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date: 2024-11-18T20:51 tags: [date/2024/11/18, gemnews]
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created: 2024-11-18T21:50:54 (UTC +01:00) tags: [Politik,Christian Lindner,Christian Lindner,FDP,Ampel-Aus,Bundesregierung,Ampelkoalition] source:
author: Robert Pausch
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## Excerpt
Geheime Sitzungen, Präsentationen, Strategiepapiere: Recherchen der ZEIT zeigen, wie die FDP den Bruch der Ampel wochenlang vorbereitete. Der Name der Operation: "D-Day"
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Es gibt nicht viele Häuser in Deutschland, deren Geschichte so bewegt ist wie die der Villa Erlenkamp. 1945 wohnte der US-Präsident Harry Truman in dem Anwesen am Potsdamer Griebnitzsee, als er mit Churchill und Stalin über die Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg verhandelte. Der Marshallplan wurde hier entwickelt, der Befehl für die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gegeben. In der DDR war in dem Gebäude in der Karl-Marx-Straße 2 eine Parteischule der SED. Später ein Möbellager. Bis die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung die Villa Ende der 1990er-Jahre erwarb.
Am Sonntag, dem 29. September 2024, wird im Haus Erlenkamp wieder einmal Geschichte geschrieben. Diesmal zwar keine Weltgeschichte, aber zumindest ein Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik. Um 10.40 Uhr trifft sich eine vertraute Runde im Kaminzimmer, dem Hauptraum der Villa. Bijan Djir-Sarai ist dabei, Generalsekretär der FDP, Johannes Vogel, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, der Fraktionsvorsitzende Christian Dürr. Die Minister der FDP in der Bundesregierung: Bettina Stark-Watzinger, Volker Wissing, Marco Buschmann und
. Dazu ein kleiner Kreis von Mitarbeitern und Vertrauten. F-Kabinett wird die Runde in der FDP genannt. Insgesamt sind es zwölf Personen. Im Nebenraum ist ein Imbiss vorbereitet. Aber erst einmal wird nun geredet.
An diesem Tag berät die engste Führung der
über zwei Dinge. Die Zukunft der Koalition und die Zukunft ihrer Partei, beides hängt miteinander zusammen. Was in den folgenden Stunden besprochen wird, ist der Anfang vom Ende der Ampelregierung. Es entstehen die ersten Konturen eines Plans, der in den kommenden Wochen immer weiter präzisiert wird: das Drehbuch für den Regierungssturz, das Projekt "D-Day".
Die ZEIT hat mit rund einem halben Dutzend Personen gesprochen, die mit den Vorgängen vertraut sind, und konnte Teile der Dokumente einsehen, die in diesen Wochen entstanden. Aus alledem ergibt sich das Bild einer Parteiführung, die akribisch den Bruch der Regierung vorbereitet, während sie öffentlich beteuert, für deren Erfolg zu arbeiten.
Um kurz nach 10.40 Uhr habe Christian Lindner die Sitzung in der Potsdamer Villa eröffnet, so berichten es Teilnehmer. Der Bundesgeschäftsführer Carsten Reymann zeigt eine Powerpoint-Präsentation. Schnell aber soll Lindner die Debatte auf das eigentliche Thema gelenkt haben: Wie geht es nun weiter, mit der
und mit der FDP?
In der Führung der Partei gilt die Lage mittlerweile als dramatisch. In den Umfragen liegen die Liberalen seit einiger Zeit unter fünf Prozent, die Mitglieder rebellieren gegen die Ampelregierung, Demoskopen sagen den Niedergang der FDP voraus. Zum zweiten Mal nach 2013 könnte die Partei in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.
Über den Projektor werden nun mehrere Szenarien an die Wand geworfen, um die entscheidende Frage zu beantworten: wie weiter mit der Ampel?
Das Wolfgang-Gerhardt-Szenario: konstruktiv in der Regierung weiterzuarbeiten, bis zum bitteren Ende.
Das Gerhard-Schröder-Szenario: den Kanzler dazu zu bringen, die Vertrauensfrage zu stellen.
