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Erstellt: 22. November 2020

Aloys Winterling: Caligula

Die Biografie über den berüchtigten römischen Kaiser ist vermutlich das beste Geschichtsbuch, das ich jemals gelesen habe.

Das Buch ist vor allem wegen der gnadenlosen Quellenkritik Winterlings phänomenal: Gnadenlos widerlegt er die antiken „Historiker“, wobei er sich, ganz wissenschaftlich, auf mehrere Methoden stützt:

Vor allem ordnet der Autor den Monarchen und dessen Entscheidungen in den Kontext seiner Zeit ein.

Unglaubwürdige Quellen

Zwei Beispiele zu Winterlings Quellenanalyse:

(1) Antike Autoren heben ganz bewusst das plötzliche "Unschalten" Caligulas vom besonnenen, konstitutionellen Herrscher nach zweijähriger Herrschaft hervor. Aus vergessener Quelle ist mir von früher die Spekulation bekannt, dernach Caligula zu dieser Zeit einen Schlaganfall erlitten habe und daraufhin wahnsinnig wurde. Winterling hat herausgearbeitet, dass ziemlich genau zu dieser Zeit die zweite Verschwörung gegen Caligula vereitelt wurde. Die Verschwörung der Consulare gegen den Imperator wurde im Jahr zuvor aufgedeckt, und nun hatten sich Caligulas letzte lebende Geschwister, die Schwestern Aggrippina und Livilla verschworen, um ihn gegen den Witwer der dritten Schwester, Drusilla, zu ersetzen.

Man könnte verstehen, warum ein Mann seinen sanften Kurs der Aristokratie gegenüber aufgibt, nachdem er sich mit einer Mordverschwörung der eigenen Geschwister konfrontiert sah.

(2) Die Behauptung ist überliefert, Caligula habe ohne Gerichtsurteil einen ihm unlieben Römer zum Tode verurteilt, und dieser habe, dem Tyrannen stoisch trotzend, die 10 Tage bis zu seiner Hinrichtung mit Brettspielen zugebracht.

Moment, wieso hat er ihn noch 10 Tage schmoren lassen, statt ihn direkt hinzurichten? Nun, aus anderer Quele ist überliefert, dass die 10-Tagesfrist zwischen Verurteilung und Hinrichtungen eingeführt wurde, um Berufungsverfahren zu ermöglichen und Denunziationen verfeindeter Adeliger weniger effektiv zu machen.

Die Verurteilung muss also mit dem Rechtsweg konform gewesen sein.

Selbstzerstörung

Der Autor arbeitet das politische System im alten Rom geschickt heraus:

In der alten Republik konkurrierten mächtige Adelsfamilien miteinander, wechselten sich in der Ausübung der Macht ab. Mit der Aufrichtung der faktischen Monarchie war den Adeligen der alte Weg zur Macht versperrt. Unglücklicherweise aber gehörte das Erwerben und Ausüben von Macht immer schon und immer noch zum Selbstverständnis jedes Patriziers. Nun wurde also der Monarch zum Zentrum der Macht, und seine Nähe und Freundschaft zu suchen hieß, die Nähe zur Macht zu suchen.

Tiberius (der übrigens von George Martin als Vorbild für die Figur des Stannis Baratheon genannt wird [A]) entzog sich weitgehend dem sozialen Leben und versperrte dadurch den einzig verbliebenen Aufstiegsweg. Darauf wurde eine sehr effektive Möglichkeit entdeckt, die Aufmerksamkeit des Imperators auf sich zu ziehen: Das Anschwärzen von Konkurrenten, die darauf in der Regel schnell von ihren eigenen Mitsenatoren verurteilt worden, um die eigene tiefe Ergebenheit zu demonstrieren.

Das Buch hat in mir eine Erkenntnis generiert, die ich bei all meinem Studium der römischen Geschichte viel früher hätte haben sollen:

Die römische Aristokratie war nicht wehrloses Opfer der tyrannischen Cäsaren, sondern hatte spätestens seit Tiberius (aus diversen, teils verständlichen Gründen) in den Selbstzerstörungsmodus geschalten: Gegenseitige Denunziationen, Intrigen und Ränkeschmieden waren an der Tagesordnung. Es war weniger die Unfähigkeit des Tiberius oder des Caligula, sondern die enorme Fähigkeit des Augustus, die vielen widerspenstigen Kräfte auszubalancieren, die diese Selbstzerstörung bis dato gebändigt hatte.

Am Ende zeichnet Winterling das Bild eines kühlen, intelligenten Mannes, der die Doppelbödigkeit der Aristokratie aufdeckte und dafür von dieser als Geisteskranker denunziert wurde. Winterling schwingt aber nicht ins andere Extrem über und stellt den Mann als Lichtgestalt war: In diese Zeit geboren und sein ganzes Leben in ständiger Todesgefahr verbracht, war dieser Mann sicher kein großer Humanist.

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[A] James the Comicwriter: About George Martin's historical inspiration