Vor ein paar Wochen habe ich an der OerliCon mit einem Mitspieler der Dogs in the Vineyard Runde über Rollenspieltheorie diskutiert. Grundsätzlich stand ich der Sache recht ablehnend gegenüber. Aus der Diskussion ergaben sich ein paar Emails. Da würde ich gerne ein paar Passagen von mir rauskopieren, weil mir einige Themen am Herzen liegen. Ein kleiner Einblick in meine Vorlieben, sozusagen. Wen das nicht interessiert, kann hier weiter lesen: Rollenspiel Blogs.
Zum *Nutzen der Rollenspieltheorie*. Ich kann verstehen, wenn das Bedürfnis besteht, eine Ontologie zu entwickeln; eine Fachsprache, mit der man seine Wünsche schnell und prägnant ausdrücken kann, mit denen man eine klarere Diskussion führen kann. Erfüllen die Begriffe Gamismus, Narrativismus, Simulationismus (GNS), Charakterspiel, Gruppenspiel, Questspiel oder Plotspiel diese Anforderung? Für mich nicht, denn ich muss jedesmal ausarbeiten, was genau darunter verstanden wird, und warum ich mich nicht ganz einfach in eine der Schubladen einordnen kann, dass es sich hierbei um ganz allgemeine Begriffe handelt, welche die Diskussion nicht verkürzen. Selbst wenn der Spielleiter vorher ein Dokument verschicken würde, in dem er seine Interpretation nochmal darstellen würde, wüsste ich nicht, was ich nun damit anfangen würde. Meine Antwort wäre: “ähh und jetzt?”
Wenn ich stattdessen ein Mail erhalte, wo drinnen steht: “im letzten Spiel fand ich es etwas mühsam, dass wir nicht einfach den Hinweisen der Hexe gefolgt sind und noch stundenlang auf dem Markt verhandelt haben,” dann kann man ja über die Gewichtung der einzelnen Aspekte reden. Und diese Aspekte habe ich in wenigen Worten zusammengefasst: Den Charakter ausleben, der Geschichte des Meisters folgen, Gruppenharmonie, usw. Diese Werte kann man für sich in Anspruch nehmen. Man muss sie nicht einmal abschliessend auflisten, sondern einfach darauf aufmerksam machen, dass es verschiedene Typen gibt, ein paar Vorschläge (zB. die oben genannten) aufführen, *etwas Toleranz einfordern*, und fertig. Der Rest ist dann an Hand der konkreten Erlebnisse der spezifischen Runde zu diskutieren.
Klar, da zeigt sich *meine pragmatische Seite*. Ich habe auf alle Fälle noch nicht erlebt, dass die Begriffe aus der Rollenspieltheorie meine Diskssionen vor, nach oder während des Spiels vereinfacht hätten.
Im zweiten Teil des Diskussion ging es um einen *Fragebogen zur Charaktererschaffung*. Ich mag solche Dinge nicht. Ich habe schon gehört, dass gewisse Spieler so einen Fragebogen interessant finden, um ihren Charakter besser erstellen zu können. Vielleicht könnte man so einen Fragebogen ja als Inspirationsquelle verwenden, um sich seinen Charakter besser vorstellen zu können. Aber meine Präferenz ist das ganz und gar nicht.
Meine Präferenzen: Zwei Sätze Hintergrundgeschichte und *den Rest am Tisch erspielen und erfahren*. Alles andere sind für mich langweilige Hausaufgaben. Im schlimmsten Falle finde ich meine Improvisationsfähigkeiten und meine Kreativität durch solche Fragebögen in Frage gestellt: “du musst die Lieblingsmusik deines Charakters angeben, weil ich dir nicht glaube, dass du einen interessanten Charakter spielen kannst, ohne dir die Antwort auf diese Frage schon vorher überlegt zu haben”.
Zwei Sätze Hintergrundgeschichte
Für eine Convention halte ich neuerdings eine Tabelle mit zufälligen Hintergrundsoptionen für Charaktere bereit. Limitationen fördern meine Kreativität. Am meisten Freude habe ich, wenn ich sechs mal 3d6 würfel und dies meine Attribute sind. Dann muss ich mit dem, was mir das Schicksal vorgegeben hat, etwas erreichen. Meine Kreativität ist gefragt. Wenn ich mir die Attribute mit Punkten kaufe, oder gar nur noch den “Elite Array” neu arrangiere, und ich gefragt werde, was ich denn genau spielen möchte, dann will mir so schnell nichts einfallen. “Was spielen denn die anderen?” Wie mich in der Poesie die Limitation einer Form inspiriert, so inspiriert mich im Rollenspiel der Zufall, das Schicksal.
eine Tabelle mit zufälligen Hintergrundsoptionen für Charaktere
Kurzum, und ganz persönlich für mich: *in der Kürze liegt die Würze*.
