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date: 2024-11-05T08:26 tags: [date/2024/11/05, gemnews]

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created: 2024-11-05T09:24:04 (UTC +01:00) tags: [] source:

https://www.blaetter.de/ausgabe/2024/oktober/der-kampf-um-die-fachkraefte

author: von Christa Wichterich

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Der Kampf um die Fachkräfte | Blätter für deutsche und internationale Politik

## Excerpt
Spätestens seit der Covid-19-Pandemie weiß auch die breite Öffentlichkeit um die Dramatik des Pflegenotstand in der Kranken- und Altenbetreuung. Dieser ist nicht nur ein Versorgungsdefizit, sondern eine regelrechte Krise der sozialen Reproduktion, die während der Pandemie viele schmerzlich und existenziell spüren mussten.

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Spätestens seit der Covid-19-Pandemie weiß auch die breite Öffentlichkeit um die Dramatik des Pflegenotstand in der Kranken- und Altenbetreuung. Dieser ist nicht nur ein Versorgungsdefizit, sondern eine regelrechte Krise der sozialen Reproduktion, die während der Pandemie viele schmerzlich und existenziell spüren mussten. Doch trotz des damaligen Singens und Klatschens für die Gesundheitsarbeitskräfte und obwohl Sorgearbeit

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als systemrelevant anerkannt worden ist, wird sie weiterhin schlecht bezahlt und bleiben die Carearbeiter:innen überlastet. Zwar klagt die Wirtschaft insgesamt über einen wachstumsbedrohenden Fachkräftemangel, aber nur in wenigen Bereichen ist der Mangel so akut wie im Gesundheitssystem und im öffentlichen wie im privaten Betreuungs-, Pflege- und Erziehungssektor.

Um dieses Problem zu lösen, setzen reiche Staaten wie Deutschland verstärkt auf qualifiziertes Gesundheitsfachpersonal aus dem Globalen Süden. Längst sind transnationale Sorgeketten (Global Care Chains) und eine neue internationale Arbeitsteilung im Reproduktionssektor entstanden – ein Terrain der Ökonomisierung von Care-Arbeit und des transnationalen Wettbewerbs. Während die Fachkräfte in diesem Bereich oft schlecht bezahlt werden, erzielt eine schnell wachsende Zahl kommerzieller Vermittlungsagenturen mit der Migration und den Beschäftigungslücken in wohlhabenden Zielländern hohe Gewinne. Gleichzeitig ignoriert die Politik, dass sich so die Versorgungskrise im Gesundheitssektor in den Herkunftsländern verschärft, wo sie sich ohnehin oft viel dramatischer zeigt als in den OECD-Staaten. Transnationale Sorgeketten schaffen also neue Arbeitsverhältnisse in postkolonialen Ungleichheitsverhältnissen zwischen Norden und Süden. Sie basieren auf globalen Ungleichheiten – und schaffen gleichzeitig neue.

In Deutschland haben Jahre der Privatisierung und neoliberaler Sparpolitik das Erziehungs- und Gesundheitssystem ausgehöhlt. Unterricht an Schulen fällt aufgrund fehlender Lehrkräfte mit merklichen Folgen für das Bildungsniveau aus. Krankenhausstationen werden wegen Personalmangels stillgelegt; ungelernte Assistenzkräfte werden entlassen, was die examinierten Fachkräfte immer weiter belastet. In Seniorenheimen bleiben Plätze unbelegt, weil Betreiber keine teuren Leiharbeitskräfte bezahlen können. Kitazeiten werden verkürzt und Kitas tageweise geschlossen, sodass der Deutsche Städtetag im August 2024 sogar dafür plädierte, den geltenden Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz zu revidieren. Es kommt zu absurden Defizitspiralen, etwa wenn eine Ärzt:in nicht Vollzeit arbeiten kann, weil sie ihr Kind aus der Kita wegen reduzierter Betreuung früher abholen muss.

