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date: 2024-11-20T21:32 tags: [date/2024/11/20, gemnews]
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created: 2024-11-20T22:24:16 (UTC +01:00) tags: [] source:
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## Excerpt
Anders als meistens üblich habe ich meine Antworten für das Interview bei Radio Nordpol verschriftlicht, um sie auf diese Weise zugänglich zu machen. „Keine Macht für Niemand“, so sang in den…
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Lesedauer: 13 Minuten
Anders als meistens üblich habe ich meine Antworten für das
verschriftlicht, um sie auf diese Weise zugänglich zu machen.
„Keine Macht für Niemand“, so sang in den Siebzigern die Anarcho-Band „Ton, Steine, Scherben“. Dafür wurden sie von rechts bis linksscharf kritisiert: Konservative und Liberale sahen in der herrschenden Macht des Staates mit seinem Gewaltmonopol den Garanten für Recht und Freiheit.Sozialdemokraten und Kommunisten wollten Macht haben, um eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft zu verwirklichen.
Bereits Marx und Engels bekämpften die Anarchisten in der„Internationale“. Unter Lenin in der revolutionären Sowjetunion gehörten sie zu den ersten, die von den Vertretern der Sowjetmacht liquidiert wurden. So saßen Anarchisten von jeher zwischen allen politischen Stühlen. Die maßgeblichen politischen Kräfte – von rechts bis links – hatten größtes Interesse an der bis heute gängigen Gleichsetzung: „Anarchie gleich Chaos, Gewalt und Terror.“
Aber was verbindet sich mit dem Begriff Anarchismus und gibt eigentliche eine Politische Theorie des Anarchismus. Um der Beantwortung näher zu kommen reden wir heute mit Jonathan Eibisch aus Leipzig, der über die „Politische Theorie des Anarchismus“ promoviert hat und im Transcript Verlag ein gleichnamiges Buch rausgebracht hat.
Einstieg: Wir fang ganz klein an: Was heisst eigentlich Anarchismus?
Zunächst sprechen wir einfach über Leute, die ohne Herrschaft in Gesellschaft leben wollen. Sie finden sich zusammen und bilden Szenen, Netzwerken. Daraus ging Anarchismus als Strömung in sozialen Bewegungen und anschließend eine politisch-theoretische Denkrichtung hervor.
Hinsichtlich wichtiger Fragen gibt es teilweise recht unterschiedliche Ansichten unter Anarchist*innen. Für die meisten kann aber gesagt werden, dass sie sozialistische Werte teilen und auf netzwerkartige Selbstorganisation setzen.
Erstens: Der Politikwissenschaftler Daniel Loick, der im Junius Verlag das Buch „Anarchismus zur Einführung“ veröffentlicht hat , spricht von drei Dimensionen des Anarchismus. Ich würde gerne mit dir kurz auf diese Formen zu sprechen kommen auch mit der Frage welche Bedeutung sie für deine Synthese einer Poltischen Theorie des Anarchismus haben.
Dort ist zum einen Anarchismus als Philosophie oder Weltanschauung, damit verbunden die Frage ist der Anarchismus eine genuine Schöpfung in der Modernen bzw. Reaktion auf die kapitalistische Vergesellschaftung oder würdest du in Antike oder oder Zeitepochen auch Formen anarchistischer Weltanschauung verorten?
Zweitens, die Dimension als politische Bewegung. Hier denken vielleicht einige zuerst an die Pariser Kommune, manche an Occupy Wallstreet oder an Rojava? Was wären deine erste Assoziation bzgl. Anarchismus als politische Bewegung?
Und zu guter Letzt und dritte Dimension Anarchismus als Lebensform. Da schießen mir erstmal Hippie Kommunen und aus neuer Zeit das Dorf Tarnac in Frankreich in den Kopf. Würdest du da mitgehen, oder siehst du ganz andere Bezüge?
Zunächst ist es sinnvoll, dass sich Daniel Loick auf diese Unterscheidung bezieht, denn sie wurde schon früher aufgemacht, um den Anarchismus zu charakterisieren, nämlich von Uwe Timm (in Bartsch 1973: 323), Colin Ward (1973/1996: 21-28,) und David Graeber (2009: 215). Daher wäre es schön gewesen, wenn Loick das gekennzeichnet hätte.