Im letzten Teil der Diskussion ging es dann noch um die Frage, *wie introvertierte Spieler extrovertierte Charaktere spielen* können. Die gleiche Frage gilt natürlich für jede Eigenschaft, welche der Charakter hat, dem Spieler aber fehlt.
Mich selber interessiert diese Frage genau nicht. Kämpfen und Schleichen können wir am Tisch nicht, aber laut oder leise, überzeugend oder tölpelig können wir selber sein. *Man kann was man kann*. Dieses LARP Motto find ich auch für den Spieltisch passend. Es macht mir einfach Spass, wenn ich das Aufbrausen, Drohen, Lachen, Schmeicheln, Spotten, Lavieren, Bezirzen und Feilschen am Tisch geniessen kann. Die Ablösung desselben durch Würfelwurf und Regeln ist für mich ein Verlust.
Vielleicht müsste ich zuerst einen richtigen Spieler an meinem Tisch haben, dem eine gewünschte Eigenschaft fehlt, welche er gerne seinem Charakter verpassen würde, dies aber nicht ausspielen kann. Ich hatte bisher noch keinen solchen Spieler, und sehe deswegen auch keinen Sinn darin, dieses *fiktive Problem jetzt schon mit Regeln zu lösen*. Wer im richtigen Leben introvertiert ist, und gerne einen extrovertierten Charakter spielen will, und das nicht schafft, der ist am Spieltisch am falschen Ort. Für mich ist hier nicht Therapiesitzung. Wir sind alle erwachsen und im Vollbesitz unserer Geistekräfte, zufrieden mit unserer Art zu sein, und versetzen uns in eine andere Welt, legen uns selber Beschränkungen auf, und brauchen keine Regeln als Krücken.
Als Gegenargument kann man aufführen, dass man ja schon **im richtigen Leben genug Probleme hat**, und deswegen nun im Spiel seine Fantasie ausleben können will. Mir selber ist das allerdings nicht ganz so wichtig. Die Antwort, dass wir hier keine Therapie machen, liegt mir immer auf der Zunge. Hierzu muss ich allerdings noch sagen, dass ich dieses Gegenargument bisher nur auf dem Internet gelesen habe. In meinen konkreten Runden habe ich es noch nie gehört. Bösartig wie ich bin, freue ich mich nun, dass alle meine Mitspieler eben normale und geistig gefestigte Persönlichkeiten sind. Ich müsste wohl wirklich mal mit jemandem im richtigen Leben diskutieren. Das Internet ist da irgendwie zu beliebig. Bei so vielen potentiellen Lesern gibt es für jede Meinung ein paar Vertreter. Aber wie relevant die nun für meine Spielrunden sind, kann ich nie so richtig feststellen.
Klar, von meinen diversen [MyCampaigns aktuellen Kampagnen] verwenden die meisten D&D 3.5 und kennen eben doch *Bluff, Diplomacy, Sense Motive und Intimidation*. Aber mir gefällt dies nicht und gerne würde ich diese Fertigkeiten wieder Abschaffen. Früher wollte ich Diskussionen und Diplomatie durch Regeln so interessant wie Kämpfe machen. Jetzt wo ich dies gesehen habe – ganz extrem beim Duel of Wits in Burning Wheel – habe ich keine Lust mehr. Irgendwo ist mir das Rollenspiel verlustig gegangen.
Kurz: Wer einen introvertierten Charakter nicht spielen kann, der soll dies auch nicht machen. Wer andere Spieler immer zurückdrängt, dem muss man das in einem persönlichen Gespräch sagen. Hierfür braucht es keine Regeln.
Puh! Das war ein sehr ergiebiges Email! Für die Länge des Posts will ich mich entschuldigen. Vielleicht hätte ich es auf drei Beiträge aufteilen sollen und diese im Abstand von 1-2 Tagen veröffentlichen sollen. Aber ich mag solche Inspirationen nicht auf die lange Bank schieben. Raus damit!
#RSP
(Please contact me if you want to remove your comment.)
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Das Abschaffen von sozialen Skills kann man sehen wie man will, aber unfair ist es allemal. Denn damit haben Spieler, die gut reden können immer hohe Werte in solchen Fertigkeiten und alle anderen niedrige. Ziemlich doof oder? Solltest Du nicht lieber nach Optionen suchen, wie man in solchen Situationen das rollenspiel wieder beleben kann? Wenn man sich als SL mit “Ich mach mal nen Diplomatie-Wurf” abbügeln lässt, ist man selbst schuld. “Ausspielen” heißt das Zauberwort. Um das zu erreichen kann einem übrigens auch die Rollenspieltheorie helfen ;)
– TheClone 2010-09-13 07:08 UTC
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Ich stimme TheClone zu, die sozialen Fertigkeiten haben auch meiner Meinung nach einen Nutzen. Gleichzeitig finde ich aber auch, dass es dabei nicht zu reinem Würfeln verkommen darf, sondern dass die Würfel unterstützend genutzt werden sollten.
