur zu

einfach, alle Schwierigkeiten in Russland aus seiner

landwirtschaftlichen Struktur erklÀren zu wollen. Man sagt einerseits,

dass die KronstĂ€dter Revolte gegen die BĂŒrokratie vom Lande inspiriert

war und andererseits, dass die BĂŒrokratie aus der agrarischen

Vergangenheit zu erklÀren ist. Dann bleibt nur zu fragen, warum die

Bolschewisten in einem agrarisch strukturierten Land die Idee der

sozialen Revolution zu propagieren und durchzusetzen wagten.

Zweifellos glaubten sie, sich ein solches Verhalten in der Hoffnung auf

die Weltrevolution leisten zu können, fĂŒr deren Avantgarde sie sich

gleichzeitig hielten.

Aber wÀre nicht auch die Revolution in jedem anderen Land von den

zufÀlligen Charakteristika der russischen Revolution beeinflusst worden?

Wenn man die moralische AutoritĂ€t Russlands in der Welt berĂŒcksichtigt,

muss man sich fragen, ob nicht seine Abweichungen zwangslÀufig zu

Ă€hnlichen Fehlentwicklungen in anderen LĂ€ndern gefĂŒhrt hĂ€tten. Viele

historische Fakten sprechen dafĂŒr. Auch wenn man anerkennt, dass die

wahre sozialistische Revolution nur als Weltrevolution denkbar ist,

bleibt es doch zweifelhaft, ob die bĂŒrokratische Pest des Bolschewismus

durch heilsame Luft aus irgendeinem anderen revolutionÀren Land

beseitigt werden könnte.

Die Erfahrung mit dem Faschismus in LĂ€ndern wie Deutschland zeigt, dass

eine fortgeschrittene kapitalistische Entwicklung ebensowenig wie

demokratische Traditionen (Italien) eine hinreichende Garantie gegen das

Aufkommen autokratisch-absolutistischer Formen bieten. Ohne damit die

PhÀnomene erklÀren zu wollen, muss man doch einen bedeutenden

autoritaristischen Einfluss aus den hochentwickelten kapitalistischen

LĂ€ndern konstatieren, der unsere alten Ideen und Traditionen zu

verschlingen droht. Gleichzeitig ist zu sagen, dass der Bolschewismus

dieser absolutistischen Haltung innerlich affin ist; er hat ihr

gewissermaßen den gefĂ€hrlichen PrĂ€zedenzfall geschaffen. Niemand kann

behaupten, dass in einem anderen Land, das Russland in der

revolutionÀren Entwicklung folgt, der Bolschewismus nicht ebenfalls im

absolutistischen Gewand aufgetreten wÀre, statt sich zu demokratisieren.

Aber: Stellt der demokratische Weg nicht doch eine Gefahr dar?

WĂ€re nicht der reformistische Einfluss in den Sowjets in einem freien

demokratischen KrÀftespiel erstarkt? Wir meinen wohl, dass diese Gefahr

tatsÀchlich existiert, aber sie war nicht schwerwiegender als die

notwendige Konsequenz der unkontrollierten Diktatur einer

Einheitspartei, die bereits einen Stalin zum GeneralsekretÀr hat.

Man sagt uns, das Land sei erschöpft gewesen und habe seine

Widerstandskraft eingebĂŒĂŸt gehabt. Allerdings war das Land kriegsmĂŒde –

aber es steckte voll konstruktiver KrĂ€fte und besaß den starken Willen

zu lernen und sich zu entwickeln.

Kaum war der BĂŒrgerkrieg beendet, gab es schon einen wahren Ansturm der

Arbeiter und Bauern auf die Schulen, UniversitÀten und Polytechniken.

War dieser Wunsch nicht das beste Indiz fĂŒr die Lebendigkeit und die

Widerstandskraft der werktÀtigen Klasse? In einem Land, wo

Analphabetismus herrschte, hÀtte ein solcher Unterricht stark dazu

beigetragen, die arbeitende Masse zur wirklichen AusĂŒbung ihrer Macht zu

befÀhigen.

Aber es gehört zum Wesen einer jeden Diktatur, dass sie die kreativen

KrÀfte des Volkes zerstört.

Trotz der unbestreitbaren Anstrengungen der Zentralregierung, die

Schulbildung unter den Arbeitern zu verbreiten, wurde Bildung bald zu

einem Privileg der Parteimitglieder, die der herrschenden Fraktion loyal

gegenĂŒberstanden. 1921 begannen die „SĂ€uberungen“ in den

ArbeiterfakultÀten und Höheren Schulen. Diese SÀuberungswelle wuchs mit

dem Entstehen oppositioneller Tendenzen im Herzen der Partei. Die

Absicht, das Volk zu bilden, wurde immer hinfÀlliger. Lenins Wunsch,

dass eine jede Köchin die Chance zur politischen Karriere erhalten

sollte, wurde unrealistisch.