Die Unterteilung erinnert mich etwas an das antike Schema von Geist – Körper – Seele bzw. Gottvater – Jesus – heiliger Geist. Das ist zwar nur eine Analogie, aber wenn man so ein trinitarisches Schema aufmacht, wäre es gut darüber zu reflektieren, woher unsere Vorstellungen kommen.
Ich gehe mit der Unterscheidung mit, würde sie aber eher so bezeichnen: Anarchismus als politische Theorie, als soziale Bewegung und als ethische Lebensformen.
Das ist besonders wichtig, wenn wir hier über mein Theorie-Buch sprechen. Denn diese Theorie ist nicht losgelöst von Anarchismus als Bewegung oder Ethik zu verstehen, sondern ein klarer Teil davon. Das ist auch der Unterschied zur herkömmlichen Wissenschaft, welche nicht in der Lage ist, diese Aspekte zusammen zu denken. Meiner Ansicht nach werden politische Theorien aber nur relevant und radikal, wenn sie mit der Lebenswirklichkeit von Menschen und sozialen Bewegungen verbunden sind.
Damit noch vor den drei Aspekten muss ich auf die offene Diskussion eingehen, ob Anarchismus eine „moderne“ und primär „europäische“ Theorie wäre, oder eine mit weit längerer Geschichte, die ohnehin bzw. viel eher außer-europäisch ist. Das ist auch eine wichtige Debatte. Es scheint mir allerdings sehr wichtig zu sein, Menschen und Gruppen selbst zu überlassen, wie sie sich bezeichnen möchten. So kann man z.B. feststellen, dass die Gesellschaftsentwürfe in Chiapas oder in Rojava viel näher an anarchistische, als an andere Konzeptionen herankommen. Aber ob die Zapatistas oder Kurd*innen sich deshalb als „anarchistisch“ verstehen, sollen sie bitte selbst bestimmen. Ähnlich sieht es auch mit einer Rückprojektion auf die Vergangenheit aus – natürlich kann man sagen, dass Diogenes von Sinope, Epikur oder Laozi Grundsätze und Überlegungen hatten, die heutigen anarchistischen Ansichten sehr nahe kommen. Trotzdem wäre es ahistorisch daraus eine anarchistische Tradition durch die ganze Menschheitsgeschichte zu spinnen.
Ich persönlich beziehe mich vor allem auf den modernen europäischen Anarchismus als spezifisches Phänomen. Daraus speisen sich auch die von mir entfalteten Überlegungen zur politischen Theorie des Anarchismus, dem ersten Aspekt. Ich denke aber, dass daraus auch Schnittpunkte für außer-europäische oder vergangene Kontexte hergestellt werden können. Verwoben mit dem Aufkommen des Kapitalismus entstand der moderne Nationalstaat. Dieser stellt eine bestimmte Form von politischer Herrschaftsordnung dar, die es vorher nicht ab. Der moderne Staat regiert in viel mehr gesellschaftliche Bereiche hinein, hat ein eindeutiges Gewaltmonopol, zieht seine Grenzen viel schärfer und verwaltet seine Bevölkerung viel akribischer als jede andere politische Herrschaftsordnung zuvor.
Anarchismus ist vor dem Hintergrund der erschütternden Erfahrung der immensen und raschen Ausweitung von Kapitalismus und Nationalstaaten entstanden. Er wehrt sich gegen diese ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnisse, weil gerade eine moderne, global vernetzte und aufgeklärte Gesellschaftsform anders aufgebaut werden kann und sollte. In diesem Sinne treten Anarchist*innen für eine alternative Moderne ein.
