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Erstellt: 01. Mai 2021
Wenn man kein Recht habe, andere schlecht zu behandeln, und wenn das Vorenthalten dieses Rechtes gemeinhin anerkannt ist – wie kommt es dann, dass wir uns mit größter Bereitwilligkeit andauernd selbst wie den letzten Dreck behandeln?
An uns selbst fällt es uns freilig nicht auf – aber an *den anderen*. Man sieht den, der dutzende Sekunden lang hustet, ein Glas Wasser trinken muss, damit der Husten abklingt... und sich dann eine Zigarette ansteckt. Man kennt den Freund X, der große Zahnprobleme hat und genüsslich ganztags Zuckerwasser („Spezi“) trinkt. Oder die Nachbarin, die bereits Hautkrebs hatte und fröhlich wöchentlich ins Solarium geht(•).
Der seit geraumer Zeit abnorm beliebte kanadische Psychologe Jordan Peterson hat ein ganzes Kapitel seines Buches “12 Rules for Life” der Beantwortung der Frage gewidmet, warum Menschen (Du bist gemeint, Leser! Und ich, der depperte Autor) sich selbst schlechter behandeln als andere, und oft sogar schlechter behandeln als die eigenen Haustiere. Muss man selbst seine Medizin nehmen, so Peterson, vergisst man es oder hört frühzeitig auf. Braucht der eigene Hund Medizin, so werden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, Wecker werden gestellt, neue Rationen Tage vor der Erschöpfung der Vorräte nachgekauft.
Der Hund ist mehr wert als man selbst. Skuril, nicht wahr?
Die Frage, wieso wir das tun, beschäftigt mich seit einer Weile. Das vorgenannte Buch hat nur einen vagen Eindruck der Gründe hinterlassen. Um die Frage nicht beantworten zu müssen, kam mir stattdessen einmal die Frage der Einleitung: Wie kommt es, dass wir glauben, es überhaupt zu dürfen? Weil der eigene Körper das eigene Eigentum ist, könnte man antworten. Schön und gut. Und nun?
Mein Hund ist mein Eigentum.
Der springende Punkt sollte klar sein.
Bevor jeder machen konnte, was er wollte, und Hinz und Kunz auf die aberwitzig hirnrissige Idee kamen, das Leben drehe sich um Spaß und „glücklich sein“, gab es einmal den Begriff der Pflicht. Meist einer Sache, Person oder Institution gegenüber.
Pflichten sich selbst gegenüber werden selten diskutiert. Das Ermahnen an Pflichten anderen gegenüber wird hingegen durchweg ernster genommen. Warum? Wieso ist man eher bereit, sich Belehrungen über das Verhalten anderen gegenüber als sich selbst gegenüber anzuhören? Weil die soziale Bestrafung droht? Könnte sein, aber die Bestrafung droht doch vermutlich im stärksten Maße vom Schicksal, wenn man auf sich selbst keine Rücksicht nimmt. Gerade, wer die Gesundheit missachtet, wird das im stärksten Maße spüren.
(Peterson selbst scheint, wenn ich das Buch richtig verstehe, zu glauben, dass der Mensch aufgrund seines Bewusstseins am eigenen Wert zweifelt. Jeder kenne seine Schwächen, körperlichen und geistigen Makel, wisse um sein Versagen in vielen Angelegenheiten. Daraus ergäbe sich ein Zweifel am eigenen Wert.)
Nehmen wir einmal das Axiom der hiesigen Gesellschaft hin, dass man keine Person schlecht behandeln solle(••). Ich sehe keinen Grund, sich selbst nicht zur Gruppe „Person“ zu zählen.
Daraus wĂĽrde ich folgern wollen: Du *darfst* dich nicht schlecht behandeln. Du hast kein Recht dazu. Und willst du dieses Recht beanspruchen, dann beantworte: Haben nur andere Menschen einen intrinsischen Wert, und du als einziger nicht?
So weit die Idee. Petersons Regel hierzu lautet: „Behandele dich selbst wie jemanden, dem zu helfen du verpflichtet bist.“
„Verpflichtet“ ist eine großartige Übersetzung des englischen Originals. Nicht nur hast du nicht das Recht, dich schlecht zu behandeln. Möglicherweise solltest Du sogar die Pflicht auf dich nehmen, auf dich Acht zu geben.
