--------------------------------------------------------------------------------
date: 2024-11-20T21:32 tags: [date/2024/11/20, gemnews]
--------------------------------------------------------------------------------
--------------------------------------------------------------------------------
created: 2024-11-20T22:27:42 (UTC +01:00) tags: [] source:
https://paradox-a.de/allgemein/die-eigene-verbuergerlichung-vor-augen/
author:
--------------------------------------------------------------------------------
## Excerpt
Zum Beitrag „Das Kleinbürgerliche im anarchistischen Theoretiker“ Äußerst gespannt war ich auf den Beitrag der Redaktion Tsveyfl mit dem Titel „Das Kleinbürgerliche im anarchistischen Theoretiker“.
--------------------------------------------------------------------------------
Lesedauer: 3 Minuten
Zum Beitrag „Das Kleinbürgerliche im anarchistischen Theoretiker“
Äußerst gespannt war ich auf den Beitrag der Redaktion Tsveyfl mit dem Titel „Das Kleinbürgerliche im anarchistischen Theoretiker“. Immerhin fühlte ich mich mit meinem kleinbürgerlichen Hintergrund direkt angesprochen. Und ja, diesen teile ich auch mit vielen meiner Genoss*innen – egal, ob Kinder aufstrebender Arbeiter*innenklasse oder deklassierte Kleinbürgerliche, Anarchist*innen sind oft nicht privilegiert, speisen ihre Motivation aber implizit unter anderem auch aus dem Bewusstsein meiner Erfahrung nach häufig aus eines vollzogenen und/oder angestrebten Milieuwechsel.
Leider war im Beitrag dann aber gar nichts darüber zu lesen, wie sich die Unsicherheit über den eigenen Klassenstatus für anarchistische Theoretiker*innen auswirkt. Dies überrascht, war es doch der im Heft viel zitiert Karl Marx, welcher Proudhon ebendies vorwarf, um seine zugegebenermaßen verkürzte Theorie zu kritisieren. Marx, der bekanntlich einen großbürgerlichen Hintergrund hatte, konnte sich aus den niederen Auseinandersetzungen und prekären Arbeitsverhältnissen verarmter Intellektueller heraushalten – auch wenn ihm Ruhm und Ehre, erst Recht monetärer Verdient erst nach seinem Tod wirklich zu Teil geworden wären. Wo aber steht die Redaktion Tsveyfl in diesem Zusammenhang? Eine Abgrenzung nimmt sie von den Protagonisten eines „revisionistischen Syndikalismus“, die als Akademiker Führungsansprüche innerhalb „der“ Bewegung erheben würden. Zwei von ihnen würden mir einfallen: Holger M. und Torsten B.. Ersterer im Rahmen schlug in dieser äußerst begrenzten Szene – etwas metaphorisch – den Weg Kautskys und letzterer jenen Bernsteins ein.
Andererseits grenzt sich die Redaktion von jenen Genoss*innen ab, welche es irgendwie geschafft hätten, einen Job im akademischen Betrieb zu erlangen – und dabei einem vermeintlich „linksliberalen Mainstream“ der Sozialwissenschaften erlegen wären. Hierzu habe ich drei Anmerkungen. Erstens: wo ist denn der Wissenschaftsbetrieb tatsächlich und nicht nur oberflächlich so mehrheitlich „linksliberal“, wie es die Redaktion wahrnimmt. Ganz ehrlich, heutzutage wäre ich froh, wenn sich eine nennenswerte Anzahl von Personen dort überhaupt als linksliberal verstehen und positionieren würde. Von den Studierenden ganz zu schweigen. Zweitens: Wie viele Anarchist*innen haben denn der Redaktion nach tatsächlich „Karriere“ in Universitäten gemacht?
Dies ist eine ernstgemeinte Frage, denn eventuell ist da etwas an mir vorbei gegangen. Ich persönlich kann nur feststellen, dass der überwiegende Teil meiner Genoss*innen lohnarbeitet, Ausbildungsberufe erlernt hat oder nach dem angeführten Bachelor-Master-Werdegang irgendwelche sonstigen prekären Jobs angenommen hat. Jene Genoss*innen, die gut über die Runden kommen, befinden sich in einer Position einer Art Vorarbeiter oder sind gut ausgebildete Tech-Worker. Dann gibt es noch die Bereiche Kultur, Bildung, Erziehung oder Pflege, welche stärker vertreten sind. Immer seltener allerdings wird das Modell der Verweigerer, welche nur gelegentlich Teilzeit jobben, sich ansonsten aber versuchen, anderweitig über Wasser zu halten. Nicht allein, um „Aktivismus“ zu betreiben, sondern auch, um zu leben…
Es mag meiner kleinbürgerlichen Verunsicherung entsprechen, dass ich mich nach der Selbstreflexion der Redaktion weiterhin fragen muss, in welche Kategorie sie mich einklassifizieren würden. Immerhin habe ich promoviert – und gleichzeitig nie mit meinen Einstellungen vor dem Berg gehalten, wie die Redaktion mehrfach unterstellt. Sicherlich war dies eine Seltenheit und mit Privilegien verbunden, die sich nicht zuletzt darin ausdrücken, überhaupt auf Karriere scheißen zu können. Gleichwohl scheint mir diese Darstellung doch einer anstrengenden Reflexion über das eigene Duckmäusertum zu entsprechen. Selbstverständlich kann ich niemandem empfehlen, dauernd so dreist das Maul aufzureißen, wie ich es tue (bzw. tun muss).
Manche mögen Karrieren anstreben müssen – weil sie einer Aufsteigermentalität erliegen, während ich eine Absteigermentalität zelebriere. Dass man als Anarchist*in im akademischen Betrieb etwas erreichen könnte, war doch aber schon immer eine Illusion. Wer als ernstzunehmende Verbündete diesen Weg gehen und anarchistische Anliegen und Projekte unterstützen möchte, ist dabei allerdings herzlich willkommen. Die eigentliche Frage ist meiner Ansicht doch aber: Ist die Redaktion Tsveyfl in ihrem Bewusstsein nicht kleinbürgerlich, nur weil ihre Karrierechancen im akademischen Betrieb verstellt sind, da sie den Spagat zwischen Anpassung und Distanzierung nicht gut bewerkstelligt kriegen? Ein Beitrag über das Thema zu verfassen, beantwortet dies jedenfalls nicht. Denn wozu sonst diente ihr pseudo-akademischer Stil?
Die eigene Verbürgerlichung vor Augen?! - Paradox-A was published on 2024-11-20