Notstände als Regelfall und Pflexit

Da die Zahl der Pflegebedürftigen weiter zunimmt, wird sich auch die Versorgungkrise weiter zuspitzen. Momentan sind 115 000 Vollzeitstellen im Pflegesektor unbesetzt. Bis zum Jahr 2049 berechnet das Statistische Bundesamt sogar einen Mangel von 280 000 bis 690 000 Pflegefachkräften – für den Fall, dass sich in der Pflege die Arbeitsbedingungen, die Ausbildung und die Zuwanderung nicht grundlegend ändern.

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Die prekäre Situation führt jetzt schon dazu, junge Pflegekräfte in Krankenhäusern gleich derart zu belasten, dass sie oft nur wenige Jahre in dem Beruf arbeiten wollen. 40 Prozent brechen bereits die Ausbildung ab. Burnout und Depressionen haben seit der Pandemie zugenommen, der schlechte Personalschlüssel und Überforderung treiben den Krankenstand in Sorgeberufen weiter in die Höhe. Viele flüchten aus einer festen Beschäftigung im Krankenhaus in die Leiharbeit, weil diese flexiblere Arbeitszeiten bei guter Bezahlung bietet. Einige wandern wegen besserer Bezahlung und Arbeitsbedingungen in die Schweiz oder nach Skandinavien ab. Ältere Fachkräfte gehen in Teilzeit oder scheiden erschöpft frühzeitig aus: Pflexit – Flucht aus der Pflege. Die Pflegekräfte werden zerrieben zwischen den Anforderungen des Krankenhausmanagements an Effizienz, Geschwindigkeit und Standardisierung auf der einen und ihrem eigenen Verständnis von Care, also hochwertiger Sorge, die ein eigenes Tempo und menschliche Zuwendung verlangt, auf der anderen Seite.

Der hiesige Fachkräftemangel ist deshalb nicht einfach dem demografischen Wandel geschuldet, sondern vor allem der Unfähigkeit des neoliberal gemanagten Gesundheitssystems. Denn dieses laugt Care-Arbeitskräfte aus, anstatt sie zu entlasten und ihre Arbeit strukturell adäquat zu bewerten. Diese ursächlichen Zusammenhänge bestätigt die Studie „Ich pflege wieder, wenn...“ über die Rückkehrbereitschaft in den Beruf.

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300 000 Pflegekräfte wären bereit zurückzukehren, wenn es mehr Zeit pro Patient:in durch bedarfsgerechte Personalbemessung gäbe, mehr Wertschätzung und weniger Belastung. Zwar soll die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geplante Krankenhausreform die Pflegesituation durch die Rücknahme der Fallpauschalen und Personaluntergrenzen entspannen. Doch das wird nur funktionieren, wenn zugleich die Ausbildung und der Beruf attraktiver gestaltet werden und es gelingt, in einer breiten Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Gesundheitsversorgung für alle und gute Pflege ein Gemeingut in öffentlicher Verantwortung sein müssen. Ganz in diesem Sinne kritisieren die deutsche Krankenhausbewegung und Proteste in vielen Ländern seit 2010 die Sparpolitik und neoliberale Gewinnorientierung im sozialen Sektor sowie die Arbeitsverdichtung durch Taylorisierung und Industrialisierung pflegerischer und medizinischer Arbeit. Sie fordern bessere Personalschlüssel, Aufweichung der akkordmäßigen Pflegemodule, mehr Anerkennung und bessere Bezahlung für ihre Leistungen. Für ihren Erfolg steht beispielhaft der Entlastungstarifvertrag an der Charité und bei Vivantes in Berlin, der neben einem verbesserten Personalschlüssel hohe Belastungen durch Bonuszahlungen oder freie Tage kompensiert.

Transnationale Sorgeketten

Im Windschatten der Versorgungsdefizite und des Fachkräftemangels in den Betreuungs- und Pflegesektoren in den Ländern des Globalen Nordens entwickelten sich seit Jahrzehnten transnationale Care-Arbeitsmärkte, über die etwa ausgebildete Pflegekräfte aus dem Globalen Süden in den Norden vermittelt werden. So entsteht eine Art „Sorgeextraktivismus“

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Ein Modell für transnationale Sorgeketten entwickelte die US-amerikanische Kolonialmacht (1899-1942) auf den Philippinen.

