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date: 2024-11-03T16:52 tags: [date/2024/11/03, gemnews]

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created: 2024-11-03T17:46:18 (UTC +01:00) tags: [] source:

https://www.woz.ch/2444/kriegsdienstverweigerung-in-israel/gefaehrlicher-als-jeder-gegner-von-aussen/!NP2Y8RJSRMD2

author: Von Felix Wellisch (Text und Foto), Tel Aviv

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Kriegsdienstverweigerung in Israel: Gefährlicher als jeder Gegner von aussen | WOZ Die Wochenzeitung

## Excerpt
Nach einem Jahr Krieg hat die israelische Armee ein Problem: Soldat:innen, die nicht mehr wissen, wofür sie kämpfen.

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Nr. 44 – 31. Oktober 2024

Nach einem Jahr Krieg hat die israelische Armee ein Problem: Soldat:innen, die nicht mehr wissen, wofür sie kämpfen.

Foto des Kriegsdienstverweigerers Max Kresch [IMG]

«Mein Glauben daran, dass die Regierung dieses Land zu einem besseren Ort machen will, ist zerbrochen»: Max Kresch verweigert den Dienst in der israelischen Armee.

Max Kresch will nicht mehr kämpfen. Mitte Oktober steht der drahtige 28-Jährige auf dem Vorplatz des Tel Aviver Kunstmuseums. Statt Uniform trägt er Jeans und T-Shirt, am Kragen steckt eine gelbe Schleife: das Symbol für die Solidarität mit den von der Hamas entführten Geiseln. «Für dieses Land und diese Regierung bin ich nicht mehr bereit, mein Leben zu opfern», sagt er.

Zusammen mit ihm haben 129 weitere Reservist:innen und Wehrdienstleistende Anfang Oktober einen offenen Brief unterzeichnet. Sie kündigen darin an, so lange nicht mehr zum Dienst erscheinen zu wollen, bis ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln und zur Beendigung des Krieges geschlossen werde.

Seitdem hört Kreschs Telefon kaum mehr auf zu klingeln. Dass 130 Soldat:innen ihren Dienst verweigern, während die Kämpfe gegen die Hisbollah im Libanon immer mehr an Fahrt aufnehmen und ein Krieg mit dem Iran jederzeit beginnen könnte, sorgt für Aufsehen.

Das Versagen beim Zurückholen der Geiseln sei nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, sagt Kresch. Die Unterzeichner:innen seien teils zermürbt von ihren Erlebnissen im Krieg, geschockt von der politischen Stimmung in ihren Einheiten oder desillusioniert wegen des unklaren Ziels dieses Krieges. «Wir, die wir mit Hingabe gedient und dabei unser Leben riskiert haben, geben hiermit bekannt, dass wir unseren Dienst nicht fortsetzen können», schreiben sie.

Kein typischer Friedensaktivist

Für die Armee kommt der Brief zur Unzeit. Sie ist auf Reservist:innen angewiesen. 220 000 wurden nach dem 7. Oktober mobilisiert. Politische Debatten über die Armee sind im extrem militarisierten Land sensibel. Wer in den Monaten nach dem Überfall der Hamas mit Israelis egal welcher politischen Ausrichtung sprach, bekam oft zu hören: «Die Armee wird das Richtige tun.» Doch genau daran zweifeln die 130 Verweiger:innen nun. Und viele weitere dürften über ein Desertieren nachdenken. Nach einem Jahr Krieg verweigerten manche Reservist:innen im Stillen schon aus reiner Erschöpfung den Dienst, teilt die Organisation Mesarvot mit, die Verweiger:innen unterstützt. Im Brief der 130 heisst es: «Für manche von uns ist die rote Linie bereits überschritten, für andere rückt sie näher.»

Kresch ist kein typischer linker Friedensaktivist: Der 28-Jährige wuchs in den USA in einer religiös-zionistischen Gemeinde auf. Mit 18 Jahren zog er aus Überzeugung nach Israel, seine Eltern und Geschwister folgten. Er leistete seinen Wehrdienst in der Spezialeinheit Egoz und verpasste seither keinen einzigen Reservedienst. «Aber nach dem 7. Oktober ist mein Glauben daran zerbrochen, dass die Regierung dieses Land zu einem besseren Ort machen will.»

Nach dem Überfall der Hamas wurde Kreschs Einheit an die libanesische Grenze geschickt. Als dort die befürchtete Invasion der Hisbollah ausblieb und wieder Zeit für Gespräche war, hätten ihn die radikalen Ansichten seiner Kamerad:innen schockiert. «Manche sagten, es sei nach dem Hamas-Massaker eine religiöse Pflicht, palästinensische Kinder zu töten, weil sie zu Terroristen heranwachsen würden», erinnert sich Kresch. Auch die Tatsache, dass kaum jemand widersprach, habe ihn desillusioniert. Am 12. Oktober schrieb er auf Facebook: «Die Extremisten sagen, Gaza müsse plattgemacht werden.» Er halte am Frieden fest. «Jetzt ist die Zeit, palästinensische und arabische Freunde zu unterstützen.» Einer von Kreschs Kameraden sah den Text und zeigte ihn in der Einheit herum. Am Ende wurde Kresch versetzt. «Einer aus meinem Zug hat mir gesagt, er wisse nicht mehr, ob er sich auf mich verlassen könne.»