Zum zweiten Punkt: Anders als Loick würde ich beim Anarchismus nicht von einer „politischen“, sondern von einer dezidiert „sozialen“ Bewegung sprechen. Der Unterschied mag haarspalterisch erscheinen, ist aber äußerst wichtig, wenn man sich das Politikverständnis im Anarchismus anschaut. Innerhalb sozialer Bewegungen versuchen Anarchist*innen auf verschiedene Weise die Gesellschaft zu verändern – ohne dazu an den Staat zu appellieren oder sich ihm zu bedienen. Prinzipiell kann es anarchistische Strömungen innerhalb von fast allen sozialen Bewegungen geben: Ni una menos, Black lives matter und auch die Klimagerechtigkeitsbewegung haben meiner Wahrnehmung nach starke anarchistische Tendenzen – ohne sich dessen selbst immer bewusst zu sein. Häufig werden solche Bewegungen von sozialdemokratischen Führungsfiguren zum politischen Betrieb hin vermittelt und auch angeführt – das ändert meiner Ansicht nach aber nichts daran, was in ihnen insgesamt geschieht.
Zum dritten Punkt, den Lebensformen: Anarchist*innen verstehen unter Emanzipation, dass diese mit uns und durch uns selbst geschehen muss. Deswegen ist es wesentlich, auch das eigene Leben zu ändern. Dies manifestiert sich auf individueller Ebene, ist aber eigentlich auch ein kollektiver Vorgang, der im besten Fall auf einer gemeinsamen Diskussion über eigene Werte und erstrebenswerte Lebensweisen beruht. Solche Diskussionen und Versuche „alternativ“ zu leben, hören auch nie auf. Sie sind ein anhaltender Prozess, weil unser Leben vielfältig und komplex ist. Die Frage, wie wir leben wollen, ist im Anarchismus wichtig, um die bestehende Gesellschaftsform zu kritisieren, aber ebenso aufzuzeigen, dass es möglich ist, anders miteinander zu leben, wenn wir die Rahmenbedingungen dafür verändern.
Zum Dort Tarnac habe ich keinen Bezug. Die Gruppe um „Das unsichtbare Komitee“ hat zwar auch anarchistische Elemente, diese Richtung ist aber auch nicht explizit anarchistisch. Insofern könnten hier sicherlich zahlreiche andere Kommuneprojekte aufgezählt werden, in denen anarchistische Lebensformen eingeübt werden. Meiner Wahrnehmung nach finden sich anarchistische Aspekte in zahlreichen „alternativen“ Lebensform, die grundsätzlich auf Gleichheit, Freiheit, Solidarität, Vielfalt und Selbstbestimmung beruhen. Eine wichtige Unterscheidung ist hierbei jene zwischen „Gegenkultur“ und „Subkultur“. Anarchistische Lebensformen müssen sich daran messen lassen, ob aus ihnen tatsächlich widerständiges Potenzial hervorgeht oder ob sie lediglich subkulturelle Rückzugsorte darstellen.
Zweitens: Manchmal auf Demos hört man als Parole noch „Bambule,Anarchia, Autonomia“. Dein Buch hat den Untertitel „Zum paradoxen Streben nach Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstorganisation“. Welchen Stellenwert kommt der Autonomie in der politischen Theorie des Anarchismus zu, und was verbirgt sich eigentlich hinter dem Wort?
Für mich persönlich ist der Begriff „Autonomie“ sehr wichtig geworden. Ich meine allerdings auch, dass er für anarchistische Bestrebungen überhaupt wesentlich ist.
Meinem Verständnis nach bezeichnet Autonomie vor allem ein Organisationsprinzip. Eine Gruppe – egal auf welcher Ebene und zu welcher Größe – gibt sich ihre eigenen Regeln. Diese Regeln können immer wieder in Frage gestellt, angepasst und auf bestimmte Situationen hin ausgelegt und für konkrete Menschen angewandt werden. Damit ist die autonome Selbstorganisation etwas grundlegend anderes als die staatliche Gesetzgebung.
Sich selbst Regeln geben – sich autonom organisieren – das ist heute eine scheinbar sehr ferne Vorstellung. Andererseits hat ein großer Teil der Menschen seit je her nach diesem Prinzip gelebt und ist es deswegen auch so unspektakulär und naheliegend, für Autonomie einzutreten.