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Dieses „Empire of Care“ mit „einer rassifizierten Hierarchie“ begann mit der zivilisatorischen „Assimilation“ von Filippina:s durch Krankenpflegeausbildung mit einem bis heute stark amerikanisierten Curriculum. Seit den 1950er Jahren wurden junge philippinische „Krankenschwestern“

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im Rahmen eines temporären „Austauschbesuchsprogramms“ in die USA verschickt, wo sie in Krankenhäusern mit einem kleinen Stipendium arbeiteten. Dieser wiederkehrende Mechanismus bei migrantischer Arbeit, nämlich Marktintegration bei gleichzeitiger Abwertung, verbilligt die Lohnarbeit. Später rekrutierten Krankenhäuser in den USA dann gezielt für US-amerikanische Bedarfe ausgebildete Fachkräfte aus den Philippinen, die permanent im Land bleiben sollten.

In Westdeutschland war die Anwerbung von „Gastarbeitern“ seit den 1960er Jahren die politische Strategie, den Arbeitskräftemangel in einzelnen Sektoren aufzufangen. Für die Krankenhauspflege wurden ab 1963 gut 10 000 hochqualifizierte Gesundheitsfachkräfte aus Südkorea im Rahmen der technischen Entwicklungszusammenarbeit rekrutiert. Zusätzlich kamen mit Hilfe katholischer Netzwerke 6000 junge „Schwesternschülerinnen“ und Nonnen aus dem südindischen Kerala zur Ausbildung in die Bundesrepublik. 1977 erließ Deutschland auch für sie einen Anwerbestopp und diese „Gastarbeiterinnen“ wurden zur Rückkehr aufgefordert.

In den 1970er Jahren waren die Philippinen der erste Staat, der die Kommodifizierung, also die Inwertsetzung von Care-Arbeit, und den Export von Krankenpflegekräften dezidiert als Entwicklungsstrategie betrieb. Seitdem verfolgen eine Vielzahl von Staaten im Globalen Süden als „Maklerstaaten“

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das Ziel, durch den Export von Arbeitskräften die hohen Erwerbslosenzahlen in ihren Ländern zu reduzieren und Devisen in die Staatskassen zu bringen. Der philippinische Staat stellte in Aussicht, diese Gelder für den Ausbau des Gesundheitswesens zu nutzen – ein leeres Versprechen, wie der katastrophale Notstand in den Krankenhäusern des Landes während der Coronapandemie zeigte. Seit Jahren werden in solchen Maklerstaaten pflegerische Fachkräfte für den Export ausgebildet, ohne dass entsprechende Jobs im eigenen Gesundheitssystem geschaffen werden.

Um die weitgehend ungeregelten transnationalen Arbeitsmärkte für Krankenpflege zu regulieren, verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation 2010 einen Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel.

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Sie listete zunächst 57 Länder im Globalen Süden auf, darunter die Philippinen, die unter einem so starken Mangel an Gesundheitspersonal litten, dass keine Abwerbung von Fachkräften stattfinden sollte. Die Organisation widerspricht damit auch der verbreiteten Unterstellung, im Globalen Süden gäbe generell es zu viele Arbeitskräfte, aber zu wenige Jobs.

Die von der WHO festgesetzte Norm von drei Pflegekräften auf 1000 Einwohner:innen stellt einen zentralen Indikator für die Einlösung des Menschenrechts auf Gesundheit dar, das durch eine hohe Abwanderungsrate von Pflegepersonal beeinträchtigt wird. Für die Länder des Globalen Südens entsteht ein Teufelskreis: Fachkräfte wandern wegen schlechter Arbeitsbedingungen, Hungerlöhnen, geringer Anerkennung und fehlender Aufstiegschancen aus, verstärken dadurch den Pflegenotstand vor Ort, was wiederum die Belastung für die verbleibenden Pflegekräfte erhöht.