Erlebnisse in Gaza

Wohin die Radikalisierung innerhalb der Armee führt, weiss Yuval Green zu berichten. Der 26-jährige Medizinstudent und Reservesoldat meldete sich am 7. Oktober zu seiner Einheit. Nach etwa zwei Monaten Training rückten sie in die Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens vor. Doch die Zweifel wuchsen schnell. «Wir haben zu viel Zerstörung hinterlassen.»

Als Green Ende Dezember im Armeeradio hörte, die israelische Regierung zögere ein neues Abkommen zur Freilassung der Geiseln hinaus, war seine rote Linie überschritten. Trotzdem blieb er – als einziger Mediziner in seinem Zug wollte er seine Freunde und Kameraden nicht zurücklassen. Er berichtet von rassistischen Ansprachen eines offen religiös-nationalistischen Kommandanten. Von Schüssen ohne militärischen Hintergrund. Von Soldat:innen, die sich durch den Besitz palästinensischer Familien wühlen. «Unter ihnen hat sich ein Wettkampf entwickelt, wer die schönsten muslimischen Gebetsketten findet.»

Der 26-Jährige ist einer der Ersten, die öffentlich über diese Dinge sprechen. Doch fast alles, was er berichtet, lässt sich seit Monaten online verfolgen. Bereits kurz nach Kriegsbeginn häuften sich Fotos und Videos. In einem schiesst ein Soldat, ohne zu zielen, das ganze Magazin eines Maschinengewehrs auf ein Haus. Viele Fotos zeigen Soldaten mit Symbolen der religiös-nationalistischen Siedlerbewegung, die eine Vertreibung aller Palästinenser:innen und die jüdische Besiedlung von Gaza fordert. Israelische Medien, darunter die Zeitung «Haaretz» und das Onlinemagazin «+972», erheben noch schwerere Vorwürfe. Zivilist:innen seien systematisch erschossen worden, weil sie bestimmte Gebiete betreten hätten. Ein Soldat wird mit den Worten zitiert: «Das Gefühl der Bedrohung» reiche als Begründung, das Feuer zu eröffnen. «Es ist erlaubt, jeden zu erschiessen, ein junges Mädchen, eine alte Frau.»

Die Armee hat anerkannt, dass es in Gaza Plünderungen gibt – und Untersuchungen angekündigt. Green sagt: «Ich glaube, dass die oberen Ränge der Armee das unterbinden wollen, aber sie haben schlicht nicht die Macht dazu.» Zu einer ähnlichen Einschätzung kam der Militärsoziologe Yagil Levy schon Anfang des Jahres. In «Haaretz» schrieb er von einem «Zusammenbruch der Armeehierarchie». Die Militärführung würde «die Rufe nach Rache, die Verstösse gegen die Disziplin und die missbilligende Haltung gegenüber den Schiessvorschriften» mitbekommen, aber fast nichts unternehmen. Green sagt, die Soldaten wüssten, dass kaum je Konsequenzen drohten. Die Armeeführung erkläre alles, was in Gaza geschehe, mit militärischer Notwendigkeit. Für internationale Journalist:innen hat Israel das Kriegsgebiet bereits seit Beginn der Invasion abgeriegelt.

Auf eine Weise könne er die Taten seiner Kameraden verstehen, sagt Green. «Viele haben am 7. Oktober geliebte Menschen verloren. Doch ich würde mir wünschen, dass sie trotz ihrer Wut und ihres Schmerzes auch die andere Seite sähen. Auch unter den Palästinensern hat fast jeder geliebte Menschen durch die israelische Armee verloren.» Green zögert, bevor er den nächsten Gedanken ausspricht. «Israels Rechte liegen gar nicht falsch, wenn sie sagen, dass es in Gaza keine unbeteiligten Zivilisten gibt, bloss trifft das auf Israel genauso zu. Wenn Palästinenser, die mit der Hamas sympathisieren, nicht unbeteiligt sind, wieso sollten dann Politiker der israelischen Regierungsparteien, die in der Knesset von Vertreibung und Auslöschung sprechen, oder jene, die sie wählen, unbeteiligt sein?» Beide Seiten seien schon so lange und so tief in einen blutigen Konflikt verstrickt, dass kaum jemand daran unbeteiligt sein könne. «Ich will durch mein Handeln zeigen, dass ich unsere Extremisten nicht unterstütze, als ausgestreckte Hand für jene Palästinenser, die die Gewalt der Hamas nicht unterstützen.»

Ein anderes Israel

Im Januar widersetzte sich Green dem Befehl, ein Wohnhaus anzuzünden, das seine Truppe als Basis genutzt hatte. Sein Befehlshaber habe argumentiert, die Einheit dürfe keine Spuren hinterlassen. Greens Angebot, alle militärischen Hinterlassenschaften zu beseitigen, wurde abgelehnt. Als das Gebäude schliesslich angezündet wurde, stieg Green auf einen Nachschublaster und verliess den Gazastreifen. Nun vernetzen er und Kresch weitere Deserteur:innen, um politischen Druck aufzubauen. Die Hürden sind hoch: Für Verweigerung drohen den Betreffenden Gefängnisstrafen. Noch schwerer wiegt für viele der innere Bruch, wenn sie sich entschliessen, nicht mehr zu gehen, wenn die Armee ruft.

Andererseits hat dieses Mittel in Israel eine lange Geschichte, die bis vor die Staatsgründung 1948 zurückreicht. Nach dem Sechstagekrieg 1967 stieg die Zahl derer, die nicht aus Pazifismus verweigerten, sondern um gegen die Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens zu protestieren. Bedeutend wurde die Verweigerung als politisches Mittel im Rahmen grosser Proteste gegen den Ersten Libanonkrieg 1982.

Doch Greens und Kreschs Gruppe trifft heute auf ein anderes Israel. Zum einen steht anders als 1982 der Grossteil der jüdischen Israelis hinter dem Krieg gegen die Hisbollah und laut einer Umfrage von Anfang Oktober knapp die Hälfte hinter einer Fortsetzung des Gazakriegs. Zum anderen ist die israelische Gesellschaft seitdem stark nach rechts gerückt.

Die Radikalisierung geht auch an der Armee nicht vorbei. Die national-religiöse Bewegung hat sie als politisch relevante Institution ausgemacht: Vierzig Prozent der Offiziersanwärter:innen der Infanterie kommen heute aus ihren Kreisen – weit mehr, als es ihrem Anteil in der Gesellschaft entspricht. Die Bewegung sieht in der jüdischen Besiedlung des Landes eine göttliche Pflicht. Spätestens seit der von der Regierung durchgesetzten Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen im Jahr 2005 setzen ihre Anhänger:innen alles daran, Einfluss auf säkulare Institutionen zu gewinnen. Bei der Polizei ist das bereits deutlich spürbar, vor allem seit der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben-Gvir zahlreiche Führungspositionen neu besetzen konnte. Bei der Armee läuft der Prozess subtiler. Heute werden an rund zwei Dutzend religiösen Militärakademien in Israel junge Männer aus religiösen Familien auf die Armee vorbereitet.

Der rechte Nachwuchs werde über die Jahre kontinuierlich mehr Positionen einnehmen, sagt der Sicherheitsexperte Andreas Krieg vom Londoner King’s College. Krieg pflegt gute Kontakte zu hochrangigen Armeekreisen in Israel. Er beschreibt die Militärführung als noch immer vorwiegend liberale und säkulare Elite. Sie sei aber einerseits mit der gesamten Gesellschaft so sehr nach rechts gerückt, dass viele ihrer Positionen heute denen der Rechten vor zwanzig Jahren entsprächen. Andererseits komme sie nun von zwei Seiten unter Druck: von der zunehmend extremistischen politischen Führung ebenso wie von immer grösseren Truppenteilen. Laut Krieg kritisieren manche Offiziere, dass religiös-zionistische Ideen inzwischen das Verhalten der Soldat:innen und Kommandant:innen am Boden beeinflussen würden. Ihre Rhetorik trage zur Entmenschlichung von Palästinenser:innen und zur Geringschätzung des Völkerrechts bei, sagt Krieg.

Druckversuche des Militärs

«All das ist nicht neu», sagt Max Kresch auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv und erzählt von einem Einsatz vor zweieinhalb Jahren, als seine Einheit festgenommene Palästinenser aus Ramallah im besetzten Westjordanland abholte. «Wir wussten nicht, was sie getan hatten.» Als Kresch einen der Gefangenen im Transporter umsetzte, weil ihm Wasser aus der Klimaanlage auf den Kopf tropfte, fragte ihn einer der anderen Soldaten verwundert, warum er «dieses Tier» so menschlich behandle. «Er wurde richtig wütend.»

Eine Woche nach der Veröffentlichung des Briefs ruft das Militär Kresch an. «Sie fragten mich, ob ich meine Entscheidung zurücknehmen wolle, andernfalls könne dies Konsequenzen haben.» Manche Deserteure verunsicherten die Druckversuche, sagt er. Andere legten einfach den Hörer auf. Ihr Brief sei aber auch auf viel Verständnis gestossen, selbst von Menschen, die ihre Entscheidung kritisierten. Ihn ermutige das. «Nicht nur wir haben das Gefühl, dass mit der Ablehnung eines Waffenstillstands ein Versprechen zwischen der Regierung und den Menschen zerbrochen ist.» Er habe dem Anrufer von der Armee gesagt, «dass sie uns ernst nehmen müssen». Denn gefährlicher als jeder Gegner von aussen seien Soldat:innen, die nicht mehr wüssten, wofür sie kämpften.

Kriegsdienstverweigerung in Israel: Gefährlicher als jeder Gegner von aussen | WOZ Die Wochenzeitung was published on 2024-11-03