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Erstellt: 21. Januar 2021
Was die Dampflok für den Techniker ist, sind die Pyramiden für den Hobbyhistoriker: Alte, ehrwürdige, Ehrfurcht erregende menschliche Leistungen aus der alten Welt.
Wer diesen Artikel liest, ist vermutlich ohnehin schon von der Faszination gepackt und hat sicherlich die ganzen zahllosen Theorien zum Bau schon oft gehört. Eben für so jemanden ist das hier vorgestellte Buch so interessant: Meiner Einschätzung nach wird mit ihm die in sich schlüssigste aller Hypothesen zum Bau vorgelegt.
Müller-Römer ist ursprünglich studierter Nachrichtentechniker, war lange im Vorstand des Bayerischen Rundfunks und studierte im recht fortgeschrittenen Alter Ägyptologie und promovierte schließlich mit einer Doktorarbeit, die dann später zum vorliegenden Buch umgebaut wurde.
Der Hintergrund des Autors ist interessant, weil hier (soweit mir bekannt) erstmals ein Ingenieur anstatt eines reinen Archäologen oder Ägyptologen die Baumethoden der Pyramiden im AÄ untersucht hat. Mit entsprechend technischem, pragmatischem Verstand geht der Autor an die ganze Thematik heran.
Das Buch ist bemerkenswert, weil es alle relevanten bisherigen Hypothesen zum Pyramidenbau behandelt, diese (vor allem mit etwas Mathematik) kritisiert und dann, auf einigen Vorwegannahmen aufbauend, eine alternative, sehr überzeugende Hypothese vorlegt.
Der Autor stellt eine Reihe an Bedingungen auf, denen aus seiner Sicht eine schlüssige Bauhypothese zu genügen hat. Zwei, die wir hier kurz vorstellen wollen, sind:
1. Baugeschwindigkeit
Die Pyramide muss aus religiösen Gründen dringend bis zum Tode des Königs fertiggestellt sein. Nun sind Menschen nicht sonderlich deterministisch, d.h. es ist nicht absehbar, wann der König ins Jenseits schreiten wird. Ergo ist eine der höchsten Prioritäten überhaupt, den Bau so schnell wie nur möglich voranzutreiben. MR setzt daher von einer guten Hypothese voraus, dass sie a) eine schnell Baugeschwindigkeit garantiert und b) Berechnungen zur Abschätzung der mit dieser Hypothese realisierbaren Fertigstellungsdauer vorlegt.
2. Deckung mit den Archäologischen Befunden
So unfassbar es klingen mag, aber das ist tatsächlich eine Bedingung, die aufgestellt werden muss... So gut wie alle professionellen Theorien, vor allem aber die üblichen Fernsehdokumentationen, ignorieren archäologische Tatsachen (wie wir weiter unten noch genauer sehen werden). Ein besonders prägnantes Beispiel ist, dass sowohl bei der Pyramide des Mykerinos wie auch der des Cheops sowie einigen weiteren ein *Stufenkern* archäologisch nachgewiesen ist, der einer Erbauung Schicht für Schicht widerspricht.
Wer kennt sie nicht, die ganzen zahllosen Hypothesen... Sie alle sind in der einen oder anderen Hinsicht laut MR ungenügend:
Eine gerade Rampe mutmaßt ja auch den trägeren Zuschauern einer Fernsehdoku komisch an: Um bis zur Spitze zu reichen, müsste die Rampe bald ein Volumen ähnlich dem der Pyramide haben. Auch kollidiert sie mit Bedingung 1, der Baugeschwindigkeit: Die Rampe müsste laufend erweitert werden, was zu Bauunterbrechungen führen würde.
Auch sind senkrecht auf das Bauwerk zulaufende Baurampen oder zu erwartende Reste an großen Pyramiden nicht archäologisch nachgewiesen worden.
Eine Rampe, die sich um die Pyramide windet. Wie werden die Steine an den Ecken gedreht? Wie wird sie an der als glatt angenommenen Außenfläche befestigt? Und wie kann man während des Baus die Kanten durchfluchten und nachmessen, sodass der König nach Rampenrückbau nicht eine schiefe Konstruktion erblickt?
Diese Rampentypen und die Kombinationen aus beiden lassen weitere Fragen völlig offen. Wie konnte mit ihnen die Außenhaut des Bauwerks geglättet werden? Wie konnten sie zum Einsatz kommen wo doch die Pyramiden nachweislich einen Stufenkern haben, und nicht Schicht für Schicht errichtet wurden?