Lösungsansatz »Spatial fix« und Anerkennung

Trotz des Exodus von Gesundheitsfachkräften ist der WHO-Kodex lediglich eine Empfehlung und wird häufig umgangen. Dabei wird die Kommodifizierung der Pflegekräfte weiter vorangetrieben. Während der Pandemie etwa bot die philippinische Regierung England und Deutschland trotz eines Auswanderungsverbots wegen des Gesundheitsnotstands Pflegekräfte im Austausch gegen Impfstoff an. Philippinische Pflegekräfte kamen nach Deutschland. Ob tatsächlich im Rahmen des Warentauschs, ist nicht bekannt.

Seit einem Jahrzehnt mischt der deutsche Staat bei der Rekrutierungs- und Importkonkurrenz von Pflegefachkräften mit. So wie auch andere Unternehmen um Expert:innen konkurrieren, so werben sich auch Krankenhäuser und Seniorenheime, aber auch Staaten gegenseitig Gesundheitspersonal ab. Mit dem Triple-Win-Programm und Job-Messen betreiben die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Bundesagentur für Arbeit (BfA) direkte An- bzw. Abwerbung von Pflegepersonal. Die _Triple-Win-_Formel, der zufolge das Entsende- und das Zielland sowie die angeworbene Person gewinnen, unterstellt gleiche Gewinnchancen in globalen Ungleichheiten. Sie verschleiert damit jedoch, dass die stratifizierten, also ungleichgewichtigen Reproduktionsverhältnisse zwischen Norden und Süden, Westen und Osten, mehr und weniger Wohlhabenden bestehen bleiben und im Bereich der Care-Arbeit die Ungleichheit eher vertieft wird.

Inzwischen hat Deutschland bilaterale Abkommen mit zehn Ländern – Bosnien-Herzegowina, Philippinen, Vietnam, Serbien, Tunesien, Mexiko, Brasilien, Indien, Kolumbien – zur Anwerbung von Pflegepersonal abgeschlossen. Migrationswillige bekommen ein deutsches Visum, wenn sie eine Ausbildung und Deutschkenntnisse nachweisen können. Bislang blieb das Triple-Win-Programm jedoch weit hinter den Erwartungen zurück, denn innerhalb von zehn Jahren konnten nur 4747 Pflegekräfte im Rahmen der offiziellen Abkommen rekrutiert werden.

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Einen größeren Effekt hatte die Westbalkanregelung von 2016, die Menschen aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien ermöglicht, ein Arbeitsvisum zu beantragen, wenn sie ein konkretes Arbeitsangebot, unabhängig von der Branche, vorweisen können. Inzwischen arbeiten 40 700 Gesundheitsfachkräfte aus dieser Region in Deutschland, während die sechs Länder unter einem immer dramatischeren Versorgungsdefizit leiden. Dass dort insgesamt nur 108 000 dieser Fachkräfte tätig sind, zeigt das Missverhältnis.

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Nach der Pandemie hat die deutsche Regierung ihre Rekrutierungsversuche intensiviert – mit dem Versprechen, ethische Standards der Fachkräfteanwerbung einzuhalten. Flankierend zum neuen Einwanderungsgesetz, das die Einreise für Fachkräfte erleichtern soll, reisten einige Minister:innen werbend durch Lateinamerika, Indien und Afrika. Allerdings trafen sie teilweise – so Minister Lindner in Ghana – auf wenig Begeisterung für Deutschland als Migrationsziel. Englischsprachige Länder werden im Globalen Süden bevorzugt. Deshalb sucht Deutschland jetzt nach anderen, teils bizarren Wegen: Während Asylsuchende im Land keine Arbeitserlaubnis bekommen, sollen Westafrikaner:innen zuerst deportiert werden und dann – nach einer Ausbildung als Fachkraft – zusammen mit anderen qualifizierten Migrationswilligen legal über ein Centre for Jobs, Migration and Development in Accra, Ghana, einwandern dürfen.

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Pflegeausbildung ist in den meisten Ländern ein Bachelor- oder Masterstudium und erfolgt aufgrund des finanzialisierten Ausbildungssektors meist in privaten Einrichtungen. Diese verlangen hohe Gebühren, sodass die Studierenden verschuldet in die Berufspraxis starten. Doch Auszubildende und ihre Familien investieren in den Studiengang, weil er gute Migrationschancen eröffnet. Das macht den Beruf auch für Männer attraktiv.