Autonomie als Organisationsprinzip ist mit Dezentralität, Föderalismus, Freiwilligkeit und Horizontalität verknüpft. Man kann sich anarchistischer Vorstellung nach keine eigenen Regeln geben, wenn das nicht die umgebenden Gemeinschaften ebenso tun. Diese sind dezentral verstreut, finden freiwillig zueinander, schließen sich dann aber auch föderalistisch und horizontal – auf Augenhöhe – zusammen. Ich finde, das ist ziemlich naheliegend.
Autonomie steht außerdem in Wechselwirkung mit Selbstbestimmung als ethischem Wert und Selbstorganisation als theoretischem Konzept. Wenn Gruppen sich ihre eigenen Regel geben, bedeutet dies, dass alle ihre Mitglieder in ihrer Unterschiedlichkeit wirklich gehört werden und Teil der Regelfindung und -anwendung sind. Dies geht aber nur, wenn sie lernen, sich selbst zu bestimmen – und ihnen das ermöglicht wird. Mit dem Konzept der Selbstorganisation wird aufgezeigt und thematisiert, wie Autonomie gedacht werden kann – und warum dies auch ein Organisationsprinzip für die Gesellschaft insgesamt sein kann (Cornelius Castoriadis hatte dies z.B. thematisiert).
Insofern hat Autonomie durchaus auch etwas mit individueller Selbstbestimmung zu tun – aber ich verwende den Begriff nicht in diesem entwicklungspsychologischen Sinne. Autonomie hat auch etwas damit zu tun, dass sich Regionen – wie Nordirland, das Baskenland, Katalonien, Rojava – usw. selbst organisieren – aber dies sollen sie dann auf eine Weise, die Staatlichkeit untergräbt, statt lediglich einen separatistischen Regionalstaat anzustreben.
Meiner Ansicht nach ist das Streben nach Autonomie schließlich auch ein entscheidendes Element, dass die verschiedenen anarchistischen Strömungen – oder „Tendenzen“, wie ich sie genannt habe – miteinander verbindet. Ich denke, Anarchist*innen sind sich einig darin, dass es möglich ist, in-gegen-und-jenseits der bestehenden Herrschaftsordnung nach Autonomie zu streben.
Dies ist nicht nur in einem räumlichen Sinne zu verstehen. Es betrifft die Weise, wie wir über soziale Bewegungen nachdenken und sie konzipieren. Ich wünsche mir, dass emanzipatorische soziale Bewegungen ein selbstbewusster, gut organisierter, handelnder Faktor werden – anstatt das Vorfeld von Parteien zu bilden von NGOs durchsetzt zu sein oder von K-Gruppen instrumentalisiert oder von einem „Bewegungsmanagement“ gesteuert zu werden. Hierbei spielt der Begriff der „Autonomie“ eine wichtige Rolle.
Drittens: Bei deiner Buchpräsentation in Köln hattest du angeführt,dass die meisten Linken beim Thema Anarchismus ein paar Namen einfallen, aber eigentlich kein wirklich tieferes Wissen um Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Ansichten dieser Personen habe. Das trifft auch auf mich zu, Stirner, Proudhon, Bakunin, Kropotkin, Emma Goldmann, David Graber wären so spontan Namen die mir einfallen würden. Aber welche Hauptströmungen gibt es im Anarchismus, wo sind ihre zentralen Unterschiede und welche Namen werden meisten mit Ihnen verbunden, und welche Namen fehlen vielleicht häufig in der Rezeption.
Es ist erst mal völlig in Ordnung, wenn Menschen in der linken Szene in der BRD und darüber hinaus vermutlich wenige Namen von Anarchist*innen kennen. Denn auch wenn mich das Thema nun mal sehr interessiert, handelt es sich dennoch um ein Spartengebiet. Wenn man mich fragt, welche bedeutenden Flinta-Personen ich kenne, die Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen oder auch Aktivistinnen waren, fallen mir auch nur wenige ein. D.h. mir ist es wichtig, überhaupt ein Verständnis für Geschichte und die eigene Tradition zu haben – und damit muss ich mich auch selbst weiter beschäftigen. Gerade was den Anarchismus angeht, leben wir in Deutschland meiner Wahrnehmung nach im ziemlich komischen Zwiespalt, dass er einerseits als eine bauchgefühlte, ewige Jugendbewegung und andererseits eine historisch verklärte Folklore verstanden wird. Wenn ich von historischem Bewusstsein spreche, meine ich damit nicht allein die Kenntnis von der Vergangenheit, sondern will darauf hinaus, wofür diese dient: nämlich dazu, ein autonomer, handelnder Faktor in-gegen-jenseits den Bedingungen unserer Zeit werden zu können. Allgemein – abgesehen von einige wenigen Fällen 😉 – bin ich nicht so auf Personen fixiert. Dennoch würde ich mir wünschen, dass Menschen in linken Szenen mehr verstehen, dass viele ihrer Vorstellungen und Praktiken auch stark von Anarchist*innen geprägt wurden.
Was die Strömungen angeht, ist es Teil der politisch Theorie und Ideengeschichte, diese zu klassifizieren. Das geschieht in verschiedenen Varianten aufeinander aufbauend immer wieder. So hat Paul Eltzbacher im Jahr 1900 eine erste Dissertation dazu veröffentlicht. Man kann meiner Ansicht nach Strömungen dann als solche benennen: a) Wenn sie länger als zweidrei Jahrzehnte bestehen, b) Wenn sie eine (weiterbestehende) Bezeichnung erhalten – als Eigenbeschreibung oder Fremdzuschreibung, c) Wenn es Gruppen gibt, welche sich in ihr verorten, d) Wenn es eigene Begriffe bzw. eine Diskussion von wichtigen Begriffen gibt, e) Wenn es Publikationen gibt, welche aus diesen Strömungen hervorgehen und schließlich f) Wenn bestimmte Praktiken, Strategien und Organisationsformen propagiert werden.
In dieser Hinsicht würde ich sagen, dass manche schematischen Unterscheidungen Sinn ergeben und sich meiner Erfahrung nach auch mit Ausprägungen in anarchistischen Kreisen decken. So hat es bestimmte Gründe, dass z.B. Peter Kropotkin, Max Stirner, Émile Pouget oder Gustav Landauer selbst im 21. Jahrhundert noch manchmal gelesen werden. Denn sie haben Grundgedanken aus umfangreicheren Debatten aufgeschrieben, welche noch heute Inspiration geben können.
Ich selbst unterscheide in meiner Arbeit anarchistische Tendenzen anhand ihrer Vorstellungen davon, was sie jeweils der verstaatlichten Politik entgegensetzen. Aus diesen anti-politischen Bezugspunkten geht hervor, wie sie sich organisieren und strategisch ausrichten. Das sind: Anarchistischer Mutualismus, Individualismus, Kommunismus, Insurrektionalismus, Syndikalismus und Kommunitarismus.
In der Realität gibt es Personen, Gruppen, aber auch Ansätze, welche diese jeweiligen Tendenzen ganz klar vertreten. In der Regel vermischen diese sich aber in anarchistischen Kreisen. Im schlechten Fall wird daraus eine kauzige Abgrenzung um ihrer Selbst willen. Im besten Fall inspirieren und ergänzen sie sich gegenseitig. Deswegen stehe ich selbst für eine „anarchistische Synthese“ ein, mit welcher den einzelnen Tendenzen ihre Berechtigung und Stärken zukommen, sie aber dennoch auf gemeinsame anarchistische Ziele hin verbunden werden sollen.
Aber du hast mich gefragt, welche Namen häufig in der Rezeption fehlen. Das kann ich so pauschal leider nicht beantworten, sondern nur darauf hinweisen, dass es in diesem Zusammenhang noch viel zu entdecken gilt. Um ein paar Beispiele zu nennen, muss man hierbei vielleicht in verschiedene Richtungen denken.
Vor Kurzem habe ich beispielsweise das Buch „Die präventive Konterrevolution“ von Luigi Fabbri gelesen. Das Buch handelt vom Aufstieg des genuinen Faschismus in Italien, ist 1921 erschienen und zeigt sehr plausibel auf, warum der Faschismus als konterrevolutionärer Phänomen zu begreifen ist. – Dies wäre also ein Bezugspunkt zu einem Autoren vor 100 Jahren.
