Als ich etwa zwanzig war – wohl schon etwas vorher – fand ich mich so scharfsinnig und so redegewandt, ich dachte, ich könne es mit jedem aufnehmen. Insbesondere mit den Erwachsenen! Mit den Freunden führten wir hitzige Wortgefechte und führten uns auf wie Kinder, die miteinander raufen. Klar, so üben die Kleinen.
Erst mit den Jahren merkte ich, dass mein Auftreten, mein Diskussions-Stil dazu führte, dass man den Diskussionen mit mir aktiv aus dem Weg ging. Mit der Zeit legte sich meine Rechthaberei.
Noch ein paar Jahre später – vielleicht war ich da schon dreissig – merkte ich, dass es oft gar nichts brachte, Recht zu haben. Hierfür gab es verschiedene Gründe. Gewissen Leuten war der Diskussions-Stil mit Argumenten dafür und dagegen fremd. Nach einer Weile wussten sie nicht mehr, was man denn noch sagen “durfte” und sagten lieber nichts mehr. Was aber nicht bedeutete, dass ich sie überzeugt hatte. Oder eine Diskussion wurde mit Allgemeinplätzen beenden. “Da kann man halt nichts machen.” Ja hallo, wenn jegliche Reaktion darauf egal ist, warum haben wir denn darüber geredet?
Oft hatte ich übersehen, dass es verschiedene Gründe für ein Gespräch gibt. Man will sich gegenseitig überzeugen. Man will sich gegenseitig kennen lernen. Man will die Zeit überbrücken. Ich dachte oft, *small talk* sei Zeitverschwendung. Wer so denkt, versteht nicht, dass *small talk* ein notwendiger Schritt ist, um eine Beziehung aufbauen zu können. Hier werden grundsätzliche Kompatibilitäten geprüft.
Auch der Umgang mit irrationalen Argumenten musste geübt werden. Ich musste nämlich mit erstaunen feststellen, dass nicht alle davon überzeugt waren, dass rationale Argumente die einzigen Argumente sind. Wer Angst hat, wer traurig ist, den kann man mit rationalen Argument nicht trösten. Wer verliebt ist, den kann man mit rationalen Argumenten nicht warnen. Wer zögert, den kann man mit rationalen Argumenten nicht ermutigen. Aber manchmal kann man mit irrationalen Argumenten etwas erreichen. Eine Ablenkung, ein scheinbar unzusammenhängender Satz, ein Argument, welches nichts zur Sache tut und “trotzdem” wahr ist, ein Bild, eine Pause wie ein leiser Paukenschlag, ein kurzer Moment der Ergriffenheit, des Rapports, ein unwillkürliches Mitnicken. Das waren meine neuen Werkzeuge.
Und selbst jetzt, mit über vierzig Jahren, lerne ich noch hinzu. Über den Aufbau, Kreise innerhalb von Kreisen, Rückgriffe und Vorankündigungen. Wie kommt es überhaupt dazu, dass die Leute uns zuhören wollen?
Ein gutes Beispiel hierfür ist die Verwendung der Gnade Gottes, *grace*, in Obamas Eulogie für Rev. Clementa Pinckney. Er denkt nach über *grace*. Er sieht Gottes Hand in den Ereignissen. *Grace*. Der Mörder konnte nicht wissen, was geschehen würde. *Grace*. *Amazing Grace*. Das Publikum erkennt den Liedanfang, aber Obama hält sich zurück, bringt die Zeilen so, dass man aufstehen will, es aber nicht tut. Dann redet er weiter. Über die Gesellschaft, die Gewalt, den Rassismus, über unsere Aufgabe in dieser Welt, und dass unsere Taten der Gnade Gottes Ausdruck verleihen sollen. Der Gnade Gottes. *Grace*. *Amazing Grace*. Und dann singt er. President Barack Obama delievered the eulogy at the funeral for Rev. Clementa Pinckney. Transcript.
President Barack Obama delievered the eulogy at the funeral for Rev. Clementa Pinckney
#Life #Philosophy
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pois... reden ist gar nicht so leicht, denn eigentlich hat es auch mit zuhören zu tun... Und viele können es nicht. Wie du richtig sagst: gefühle sind oft letzten endes das auschlag gebende. Die muss man zuerst hören, erst dann ist man frei argumente anzunehmen. So sehe ich es inzwischen, immer noch in lehrzeit, hihi... Daher auch übrigens die wichtige rolle von mediatoren. Mann/Frau braucht eigentlich ein lebenlang um zu üben😃) Ob sie’s dann können, bleibt offen, hehe...
– mum 2015-07-12 18:51 UTC
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übrigens gefiel mir obamas rede. Er traf die herzen...
– mum 2015-07-12 18:52 UTC