Verschuldet und in einem bürokratischen Hindernislauf gefangen

Zugleich hat sich hier eine neokoloniale Ungleichheitsstruktur etabliert: die kostspielige Qualifizierung von Fachkräften findet im armen Herkunftsland statt, und zwar zunehmend auf Kosten der Auszubildenden selbst, die Nutzung der Qualifikationen und des Fachwissens aber im reicheren Zielland.

Für die eigentlich umworbenen Migrant:innen ist der Weg oft lang, bis sie ihre Ausbildungsschulden zurückzahlen können, denn die Anerkennung der pflegerischen Berufsqualifikation ist in Deutschland immer noch ein bürokratisierter Hindernislauf. Nach der Ankunft im deutschen Zielkrankenhaus werden ausgebildete Fachkräfte zunächst als Pflegeassistent:innen mit geringer Bezahlung eingestellt, eine Form der Integration bei gleichzeitiger Abwertung, auch wenn ihre Qualifizierung im medizinischen Bereich besser ist als die der deutschen Pflegekräfte. Nach sechs Monaten müssen sie eine „Anpassungsprüfung“ in einem speziellen medizinischen Bereich ablegen, beispielsweise in der Geriatrie. Erst nach bestandener Prüfung erfolgt die Beschäftigung als „examinierte“ Krankenpflegekraft entsprechend Tariflohn, ein Prozess, der sich bis zu 24 Monaten erstrecken kann. Die Migrant:innen empfinden die Geringschätzung ihrer akademischen Ausbildung als unfair und diskriminierend. Oft sehen sie sich unter ihrem Qualifikationsniveau vor allem in der Seniorenbetreuung eingesetzt, weil sie im deutschen Gesundheitssystem nicht alle erworbenen Fachkenntnisse und -fähigkeiten aus ihren Herkunftsländern, wie beispielsweise intravenöse Injektionen, ausüben dürfen.

Zugewanderte Fachkräfte, die im vergangenen Jahrzehnt durch informelle Netzwerke nach Deutschland kamen, mussten sechs bis zwölf Monate lang mit bürokratischen Hindernissen und komplexen Anforderungen kämpfen und ständig Dokumente und Bescheinigungen nachliefern, bevor sie ihr Visum und ihre Genehmigungen von der deutschen Botschaft und/oder der Ausländerbehörde in Deutschland erhielten. Auch wenn sie einen Arbeitsvertrag haben, müssen sie ihre Aufenthaltserlaubnis immer wieder in der zeit- und kräftezehrenden Bürokratie erneuern. Sie fühlen sich zu Bittsteller:innen degradiert, diszipliniert und kontrolliert, aber auch gedemütigt. Unterstützung bei Behördengängen, der Einarbeitung und beim Erwerb der Fachsprache leisten bisher nur wenige Krankenhäuser.

Wie schwerfällig die Anerkennungsverfahren sein können, zeigen auch die Medienberichte, nach denen im August 2024 mehr als 1400 ukrainische Ärzt:innen auf ihre Approbation in Deutschland warteten. Die Zulassung dauert zwischen eineinhalb und drei Jahren. 2023 warteten beispielsweise in Baden-Württemberg 3000 zugewanderte, teils sehr erfahrene und spezialisierte Ärzt:innen auf Anerkennung und durften nicht praktizieren, während Gemeinden und Kliniken verzweifelt nach Personal suchen. Jeder Fall wird in einem komplizierten bürokratischen Verfahren jeweils einzeln geprüft, ob die Ausbildung gleichwertig ist mit dem deutschen Medizinstudium – anstatt wenigstens in diesem besonderen Fall pauschal Abschlüsse von einmal geprüften Universitäten anzuerkennen.

Das hiesige Verfahren, einschließlich der Fachsprachenprüfungen ist aufwendig, kostspielig und nervenzehrend.