Leichter gesagt, als getan. Wie wendet man das an?
Meine bescheidenen Erfahrungen sind: Man bräuchte Rekapitulationsphasen. Die genannte Regel ohne konkreten Plan einzuführen, ist wie das Einführen von Gesetzen ohne Organe, die nötigenfalls die Einhaltung über die Freiwilligkeit hinaus sicherstellen.
Man könnte beispielsweise wöchentlich (im Kalender eine Erinnerung setzen, sonst tut man es nicht, wie man ja auch seine Medizin vergisst) fünf Minuten niederschreiben, was man diese Woche Positives und Negatives gegen sich selbst getan hat. Das schafft schon mal ein Bewusstsein, sobald es oft genug getan wurde.
– Und bedauerlicherweise hat man ja nicht die Kontrolle über sich selbst, die man gerne hätte. Vorgestern etwa hatte ich mir vorgenommen, abends den Rechner (der zugleich als Fernseher dient) auszuschalten, etwas zu lesen, und einigermaßen zeitig schlafen zu gehen. Ich habe das nicht getan und war am nächsten Morgen schlecht gelaunt und weniger leistungsfähig.
Zu tun, was „gut für einen ist“, ist ja nicht immer, was einem auch eine „gute Zeit“ bereitet. Unmengen an Süßigkeiten bereiten einem Kind eine gute Zeit, sind aber nicht gut für es.
Aber zurück zur Anwendung: Man muss den seelischen Muskel ertüchtigen, wie den physischen Muskel. Man kann nicht der eigene Diktator sein. Wer die Muskulatur und die Ausdauer noch nicht hat, kann nicht schlagartig einen Marathon laufen. Wer um 1 Uhr zu Bett geht, kann nicht schlagartig auf 21 Uhr wechseln. Steter Tropfen höhlt den Stein. Mit Kaffee z.B. habe ich es so gemacht: Die Regel eingeführt, ab 14 Uhr keinen mehr zu trinken(•••). Und um nicht allzu tyrannisch sich selbst gegenüber zu sein, ist Schwarztee trotz des Koffeins danach noch erlaubt. Nicht optimal, aber mit kleinen Schritten dem Ziel entgegen.
Ich glaube, wenn man dabei ist, etwas schlechtes zu tun, dann weiß man das... irgendwo. Man muss lernen, auf das innere Stimmchen zu hören, das sagt: „Das ist nicht gut für dich.“
Man bräuchte das gleiche schlechte Gewissen bei Handlungen wider sich selbst. Je öfter einem einfällt „ich sollte jetzt schlafen gehen“ oder „ich sollte nicht hungrig einkaufen gehen“, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, zumindest einige Male auf sich selbst zu hören.
Und da das „bräuchte“ auch der Konjunktiv bleiben wird, sehe ich den Begriff der Pflicht und den des Rechts als besser an: Du *darfst* nicht. Du hast die *Pflicht*, anders zu handeln.
Regelmäßigkeit hilft, kleine Einträge im Kalender mit Erinnerungsfunktionalität ebenfalls. Man kann abends ein Zettelchen an die Innenseite der Haustür kleben, damit einem einfällt, dass man ja ein Müsli zum Frühstück mit in die Arbeit nehmen wollte, so dass man nicht auf dem Weg wieder Butterbrezen und einen Muffin kauft.
Letztlich muss man sich irrerweise so behandeln, als wäre man jemand anders. Denn wenn man jemand anderen nicht schlecht behandeln darf, darf man es mit sich selbst vermutlich auch nicht.
(•) Habe ich mir nicht ausgedacht, die Frau gibt es wirklich.
(••) Naiver Unsinn, schon klar – aber ein offizielles Ideal ist eben immer nur das: Ein Ideal.
(•••) Koffein braucht bis zu 8h, um im Körper abgebaut zu werden. Will man also ab ca. 22 Uhr zu Bett gehen, sollte man gegen 14 Uhr mit dem Kaffee aufhören. Quelle: Walker, Matthew: *Das große Buch vom Schlaf.*