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Industrie oder Primitivismus?

Ein Umgang mit Technologie und (Re-)Produktion

Eine der fundamentalen Fragen, an der sich Diskussionen zwischen Anarchist:innen und Kommunist:innen des öfteren aufhängt ist die, wie mit moderner Technologie und Industrie umzugehen ist. Ich erinnere mich zu diesem Thema immer gerne an eine Unterhaltung, die ich tatsächlich geführt habe und die sinngemäß überspitzt auf den Punkt bringt, was des öfteren aus anarchistischer Argumentation folgen müsste:

Ich: "In einer dezentralisierten, anarchistischen Gesellschaft dürfte es ja kein übergeordnetes, legitimiertes Gremium geben, das bspw. technische Standards legitimieren kann, nicht?"

A: "Richtig, ein solches Gremium dürfte es nicht geben. Wie könnte es überhaupt legitimiert werden?"

Ich: "Wie würde denn deine ideale anarchistische Gesellschaft bspw. eine einheitliche Spurbreite für die Bahn festlegen? Oder eine einheitliche Netzspannung?"

A: "Wo ist denn gesagt, dass wir ein solches Schienen- oder Stromnetz brauchen würden?"

Damit möchte ich nicht allen Anarchist*innen unterstellen, so zu denken oder sagen, dass technische Standards in einer anarchistischen Gesellschaft nicht realistisch wären.

Mir geht es darum, dass die Antwort auf die Frage, wie eine spezifische Sache anarchistisch auszugestalten wäre oft nur die Gegenfrage ist, warum wir eine solche Sache überhaupt brauchen.

Um über Industrie und eine mögliche Perspektive auf moderne Technologie und Wissenschaft zu sprechen, müssen wir uns zuerst in einer Sache einig sein:

Das industrielle Abhängigkeitsgeflecht

Industrielle Produktion hängt maßgeblich von der Existenz weiterer industrieller Produktion ab. Produktionsmittel müssen ebenfalls produziert werden, sowie die Ausgangsmaterialien und Vorprodukte. Industrie ist ein Geflecht aus Abhängigkeiten.

Wenn ich Solarzellen produzieren möchte, brauche ich chemische Industrie, enorme Mengen Energie, hoch reines Silizium und Bergbau. Theoretisch ist es möglich, eine Solarzelle in einem Baumhaus oder einer Garage zu produzieren, aber die Ausgangsprodukte müssen in einer Fabrik hergestellt worden sein und damit eine Gesellschaft mit elektrischer Energie zu versorgen, ist unrealistisch.

Damit ein Zug fahren kann, braucht dieser Zug elektrische Energie, die beispielsweise per Solarenergie erzeugt werden kann.

Damit kann dieser Zug dann die Solarzellen an den Ort transportieren, wo sie aufgestellt werden sollen.

Um dieses Geflecht aus Abhängigkeiten sichtbar zu machen, empfehle ich einen Blick auf das Projekt eines englischen Künstlers, das sich mit der Frage beschäftigt, wie aufwändig es ist, einen Toaster zu bauen.

Thomas Thwaites: How I built a Toaster from scratch

Es wird also klar, dass wir, wenn wir diese Infrastruktur nicht haben, diverse Produkte unseres täglichen Lebens, an die wir uns gewöhnt haben, nicht mehr produzieren können.

Es geht dabei nicht darum, dass wir nicht in der Lage wären, sie in ausreichender Menge herzustellen, sondern das es komplett unrealistisch ist, diese (abgesehen von Kleinstmengen oder aus Altbeständen) zu produzieren.

Eine kleine Liste dieser Produkte und Anwendungen umfasst:

Wohlgemerkt wird die Liste der Sachen, die wir herstellen könnten, deutlich kleiner, wenn wir uns auf vegane Produkte beschränken. Antispeziesismus und Primitivismus passen nicht gut zusammen.