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Nicht wenige Fachkräfte kehren nach einigen Monaten oder wenigen Jahren wegen dieser formalen Hürden und rassistischer Erfahrungen frustriert in ihre Heimatländer zurück.

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Die Tatsache, dass nur 17 Prozent der philippinischen Pflegekräfte Deutschland als Zielland weiterempfehlen würden, verweist auf starke Integrationsdefizite – und zwar vonseiten der Bundesrepublik.

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Aus deutscher Perspektive stellt sich die Zuwanderung von Gesundheitsfachkräften vor allem als Integrationsproblem aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und von Anpassungs- und Qualifikationsdefiziten dar.

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Patient:innen fühlen sich nicht verstanden und verstehen die migrantischen Fachkräfte nicht, was negative Folgen für Diagnosen und Behandlung haben kann. Um dem entgegenzuwirken, geht die deutsche Regierung nun Global Skill Partnerships ein, um Qualifikationen und Erwartungen vor der Einwanderung aufeinander abzustimmen. Dabei wird die Pflegeausbildung im Herkunftsland bereits auf den Bedarf im Zielland abgestellt, eine postkoloniale Ausrichtung von Qualifikation, die England seit Jahren praktiziert. Deutschland ist solche Partnerschaften auf der Grundlage eines Kooperationsvertrags mit einer Universität bisher nur mit den Philippinen und Mexiko eingegangen. Um Anerkennung und Integration zu erleichtern, wird Pflegeauszubildenden in Mexiko ein kostenloses Zusatzjahr zur Ausbildung mit speziellen Modulen und Deutschunterricht angeboten.

Vermittlungen und Versprechungen

Parallel dazu gehen immer mehr private Kliniken bilaterale Partnerschaften mit Einrichtungen in Entsendeländern ein. Die Helios Kliniken in Deutschland, Teil des Fresenius Gesundheitskonzerns, rekrutieren Ärzt:innen und Pflegekräfte von Indonesien bis Kolumbien. Das geschieht zunehmend mit der Hilfe von Vermittlungsagenturen in Herkunfts- und Zielländern.

Seit Care-Arbeitsmärkte und die Fachkräftevermittlung nach der Pandemie zu boomen begannen, präsentieren sich im Internet immer mehr und neue Vermittlungsagenturen. Während indische Pflegefachkräfte früher vor allem durch katholische und familiale Netzwerke vermittelt wurden, findet sich heute online eine Fülle von Agenturen, die sich auf Zielländer von Neuseeland über Katar bis Zypern spezialisiert haben und Headhunting, Rekrutierung, Beschäftigung, Sprachkurse, Beschaffung von Visa und Arbeitsgenehmigungen sowie von Flug und Unterkunft anbieten. Diese kommerziellen Agenturen machen ihre Gewinne in dem wild wuchernden Markt mit dem Versprechen, die bürokratische Anerkennungsprozedur und den Spracherwerb zu beschleunigen. Die deutsche Regierung begrüßt die Agenturen als Teil eines „synergistischen Nebeneinanders“ von öffentlichen und kommerziellen Angeboten.

Hierzulande wickeln solche Agenturen inzwischen nach Branchenangaben 80 Prozent der Anwerbungen ab.

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Dabei werden Fachkräften oft fünf-stellige Eurobeträge als Vermittlungskosten in Rechnung gestellt. Private Kliniken sollen in einigen Fällen bis zu 15 000 Euro Kopfprämie an Agenturen zahlen und Strafgebühren von Pflegekräften verlangen, die das Krankenhaus nach kurzer Zeit wieder verlassen.

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Die Vermittler vereinbaren häufig Knebelverträge, aus denen das migrantische Personal nur mit Strafzahlungen aussteigen kann; vereinzelt wurden Dokumente – also Reisepässe oder Zeugnisse – einbehalten.

Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert deshalb, arbeitgebergebundene Visa aufzuheben. Wegen der dubiosen und illegalen Agenturpraktiken führte die Bundesregierung bereits 2019 ein Gütesiegel für faire Migration ein, das untersagt, die Anwerbekosten auf die Arbeitskräfte abzuwälzen. Allerdings ist dieses freiwillig und offenbar erhielten auch nicht-seriöse Agenturen dieses Gütesiegel. Private Arbeitsagenturen sind jedoch in Deutschland weiterhin kaum reguliert. Die ILO-Konvention 181 zur Kontrolle privater Arbeitsagenturen von 1997 wurde bisher nicht ratifiziert.

So agieren die staatliche Anwerbung und der kommerzielle Vermittlungsmarkt weiterhin parallel, statt das Versorgungssystem grundlegend zu reformieren, um die systemischen Probleme zu lösen. Arbeitskräfteimport wird als probate Lösung propagiert, wobei sich der Staat mit seiner Bürokratie selbst im Wege steht. So erzeugen der transnationale Care-Markt und die Einwanderungspolitik eigene Probleme, die zu Lasten der migrantischen Fachkräfte gehen. Die Deutsche Plattform Globale Gesundheit (dpgg) kritisierte 2023, dass Deutschland von schlechten Arbeitsbedingungen und unterfinanzierten Gesundheitssystemen in Ländern des Südens profitiert, aber gleichzeitig die strukturellen Mängel des deutschen Gesundheitssystems nicht allein durch Anwerbung gelöst werden können.

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Denn der Fachkräfteimport ändert nichts an den Ursachen der Arbeitsverdichtung und dem schlechten Personalschlüssel. Um dem entgegenzuwirken, müssen die neoliberalen Strukturen von Effizienzsteigerung, industriellem Produktivismus und Profit zurückgebaut werden, damit die Arbeitsbedingungen für einheimische wie migrantische Care-Fachkräfte fair und attraktiv sind.

[1]

Unter Sorge- oder Care-Arbeit fallen Kinderbetreuung, Kranken- und Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freunden. Hier ist vor allem bezahlte Care-Arbeit gemeint.

[2]

Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung, 24.1.2024.

[3]

Jennie Auffenberg u.a., „Ich pflege wieder wenn…“ – Potenzanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegekräften, arbeitnehmerkammer.de, Bremen 2022.

[6]

Im Folgenden wird – wie im deutschen Sprachgebrauch inzwischen üblich – die Benennung „Krankenschwester“ wegen ihrer sexistischen Konnotationen nicht mehr verwendet und durch genderneutrale Bezeichnungen ersetzt.

[7]

Robin M. Rodriguez, The labor brokerage state and the globalization of Filipina care workers, in: „Journal of Women in Culture and Society“, 2008.

[8]

The WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health, cdn.who.int, 2010.

[9]

656 Pflegekräfte über „Triple Win“-Programm angeworben, aerztezeitung.de, 17.2.2023.

[10]

Positionspapier der dpgg zur internationalen Abwerbung von Gesundheitsfachkräften, plattformglobalegesundheit, 12.5.2023.

[11]

Vgl. Germany to recruit workers from Ghana, theafricancourier.de, 22.2.2023.

[12]

Franziska Mayr, Vom ewigen Warten, kontextwochenzeitung.de, 30.8.2024.

[13]

Anwerbeabkommen gegen Pflegenotstand – Ist das der German Dream?, npla.de, 12.12.2023.

[14]

Grace Lugert-Jones, Hohe Unzufriedenheit bei philippinischen Pflegefachkräften in Deutschland, gracelugert.com, 9.3.2022.

[15]

Richard Hill, Ausländische Ärzte: Von Sprachproblemen und Fehldiagnosen, doccheck.com, 7.3.2024.

[16]

BT-Ds. 20/10522, 1.3.2024.

[17]

Nurses for Sale, Ein ausbeuterisches Geschäft: Wie dubiose Vermittler ausländische Pflegekräfte zur Ware machen, correctiv.org, 25.11.2020.

[18]

 Positionspapier der dpgg zur internationalen Abwerbung von Gesundheitsfachkräften, plattformglobalegesundheit.de, 12.5.2023.

Der Kampf um die Fachkräfte | Blätter für deutsche und internationale Politik was published on 2024-11-05