Vor einer Weile habe ich den Text „Ethik und Revolution“ des polnischen Anarchisten und Psychoanalytikers Edward Abramowksi übersetzt und auf meinem Blog gepostet. In dieser Schrift von 1899 geht es ihm um die Entfaltung einer sozialistischen Ethik, welche die Voraussetzung dafür ist, den kapitalistischen Staat und seine Polizeiordnung erst überwinden zu können – weil wir andere Werte, eine praktizierte Ethik brauchen, um uns anders organisieren zu können.
Wenn wir etwas zeitgenössischer schauen, gibt es beispielsweise Omar Aziz – mit dem Kampfnamen Abu Kamel – welcher im syrischen Bürgerkrieg ab 2011 anarchistische Organisationsvorstellungen verbreitete. Ich habe noch nichts von ihm gelesen, aber das würde sich sicherlich lohnen.
Ein Buch, bei welchem ich bisher auch über das Vorwort nicht hinaus gekommen bin heißt „Mutualism“ und ist 2021 erschienen. Die Autorin Sara Horowitz ist Gewerkschaftsaktivistin und formuliert darin, einen dezidiert mutualistischen Ansatz neu bzw. zeigt auf, wie dieser ohnehin schon praktiziert wurde und wird. Das scheint mir wichtig zu sein, weil auch in linker Szene in der BRD viele Ansätze faktisch der mutualistischen Strategie entsprechen, ohne, dass es dafür ein Bewusstsein gibt.
Viertens: Eine der gängisten Vorurteile gegenüber Anarchist.innen,die mir im Laufe meines politischen Aktivismus begegnet ist, besagt, die Anarchistinnen wollen es sich doch nur in ihrer kleinen Nische nett machen, aber einen Plan zur Änderung oder genauer der Revolution des Gesellschaft haben, die doch gar nicht. In deinem Buch untersuchst du die Idee der „sozialen Revolution“ als Transformationstrategie im Anarchismus? Was versteht nun der Anarchismus eigentlich unter sozialer Revolution.
Wenn man kritisiert, dass Anarchist*innen sich in Nischen zurückziehen und darin um sich selbst kreisen würden, sollte man zumindest ernst nehmen, dass dem ein bestimmter Transformationsansatz vorausgeht: Eine Ausprägung des Strebens nach Autonomie – wie ich es oben schon beschrieben habe – ist das, was der Soziologie Eric Olin Wright als „Freiraumstrategie“ bezeichnet hat. Wright hat ein kluges Buch mit dem Titel „Reale Utopien“ geschrieben, in welchem er sozialistische Gesellschaftstransformation neu denken möchte. Es ist etwas schematisch und auch sonst teile ich einige seiner Grundannahmen und Schlussfolgerungen nicht. Aber zumindest nimmt er den Anarchismus als eine der drei Hauptströmungen im Sozialismus ernst – und versteht seine Strategien auch richtig.
Anarchist*innen lehnen verstaatlichte Politik ab – und damit ihre Formen, Institutionen und Logiken – um Parallelstrukturen zu schaffen. Sie argumentieren, dass erstrebenswerte gesellschaftliche Verhältnisse parallel zu den dominanten Herrschaftsverhältnissen bereits vorhanden sind. Dies ist eine theoretische Grundannahme, die man teilen kann oder nicht. Ich teile sie, weil mein Verständnis von Materialismus darin besteht, dass alles, was wir brauchen, bereits da ist und die Frage nur ist, wie wir die Dinge anordnen können. Diesem Verständnis nach gibt es also an ganz vielen verschiedenen Orten Ansatzpunkte, in denen die Strukturen und Logiken der bestehenden Herrschaftsordnung unterlaufen werden. Man kann sogar argumentieren, dass Kapitalismus und Staat an den ihnen innewohnenden totalitären Ansprüchen zugrunde gehen würden, wenn sie nicht Bereiche ausbeuten und beherrschen könnten, welche sich ihnen gerade entziehen. Häufig werden solche „Parallelstrukturen“ in den sogenannten „westlichen“ Gesellschaften dabei vor allem in linken Subkulturen verortet. Wenn Anarchist*innen das selbst tun, begehen sie den Fehler, sich in diese Szene abdrängen zu lassen und missverstehen ihre Praktiken als Selbstzweck. Damit kommt man zum Vorwurf, sie würden sich nur in ihren kleinen Nischen einrichten wollen – an welchem leider wirklich etwas dran ist.
Andererseits untergraben die damit verbundenen Probleme meiner Ansicht nach keineswegs das Anliegen dieses Ansatzes, den ich als „mutualistische Selbstorganisation“ bezeichnen würde. Neben diesem benenne ich dann noch die Strategien von „Revolte & Subversion“, der „autonomen Bewegung“ und von „sozialer Revolution“. Die anarchistische Transformationsansätze sind von linksliberalen, parteikommunistischen und sozialdemokratischen Ansätze zu unterscheiden. Auf diese Weise wird ein Verständnis davon möglich, was der Anarchismus selbst ist; was ihn besonders macht.
Über „mutualistische Selbstorganisation“ habe ich im Zusammenhang mit der Freiraumstrategie oben bereits gesprochen. Über den Ansatz der „autonomen Bewegung“ habe ich schon einiges bei der Frage nach der Autonomie gesagt. Wichtig ist mir hierbei, dass ich es nicht für zielführend halte, eine „anarchistische Bewegung“ aufzubauen, sondern anarchistische Strömungen innerhalb anderer sozialer Bewegungen bewusst werden zu lassen. „Revolte & Subversion“ sind auch sehr spannend – denn wie lässt sich ernsthaft eine strategische Konfrontation mit der Staatmacht denken, wenn man diese nicht mit der politische Revolution übernehmen möchte? – Doch dazu vielleicht an anderer Stelle mehr.
Das Konzept der „sozialen Revolution“ verbindet diese drei anderen Ansätze meiner Ansicht nach. Damit ist es nicht besser als die anderen. In ihm wird aber stärker danach gefragt, wie sich die Gesellschaftsform insgesamt verändern lässt. Damit ist es insbesondere dem kommunistischen Anarchismus verbunden. Wichtig hierbei ist, dass verschiedene Herrschaftsverhältnisse miteinander angegriffen und überwunden werden sollen. Aus diesem Grund sind die Themen Ökologie und Feminismus bei den Mobilisierungen in den letzten Jahren z.B. in Chile, Iran so wichtig. Mit diesem Ansatz wird außerdem die Selbstermächtigung und Selbstorganisation von sozialen Bewegungen betont, statt ihrer avantgardistischen Anführung. Mit sozialer Revolution wird außerdem darauf abgezielt, die Frage nach der Eigentumsform und -verteilung ernsthaft anzugehen. Denn wie man es dreht und wendet: Ohne Vergesellschaftung des Reichtums und die Schaffung von Gemeineigentum, ist „Revolution“ wirklich nur eine leere Phrase.
Meiner Ansicht nach ist es sinnvoll, über diese Ansätze nachzudenken, um sich bewusst zu machen, welche Strategien verschiedene Akteure ohnehin schon verfolgen. Erst das gemeinsame Nachdenken und Diskutieren darüber ermöglicht es Menschen in sozialen Bewegungen, sich autonom zu organisieren, anstatt einem Führungsgremium hinterher zu laufen. Das heißt, auch wenn sicherlich niemand daran glaubt, dass in der BRD die soziale Revolution nächstes Jahr bevorsteht, bewirkt das Nachdenken über Transformationsstrategien Unterschiede, worauf hin wir uns orientieren, wie wir uns organisieren und was wir kommunizieren. Erst damit lässt sich eine gemeinsame Vision entwickeln, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich anders werden können. Und das ist ein wesentlicher Unterschied zum eigentlich sozialdemokratischen Fatalismus, welchem in diesem Zusammenhang etwa auch Bini Adamczak anhängt, wenn sie schreibt, „wir leben in nicht-revolutionären Zeiten“ oder Intellektuelle müssten lediglich die „Idee der Revolution“ „aufbewahren“.
Fragen und Antworten - Paradox-A was published on 2024-11-20