Die revolutionÀren Errungenschaften konnten sich nur durch die wirkliche

Teilnahme der breiten Masse entwickeln. Jeder Versuch, an ihre Stelle

eine „Elite“ zu setzen, war zutiefst konterrevolutionĂ€r.

–

1921 stand die Revolution am Kreuzweg: Die Alternative hieß Demokratie

oder Diktatur.

Indem die Bolschewisten den bĂŒrgerlichen Parlamentarismus mit der

Arbeiterdemokratie in einen Topf warfen, verwarfen sie beide. Sie

wollten den Sozialismus von oben einfĂŒhren, durch Generalstabsmanöver.

Sie warteten auf die Weltrevolution, die nicht kam und errichteten

derweil einen Staatskapitalismus, der der Arbeiterklasse das Recht zur

Mitbestimmung raubte. Lenin sah nicht allein, dass Kronstadt diesen

diktatorischen Plan zu vereiteln drohte. Zusammen mit anderen

Bolschewisten sah er sein Parteimonopol in Frage gestellt. Deshalb

versuchte er, auf wenig feine, aber sichere Art, Kronstadt mit dem

Vorwand mundtot zu machen, es sei dem Lager der Bourgeoisie und der

Gegenrevolution verbunden.

Kusmin hatte als einziger die Wahrheit gesprochen, als er am 2. MĂ€rz

1921 in Kronstadt drohte, die Kommunisten wĂŒrden ihre Macht nicht

kampflos aufgeben. Lenin musste diesen Kommissar tadeln: er kenne nicht

die bolschewistische Moral und Taktik. Das war von seinem Standpunkt aus

berechtigt: Man musste den Feind moralisch und politisch zum Schweigen

bringen, offen mit ihm diskutieren konnte man nicht. Genau so verfuhr

die bolschewistische Regierung.

Die AufstÀndischen waren eine graue Masse, waren aber zugleich Menschen,

die manchmal ein ans Wunderbare grenzendes politisches GespĂŒr hatten.

HĂ€tte sich unter ihnen eine Anzahl ĂŒberlegener Geister befunden, wĂ€re es

wahrscheinlich niemals zum Aufstand gekommen. Denn fĂŒr jeden

weitsichtigen Menschen war es klar, dass die Forderungen der

AufstÀndischen in krassem Widerspruch zur Politik des Kremls standen und

dass die Regierung damals hinreichend organisiert war, um mitleidlos

jeden Störenfried zu vernichten, der sich ihren Ansichten und PlÀnen

ernstlich zu widersetzen wagte.

Aber die KronstÀdter waren aufrichtig und kÀmpferisch. Sie glaubten an

ihre gerechte Sache und rechneten nicht mit der Taktik des Gegners. Sie

hofften auf die Hilfe des ganzen Landes, dessen Nöte sie zum Ausdruck

brachten. Sie sahen nicht, dass dieses Land im WĂŒrgegriff einer Diktatur

war, die dem Volk weder die Äußerung seiner WĂŒnsche noch die freie Wahl

seiner Regierung gestattete.

Die große und erbitterte ideologisch-politische Diskussion zwischen den

„Realisten“ und den „TrĂ€umern“, zwischen den „wissenschaftlichen

Sozialisten“ und der revolutionĂ€ren „Volnitza“ endete 1921 in der

politischen und militÀrischen Niederlage der Letztgenannten. Aber diese

Niederlage war, wie Stalin beweisen sollte, die Niederlage des

Sozialismus auf einem Sechstel des Erdballs.

Paris , 1938

Literatur

Voronitzyn: Les ténÚbres des bagnes.

Poukhow: La rĂ©bellion de Cronstadt en 1921; Ă©d. d’Etat Jeune Garde 1931,

Serie: stade de la guerre civile.

M. Kubanin: Die Machnobewegung, Verlag Priboji, Leningrad.

B. Suwarin: Staline, aperçu historique du bolchevisme; éd. Librairie

Plon

Berkman: L’Insurrection de Cronstadt (hier zitiert nach: A. Berkman, Der

KronstÀdter Aufstand, Berlin 1922).

F. Dan: Deux années en errant (1919-1921).

Yartschuk: La révolte de Cronstadt.

Rosa Luxemburg: Die russische Revolution (hier zitiert nach: Schriften

zur Theorie der SpontaneitÀt, Hamburg 1970).

Trotzki: La révolution russe; éd. Rieder.

Trotzki: La révolution trahie; éd. Grasset

Trotzki: Stalin; Verlag Grasset

Lenin: Brochure sur l’impĂŽt en nature (hier zitiert nach: AusgewĂ€hlte

Werke II, 854 ff, Berlin 1953, Dietz-Verlag).

VollstÀndige Sammlung der KronstÀdter Tageszeitung Iswestija.