Anarchistische Projekte wie bspw. der Hambacher Forst können diese Dinge nicht selbst produzieren, sondern sie beruhen darauf, dass sie "magisch" auftauchen.

Damit will ich nicht sagen, dass diese Projekte nicht sinnvoll wären oder Modellcharakter hätten, aber ich will sagen, dass sie nicht nachhaltig sind. Sie sind nicht in der Lage, autark zu leben. Und sie können es auch nicht sein, egal, wie sehr sie sich anstrengen. Nicht einmal Landwirschaft wird im Hambacher Forst in signifikaten Mengen betrieben.

Wir *können* diese Dinge nicht ohne Industrie haben. Das geht nicht. Es ist nicht möglich. Wenn wir diese Dinge haben wollen, brauchen wir Industrie.

Wenn wir uns (was erstmal eine valide Position ist) dagegen entscheiden, diese Dinge und diesen Lebensstandard zu haben, damit wir keine Industrie brauchen und davon ausgehen, dass die Bevölkerung der westlichen Welt mitzieht, dann müssen wir uns eine Frage stellen:

Können wir das?

Die Industrialisierung war die längste Zeit eine Geschichte der Effizienzsteigerung. Im Kapitalismus machte das Sinn. Wenn ich meine Produktionskosten verringere, steigt mein Gewinn. Heute funktioniert dieses Konzept nicht mehr und der Kapitalismus ist nicht mehr effizient. Abgesehen von der Funktion, Kapital zu akkumulieren.

Abgesehen davon, dass wir ohne moderne Landwirtschaftstechnologie eine Agrargesellschaft werden müssten, in der nicht ein Prozent sondern eher 90 in der Landwirtschaft tätig sind, müssen wir uns fragen, ob wir überhaupt in der Lage sind, mit einer Erde 8 Milliarden Menschen zu versorgen.

Dazu müssen wir schauen, was der Mensch zum Leben benötigt.

Ich schätze, dass es möglich wäre, mit genügend Menschen eine ausreichende Menge Nahrung zu produzieren. Ohne Industrie müssten das vermutlich etwa 90% der Menschen tun. Erinnert ihr euch daran, wie schwer es ist, ausreichend Menschen für die Küfa zu finden?

Auf sauberes Wasser müssen wir verzichten. Kläranlagen und Wasserleitungen wären Industrie, Regenwasser ist nicht zum Trinken geeignet. Wir müssten wieder, wie füher, nahe Flüssen leben und Brunnen graben. Wasser abzukochen verbraucht enorme Mengen Energie und skaliert nicht gut. Wir müssen damit rechnen, dass Menschen krank werden. Ohne moderne medizinische Versorgung ist es sehr viel schwieriger, diesen Menschen zu helfen.

Die Antwort darauf wäre eine Verjüngung der Gesellschaft mit einer höheren Geburtenrate. Das würde insbesondere Frauen binden. (Im wahrsten Sinne des Wortes)

Häuser könnten wir möglicherweise mit Stroh o.Ä. Pflanzenfasern isolieren. Beim Heizen stoßen wir aber auf ein größeres Problem. Wir können unmöglich von der Verbrennung fossiler Brennstoffe auf die Verbrennung von Biomasse wie Holz umsteigen. Holz ist zwar ein nachwachsender Rohstoff, aber, um uns auf Deutschland zu beziehen, wäre der Wald, den wir noch haben, sehr wahrscheinlich nicht in der Lage, 80 Mio. Menschen zu versorgen, ohne dabei massiv zu schrumpfen.

Es gibt Alternativen, wie bspw. Wärmepumpen, aber das sind technische Lösungen, die ohne ein Mindestmaß an Industrie nicht umzusetzen sind.

Mit Sicherheit ist das typische Leben im Hambacher Forst umweltverträglicher als das in einer Großstadt, aber wenn alle Menschen in Deutschland leben würden wie im Hambacher Forst, wäre das ziemlich schlecht für die Umwelt. Ich sage, dass es mit einer Weltbevölkerung von 8 Milliarden nicht möglich ist, alle Menschen ohne Industrie zu versorgen.