Ein besonderes Kuriosum, das nicht unerwähnt bleiben sollte, ist die Tunneltheorie eines französischen Architekten namens Jean-Pierre Houdin. Diese ist im Internet recht populär und krankt schon zuallererst daran, dass sie sich ausschließlich mit der Großen Pyramide beschäftigt. Die Idee ist, dass sich im inneren der Pyramide eine spiralförmige Innenrampe befunden habe, mit Wendestellen an offenen Ecken der Pyramidenaußenseite.
Eine spektakuläre Theorie, die zum einen daran krankt, dass nicht klar ist, wie die Spitze der Pyramide gebaut werden konnte, wie die offenen Wendestellen aufgefüllt werden konnten, wie die Außenwände geglättet werden konnten, und zum anderen daran, dass sie kein zeitlich konistentes Bild mit den anderen Pyramiden aufspannt: Wurden die Pyramiden zuvor oder danach ebenfalls mit Tunneln gebaut, oder hat man diese Speziallösung nur für die Große Pyramide kreiert? Houdin behauptet, dieser Ansatz sei mglw. auch bei der Pyramide des Mykerinos wiederverwendet worden und ignoriert damit kurzerhand die archäologischen Befunde (in der Mykerinos-Pyrimade befindet sich an der Nordseite eine riesige Bresche, die im Inneren eine Stufenpyramide („Kern“) erkennen lässt. In dieser Bresche finden sich auch keine Anzeichen für einen aufgefüllten Tunnel).
MRs Idee ist nun folgende: Die erste echte Pyramide (des Snofru in Meidum) war zuerst eine Stufenpyramide, die danach in eine echte Pyramide „ausgebaut“ wurde. Die Pyramiden zuvor waren ebenfalls Stufenpyramiden (die bekannteste und besterhaltene unter ihnen natürlich die des Djoser). Man wusste also bereits, wie man Stufenpyramiden baut, und danach wusste man, wie man diese zur echten Pyramide ausbauen kann. Da ist es doch absolut naheliegend, anzunehmen, dass man dieses Verfahren weiter anwandte: Zuerst eine Stufenpyramide bauen, diese dann auffüllen.
Und das deckt sich exakt mit dem nachweisbaren Stufenkern bei den Pyramiden des Mykerinos und des Cheops (bei der einen nachweisbar durch die von den Arabern geschlagenen riesigen Bresche, bei der anderen durch den Grabräuberstollen)!
MRs These ist weiterhin: Man baute eine Stufenpyramide, und man baute mit tangential anliegenden Rampen *von allen 4 Seiten aus*. Das Ausnutzen aller Seiten garantiert die maximale Baugeschwindigkeit, und es ermöglicht, beim Ausfall (Defekt, Vergrößerung) einer Rampe die verbleibenden benutzen zu können. Nach Errichtung der letzten Stufe sei nun die Verfüllung mit Hilfe einer eigens errichteten Arbeitsplattform erfolgt, von der aus man dann die eigentliche Außenhülle anbrachte und diese glättete.
Dieser Prozess sei von oben nach unten erfolgt, unter kontinuierlichem Rückbau der zuvor (von unten nach oben) errichteten Arbeitsplattform. Die Glättungsrichtung von oben nach unten sei wohl ebenfalls durch die Befunde belegt (nebenbei bemerkt sieht man bei der wohl nicht ganz fertig gewordenen Pyramide in den untersten Schichten ungeglättete Verkleidungssteine).
Dieser Ansatz wird mit Berechnungen seitens MRs unterfüttert, welche die Bauzeiten abschätzen – und welche bei vielen der bisher vorliegenden Theorien ebenfalls nicht vorliegen. MR kommt für die meisten Pyramiden auf Werte, die sich mit den belegten Regierungszeiten der Könige recht gut decken. Für Khufus (Cheops) Pyramide errechnete er z.B. 22,5 Jahre.
Ein sehr lesenswertes Werk für alle, die unbedingt wissen wollen, wie diese Wunderwerke wohl erbaut werden konnten. Allerdings ist es wie die meiste Fachliteratur etwas demystifizierend. Wohl auch deswegen werden sich seine Erkenntnisse bei Fernsehdokumentationen und in der Populärkultur nicht durchsetzen können: Der Zuschauer will keine komische Stufenpyramide sehen, die dann von oben nach unten fertig gebastelt wird – sondern eine kontinuierlich emporwachsende echte Pyramide.
(Man kennt das ja... keiner will wissen, dass die wunderschönen römischen Marmorstatuen bunt angemalt waren, oder, dass Dinosaurier wahrscheinlich Federn hatten)
Wer das Buch nicht gleich kaufen will, findet die weitgehend entsprechende Dissertation auf der Seite der LMU: