2022-08-12 Regelleichtigkeit und Orientierungslosikeit

Nach dem Frühstück, nach dem Kaffee, von draussen Strassenlärm, von der Wohnung oben Putzlärm (ziehen die aus?) und in der Küche singt Fairuz über Beirut

Auf Mastodon sinnierte @thopan gestern über „Regelleichtigkeit und ein Mindestmaß an Regeln zur Orientierung“ und fragte dann:

@thopan

Welche Spiele fallen euch ein, die wenige Regeln haben, mit denen aber viele Settings gespielt werden könnten?

Zuerst einmal fallen mir all die Spiele ein, die mir etwas zu simpel sind. Das sind Spiele, die auf wenigen Seiten alles erklären, und dann ist man bereit für ein Abenteuer oder zwei. Oder auch mehr? Fünf? Zehn? Irgendwie reizen mich diese Spiele dann eben doch nicht so lange, wobei ich zugeben muss, dass ich es nicht probiert habe, diese Spiele bis zur Demotivation zu spielen. Nein, ich habe One-Shots mit ihnen geleitet, und die waren OK, und dann hatte ich nicht ein grosses Bedürfnis, einen Folgeabend auszuschreiben. Aber wer weiss, dass kann natürlich auch an meiner Einstellung liegen. Wer mit der Erwartung eines One-Shots reingeht, kommt mit einem One-Shot wieder raus. Eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Die Spiele, die mir sehr gefallen, aber etwas zu simpel sind:

World of Dungeons (3 Seiten) gehört zur Familie der Powered by the Apocalypse Spiele: man würfelt 2W6. 2–6 ist ein Fehlschlag, 7–9 ist ein Teilerfolg, 10–12 ist ein voller Erfolg. Die Spielleitung würfelt nicht: greifen die Spielfiguren an, nehmen sie bei 2–9 automatisch Schaden. Werden die Spielfiguren angegriffen, nehmen sie automatisch Schaden, wenn sie nichts unternehmen, um dies zu verhindern.

World of Dungeons

Lasers & Gefühle (1 Seite) und Varianten wie Hexer und Haudegen (5 Seiten) basierend jeweils auf zwei Eigenschaften und einem Attribut zwischen zwei und fünf, der diese gewichtet. Wird das Orakel der Würfel benötigt, würfelt man 1W6. Je nachdem ob man unter oder über dem Attribut gewürfelt hat, gewinnt die eine oder die andere Eigenschaft.

Lasers & Gefühle

Hexer und Haudegen

PDQ Core (12 Seiten) basiert auf Eigenschaften, welche man zu 2W6 Würfeln hinzuzählt. Das Resultat entspricht dann einer Qualität, die man aus einer Tabelle abliest, beispielsweise „Klettern +4 heisst, dass du ein ausgezeichneter Kletterer bist“ und „Schwierigkeit 11 heisst, dass du ein ausgezeichneter Kletterer sein musst, um diese Wand zu erklimmen.“ (Wobei 10 eben der Durschnitt von 2W6 = 7 plus 4 für „ausgezeichnet“ ist.) Schaden nehmen heisst, dass die Eigenschaften reduziert werden.

PDQ Core

Risus (4 Seiten) basiert auf Eigenschaften, welche angeben, wieviele Würfel man bei einer Probe würfelt. Es gibt Vorschläge für Schwierigkeitsgrade („10: Eine Herausforderung für Profis.“) und nimmt man bei Kämpfen Schaden, reduziert man eine Eigenschaft um eins.

Risus

Märchen Fudge (2 Seiten) ist meine eigene Interpretation dieser Sorte von Spielen, inspiriert von PDQ, Risus, Zorzerer of Zo, und Fate, die ich aber nicht spiele. Alles wie gehabt: Eigenschaften, Proben (in diesem Fall mit Fudge-Würfeln), Reduktion der Eigenschaften wenn man „verliert“, und so weiter.

Märchen Fudge

Für einfache Fate Varianten wie mein Der Geist Mesopotamiens (5 Seiten) gilt ebenso: Die Mechanik ist schnell erklärt, eine interessante Welt gehört nicht zum Lieferumfang, die Risiken für die eigene Spielfigur sind begrenzt – und es braucht noch einiges an Aufwand, um die Sache spannend zu machen.

Der Geist Mesopotamiens

Vielleicht ist mein Hauptproblem bei diesen Spielen, dass ich keine Angst vor schlimmen Konsequenzen habe. Das System ist simpel, die Regeln zur Erholung auch, eine Welt wird nicht mitgeliefert, was alles den Eindruck fördert, dass es hier nichts zu erforschen und zu entdecken gibt. Das stimmt natürlich nicht wirklich, denn man könnte dieses alles selber nachliefern. Bloss: Was ist die richtige Länge an Weltbeschreibung? Malmsturm für Fate Core, 400 Seiten? Masters of Umdaar für Fate Core, 100 Seiten? Viel weniger? Viel mehr?

Was für mich besser funktioniert, sind Spiele, wo die Mechanik der Regeln irgendwie „erforscht“ werden, sei es die Regeln zur Spielfigurenerstellung oder die Regeln zur Welterstellung.