Und ein drittes Szenario, das in der Partei später unter dem Namen "D-Day" firmiert: den Bruch der Regierung selbst zu provozieren, SPD und Grüne so weit zu reizen, bis der Kanzler die FDP-Minister rausschmeißt.
Als D-Day bezeichneten die US-Amerikaner den Tag, an dem ihre Truppen im Sommer 1944 in der Normandie landeten. Der Anfang vom Ende des Naziregimes, die Befreiung Europas vom Faschismus. Nicht alle im Führungszirkel der FDP halten diese Analogie für geglückt. Zwar geht es auch in dem Szenario, das die Runde an diesem Morgen bespricht, um eine Befreiung. Allerdings nicht um die Befreiung von Adolf Hitler, sondern um die Befreiung von Olaf Scholz, um den Ausstieg der FDP aus der Ampelregierung.
Schnell entsteht in der Runde ein klarer Eindruck, welches Szenario Lindner bevorzugt. Über das Gerhardt-Szenario wird bloß gespottet, das Schröder-Szenario kaum erwähnt. Die Diskussionen kreisen um den kalkulierten Bruch. Und um das Überleben der FDP. Lindner macht deutlich, dass er für seine Partei keine Hoffnung sehe, wenn sie in der Regierung bleibe. Nun fragt er seine Mitstreiter, welches Szenario sie für das richtige halten.
Das Stimmungsbild wird von Teilnehmern wie folgt erinnert: Bettina Stark-Watzinger spricht sich für den provozierten Bruch aus. Djir-Sarai stimmt zu, ebenso Johannes Vogel. Christian Dürr erbittet sich Bedenkzeit. Er könne sich noch nicht festlegen. Volker Wissing spricht sich gegen ein vorzeitiges Ende der Regierung aus, ebenso einer der Mitarbeiter. Marco Buschmann wiederum soll ein interessantes Argument vorgetragen haben. Er ringe mit sich, Verantwortung, die ihm übertragen wurde, einfach so wieder zurückzugeben, soll er gesagt haben. Aber allen hier im Raum sei klar, dass Christian Lindner die Partei in den Wahlkampf führen müsse. Und es darauf ankomme, welches Szenario er bevorzuge. Der beste Schauspieler kann seine Rolle nur authentisch spielen, wenn er sich in ihr wohlfühlt, soll Buschmann gesagt haben. Schauspieler, nicht Politiker – diese Formulierung brennt sich bei Teilnehmern der Runde ein.
Marco Buschmann erklärt auf Anfrage, dass er diese Äußerungen weder bestätigen will noch dementieren. Bettina Stark-Watzinger, Christian Dürr und Volker Wissing lassen ausrichten, dass sie grundsätzlich nicht aus internen Sitzungen berichten. Ein Sprecher der FDP sagt, es habe in den vergangenen Monaten "immer wieder und in verschiedenen Runden eine Bewertung der Regierungsbeteiligung" stattgefunden. "Selbstverständlich wurden immer wieder Szenarien erwogen und Stimmungsbilder eingeholt."
Lindner hört sich die Argumente an. Widerspricht, wenn er etwas anders sieht. Manche Teilnehmer der Runde betonen, es habe in dieser Sitzung keinen Automatismus für ein Regierungsende gegeben. Andere nehmen es so wahr, dass die Debatte nun nur noch um den Bruch kreist. Die Frage ist bloß: Wie stellt man es am besten an?
Am Ende geht die Runde mit drei Ideen auseinander, die Teilnehmer so erinnern: Erstens, ein wirtschaftspolitisches Konzept zu erarbeiten, das so formuliert sein soll, dass es innerhalb der Regierung nicht einigungsfähig ist. Die Ablehnung des Papiers soll der FDP dann als inhaltliche Begründung für den Ausstieg aus der Regierung dienen. Dazu soll ein zweites Papier kommen, das die aus FDP-Sicht verheerende Bilanz grüner Politik für die Bundesrepublik Deutschland beschreibt. Dieses Papier, so lautet der Plan, soll als vertrauliches Dokument aus der FDP-Zentrale gekennzeichnet werden und später seinen Weg in die Presse finden. Die Grünen würde man so noch weiter gegen sich aufbringen, die eigenen Wähler zugleich mobilisieren, so ist das Kalkül. Der dritte Auftrag besteht darin, das Ausstiegsszenario weiter vorzubereiten. Mit welchen Narrativen geht man an die Öffentlichkeit? In welcher strategischen Grundaufstellung? Wie ist der genaue Zeitplan? In einer Woche will man sich am selben Ort wieder treffen.
Christian Lindner kommt neben FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nach seiner Entlassung durch den Bundeskanzler zu einem Pressestatement. © Christoph Soeder/dpa
Wie weit sich die FDP schon von der Koalition entfernt hat, ist den Koalitionspartnern in diesen Tagen unbekannt. Wenige Wochen zuvor hatte sich das Kabinett auf einen vorläufigen Entwurf für den Bundeshaushalt geeinigt. Nun wartet man auf die Steuerschätzung, die exakt beziffern soll, wie groß die Lücke ist, die es noch zu schließen gilt. Christian Lindner hatte seinen Kabinettskollegen versprochen, sich zu melden, sobald in seinem Ministerium die Zahlen vorliegen. Dann wolle man sich noch einmal zusammensetzen.
Die Stimmung unter den Koalitionären ist in diesen Tagen weniger angespannt als in den Wochen zuvor. Im Sommer hatte man sich noch heftig über den Haushalt gestritten. Nun aber scheint es für viele, als seien die größten Konflikte beigelegt. Als hätte sich die Ampel am Ende doch wieder einmal zusammengerauft. Bis zur Bundestagswahl, so lautet damals die Prognose bei Grünen und SPD, werde man schon durchhalten. Aus dem Gröbsten sei man nun raus.
Am 6. Oktober um 16 Uhr trifft die Runde in der Villa Erlenkamp erneut zusammen. Eigentlich sollen die Mitarbeiter die vorbereiteten Papiere vorstellen, aber Christian Lindner ist offenbar schon einen Schritt weiter. Er hat eine neue Powerpoint-Präsentation mitgebracht, in der das Vorgehen beim Ausstieg aus der Regierung präzisiert wird.
Teilnehmer erinnern sich, dass Textbausteine für die Begründung des Ausstiegs an die Wand geworfen werden, die Strategie wird weiter diskutiert. Man müsse nun jede Gesetzesinitiative der anderen blockieren, um den Frust der Ampelpartner weiter zu verstärken. Dazu müsse das zentrale Narrativ immer wieder in den Medien platziert werden: Eine echte Wirtschaftswende sei mit den Koalitionspartnern nicht zu machen.
Aber was ist, wenn die anderen nicht mitspielen? Wenn der Kanzler die FDP nicht aus der Regierung wirft? Auch über dieses Szenario wird in der Villa in Potsdam gesprochen. Man einigt sich darauf, dass die FDP dann ihre Minister aus dem Kabinett abzieht. Christian Lindner solle in diesem Fall als Parteivorsitzender zurücktreten und mit ihm das gesamte Präsidium der FDP. Aber nur für einige Wochen. Am 1. Dezember würde sich Lindner auf einem Parteitag erneut zum Vorsitzenden wählen lassen, um dann mit einem neuen Mandat die FDP in den Wahlkampf führen zu können. Hierfür solle bereits jetzt eine Halle in Berlin reserviert werden. Die Ladungsfristen für einen Parteitag müssten schließlich eingehalten werden. So weit der Plan.
Es gehe ihm nicht um Ultimaten an die Koalitionspartner, hatte Lindner wenige Tage zuvor in einem Interview mit dem Münchner Merkur gesagt. "Es geht mir darum zu zeigen, dass die Regierung nicht Teil des Problems ist, sondern Teil der Lösung." An diesem Tag in Potsdam allerdings erweckt er für Teilnehmer nicht den Eindruck, als würde er sich noch sonderlich für Lösungen interessieren.
Gegen 19 Uhr trifft eine Demoskopin in Potsdam ein. Sie berichtet über die Stimmung in der Bevölkerung: Welche Prioritäten haben die Menschen? Was erwarten sie von der Regierung? Gemeinsam mit ihr diskutiert man nun grundsätzlich darüber, welche Themen den Menschen im Land wichtig sind und welche Rolle die FDP spielen könne. Die Runde isst zu Abend, danach endet die Sitzung.
Ein nächstes Treffen findet am Morgen des 14. Oktober statt. Nun trifft sich die Runde nicht in der Potsdamer Villa, sondern in einem Besprechungsraum in der FDP-Parteizentrale. Wieder gibt es eine Powerpoint-Präsentation: Ein Zeitstrahl wird an die Wand geworfen. Darauf soll nach Angaben von Teilnehmern zu sehen sein, wann welche Schritte unternommen werden, um die Regierung zu stürzen. Die Veröffentlichung der Papiere, die letzten Sitzungen mit den Koalitionspartnern. Manche Teilnehmer sagen, dass auf diesem Zeitstrahl bereits ein fixer Zeitpunkt für das Regierungsende gestanden habe, andere können sich daran nicht erinnern. Diesmal wird es in der Sitzung laut.
Christian Lindner nach seiner Entlassung durch den Bundeskanzler © Christoph Soeder/dpa
Volker Wissing meldet noch einmal Bedenken an. Doch diese Bedenken werden nicht geteilt. Es sei doch alles längst besprochen, soll Johannes Vogel, der Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, gesagt haben, warum mache man die Debatte denn jetzt noch einmal auf? Dann schaltet sich Lindner ein. Diesmal wird er grundsätzlich: Er sehe sich außerstande, die FDP in eine Bundestagswahl zu führen, wenn seine Partei zugleich noch Teil der Regierung sei, soll er nach Angaben von Teilnehmern gerufen haben. Es ist eine Art vorgezogene Vertrauensfrage. Der Mann, der die FDP vor sieben Jahren quasi im Alleingang zurück in den Bundestag geführt hat, setzt nun alles auf eine Karte. Entweder die Ampel oder ich.
Was nun folgt, ist ein Ausbruch des Parteichefs, der bei einigen in der Runde lange nachhallt: Die FDP müsse da raus, die Ampel müsse enden. Er könne diese Fressen einfach nicht mehr sehen, soll Lindner gerufen haben. Andere Teilnehmer können sich daran nicht erinnern.
Sollte es bisher noch Zweifel an Lindners Entschlossenheit gegeben haben, zerstreut er sie an diesem Morgen. Und es ist klar, dass die große Mehrheit der Parteiführung ihm auf seinem Kurs folgt.
Insgesamt verschärft sich in diesen Wochen die Rhetorik innerhalb der FDP. Der "D-Day" wird nun in den Spitzenzirkeln der Partei zum internen Wording für den Ausstieg. Das Wirtschaftswende-Papier nennt man "Torpedo", von einer "Feldschlacht" ist die Rede, in der man sich bald befinde.
Am 28. Oktober nach 21 Uhr verschickt der Bundesgeschäftsführer an einen kleinen Kreis ein Dokument, dessen Ausarbeitung in Potsdam beauftragt wurde. "Den Mitgliedern des Präsidiums der FDP zur Information" steht auf dem Deckblatt. Der Titel: "Aktuelle Bewertung Bündnis 90/Die Grünen". Darunter: "streng vertraulich/intern". Das Dokument liegt der ZEIT vor und es liest sich, als käme es aus der Opposition. Nicht von einer Partei, die mit den Grünen seit drei Jahren das Land regiert. Die Grünen würden eine Politik verfolgen, die "autoritär in Wirtschaft und Gesellschaft" eingreife, heißt es in dem Papier. Ihre Politik sei ein "ein Risiko für den Wirtschaftsstandort" und ein "wesentlicher Treiber für die Erfolge (rechts-)populistischer Strömungen". Es folgen 19 Seiten, gespickt mit verheerenden Umfragedaten und kritischen Stimmen von Medien und Ökonomen zur Politik der Grünen. Die Schlussfolgerung: "Parteien, die angesichts der Bilanz und des Programms der Grünen eine Regierungsbildung mit der Partei anstreben, werden erhebliche Mobilisierungsnachteile erfahren." Das Papier, so ist die Idee, solle demnächst an die Presse durchgestochen werden. Doch dann überschlagen sich die Entwicklungen.
Am Vormittag des 1. November erscheint auf der Homepage der FAZ ein Artikel von Volker Wissing, der sich liest, als wolle der Verkehrsminister einen Versuch unternehmen, Lindners Plan in letzter Minute zu vereiteln. Er warnt vor einem Koalitionsbruch. "Es ist fatal, wenn demokratische Parteien die Übernahme von Verantwortung verweigern, nur weil sie nicht alleine entscheiden können", schreibt er. Jeder in der FDP-Führung versteht, an wen sich dieser Text richtet. Wenige Stunden später veröffentlicht der stern Lindners Papier zur Wirtschaftswende. Allerdings ist die Veröffentlichung von der FDP noch nicht zu diesem Zeitpunkt geplant. Irgendwo scheint das Papier durchgesickert zu sein. Der "Torpedo", von dem die Liberalen sprachen, ist nunmehr ins Wasser geplumpst, anstatt zu gleiten.
Binnen weniger Stunden zeigt sich jedoch, dass das Papier genau jene Wirkung entfaltet, die sich die FDP erhofft hatte: Es ist die maximale Provokation für SPD und Grüne. Die FDP fordert darin die Aufweichung der Klimaziele, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, eine Senkung der Unternehmenssteuern und einen Stopp aller weiteren Regulierungen, darunter das Tariftreue-Gesetz, ein Prestigeprojekt der SPD. Unter den Koalitionspartnern der FDP herrscht helle Aufregung.
Einen Tag zuvor saß Christian Lindner in einem Fernsehstudio und wurde von dem Journalisten Markus Feldenkirchen gefragt, ob er es darauf anlege, aus der Regierung geworfen zu werden. "Ich stehe für solche spielerischen Sachen ungerne zur Verfügung, weil ich auch selber keine Freude daran habe", sagte Lindner. "Wir sind in einer ernsten Situation für unser Land und ich finde, dass es auch eine Aufgabe für den politischen Journalismus ist, die Ernsthaftigkeit durch Debatten zu begleiten, die argumentativ sind und nicht mit oberflächlichen Gerüchten."
Am Sonntag, dem 3. November, lädt Olaf Scholz Christian Lindner zum Abendessen ins Kanzleramt. Aber der Kanzler empfängt den Finanzminister nicht, wie sonst üblich, in seiner Wohnung im achten Stock. Eingedeckt ist in einem Raum im siebten Stock, direkt an der Fensterfront. Mittlerweile haben die Gerüchte über den kalkulierten Koalitionsbruch, den die FDP plant, auch den Kanzler erreicht. Und offenbar hat auch Scholz ein Interesse daran, dass die Öffentlichkeit an dem teilhaben kann, was nun folgt. Die beiden reden über das Wirtschaftswende-Papier des Finanzministers. Dann stellt Lindner zum ersten Mal in einem Gespräch mit dem Kanzler das Szenario in den Raum, das die FDP seit einem Monat plant: Wenn man sich nicht einigen könne, müsse die Koalition enden.
Am Montagmorgen danach kommt in der FDP-Zentrale erneut die Führungsrunde der Partei zusammen. Nur Volker Wissing fehlt. Nach Wissings Gastbeitrag in der FAZ, so soll es Lindner gesagt haben, sei klar, dass das F-Kabinett in seiner ursprünglichen Form nicht länger existieren könne. Die Stimmung in der Runde soll aufgekratzt gewesen sein. Nach seinem Gespräch mit Scholz scheint Lindner nicht mehr davon auszugehen, dass der Kanzler die FDP rauswirft. Man müsse den Schritt wohl selbst gehen. Wieder einmal spricht man über den Zeitplan, der nun wie folgt aussehen soll: Am Dienstag beraten Scholz, Lindner und Habeck weiter über den Haushalt. Am Mittwoch trifft sich der Koalitionsausschuss; dort wolle man sich konstruktiv geben. Am Donnerstag tagen die Abgeordneten des Bundestags. Währenddessen sollen Scholz, Lindner und Habeck weiter sprechen, aber ohne eine Einigung herbeizuführen. Am Freitag schließlich der "D-Day": Während der Kanzler beim EU-Gipfel in Budapest ist, wollen die FDP-Minister ihren Rückzug aus dem Kabinett verkünden. So hätten sie die Deutungshoheit, der Kanzler könnte aus dem Ausland schlecht kommunizieren. Dies sei der Plan gewesen, so berichten es Eingeweihte. Andere bestreiten auf Nachfrage diese Darstellung und betonen, dass auch hier bloß mögliche Szenarien diskutiert worden seien.
Ein Sprecher der FDP erklärt auf Anfrage der ZEIT: "Am Ende gab es zwei Optionen, die Christian Lindner dem Bundeskanzler in einem Gespräch am 3. November vorgeschlagen hat: eine Einigung auf eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik oder die geordnete Beendigung der Koalition durch den gemeinsamen Weg zu Neuwahlen."
Doch nach dem Abendessen verdichten sich auch im Kanzleramt die Indizien, dass die FDP den Ausstieg nicht nur plant, sondern bereits fest entschlossen ist. Am Montagmorgen, während in der FDP-Zentrale die Führungsrunde der Liberalen zusammensitzt, gibt Olaf Scholz bei seinen Mitarbeitern eine Rede in drei Varianten in Auftrag. Eine für den Fall, dass man sich doch noch einigt. Eine für den Fall, dass die FDP hinschmeißt. Und eine für den Fall, dass er die FDP hinauswirft.
Olaf Scholz verkündet die Entlassung von Christian Lindner als Bundesfinanzminister. © Annegret Hilse/Reuters
Als sich am Mittwoch um 18 Uhr schließlich der Koalitionsausschuss trifft, konfrontiert Scholz seinen Finanzminister mit einem eigenen Papier. Auch dieses Papier ist so formuliert, dass es innerhalb der Koalition nicht einigungsfähig ist: Scholz fordert darin die Aussetzung der Schuldenbremse – jenes Instruments, das den Liberalen heilig ist. Dies sei die Bedingung, damit die Koalition weiterarbeiten könne. Plötzlich ist es Scholz, der ein Ultimatum stellt.
Im letzten Moment will der Kanzler die Hoheit über das Verfahren zurückgewinnen. Wenn seine Regierung schon endet, will er zumindest den Zeitpunkt bestimmen. Im kleinen Kreis soll er in diesen Tagen Erich Kästner zitiert haben: "Nie dürft ihr so tief sinken, den Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken."
In der Sitzung lehnt Christian Lindner eine Aussetzung der Schuldenbremse ab, daraufhin teilt Scholz ihm mit, dass er den Bundespräsidenten bitten wird, Lindner als Finanzminister zu entlassen. Dann tritt er vor die Presse und trägt die Rede vor, die seine Leute vorbereitet hatten.
Wenige Minuten später gibt auch Lindner ein Statement vor den Journalisten ab. Er, der seinen Ausstieg aus der Regierung in den Monaten zuvor akribisch vorbereitet hatte, zeigt sich nun empört über das "genau vorbereitete Statement" des Bundeskanzlers. Dies, sagt Lindner weiter, belege, dass es Scholz nie um eine Einigung gegangen sei, sondern um einen "kalkulierten Bruch der Koalition".
Am Tag darauf gibt Lindner eine weitere Pressekonferenz. Er steht im Foyer der FDP-Parteizentrale, dem Gebäude, in dem er vier Tage zuvor mit seinen Getreuen die letzten Schritte für den "D-Day" besprochen hatte. Es gehe ihm um "staatspolitische Verantwortung", sagt der FDP-Chef jetzt. Um einen Stil, den Politiker untereinander pflegen, "damit die Demokratie keinen Schaden nimmt".
Und dann sagt er noch einen Satz, der viel wahrer ist, als er in diesem Moment klingt. "Wir treffen in diesem Moment auch eine Entscheidung über unsere politische Kultur."
Christian Lindner: Das liberale Drehbuch für den Regierungssturz | ZEIT ONLINE was published on 2024-11-18