Reproarbeit?

Ein ganz beliebtes Thema in jeder Besetzung, in der ich war, ist, dass Reproarbeit primär von FLINTA*-Personen übernommen wird. Dass das Patriarchat bei jeder Gelegenheit bekämpft werden muss und dieser aktuelle Zustand untragbar ist, keine Frage. Aber sollten wir uns nicht, wenn kein Mensch die Reproarbeit übernehmen will, damit beschäftigen, wie wir sie massiv reduzieren können? Ich meine, ja. Und dabei kann uns die Industrie mit technischen Lösungen helfen.

Pflicht zur Arbeit?

Aber müssten dann nicht alle Menschen zum Arbeiten in der Industrie gezwungen werden? Gegenfrage, müssten in einer Agrargesellschaft nicht alle Menschen zum Arbeiten auf dem Feld gezwungen werden? Ich sehe eine Chance in der Arbeitszeitreduzierung. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen 30 Stunden Arbeit auf dem Feld und 4 Stunden Arbeit in der Industrie, würde ich mich für die vier Stunden in der Industrie entscheiden.

Zumal wir uns, ohne die ökonomischen Zwänge, mit der Automatisierung von unliebsamer Arbeit beschäftigen können. Der Bedarf unseres Lebens muss gedeckt werden. Wenn das nicht geschieht, zwingt uns der Hunger zur Arbeit.

In meinen Augen sollte das Ziel sein, dass kein Mensch arbeiten muss. Und das ist ohne Industrie nicht möglich.

Der Unterschied zu den bestehenden Verhältnissen

Wir sind uns hoffentlich einig in der Beobachtung, dass momentan, im Kapitalismus, die besitzende Klasse die Kontrolle über die Produktionsmittel und damit über die Produktion als solche ausübt.

Gleichzeitig entscheidet die besitzende Klasse, wem sie die Produkte zuordnet. Dies geschieht, den Gesetzen des Marktes folgend, nach dam höchsten Gebot.

Was im Kapitalismus bzw. auf dem freien Markt einen Käufer findet hat einen Wert. Wenn dieser Wert die direkt zu entrichtenden Produktionskosten überschreitet, kann mit der Produktion ein Gewinn erzielt werden.

Dieses Konzept nennen wir "freie Marktwirtschaft".

Mein persönlicher sozialistischer Gegenentwurf führt zwei Gegenkonzepte ein:

Erstens den Besitz der Produktionsmittel durch die Menschen, die an ihnen arbeiten und die demokratisch über sie entscheiden.

Zweitens die demokratische Planwirtschaft. Statt danach zu entscheiden, was "gewinnbringend" produziert werden kann, können wir demokratisch entscheiden, welche Güter gebraucht werden. Damit können wir verhindern, dass Umweltschädliche oder ethisch verwerfliche Produktion betrieben wird.

Es ist profitabel, Kreuzfahrten anzubieten oder Tiere zu quälen. Wenn die Wirtschaft demokratisch geplant wird, haben wir die Möglichkeit, bspw. Medikamente oder vegane Schuhe zu produzieren, aber eben keine Kohle zu verstromen.

Sobald die finanziellen Zwänge nicht mehr da sind, muss kein Mensch mehr arbeiten. Wenn es nicht mehr billiger ist, einen Menschen niedrig zu entlohnen oder die Arbeit outzusourccen, die automatisiert werden könnte, wird diese Arbeit automatisiert werden.

Wenn wir uns nicht mehr um die materiellen Ressourcen streiten müssen, haben wir es deutlich leichter, unser restliches gesellschaftliches Leben zu regeln.

Es fällt mir wirklich schwer, zu sehen, wo ich hier "die aktuellen Verhältnisse nicht verändern" möchte.

Warum sollte ich eine Fabrik für Verhütungsmittel anzünden? Welchen Sinn würde das machen?