Insgesamt würde ich aber sagen, dass ich viel Spaß mit dir am Spieltisch haben könnte, deine Ansichten gefallen mir! Und das, obwohl ich doch auch grausiger D&D4-Supporter bin :D
Viele Grüße, Marcus
– Marcus 2010-09-13 08:44 UTC
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@Marcus hahaha :D
@TheClone ein etwas frustiges Beispiel von der anderen Seite war mein Diplomatie-optimierter D&D 3.5 Paladin. Dann hieß es plötzlich in diesen oder jenen Situationen geht es nicht, oder muss ausgespielt werden, und so konnte ich den Skill eben doch selten so anwenden, wie ich es mir vorgestellt hatte. Deswegen bin ich nicht davon überzeugt, dass Mischformen eine guten Idee sind. Und dass es mich nicht stört, wenn wortgewandte Spieler auch wortgewandte Charaktere spielen, wenn sie es wollen, hatte ich ja schon gesagt. Ich müsste halt jemanden finden, der nicht wortgewandt ist, aber einen solchen Charakter spielen will, sich dann die Fertigkeit organisiert, und dies dann doch ausspiellen will und kann. Dann könte ich herausfinden, ob das auch mir Spass machen würde. Aber so jemanden habe ich, wie gesagt, noch nicht am Tisch erlebt.
– Alex Schroeder 2010-09-13 10:28 UTC
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Bei uns war das Ausspielen oft nur eine Option, die bei guter Leistung dann +2 oder so gegeben hat (D&D 3).Da hat natürlich der eloquente Spieler wieder Vorteile, aber +2 ist ja kein großes Problem. Das Problem mit dem Diplomatie-Char kenne ich. Ich hatte einen Char, der zwar Hans Dampf-in-allen-Gassen war, aber dessen Schwerpunkt doch auf Diplomatie lag. Ein Problem was das System (GURPS, v4 oder so), dass dafür sorgte, das der Priester dank hoher Int, die er als Priester brauchte grundsätzlich schon so gut in sozialen Fertigkeiten war, dass ich da mit Fertigkeitspunkten kaum nach kam (die gingen nämlich alle auf Int). Das weitere und viel schlimmere Problem war, dass der SL mir bei meinen Überredungsversuchen immer Steine in den Weg gelegt hat und andere Charaktere dann auf Grund von Profession usw. gleich soviel “Grundwohlwollen” hatte, dass sie viel leichter zum Ziel kamen. Schien mir ne persönliche Abneigung des SL gewesen zu sein. Aber das war, wie in Deinem Fall ein Fall von komischem SL. Wenn jemand diplomatisch tätig werden will, sollte man als SL einfach grundsätzlich verlangen, dass er es ausspielt und zum richtigen Zeitpunkt wird dann gewürfelt. Und als Anreiz kann man dann eben die oben genannten Boni (oder andere) vergeben. Wenn ich jemandem mein Schwert über den Kopf ziehe, beschreibe ich das ja im Regelfall auch oder wenn der Taschendieb versucht etwas zu klauen. Aber ob es gelingt entschiedet immer noch der objektive Würfel.
– TheClone 2010-09-14 09:50 UTC
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Nur am Rand, etwas aus dem Zusammenhang: Ich frage mich oft, inwieweit die verfeinerte, würfelbare, ausgefeilte “neue Schule”(?) den modernen Computerrollenspielen geschuldet sind. Die zahlen hohe Lizenzgebühren, und brauchen Regeln: alles muss normiert und berechenbar sein, auch der Kämpfer will und soll komplexe Aktionen können, viele Talente und Manöver, der Magier hundert Sprüche. Ich kann mir gut vorstellen, dass mir eine solches Spiel am Computer gefallen würde (ich muss ja nichts auswendig lernen...), am Tisch spiele ich dagegen viel lieber frei, mit nur wenigen Regeln.
– Chris 2010-09-16 20:02 UTC
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Hm, könnte sein... Bin mir aber nicht sicher. Ich habe die Regeln hinter Vagrant Story oder Final Fantasy Tactics nie so richtig verstanden. Deswegen habe ich vermutlich auch nie ein Regelsystem genommen und mir gewünscht, dass multiclassing so wie bei FFT funktionieren sollte. Ich vermute eher eine gewisse Konfliktscheu. Existiert zur Frage X keine Regel, könnte es zu einer Spielleiter *gegen* Spieler Diskussion kommen, und das mag keiner. Wann genau der Spieler vom neutralen *referee* zum etwas antagonistischen Meister wurde, kann ich leider nicht sagen. Und dann gibt es natürlich auch Leute, die sich von Regeln inspirieren lassen. Diese Leute lesen Regeln daheim und finden Dinge cool und wollen sie am Tisch ausspielen können. Das sind zumindest meine aktuellen Thesen zum Thema...
– Alex Schroeder 2010-09-17 18:01 UTC