Bei The Shadow of Yesterday (112 Seiten), Solar System (84 Seiten) und meiner Variante Solar Fantasy (16 Seiten), welche ich für den Nachfolger einer D&D 3.5 Kampagne entwickelt habe (Kurzfassung der Regeln, 11 Seiten), hat es viel mehr Fertigkeiten, manchmal auch magische Fertigkeiten, und das kann man ein wenig erforschen. Was heisst Sturmmagie genau? Man liest die paar Sätze, beginnt mit der Tagträumerei und wünscht sich, eine Spielfigur zu spielen, welche diese Fertigkeit hat. Auch hat es unterschiedliche Pfade, welche man wählt, um Erfahrungspunkte zu generieren. In diesem Sinne ist man im klassischen D&D immer auf dem Pfad des Goldes (geborgene Schätze geben Erfahrungspunkte) und im modernen D&D ist man auf dem Pfad des Krieges (erschlagene Gegner geben Erfahrungspunkte) – und jetzt gibt es noch viel mehr Pfade, die es zu erforschen gibt.

The Shadow of Yesterday

Solar System

Solar Fantasy

Kurzfassung der Regeln

Bei Lady Blackbird (10 Seiten) kommt hinzu, dass es eine klare Situation am Anfang gibt, mit vorgenerierten Charaktere, die auch Zwischenmenschlich aufeinander ausgerichtet sind, und ein kleines Setting, welches man erkunden kann, ein paar Abenteuerideen… man kann alles in ein oder zwei Spielabenden durchspielen, oder sich mehr Zeit geben und sich von all diesen Ideen zu weiteren Abenteuern inspirieren lassen. Fantastischerweise passen die Regeln mit auf jeden Charakterbogen. Genial!

Lady Blackbird

Bei Traveller und Varianten wie dem Cepheus System ist die Welt durch die Regeln für die Spielfigurenerstellung und die Preislisten impliziert, und dann gibt es noch Regeln für die grobe Welterstellung. Das finde ich eine spannende Sache. Oft kann man solche Regeln ja auch in ein Programm giessen und erhält so den Classic Traveller Character Generator oder den Traveller Subsector Generator. Und in meiner Fantasy Variante Helmbarten (16 Seiten) gibt natürlich einen Helmbarten Charaktergenerator (inkl. der Option, sich eine Anfangssituation zu erschaffen). Auch hier kann man sich den Subsektor oder die Anfangssituation durchlesen und mit der Tagträumerei beginnen. Wie es dort wohl aussieht? Ob man die Situation wohl ändern könnte?

Classic Traveller Character Generator

Traveller Subsector Generator

Helmbarten

Helmbarten Charaktergenerator

Bis jetzt bin ich allerdings nur mit D&D oder meiner Hellebarden & Helme (23 Seiten) Variante zu langen Kampagnen gekommen, das heisst, zu Kampagnen mit 50–60 Spielabenden. Woran das wohl liegen mag? Ich vermute, dass es an den konkreten, spezifischen, abgestuften, vorangekündigten Änderungen am Spiel liegt: neue und stärkere Monster in einem Bestiarium, neue und mächtige magische Gegenstände in einem Appendix zu den Schätzen, und lange Listen von Zaubersprüchen im Spielerhandbuch. Es ist diese Vorfreude, die einen grossen Teil des langfristigen Spasses bei D&D ausmachen: Die Regeln lesen heisst verstehen, dass das Spiel sich immer weiter entwickeln wird, anders werden wird. Wir werden Stufen steigen, und wir werden viele dieser Monster bekämpfen, wir werden diese Schätze finden, und wir werden diese Zaubersprüche lernen können.

Hellebarden & Helme

Dieses Gefühl stellt sich nur bei sehr wenigen, anderen Spielen ein. Beispielsweise könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Preislisten bei Traveller einen ähnlichen Effekt haben sollten: Plasmakanonen, Schlachtfeldpanzer, grössere Schiffe – wer kennt das nicht, dieses Gefühl: “So ein Schiff will ich auch mal haben!” Leider war mein Eindruck aber, dass dieses “Versprechen” nicht so stark wie das D&D Versprechen mit den Monster-, Schatz- und Spruchlisten ist. Es gibt ja keinen Stufenanstieg, deswegen ist es nicht garantiert, dass man zum grossen Geld kommt. Im Gegenteil, nach zehn Spielabenden ahnst du, dass du immer nur auf einem kleinen Fat Trader am Rande des Imperiums herumdümpeln wirst. Die Welt ist zu stark und du zu schwach.

Ich denke, damit ist nun in etwa der Rahmen erarbeitet, in dem sich meine Spielpräferenzen finden: einfache Regeln, die auf wenigen Seiten Platz haben, wo es aber Aspekte gibt, die man „erforschen“ kann, die mich zur Tagträumerei anregen. Es gilt also nicht, wenn da steht: „wähle eine beliebige magische Fähigkeit“ – nein, ich hätte gerne eine Liste von konkreten magischen Fähigkeiten mit je ein paar Worten. Noch besser sind modulare Systeme, wo ich zu Beginn lange Listen von Dingen habe, und eingeladen bin, anzubauen. Im Zock Bock Radio redet Settembrini diesbezüglich von „Gygaxian buildings blocks“ und meint damit genau das: Listen von Monstern, Listen von magischen Gegenständen, Listen von Zaubersprüchen, Listen von Klassen, Listen von Völkern, und so weiter. Anregend beim Lesen und eine Einladung zur Erweiterung.

Zock Bock Radio

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